Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 2. Dezember 2015 aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 2. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2014 verurteilt, den Unfall des Klägers vom 24. Oktober 1989 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten in vollem Umfang zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger und Berufungskläger begehrt von der Beklagten und Berufungsbeklagten die Anerkennung eines auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) erlittenen Unfalls vom 24. Oktober 1989 als Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung.

Der 1971 geborene Kläger stammt aus der ehemaligen DDR und war dort in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) Pflanzenproduktion S. als Agrotechniker/ Mechanisator beschäftigt. Während dieser Tätigkeit erlitt er am 24. Oktober 1989 auf dem Kartoffelsortierplatz S. in Sch. einen Unfall. Auf dem Rückweg von einer Pause zu seinem Arbeitsplatz fuhr ihm ein Gabelstapler über das linke Bein. Der Kläger erlitt dabei Frakturen im Bereich des linken Oberschenkels und des linken Knöchels.

Die Berufsgenossenschaft (BG) Druck und Papierverarbeitung (eine Rechtsvorgängerin der Beklagten) erlangte von dem Unfall Kenntnis durch einen Bericht des Durchgangsarztes (D-Arzt) Dr. G. (Kreiskrankenhaus G.) vom 18. April 1991, der am 23. April 1991 bei ihr einging. Dr. G. berichtete darin, dass der Kläger auf glattem Boden weggerutscht und ihm ein Gabelstapler über das linke Bein gefahren sei.

Die BG Druck und Papierverarbeitung zog daraufhin u.a. die medizinischen Unterlagen aus der Zeit unmittelbar nach dem Unfall bei und holte das Rentengutachten des Dr. G. vom 18. Juni 1991 ein. Aktenkundig wurde außerdem die damalige Unfallmeldung vom 26. Oktober 1989, in der beschrieben wurde, dass der Kläger am Unfalltag den Auftrag gehabt habe, vom Kartoffelsortierplatz anfallende Erde und Steine abzufahren. Gegen 20:45 Uhr sei er aus dem Pausenraum gekommen und habe - ohne rechts oder links zu schauen - eine Absperrung übersprungen bzw. unterquert. In diesem Moment sei ein Gabelstapler von draußen gekommen und habe den Kläger erfasst. Die Arbeitsmittel seien in Ordnung gewesen, der Unfall sei durch das nicht richtige Verhalten des Klägers entstanden. Er habe „TGL 30104 Pkt. 2 Maßnahmeplan“ nicht beachtet. Nach dem Unfall seien die Sortierkräfte und Mechanisatoren nochmals belehrt worden; die Absperrung sei nach unten zu verdichten bzw. nach oben zu erhöhen und Sicherheitszeichen anzubringen. Das Unfallmeldeformular ist unter Ziffer 23 um den Vermerk „Als Arbeitsunfall nicht anerkannt“ ergänzt und mit einem Stempel der Staatlichen Versicherung, Kreisdirektion E-Stadt, datierend wohl vom 31. Oktober 1989, versehen. Eine (lesbare/ erkennbare) Unterschrift des Klägers (vorgesehen unter Ziffer 22 „Unfallbetroffener Werktätiger“) enthält der Vordruck nicht; vielmehr finden sich dort die beiden handschriftlichen Zusätze „ist eine Unterschrift!“ sowie „Unterschrift nachholen“ (vgl. Blatt 12-1 des Ausdruckes der elektronischen Verwaltungsakte bzw. Blatt 14 der früheren Originalakte).

Unter Hinweis auf diesen Nichtanerkennungsvermerk teilte die BG Druck und Papierverarbeitung dem Kläger mit Schreiben vom 26. Juni 1991 mit, dass kein Entschädigungsanspruch bestehe. Eine Rechtsmittelbelehrungenthielt das Schreiben nicht.

Im Mai 2005 wurde der Vorgang wieder aufgegriffen - diesmal von der Landwirtschaftlichen BG Mittel- und Ostdeutschland, bei der ein H-Arzt-Bericht des Dr. Ü. vom 4. Mai 2005 einging. Darin waren rezidivierende Beschwerden im Bereich des verletzten linken Beines angegeben. Im Dezember 2005 gab die Landwirtschaftliche BG Mittel- und Ostdeutschland den Vorgang an die zuständige BG Druck und Papierverarbeitung ab. In den abgegebenen Unterlagen enthalten war nun auch das damalige Untersuchungsergebnis der Arbeitsschutzinspektion vom 26. Oktober 1989. Wiedergegeben wurden dort die Aussagen der Zeugen G. (damals Schichtleiterin), C. (Sortierkraft) und H. (Gabelstaplerfahrer).

- Die Zeugin G. gab an, den Unfall nicht gesehen zu haben. Sie habe hinterher gehört, dass der Kläger über die Absperrung gesprungen sein soll.

- Der Zeuge C. brachte zum Ausdruck, dass er zur fraglichen Zeit draußen bei den Bunkern gewesen sei. Als der Gabelstaplerfahrer H. in die Halle gefahren sei, habe er gesehen, wie der Kläger über bzw. unter der Absperrung gekommen sei. Der Stapler habe noch gebremst, den Unfall jedoch nicht verhindern können.

- Der Zeuge H. legte dar, dass er dabei gewesen sei, leer in die Halle zurückzufahren. Als er an die Toreinfahrt zum Pausenraum gekommen sei, sei von rechts plötzlich der Kläger gekommen. Er habe noch gebremst, den Unfall aber nicht verhindern können. Ob der Kläger die Absperrung übersprungen oder unterquert habe, könne er nicht genau sagen.

Aufgrund der Zeugenaussagen ging der Bearbeiter der Arbeitsschutzinspektion davon aus, dass der Kläger den Unfall selbst herbeigeführt habe, indem er über oder unter der Absperrung hinweg bzw. hindurch sei, ohne auf den Staplerverkehr zu achten. Es sei angewiesen worden, die Sortierkräfte nochmals zu belehren. Außerdem sollte die Absperrung nach unten verdichtet und nach oben erhöht werden. Gleichzeitig sollten Sicherheitszeichen angebracht werden. Mit Schreiben vom 15. November 1989 teilte der Sicherheitsinspektor G. der Staatlichen Versicherung der DDR, Kreisdirektion E-Stadt, das Ermittlungsergebnis dahingehend mit, dass der Kläger über die vorhandene Absperrung gesprungen sei und durch seine unüberlegte Handlungsweise die Ursache für den Arbeitsunfall gesetzt habe.

Im Juni 2010 bat der Kläger um eine Überprüfung seines Arbeitsunfalls. Er habe nie einen Bescheid erhalten.

Mit Bescheid vom 19. August 2010 lehnte die jetzige Beklagte eine Rücknahme der Entscheidung der Staatlichen Versicherung ab. Gemäß einem Vermerk der Staatlichen Versicherung der DDR vom 31. Oktober 1989 auf der Rückseite der Unfallmeldung sei das Ereignis als Arbeitsunfall abgelehnt worden. Nach Art. 19 des Einigungsvertrages (EinigVtr) blieben Verwaltungsakte der DDR wirksam. Die damalige Entscheidung könne nur aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen des Einigungsvertrages unvereinbar wäre (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 11. September 2001 - B 2 U 32/00 R -, SozR 3-8100 Art. 19 Nr. 8 und juris; Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss des Ersten Senats vom 27. Februar 2007 - 1 BvR 1982/01 -, BVerfGE 117, 302 und juris). Entsprechendes sei den vorliegenden Unterlagen nicht zu entnehmen.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. November 2010 zurück.

Im Klageverfahren zog das Sozialgericht Landshut das Original der Unfallmeldung bei, welches jedoch nach Abschluss des Verfahrens wieder an den Insolvenzverwalter der LPG Pflanzenproduktion S. zurückgesandt worden ist. Im Protokoll eines Termins zur Erörterung der Sach- und Rechtslage vom 19. Oktober 2011 ist festgehalten, dass den Beteiligten das Original der Unfallmeldung vom 26. Oktober 1989 zur Kenntnis gegeben worden ist. Das Original entsprach der Kopie auf Blatt 14 der Verwaltungsakte (bzw. jetzt Blatt 12-1 des Ausdruckes der elektronischen Akte). Auf dem Original war unter Ziffer 22 eine Unterschrift sichtbar, die man offensichtlich zu entfernen versucht habe.

Die Beklagte berief sich weiterhin auf die Bindungswirkung der bereits in der DDR getroffenen Entscheidung. Nach den Bestimmungen des Arbeitsgesetzbuches der DDR (AGB DDR) hätten Unfälle im Zusammenhang mit dem Arbeitsprozess unter Versicherungsschutz gestanden. Unfälle jedoch, die durch undiszipliniertes Verhalten entstanden seien, seien nicht als Arbeitsunfälle anerkannt worden. Letzteres sei hier der Fall. Nach Auffassung des Bevollmächtigten des Klägers entbehre dieser Einwand der Beklagten jeder Grundlage. Wenn unter „undiszipliniert“ jegliches Fehlverhalten zu verstehen sei, gebe es keine Arbeitsunfälle mehr.

Mit Gerichtsbescheid vom 30. Januar 2013 (S 9 U 306/10) verpflichtete das Sozialgericht Landshut unter Aufhebung des Bescheides vom 19. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. November 2010 die Beklage, unter Aufhebung des Bescheides vom 26. Juni 1991 über die Anerkennung des Unfalls vom 24. Oktober 1989 als Arbeitsunfall mit rechtsbehelfsfähigem Bescheid zu entscheiden. Der Kläger habe einen Anspruch auf Korrektur des bestandskräftigen Bescheides vom 26. Juni 1991 nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X). Zwar blieben Verwaltungsakte der DDR, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangen seien, nach Art. 19 EinigVtr grundsätzlich wirksam. Ein Verwaltungsakt in diesem Sinne liege aber nur vor, wenn die Entscheidung durch die Bekanntgabe an den Betroffenen wirksam geworden sei. Eine solche Bekanntgabe sei vorliegend nicht nachgewiesen. Denn aus dem Original der Unfallmeldung lasse sich unter Punkt 22 die Unterschrift des Klägers nicht zweifelsfrei erkennen.

Dagegen legte die Beklagte Berufung ein (L 3 U 87/13). In einem Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage am 5. Juli 2013 wies auch die damalige Berichterstatterin darauf hin, dass vorliegend eine Bekanntgabe des Bescheides der Staatlichen Versicherung der DDR nicht nachgewiesen sei. Daher sei eine Entscheidung über den Unfall vom 24. Oktober 1989 erneut zu treffen; dies habe nach § 1150 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) zu erfolgen. Ob ein bis 31. Dezember 1991 eingetretenes Ereignis einen Arbeitsunfall begründe, richte sich aufgrund des EinigVtr nach dem Recht der ehemaligen DDR. Nach § 1150 Abs. 1 RVO gelte das Recht der RVO. Entscheidend sei der Zeitpunkt des Ereignisses, nicht der des Bekanntwerdens oder der Entscheidung. Die Beklagte erklärte sich daraufhin bereit, unter Aufhebung des Bescheides vom 19. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. November 2010 und des Bescheides vom 26. Juni 1991, die Frage, ob das Ereignis vom 24. Oktober 1989 ein Arbeitsunfall ist, unter Berücksichtigung der dargelegten Grundsätze zu verbescheiden. Außerdem erklärten die Beteiligten den Rechtsstreit für erledigt.

In Ausführung dieses Vergleichs hob die Beklagte zunächst den Bescheid vom 19. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. November 2010 sowie den Bescheid vom 26. Juni 1991 auf (Bescheid vom 30. Juli 2013) und führte anschließend weitere Ermittlungen zu dem Ereignis vom 24. Oktober 1989 durch.

Der Kläger gab zum Unfallhergang in einer E-Mail vom 23. Januar 2014 an, dass er zum damaligen Zeitpunkt als Traktorfahrer auf dem Kartoffelsortierplatz beschäftigt gewesen sei. Als er nach einer Pause den Pausenraum verlassen habe, um seine Arbeit fortzusetzen, sei er über ein ca. 80 cm hohes Handgeländer gestiegen. Zu diesem Zeitpunkt sei kein Stapler in Sicht gewesen. Erst als er 10 m nach dem Handgeländer die Halle habe verlassen wollen, sei ihm ein mit Paletten geladener Stapler entgegengekommen. Er habe noch einen Schritt zur Seite gemacht, sei aber ausgerutscht und von dem Stapler erfasst worden.

Mit dem aktuell angefochtenen Bescheid vom 2. April 2014 lehnte die Beklagte eine Anerkennung des Ereignisses vom 24. Oktober 1989 als entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall ab. Nach § 1150 Abs. 2 RVO sei der Unfall nach den Vorschriften der ehemaligen DDR zu prüfen, insbesondere nach dem AGB DDR. Gemäß § 267 Abs. 2 AGB DDR habe eine Schadenersatzpflicht nicht bestanden, wenn der Werktätige seine Pflichten im Arbeitsschutz grob missachtet hatte. Nach § 252 AGB DDR seien Werktätige, die schuldhaft (fahrlässig oder vorsätzlich) gegen die Arbeitsdisziplin verstoßen hätten, disziplinarisch bzw. materiell zur Verantwortung gezogen worden. Mit dem Überspringen bzw. Unterqueren der Absperrung habe der Kläger zumindest grob fahrlässig gegen die „Arbeitsdisziplin“ und die „arbeitsrechtliche Verantwortung“ gemäß § 252 AGB DDR verstoßen. Dies werde auch in der Auswertung des Unfallherganges und der Unfallmeldung belegt. Ein versicherter Unfall habe daher nicht vorgelegen.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juli 2014 zurück.

Dagegen erhob der Bevollmächtigte des Klägers Klage zum Sozialgericht Landshut.

In der mündlichen Verhandlung am 2. Dezember 2015 erklärte der Kläger, er bestreite nicht, einen etwa 80 cm hohen Handlauf überstiegen zu haben. Dieser habe als Haltegriff für die Kartoffelsortierer (ältere Menschen) gedient. Er sei jedoch erst mehrere Meter nach diesem Handlauf von dem Gabelstapler erfasst worden, weil er dort auf irgendetwas (vielleicht einer Öllache) ausgerutscht sei. Nach seinem Unfall sei der Handlauf entfernt worden und der Bereich komplett mittels einer Überdachung zugemacht worden.

Mit Urteil vom 2. Dezember 2015 (S 15 U 260/14) wies das Sozialgericht die Klage ab. Die Kammer sei davon überzeugt, dass der Kläger durch Überspringen einer Absperrung eine damalige Arbeitsschutzvorschrift fahrlässig verletzt habe. Er sei in einen abgesperrten Bereich eingedrungen und dort habe sich die Gefahr, vor der die Absperrung habe schützen sollen, verwirklicht. Eine Anerkennung als Arbeitsunfall nach dem damals geltenden Recht der DDR (vgl. § 1150 Abs. 2 RVO) komme somit nicht in Betracht.

Gegen das ihm am 11. Januar 2016 zugestellte Urteil hat der Bevollmächtigte des Klägers am 11. Februar 2016 Berufung eingelegt. Bei dem fraglichen Unfall handele es sich unstreitig um einen Arbeitsunfall im Sinne des § 220 AGB DDR. Soweit § 267 Abs. 2 AGB DDR vorsehe, dass eine Schadenersatzpflicht bei einem Arbeitsunfall unter bestimmten Voraussetzungen nicht bestehe, setze dies voraus, dass eine „grobe Missachtung der Pflichten im Gesundheits- und Arbeitsschutz“ vorliege und die Pflicht zudem „vorsätzlich verletzt“ worden sei. Vorliegend könne erstens von einem grob fahrlässigen Verhalten keine Rede sein. Der Kläger habe einen Handlauf überstiegen, der nicht als gesonderte Sicherheitseinrichtung gekennzeichnet gewesen sei. Dies sei erst nach dem Unfall nachgeholt worden. Zweitens sei das Übersteigen des Handlaufs gar nicht ursächlich für den Unfall gewesen. Schließlich würden für Vorsatz keine Anhaltspunkte bestehen.

Die Beklagte hat hierauf erwidert, dass der Sachverhalt damals unmittelbar nach dem Unfall ausreichend ermittelt worden sei. Nach diesen Ermittlungen hätten die Sozialversicherungsbehörden der DDR das Ereignis als nicht versichert gewertet. Eine Verstärkung von Sicherheitsmaßnahmen sei gängige Praxis und lasse keine Rückschlüsse darauf zu, dass der Kläger den Unfall nicht fahrlässig verursacht habe. Dass überdies eine nochmalige Belehrung der Beschäftigten veranlasst worden war, beinhalte, dass bereits zuvor eine entsprechende Belehrung erfolgt war. Was eine nochmalige Einvernahme der benannten Zeugen bringen solle, sei nach der langen Zeit nicht ersichtlich.

Der Senat hat die Zeugen G., H. und C. mit Hilfe eines umfangreichen Fragenkatalogs (Anschreiben vom 12. Februar 2018) schriftlich befragt. Dabei hat sich herausgestellt, dass der Zeuge H. bereits verstorben ist. Die mittlerweile 87-jährige Zeugin G. hat am 19. Februar 2018 die einzelnen Fragen nicht konkret beantwortet, sondern lediglich pauschal vermerkt, „keine Erinnerungen an den Unfall“ zu haben. Der Zeuge C. hat am 19. Februar 2018 angegeben, sich an den Unfall nicht erinnern zu können. Auf die Frage, ob es im Bereich zwischen der Tür des Pausenraumes und der Kartoffelhalle Sicherungsmaßnahmen gegeben habe, hat er geantwortet: „ein Geländer“. Die weiteren Nachfragen zum Vorhandensein einer Absperrung oder eines Handlaufs/ Haltegriffes für die Kartoffelsortierer hat er verneint. An den genauen Unfallort könne er sich nicht erinnern, der Unfall habe aber wohl „in der Halle“ stattgefunden. Der Zeuge hat aber verneint, den Unfall gesehen zu haben. Die meisten Fragen hat der Zeuge C. mit „keine Ahnung“ beantwortet. Er könne leider keine Angaben mehr machen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Fragenkatalog und die jeweiligen Antworten der beiden Zeugen.

Der Bevollmächtigte des Klägers hat die Ladung des Zeugen C. zur mündlichen Verhandlung beantragt. Zum Vortrag der Beklagten hat er ergänzend ausgeführt, dass diese den Begriff der „Arbeitsdisziplin“ verkenne. Dieser beziehe sich nur auf die Herbeiführung von Schäden am sozialistischen Eigentum. Die Beklagte hat demgegenüber eine Einvernahme des Zeugen für nicht erforderlich erachtet. Neue Erkenntnisse seien daraus nicht zu erwarten.

Nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung am 17. Oktober 2018 hat der Zeuge C. mit Schreiben vom 5. August 2018 nochmals bekräftigt, während des Unfalls in der Kartoffelhalle nicht anwesend gewesen zu sein. Er habe sich im Kantinenbereich befunden und vom Unfall erst durch Lärm und Zurufe mitbekommen. Zur mündlichen Verhandlung am 17. Oktober 2018 ist der Zeuge nicht erschienen, nachdem er zuvor telefonisch darauf hingewiesen hatte, dass er dement sei und ihm eine Anreise nicht möglich sei. Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung angehört worden und hat hierbei seine bisherigen Angaben vertieft. Bezüglich der Einzelheiten wird auf die Niederschrift verwiesen.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 2. Dezember 2015 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 2. April 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2014 zu verurteilen, den Unfall des Klägers vom 24. Oktober 1989 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakten S 9 U 306/10 und L 3 U 87/13 sowie S 15 U 260/14 und L 3 U 43/16 sowie auf die beigezogene Akte der Beklagten verwiesen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG) und bedarf keiner Zulassung (§ 144 SGG).

Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Das Sozialgericht Landshut hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Klage auf Anerkennung des Unfalles des Klägers vom 24. Oktober 1989 als Arbeitsunfall ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässig (vgl. BSG, Urteil vom 15. Mai 2012 - B 2 U 8/11 R -, BSGE 111, 37 und juris Rn. 13 m.w.N.) und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 2. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

1. Grundlage des Bescheides der Beklagten vom 2. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2014 ist der im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage vor dem Bayerischen Landessozialgericht am 5. Juli 2013 geschlossene gerichtliche Vergleich, mit dem sich die Beklagte bereit erklärt hat, über das Vorliegen eines Arbeitsunfalls „unter Berücksichtigung der [in diesem Termin von der damaligen Berichterstatterin] dargelegten Grundsätze“ zu entscheiden. Diese dargelegten Grundsätze bedürfen der Auslegung. Denn in der Sitzungsniederschrift wird auf § 1150 Abs. 1 RVO verwiesen. Aus dem Gesamtzusammenhang ergibt sich jedoch für den Senat, dass die Rechtsgrundlage des § 1150 Abs. 2 RVO gemeint gewesen sein muss. Dies entspricht zudem der geltenden Rechtslage und wurde von der Beklagten im angefochtenen Bescheid auch in dieser Weise gehandhabt.

Nach § 215 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ist für die Übernahme der vor dem 1. Januar 1992 eingetretenen Unfälle und Krankheiten als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung § 1150 Abs. 2 und 3 RVO in der am Tag vor Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden Fassung weiter anzuwenden. Der Anspruch des Klägers richtet sich daher nach § 1150 Abs. 2 RVO in der am 31. Dezember 1996 geltenden Fassung des Renten-Überleitungsgesetzes vom 25. Juli 1991 (BGBl. I 1606, 1688), denn der geltend gemachte Unfall ist am 24. Oktober 1989, mithin vor dem 1. Januar 1992, im Beitrittsgebiet eingetreten. Nach § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO gelten Unfälle und Krankheiten, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind und die nach dem im Beitrittsgebiet (d.h. in der ehemaligen DDR) geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren, als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des Dritten Buches der RVO. Sie sind somit als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne der RVO anzuerkennen. Einer der beiden Ausschlusstatbestände nach § 1150 Abs. 2 Satz 2 RVO liegt hier nicht vor, insbesondere nicht der Ausnahmetatbestand nach Nr. 1. Denn die BG Druck und Papierverarbeitung als einem ab 1. Januar 1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung hat von dem Unfall des Klägers bereits am 23. April 1991 und somit bis zum 31. Dezember 1993 Kenntnis erlangt (vgl. hierzu insgesamt auch BSG, Urteil vom 4. Juli 2013 - B 2 U 5/12 R -, SozR 4-2200 § 1150 Nr. 2 und juris Rn. 14 f.).

Ein nach Art. 19 EinigVtr grundsätzlich bindender Verwaltungsakt der Staatlichen Versicherung der DDR existiert im vorliegenden Fall nicht. Es konnte bereits im vorangegangenen Verfahren (S 9 U 306/10 und L 3 U 87/13) nicht festgestellt werden, dass die auf der Unfallmeldung dokumentierte Verneinung eines Arbeitsunfalls dem Kläger bekannt gegeben und dadurch als Verwaltungsakt wirksam bzw. existent geworden ist (vgl. BSG, Urteil vom 2. Dezember 1999 - B 8 KN 18/97 R -, BSGE 85, 186 und juris Rn. 21, 24); dies war der Grund für den am 5. Juli 2013 geschlossenen Vergleich.

2. Somit ist nach dem Recht der ehemaligen DDR zu prüfen, ob der Kläger am 24. Oktober 1989 einen Arbeitsunfall erlitten hat oder nicht. Dies ist zu bejahen. Im Übrigen wäre für den Fall, dass vorliegend die Regelungen der RVO über die Voraussetzungen zur Anerkennung eines Arbeitsunfalles zur Anwendung kommen würden, das Vorliegen eines Arbeitsunfalles erst recht zu bejahen. Denn nach dem Recht der RVO stellt sich die hier diskutierte Frage einer Missachtung von Arbeitsschutzmaßnahmen durch den Kläger nicht.

a) Die hier zu berücksichtigenden Vorschriften des AGB DDR vom 16. Juni 1977 (GBl. I Nr. 18, S. 185) galten für alle Werktätigen (Arbeiter und Angestellte; vgl. Petri u.a., Leistungsgewährung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten in den neuen Bundesländern, 1993, S. 27) und hatten folgenden Inhalt:

10. Kapitel: Gesundheits- und Arbeitsschutz

§§ 201 bis 216 […] Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten

§§ 217 bis 219 […]

§ 220

(1) Ein Arbeitsunfall ist die Verletzung eines Werktätigen im Zusammenhang mit dem Arbeitsprozeß. Die Verletzung muss durch ein plötzliches, von außen einwirkendes Ereignis hervorgerufen worden sein.

(2) Als Arbeitsunfall gilt auch ein Unfall auf einem mit der Tätigkeit im Betrieb zusammenhängenden Weg zur und von der Arbeitsstelle.

(3) […]

(4) […]

(5) Ein Unfall, als dessen Ursache Alkoholmißbrauch des Werktätigen festgestellt wird, gilt nicht als Arbeitsunfall.

§ 221 […]

§ 222

Die Entscheidung, ob ein Arbeitsunfall bzw. eine Berufskrankheit vorliegt, trifft die Betriebsgewerkschaftsleitung bzw. die Verwaltung der Sozialversicherung beim Kreisvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes

13. Kapitel: Arbeitsrechtliche Verantwortlichkeit der Werktätigen Grundsätze

§ 252

(1) […]

(2) Werktätige, die schuldhaft (fahrlässig oder vorsätzlich) gegen die Arbeitsdisziplin verstoßen bzw. das sozialistische Eigentum geschädigt haben, können disziplinarisch bzw. materiell zur Verantwortung gezogen werden, wenn die nach diesem Gesetz erforderlichen Voraussetzungen vorliegen.

(3) Fahrlässig handelt, wer aus mangelnder Sorgfalt, Leichtfertigkeit, Gleichgültigkeit oder ähnlichen Gründen seine Arbeitspflichten verletzt bzw. das sozialistische Eigentum schädigt, obwohl er die Möglichkeit zum pflichtgemäßen Verhalten bzw. zur Verhütung des Schadens hatte.

(4) Vorsätzlich handelt, wer seine Arbeitspflichten bewußt verletzt bzw. das sozialistische Eigentum bewußt schädigt oder sich mit diesen Folgen seines Handelns bewusst abfindet.

§§ 253 bis 266 […]

14. Kapitel: Schadenersatzleistungen des Betriebes Schadenersatz bei Arbeitsunfall und Berufskrankheit

§ 267

(1) Bei einem Arbeitsunfall gemäß § 220 Abs. 1 […] hat der Betrieb den Werktätigen den dadurch entstandenen Schaden zu ersetzen.

(2) Eine Schadenersatzpflicht bei einem Arbeitsunfall besteht nicht, wenn der Werktätige trotz ordnungsgemäßer Belehrung, Unterweisung und Kontrolle aus grober Mißachtung seiner Pflichten im Gesundheits- und Arbeitsschutz diese vorsätzlich verletzt, dadurch der Arbeitsunfall herbeigeführt worden ist und der Betrieb dafür keine Ursache gesetzt hat.

§§ 268 bis 273 […] Die hier außerdem in Rede stehenden TGL 30104 (Gruppe 923070, DDR-Standard, Arbeitsschutz- und brandschutzgerechtes Verhalten, Allgemeine Feststellungen, Oktober 1978, verbindlich ab 1. Juli 1979; TGL stand in der ehemaligen DDR für Technische Normen, Gütevorschriften und Lieferbedingungen; die DDR-Standards galten für die gesamte Volkswirtschaft) lauteten damals wie folgt (eine Kopie befindet sich auf Bl. 129-1 f. des Ausdruckes der elektronischen Verwaltungsakte, hierauf wird Bezug genommen):

Dieser Standard gilt für alle Werktätigen beim Umgang mit Arbeitsmitteln, beim Durchführen von Arbeitsverfahren und beim Aufenthalt in/auf Arbeitsstätten.

1. Allgemeines

2. Grundforderungen

Jeder Werktätige […] hat

- […]

- die für ihn geltenden Rechtsvorschriften, betrieblichen Regelungen und Weisungen des Gesundheits- und Arbeitsschutzes sowie Brandschutzes konsequent einzuhalten (2. Spiegelstrich).

- […]

- mutwillige Handlungen und Verhaltensweisen, die gefährdend wirken, zu unterlassen (9. Spiegelstrich).

- […]

3. bis 6. […].

b) Der Senat ist vorliegend im Vollbeweis vom Vorliegen der Voraussetzungen für einen Arbeitsunfall überzeugt (hierzu unter aa)). Demgegenüber kann sich der Senat nicht davon überzeugen, dass der grundsätzlich bestehende Versicherungsschutz aufgrund eines relevanten Fehlverhaltens des Klägers entfallen wäre. Die Beweislast hierfür träfe grundsätzlich die Beklagte. Darauf kommt es jedoch hier nicht an, weil für den Senat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass dem Kläger allenfalls ein rechtlich unschädliches einfaches Fehlverhalten vorgeworfen werden kann. Sein Verhalten war zudem nicht ursächlich für den Unfall (hierzu unter bb)).

aa) Der Kläger war vorliegend in der LPG Pflanzenproduktion S. als Werktätiger beschäftigt, als er während dieser Tätigkeit am 24. Oktober 1989 auf dem Kartoffelsortierplatz den fraglichen Unfall erlitten hat.

Als Werktätiger war er nach § 220 Abs. 1 AGB DDR gegen das Risiko eines Arbeitsunfalles versichert. Ein Unfallereignis im Sinne von § 220 Abs. 1 Satz 2 AGB DDR hat zweifellos vorgelegen, als der Kläger am 24. Oktober 1989 von dem Gabelstapler erfasst worden ist und dabei Frakturen im Bereich des linken Beines erlitten hat. Denn die Verletzung wurde durch ein plötzliches, von außen einwirkendes Ereignis hervorgerufen. Dies ergibt sich für den Senat im Vollbeweis aus der damaligen Unfallmeldung, den von der BG Druck und Papierverarbeitung beigezogenen, unfallzeitpunktnahen ärztlichen Befunden, dem Bericht des D-Arztes Dr. G. sowie den glaubwürdigen eigenen Angaben des Klägers. Aus den genannten Unterlagen und Angaben ergibt sich ein entsprechend stimmiges und widerspruchsfreies Bild des Unfallgeschehens.

Darüber hinaus setzte das Vorliegen eines Arbeitsunfalles voraus, dass die Verletzung des Werktätigen im Zusammenhang mit dem Arbeitsprozess (vgl. § 220 Abs. 1 Satz 1 AGB DDR) eingetreten war. Im Fall des Klägers ist diese Voraussetzung ebenfalls erfüllt.

Für die Beurteilung der Frage, welche Handlungen „im Zusammenhang mit dem Arbeitsprozess“ gestanden haben, ist nach der Rechtsprechung des BSG insbesondere von der Konkretisierung dieser Norm durch die Rechts- und Verwaltungspraxis der ehemaligen DDR auszugehen. Dabei haben indes Bestimmungen und Auslegungsgrundsätze, die von spezifisch sozialistischen Wertungen und Rechtsmaximen geprägt waren, unberücksichtigt zu bleiben. Der Verwaltungspraxis der ehemaligen DDR kann bei der Konkretisierung des jeweiligen Inhalts einer Norm dann entscheidende Bedeutung beigemessen werden, wenn diese Praxis sich zweifelsfrei feststellen lässt, mit dem Wortlaut der betreffenden Norm in Einklang steht und sich innerhalb der genannten Schranken hält. Dadurch wird einerseits der Zielsetzung, die Betroffenen während eines Übergangszeitraums in dem in der ehemaligen DDR geltenden Rechtszustand zu belassen, in vollem Umfang Rechnung getragen; andererseits wird das Recht der ehemaligen DDR nur insoweit angewandt, als dies mit dem Grundgesetz vereinbar ist (vgl. BSG, Urteil vom 4. Dezember 2001 - B 2 U 35/00 R -, SozR 3-8440 Nr. 50 Nr. 1 und juris Rn 15 ff. m.w.N.).

Nach der in der ehemaligen DDR geltenden Rechtslage lag ein Arbeitsunfall im Zusammenhang mit dem Arbeitsprozess dann vor, wenn sich der Unfall in Erfüllung der Pflichten des Werktätigen aus dem Arbeitsrechtsverhältnis ereignet, der Unfall auf dem Betriebsgelände (räumlicher Zusammenhang) oder während der Arbeitszeit (zeitlicher Zusammenhang) eintritt. Der Zusammenhang mit dem Arbeitsprozess ist auch während einer angemessenen Zeit vor oder nach der Arbeitsschicht gegeben (z.B. das Umkleiden vor oder nach der Arbeitsschicht oder der Lohnempfang im Betrieb). Gleiches gilt für die gesetzlich festgelegten Arbeitspausen. Hier setzt die Anerkennung als Arbeitsunfall voraus, dass der Unfall im Zusammenhang mit einer ihrem Zweck entsprechenden Gestaltung der Arbeitspause eingetreten ist (Arbeitsrecht von A bis Z, Lexikon von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Frithjof Kunz, Staatsverlag der DDR, Berlin 1984, S. 60).

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Kläger den Unfall am 24. Oktober 1989 im Zusammenhang mit dem Arbeitsprozess erlitten. Der Kläger befand sich im Zeitpunkt des Unfalles auf dem Rückweg von einer Pause an seinen Arbeitsplatz. Nach seinen für den Senat absolut glaubwürdigen Angaben in der mündlichen Verhandlung am 17. Oktober 2018 hatte der Kläger in dem dafür vorgesehenen Pausenraum eine kurze Kaffeepause gemacht, während er das Beladen seines Traktors abwartete. Es handelte sich somit um eine ihrem Zweck entsprechend gestaltete Pause. Der Unfall ereignete sich auf dem ebenfalls versicherten unmittelbaren Rückweg zum Arbeitsplatz.

bb) Dieser Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Arbeitsprozess wurde nicht durch ein mutwilliges Verhalten des Klägers oder einen Verstoß gegen Arbeitsschutzvorschriften gelöst.

Zwar bestand nach dem Recht der ehemaligen DDR kein Zusammenhang mit dem Arbeitsprozess bei Unfällen, die zwar während der Arbeitszeit (bzw. unmittelbar vor oder nach der Arbeitsschicht) und auf dem Betriebsgelände eingetreten sind, aber durch eine betriebsfremde Tätigkeit hervorgerufen wurden. Gleiches traf zu, wenn ein Werktätiger sich disziplinwidrig verhalten hatte und auf diese Weise mutwillig eine Gefahrensituation für sich geschaffen hatte (z.B. durch Schlägerei, Tollkühnheit, leichtsinnige Mutproben u.ä.). Ein Unfall, als dessen Ursache Alkoholmissbrauch festgestellt wurde, galt ebenfalls nicht als Arbeitsunfall (§ 220 Abs. 5 AGB DDR). In diesen Fällen war jedoch sorgfältig zu prüfen, ob der Unfall als Folge des Alkoholgenusses bzw. des disziplinwidrigen Verhaltens eingetreten war (vgl. Arbeitsrecht von A bis Z, Lexikon von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Frithjof Kunz, Staatsverlag der DDR, Berlin 1984, S. 61; ebenso: Petri u.a., Leistungsgewährung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten in den neuen Bundesländern, 1993, S. 30). Andererseits schloss eine eigene Pflichtverletzung - bezogen auf die Pflichten im Gesundheits- und Arbeitsschutz - die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall nicht aus (Petri u.a., Leistungsgewährung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten in den neuen Bundesländern, 1993, S. 30 und 216).

Das Thüringer Landessozialgericht (Urteil vom 26. Juni 1997 - L 2 U 117/96 -, juris Rn. 24 zu § 220 AGB DDR) hat hierzu entschieden:

„Nach der DDR-Praxis wurde ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Betriebstätigkeit und dem Unfallereignis gefordert, der in der Regel nur dann gegeben war, wenn zwischen der Betriebstätigkeit und dem Unfall ein zeitlicher oder räumlicher Zusammenhang bestand. Ein bloßer Zusammenhang genügte jedoch nicht, wenn der Unfall zwar während der Arbeitszeit (beziehungsweise in den Räumen des Betriebes) aber bei einem völlig betriebsfremden Verhalten (zum Beispiel durch eigenwirtschaftliche Tätigkeit, Diebstahl, Trunkenheit) eintrat (vgl. Handbuch der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten, Grundsätze für die einheitliche Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten, herausgegeben vom FDGB 1962, S. 37). Eine betriebsfremde Tätigkeit (und damit ein fehlender Zusammenhang zwischen Unfall und dem Arbeitsprozess) wurde auch dann angenommen, wenn ein Versicherter durch undiszipliniertes Verhalten mutwillig eine Gefahrenlage für sich geschaffen hatte, beispielsweise durch Alkoholmissbrauch, Spielerei, Schlägerei, Tollkühnheit, leichtsinnige Mutproben oder ähnliches (vgl. Beschluss der Bezirksbeschwerdekommission für Sozialversicherung Halle vom 4. Juni 1985, in: Arbeit und Arbeitsrecht - AuA - 1986, S. 212).“

Nach dem Recht der DDR sollte somit nicht jedes Fehlverhalten eines Versicherten den Unfallversicherungsschutz entfallen lassen. Vielmehr musste das Fehlverhalten (nicht das Unfallereignis) eine bestimmte Qualität erreichen, durch die es sich von dem üblichen Arbeitsprozess deutlich abhob. Vorliegend kann sich der Senat weder im notwendigen Vollbeweis davon überzeugen, dass sich der Kläger in dem genannten Sinne mutwillig oder disziplinwidrig verhalten hätte, noch vermag der Senat festzustellen, dass ein solches Verhalten ursächlich für den Unfall geworden sein könnte. Für eine sonstige betriebsfremde Tätigkeit ergeben sich ohnehin keine Anhaltspunkte.

Vielmehr ist der Senat im Vollbeweis davon überzeugt, dass dem Kläger allenfalls ein einfaches Fehlverhalten vorgeworfen werden kann, welches zudem nicht ursächlich für den Unfall geworden ist. Zwar war das Unfallereignis in der ehemaligen DDR einer Untersuchung unterzogen worden. Dabei war der Sicherheitsinspektor G. zu der Einschätzung gekommen, dass der Kläger selbst die Ursache für den Unfall gesetzt habe, weil er eine Absperrung missachtet habe bzw. durch seine unüberlegte Handlungsweise. Das damalige Untersuchungsergebnis ist jedoch im Rahmen der Prüfung gemäß § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO i.V.m. dem Recht der ehemaligen DDR kritisch zu hinterfragen. Dabei ergibt sich, dass die festgestellten Tatsachen, soweit sie dokumentiert worden sind, die damalige Bewertung nicht tragen.

Die Unterlagen der damaligen Arbeitsschutzuntersuchung lassen nur vage Aussagen darüber zu, ob und ggf. in welcher Weise der Kläger mutwillig gehandelt hat oder sich arbeitsschutzwidrig verhalten hat. Letztlich stützte der Arbeitsinspektor seine Einschätzung auf die Aussagen von drei Zeugen. Diese Aussagen hat er offenbar selbst niedergeschrieben; eine Unterschrift der Zeugen ist nicht aktenkundig. Der Senat kann daher nicht prüfen, ob und ggf. inwieweit die Zeugenaussagen verkürzt, verfälschend oder missverständlich wiedergegeben worden sein könnten. Dies ist insbesondere für die Angaben der Zeugen C. und H. relevant. So kann der Dokumentation der Zeugenaussage des Gabelstaplerfahrers H. aufgrund der Formulierung nicht mit Gewissheit entnommen werden, ob dieser den Kläger im Bereich der fraglichen Absperrung überhaupt wahrgenommen hat oder nicht bzw. ob er lediglich nicht angeben konnte, ob der Kläger die fragliche Absperrung über- oder unterquert haben soll. Hierin liegt jedoch ein für die Beweiswürdigung relevanter Unterschied. Die Aufzeichnungen der Angaben des Zeugen C. legen nahe, dass dieser den gesamten Geschehensablauf beobachtet habe. Ein klares Bild ergibt sich daraus dennoch nicht. Zwar soll der Zeuge C. gesehen haben, dass der Kläger die fragliche Absperrung über- oder unterquert habe. Es stellt sich jedoch die Frage, wieso ein Zeuge, der offenbar binnen zwei Tagen nach dem Unfallereignis befragt worden ist, nicht angeben kann, in welcher Weise die angebliche Absperrung überwunden worden sein soll. Es fällt außerdem auf, dass sich der Zeuge C. nach seinen damaligen Angaben zum Unfallzeitpunkt „draußen an den Bunkern“ aufgehalten habe, so dass Zweifel dahingehend angebracht sind, ob der Zeuge tatsächlich das gesamte Geschehen beobachten konnte. Schriftlich hat der Zeuge im Berufungsverfahren nunmehr mitgeteilt, den Unfall nicht gesehen zu haben, weil er sich im Kantinenbereich befunden habe. Die Zeugin G. hat den Unfall ohnehin nicht persönlich gesehen und konnte daher keine Angaben zu einem etwaigen Fehlverhalten des Klägers machen.

Des Weiteren sprechen die damaligen Feststellungen dafür, dass es im Bereich der Unfallstelle irgendeine Form von Absperrung gegeben hat. Denn diese sollte nach oben erhöht und nach unten verdichtet werden. Außerdem sollten Sicherheitszeichen angebracht werden und die Werktätigen wurden nochmals belehrt. Nicht entnehmen lässt sich den damaligen Aufzeichnungen allerdings, ob die fragliche Absperrung bereits im Unfallzeitpunkt als Sicherheitseinrichtung gekennzeichnet gewesen ist (insbesondere, ob bereits damals Sicherheitszeichen angebracht gewesen sind), worüber die Werktätigen konkret belehrt worden sind, um welche Art von Absperrung es sich gehandelt haben soll, welchem Zweck die fragliche Absperrung gedient haben soll, in welcher Entfernung zu der fraglichen Absperrung sich der Unfall ereignet haben soll und in welcher Art und Weise und in welchem Umfang tatsächlich das etwaige Überwinden der Absperrung ursächlich für den Unfall geworden sein soll. Es bleibt auch offen, auf welcher Grundlage der Sachverhalt in der Unfallmeldung dahingehend dargestellt worden ist, dass der Kläger weder rechts noch links geschaut habe. Aus der Niederschrift der Zeugenangaben ergibt sich dies jedenfalls nicht.

Soweit darauf hingewiesen worden ist, dass der Kläger die TGL 30104 Punkt 2 nicht beachtet haben soll, bleibt auch dieser Hinweis vage. Das angebliche Fehlverhalten wurde nicht konkret unter die dort aufgelisteten „Grundanforderungen“ (insgesamt elf Spiegelstriche) subsumiert. Darüber hinaus sind in dieser Regelung ganz unterschiedliche Anforderungen an das Verhalten der Werktätigen zusammengefasst. Konkrete bzw. zwangsläufige Konsequenzen für den Unfallversicherungsschutz werden darin nicht genannt. Vorliegend können wohl am ehesten die Spiegelstriche 2 und 9 der genannten TGL in Betracht gezogen werden. Insbesondere ein Verstoß gegen Spiegelstrich 2 (wonach jeder Werktätige die für ihn geltenden Rechtsvorschriften, betrieblichen Regelungen und Weisungen des Gesundheits- und Arbeitsschutzes sowie Brandschutzes konsequent einzuhalten hat) ist jedoch in verschiedenen Ausprägungen mit sehr unterschiedlichen Vorwurfsgehalt gegenüber dem Betroffenen denkbar.

Diesen damaligen Unterlagen stehen die eigenen Angaben des Klägers gegenüber, die dieser in der mündlichen Verhandlung am 17. Oktober 2018 in einer für den Senat absolut glaubwürdigen Art und Weise nochmals wiederholt und vertieft hat. Widersprüche, die den Senat am Wahrheitsgehalt der Angaben zweifeln lassen, haben sich dabei nicht ergeben.

Insoweit ist zunächst zu betonen, dass die vorhandenen Aufzeichnungen über die Ermittlungen in der ehemaligen DDR keine Wiedergabe einer eigenen Unfallschilderung des Klägers enthalten. Aktenkundig ist lediglich eine handschriftliche Notiz, wonach der Kläger nicht damit einverstanden war, dass der Unfall von der Versicherung nicht anerkannt wird; unbekannt ist, mit welchen Feststellungen der Kläger nicht einverstanden war, wer die Notiz verfasst hatte, wann die Notiz verfasst worden ist und ob damals bereits eine Entscheidung getroffen worden war oder ob diese erst noch getroffen werden sollte. Die zeitlich erste Aufzeichnung der Angaben des Klägers ergibt sich aus dem Bericht des D-Arztes Dr. G. vom 18. April 1991. Dieser dokumentierte, dass der Kläger auf glattem Boden weggerutscht ist und ihm ein entgegenkommender Gabelstapler über das linke Bein gefahren ist. Anlässlich der ersten Rentenbegutachtung, die am 12. Juli 1991 ebenfalls durch Dr. G. erfolgte, wurde beschrieben, dass der Kläger auf einer öligen Spur in der Halle der Pflanzenproduktion S. ausgerutscht und direkt mit der linken Seite in den Gabelstapler gerutscht ist.

Eigene Angaben machte der Kläger in seiner E-Mail an die Beklagte vom 23. Januar 2014 sowie in den mündlichen Verhandlungen vor dem Sozialgericht am 2. Dezember 2015 und dem Landessozialgericht am 17. Oktober 2018. Nach diesen übereinstimmenden und für den Senat glaubwürdigen Angaben ergibt sich, dass der Kläger auf dem Kartoffelsortierplatz der LPG Pflanzenproduktion S. in Sch. am Unfalltag als Traktorfahrer tätig war. Nach einer kurzen Kaffeepause (der Kläger musste das Beladen seines Traktors abwarten), befand er sich auf dem Rückweg zu seinem Arbeitsplatz draußen vor der Halle, um seine Arbeit fortzusetzen. Beim Verlassen des Pausenraumes überstieg er dort, wie er ausdrücklich einräumt, einen 80 cm hohen und lediglich 2 m langen Handlauf (Geländer). In diesem Moment hat der Kläger jedoch keinen Gabelstapler gesehen. Erst etwa 10 m weiter (etwa im Bereich der Toreinfahrt) kam ihm der Gabelstapler entgegen. Bei dem Versuch auszuweichen, ist er auf einer glatten Stelle ausgerutscht (möglicherweise einer Öllache); in diesem Moment wurde er von dem Gabelstapler im Bereich des linken Beines erfasst und überrollt.

Der Senat ist danach davon überzeugt, dass es sich bei der „Absperrung“, von der in den Unterlagen aus der ehemaligen DDR die Rede ist, nicht um eine als solche gekennzeichnete Absperrung im arbeitsschutzrechtlichen Sinn gehandelt hat, sondern lediglich um ein Geländer bzw. einen Handlauf. Möglicherweise war diesem Geländer damals rein faktisch auch eine Absperrfunktion zugedacht worden. Dies erscheint dem Senat plausibel anhand der Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Denn danach befand sich der Eingang/Ausgang zum Pausenraum direkt neben der Fahrbahn der Gabelstapler. Vermutlich sollte das Geländer die Werktätigen hier zu einer gewissen Vorsicht anhalten. Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Überprüfungen der Arbeitsschutzinspektion der DDR, die ebenso den Schluss zulassen, dass eine gekennzeichnete Absperrung im arbeitsschutzrechtlichen Sinn erst nach dem Unfallereignis des Klägers errichtet werden sollte. Ein Überschreiten der Fahrbahn sollte letztlich ohnehin nicht verhindert werden. Denn nach den glaubhaften Ausführungen des Klägers war ein Betreten der Fahrbahn regelmäßig erforderlich, um zu den verschiedenen Arbeitsplätzen zu gelangen; auch der Kläger konnte nur über die Fahrbahn zurück zu seinem Arbeitsplatz gelangen. Wäre er nicht über den Handlauf gestiegen, hätte er den etwas längeren Weg darum herum wählen müssen; anschließend hätte er ebenfalls die Fahrbahn betreten müssen.

Vor diesem Hintergrund hat der Kläger mit seinem Verhalten nicht mutwillig im oben genannten Sinne eine Gefahrenlage für sich geschaffen. Vielmehr handelte es sich allenfalls um ein einfaches Fehlverhalten. Eine eigene Verletzung von Pflichten im Gesundheits- und Arbeitsschutz schloss aber die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall nach dem Recht der DDR gerade nicht aus.

Darüber hinaus fehlt es an der Ursächlichkeit eines etwaigen Fehlverhaltens für den eingetretenen Unfall. Denn nach den für den Senat überzeugenden Angaben des Klägers hat der Unfall erstens nicht unmittelbar im Bereich des Geländers stattgefunden, sondern erst etwa 10 m davon entfernt in einem Bereich, in den der Kläger auch dann gelangt wäre, wenn er nicht über den Handlauf gestiegen wäre. Zweitens konnte der Kläger dem Gabelstapler deshalb nicht ausweichen, weil er auf etwas ausgerutscht ist. Dieses Ausrutschen war zumindest wesentlich mitursächlich für den eingetretenen Unfall und war nicht Folge des Überwindens der Absperrung.

cc) Etwas anderes ergibt sich nicht aus der Regelung des § 267 Abs. 2 AGB DDR. Abgesehen davon, dass nach den obigen Ausführungen auch die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt sind, bezieht sich diese Regelung aus dem 14. Kapitel des AGB DDR ausschließlich auf die in diesem Kapitel geregelten Schadenersatzleistungen des Betriebes, hier konkret den betrieblichen Schadenersatz bei Arbeitsunfall und Berufskrankheit. Die Anwendung der Regelung setzt bereits nach ihrem Wortlaut das Vorliegen eines Arbeitsunfalles nach § 220 Abs. 1 AGB DDR (vgl. § 267 Abs. 1 AGB DDR) voraus. Bei Vorliegen der in § 267 Abs. 2 AGB DDR genannten weiteren Voraussetzungen besteht dann trotz Vorliegens eines solchen Arbeitsunfalles keine betriebliche Schadenersatzpflicht. Diese betriebliche Schadenersatzpflicht bestand jedoch neben dem Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung.

Bei Vorliegen eines Arbeitsunfalles nach § 220 Abs. 1 bis 3 AGB DDR besteht dem Grunde nach ein Anspruch auf Gewährung der Leistungen der Sozialversicherung; hierbei handelt es sich insbesondere um Ansprüche auf Heilbehandlung, Krankengeld, Unfallrente und Unfallhinterbliebenenrente. Im Falle eines Arbeitsunfalles nach § 220 Abs. 1 AGB DDR bestand daneben ein Anspruch auf Schadensersatz des Werktätigen gegenüber dem Betrieb gemäß §§ 267 ff. AGB DDR; auf diesen Schadenersatz werden Leistungen der Sozialversicherung angerechnet (vgl. Arbeitsrecht von A bis Z, Lexikon von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Frithjof Kunz, Staatsverlag der DDR, Berlin 1984, S. 61 f. und 305 f.; Petri u.a., Leistungsgewährung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten in den neuen Bundesländern, 1993, S. 35 f. und 49 f.). Die Befreiung von der Schadenersatzpflicht nach § 267 Abs. 2 AGB DDR trat in der Praxis dann ein, wenn sich der Arbeitnehmer vorsätzlich selbst den Gesundheitsschaden zugefügt hatte (Petri u.a., Leistungsgewährung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten in den neuen Bundesländern, 1993, S. 50). Auch diese Praxis zeigt, dass das Verhalten des Klägers vorliegend nicht die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall ausschließt.

dd) Die Regelung des § 252 AGB DDR ist nach Auffassung des Senats vorliegend ebenfalls nicht einschlägig. Die Vorschrift stand im 13. Kapitel des AGB DDR und gehörte somit zu den Regelungen betreffend die arbeitsrechtliche Verantwortlichkeit der Werktätigen. Ein Bezug zum Sozialversicherungsrecht bestand nicht (vgl. Arbeitsrecht von A bis Z, Lexikon von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Frithjof Kunz, Staatsverlag der DDR, Berlin 1984, S. 118 bis 120). Im Übrigen handelte es sich bei der Regelung des § 252 Abs. 2 AGB DDR, der den Werktätigen für einen schuldhaften Verstoß gegen die Arbeitsdisziplin sowie eine schuldhafte Schädigung des sozialistischen Eigentums disziplinarisch bzw. materiell zur Verantwortung zieht, um eine Bestimmung, die erkennbar von spezifisch sozialistischen Wertungen und Rechtsmaximen geprägt war, und daher bei der jetzigen Prüfung unberücksichtigt zu bleiben hat (vgl. BSG, Urteil vom 4. Dezember 2001 - B 2 U 35/00 R - SozR 3-8440 Nr. 50 Nr. 1 und juris Rn. 15).

3. Der Senat musste sich bei dieser Sach- und Rechtslage und angesichts der glaubwürdigen Einlassungen des Klägers nicht mehr gedrängt fühlen, den Zeugen C. persönlich zu vernehmen. Dieser hatte bereits schriftlich angegeben, keine genauen Angaben zum Unfallhergang sowie zur Unfallörtlichkeit mehr machen zu können. Dies ist nach der vergangenen Zeit von beinahe 30 Jahren mehr als nachvollziehbar. Die Beklagte selbst hatte ihrerseits mehrfach darauf hingewiesen, dass sie sich von einer erneuten Einvernahme des Zeugen keinen weiteren Erkenntnisgewinn verspreche. Ein Beweisantrag ist in der mündlichen Verhandlung vom 17. Oktober 2018 nicht gestellt worden.

4. Für den Arbeitsunfall des Klägers ist die Beklagte als Rechtsnachfolgerin der BG Druck und Papierverarbeitung zuständig. Dies ergibt sich aus Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet I Abschnitt III Nr. 1 Buchstabe c Abs. 8 Ziff. 2 Buchst. ff EinigVtr. Danach gelten Arbeitsunfälle, bei denen der Zeitpunkt des Versicherungsfalls vor dem 1. Januar 1991 liegt, die aber erst nach diesem Stichtag, jedoch spätestens bis zum 31. Dezember 1994 angezeigt werden, als Fälle, die entsprechend Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet I Abschnitt III Nr. 1 Buchstabe c Abs. 8 Ziff. 2 Buchstabe aa EinigVtr zu verteilen sind. Satz 2 der zuletzt genannten Regelung sieht vor, dass die Arbeitsunfälle numerisch nach Geburtstag und -monat des Leistungsempfängers, innerhalb eines Geburtstages alphabetisch nach dem Familiennamen verteilt werden. Die insoweit vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften erstellte Liste über die Zuständigkeit der Unfallversicherungsträger für im Beitrittsgebiet bis zum 31. Dezember 1990 eingetretene Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten weist die vom 11. Mai bis zum 17. Mai geborenen Versicherten der BG Druck und Papierverarbeitung zu. Von dieser Zuweisung wird der am 12. Mai 1971 geborene Kläger unabhängig von seinem Familiennamen erfasst (vgl. BSG, Urteil vom 30. Juni 2009 - B 2 U 19/08 R -, SozR 4-2700 § 2 Nr. 13 und juris Rn. 33; BGBl. II 1990, S. 1064; Petri u.a., Leistungsgewährung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten in den neuen Bundesländern, 1993, S. 93; BG 1992, 325, 326).

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.

6. Die Revision ist nicht zuzulassen, da weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

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Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 17. Okt. 2018 - L 3 U 43/16 zitiert 13 §§.

Gesetz über den Lastenausgleich


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(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

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(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 1. bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hier

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 44 Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes


(1) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbrach

Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254) - SGB 7 | § 215 Sondervorschriften für Versicherungsfälle in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet


(1) Für die Übernahme der vor dem 1. Januar 1992 eingetretenen Unfälle und Krankheiten als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ist § 1150 Abs. 2 und 3 der Reichsversicherungsordnung in der am Tag vo

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Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 17. Okt. 2018 - L 3 U 43/16 zitiert oder wird zitiert von 3 Urteil(en).

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Sozialgericht Landshut Urteil, 02. Dez. 2015 - S 15 U 260/14

bei uns veröffentlicht am 02.12.2015

Tenor I. Die Klage gegen den Bescheid vom 02.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.07.2014 wird abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten hat die Beklagte nicht zu erstatten. Tatbestand D

Bundessozialgericht Urteil, 04. Juli 2013 - B 2 U 5/12 R

bei uns veröffentlicht am 04.07.2013

Tenor Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 1. Dezember 2011 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stendal

Bundessozialgericht Urteil, 15. Mai 2012 - B 2 U 8/11 R

bei uns veröffentlicht am 15.05.2012

Tenor Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Februar 2011 wird zurückgewiesen.

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(1) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

(2) Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(3) Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist.

(4) Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.

Vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der Deutschen Demokratischen Republik bleiben wirksam. Sie können aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen dieses Vertrags unvereinbar sind. Im übrigen bleiben die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten unberührt.

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 02.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.07.2014 wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten hat die Beklagte nicht zu erstatten.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Anerkennung seines Unfalles vom 24.10.1989 als Versicherungsfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung.

Der am …1971 geborene Kläger erlitt am 24.10.1989 im Gebiet der ehemaligen DDR im Rahmen seiner Beschäftigung bei der landwirtschaftlichen Produktionsgesellschaft (LPG) „Pflanzenproduktion S.“ einen Unfall. Laut Unfallmeldung vom 26.10.1989 hatte er an diesem Tag den Auftrag, vom K.platz S. in Sch. die anfallende Erde und die Steine abzufahren. Als er gegen 20.45 Uhr aus dem Pausenraum kam, übersprang er eine ca. 80 cm hohe Absperrung (- ein Geländer). Im abgesperrten Bereich kollidierte er mit einem heranfahrenden Gabelstapler. Laut Bericht des Kreiskrankenhauses B. vom 30.01.1990 wurde sein linkes Bein vom Gabelstapler überrollt. Er zog sich dabei eine erstgradig offene Oberschenkelfraktur links, sowie eine geschlossene Fraktur im Bereich des linken oberen Sprunggelenks zu.

Im April 1991 wurde der Unfall vom 24.10.1989 vom Chirurgen Dr. G. erstmals einem bundesdeutschen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung gemeldet. Es wurde von dort ein Feststellungsverfahren eingeleitet. Die „LPG Pflanzenproduktion S.“ legte auf Anforderung eine Kopie der Unfallmeldung vom 26.10.1989 vor. Diese enthielt auf der Rückseite unter Punkt 23 folgenden Vermerk der Sozialversicherung der DDR, Kreisdirektion B., vom 31.10.1989: „Als Arbeitsunfall nicht anerkannt“. Mit Hinweis darauf teilte die Berufsgenossenschaft (BG) Druck- und Papierverarbeitung dem Kläger mit Einschreiben vom 26.06.1991 mit, dass die Feststellung der Kreisdirektion B., den Unfall nicht als Arbeitsunfall anzuerkennen, bindend sei und damit ein Entschädigungsanspruch nicht bestünde. Nachdem die BG Druck und Papierverarbeitung mit der Beklagten fusioniert hatte, vertrat auch die Beklagte in ihrem Bescheid vom 19.08.2010 die Auffassung, dass die Sozialbehörden der ehemaligen DDR bereits eine bindende Entscheidung getroffen hätten und diese nach den Einigungsverträgen weiter gelte. Die Beklagte lehnte es ab, diese bindende Entscheidung zurück zu nehmen. Hiergegen wurde Klage beim Sozialgericht Landshut erhoben (Verfahren S 9 U 306/10).

Das Sozialgericht Landshut hat im Gerichtsbescheid vom 30.01.2013 (S 9 U 306/10) rechtskräftig entschieden, dass die Beklagte über die Anerkennung des Unfalles vom 24.10.1989 als Arbeitsunfall noch im Wege eines rechtsbehelfsfähigen Bescheides zu entscheiden habe. In den Gründen wurde ausgeführt, dass bislang weder in der ehemaligen DDR, noch später ein Verwaltungsakt darüber ergangen sei, ob es sich bei dem Unfall vom 24.10.1989 um einen Arbeitsunfall handle. Die Entscheidung der Kreisdirektion B. über die Verneinung eines versicherten Unfalles sei dem Kläger nicht bekannt gegeben worden, so dass darin kein Verwaltungsakt zu sehen sei.

Im streitigen Bescheid vom 02.04.2014 hat die Beklagte festgestellt, dass es sich bei dem Unfall vom 24.10.1989 nicht um einen Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung handle. Nach der Übergansvorschrift des § 1150 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei auf den Unfall noch das Recht der ehemaligen DDR anzuwenden. Die Anerkennung eines Arbeitsunfalles sei nach den dortigen Vorschriften, insbesondere § 267 Abs. 2 des Arbeitsgesetzbuches (AGB) der DDR vom 16.06.1977, ausgeschlossen gewesen, wenn der Werktätige seine Pflichten im Arbeitsschutz grob missachtet habe. Durch das Überspringen der Absperrung am Unfalltag habe der Kläger grob fahrlässig gehandelt, weshalb der Unfall nicht als Arbeitsunfall anerkannt werden könne.

Der eingelegte Widerspruch des Klägers vom 13.04.2014 wurde im Widerspruchsbescheid vom 30.07.2014 zurückgewiesen.

Hiergegen ließ der Kläger mit Schreiben vom 29.08.2014 Klage zum Sozialgericht Landshut erheben.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 02.04.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.07.2014 aufzuheben und die Beklage zu verurteilen, den Unfall des Klägers vom 24.10.1989 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Im Hinblick auf die weiteren Einzelheiten wird verwiesen auf die beigezogene Akte der Beklagten, sowie auf die vorliegende Streitakte.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass der Unfall vom 24.10.1989 als Versicherungsfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung anerkannt wird.

Nach der Übergangsvorschrift des § 1150 Abs. 2 der RVO ist es vorliegend nach dem Recht der ehemaligen DDR zu prüfen, inwieweit es sich bei dem Unfall vom 24.10.1989 um einen Arbeitsunfall handelt. Nach dem AGB der DDR vom 16.06.1977 standen Unfälle im Zusammenhang mit dem Arbeitsprozess grundsätzlich unter Versicherungsschutz (gem. § 220 Abs. 1 AGB). Unfälle jedoch, die sich während der Arbeitszeit ereigneten, wurden dann nicht als Arbeitsunfälle anerkannt, wenn diese bei einer betriebsfremden Tätigkeit eintraten. Auch Unfälle, die durch undiszipliniertes Verhalten entstanden sind, wurden nicht als Arbeitsunfälle anerkannt (vgl. Petri u. a. „Leistungsgewährung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten in den neuen Bundesländern, Erich Schmidt Verlag, ISBN 3503034722 aus dem Jahr 1993). Die Anerkennung eines Unfalles als Arbeitsunfall war nach § 267 Abs. 2 des AGB der DDR dann ausgeschlossen, wenn der Werktätige seine Pflichten im Arbeitsschutz grob missachtet hatte.

Die Kammer ist davon überzeugt, dass das schädigende Ereignis vom 24.10.1989 in unmittelbaren Zusammenhang stand mit einem Verhalten, dass als grob fahrlässig einzustufen ist. Durch das Überspringen der Absperrung hatte der Kläger die damalige Arbeitsschutzvorschrift „TGL 30140.2 im Maßnahmeplan Hackfruchternte 1989“ in grob fahrlässiger Weise verletzt. Dass die Sozialversicherungsbehörden der ehemaligen DDR dies damals schon genauso bewerteten, ergibt sich bereits aus der Unfallmeldung vom 26.10.1989 (vgl. Rückseite, 23: „Als Arbeitsunfall nicht anerkannt“). Laut dieser Unfallmeldung hatte die staatliche Versicherung wegen dieses Unfalls angeordnet, dass die Absperrung nach unten zu verdichten und nach oben zu erhöhen sei, auch seien Sicherheitszeichen anzubringen. Nochmals seien alle Sortierkräfte und alle zugeteilten „Mechanisatoren“ nochmalig zu belehren. Diese Anordnung wäre nicht getroffen worden, wenn es sich, wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 02.12.2015 angab, bei der Absperrung nur um einen „Handlauf“ für die Kartoffelsortierer gehandelt hätte.

Von einem Sicherheitsinspektor G. war der Vorfall vom 24.10.1989 zeitnah untersucht worden. Er berichtete der Arbeitsschutzinspektion G. vom Ergebnis seiner Untersuchung im Bericht vom 26.10.1989 und der Staatlichen Versicherung der DDR im Schreiben vom 15.11.1989. In diesen Berichten gab G. an, dass der „Kollege S.“ (d.h. der Kläger) durch seine „unüberlegte Handlungsweise“ die Ursache für den streitigen Unfall gesetzt hatte. G. schrieb am 26.10.1989 an die Arbeitsschutzinspektion in G., dass er zu dem Vorfall vom 24.10.1989 verschiedene Zeugen einvernommen habe, unter anderem auch den Gabelstaplerfahrer H.-J. Sch.. Dieser gab an, dass er nach der Pause (ab 20.00 Uhr) unter Verwendung des Gabelstaplers weitere Paletten mit Kartoffeln vor die Halle gefahren und dort abgestellt habe. Gegen 20.45 Uhr habe er immer noch Kartoffeln zur Halle gebracht, als plötzlich T. S. von rechts (überraschend) auf den Stapler zugekommen sei. Er habe noch gebremst, habe die Kollision aber nicht mehr vermeiden können. T. S. sei aus der Tür des Pausenraums, welche zur Kartoffelhalle führte, gekommen. Die Absperrung habe S. entweder übersprungen oder unterquert, genau habe er dies nicht gesehen.

Die Kammer sieht sich wegen dieser zeitnahen Befragung des Gabelstaplerfahrers nicht gedrängt, nach über 25 Jahren diesen Zeugen nochmals zu dem lange zurückliegenden Ereignis zu befragen. Auch der Zeuge D. K., der damals vom Sicherheitsinspektor G. befragt worden war, hat angegeben, dass T. S. aus dem Pausenraum getreten sei, die Absperrung überwunden habe und dann von dem Gabelstaplerfahrer, welcher nicht mehr habe bremsen können, angefahren worden sei. Der Sicherheitsinspektor G. empfahl daher, alle Mitarbeiter nochmals darüber zu belehren, dass diese den abgesperrten Bereich nicht betreten dürften. Auch sei die Absperrung nach oben zu erhöhen und nach unten zu verdichten, Sicherheitszeichen seien anzubringen. Wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 02.12.2016 angab, wurde die Tür des Pausenraums an dieser Stelle später auch „eingehaust'.

Nach den vorliegenden Zeugenaussagen und den Aufzeichnungen des Sicherheitsinspektors G. ist die Kammer davon überzeugt, dass der Kläger unter Missachtung der geltenden Arbeitsschutzvorschriften in einen abgesperrten Bereich eingedrungen ist und sich damit die Gefahr verwirklicht hat, vor welcher die Absperrung schützen sollte. Eine bewusste Missachtung von Sicherheitsvorschriften stellt ein grob fahrlässiges Verhalten dar.

Aus diesem Grund hat die Beklagte im angegriffenen Bescheid vom 02.04.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.07.2014 zu Recht den Unfall vom 24.10.1989 nicht als Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung gewertet. Die Klage dagegen war somit abzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 183, 193 SGG.

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Februar 2011 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die gerichtliche Feststellung eines Arbeitsunfalls.

2

Am 5.5.2006 brachte sie während ihrer Freistellungsphase aufgrund vereinbarter Altersteilzeit ihrem Arbeitgeber ein von ihm auszufüllendes Formular für eine sog Vorausbescheinigung von Arbeitsentgelt, um sie sodann beim Rentenversicherungsträger vorzulegen, damit dieser ihr nahtlos zum Eintritt in den Ruhestand Rente wegen Alters in richtiger Höhe zahlen sollte. Dabei stolperte sie auf einer Treppe im Betriebsbereich, stürzte auf ihr linkes Handgelenk und erlitt dadurch einen Speichenbruch des linken Unterarms.

3

Die Beklagte lehnte es ab, deswegen einen Arbeitsunfall festzustellen (Bescheid vom 17.8.2006; Widerspruchsbescheid vom 17.1.2007). Von einer versicherten Tätigkeit sei nicht auszugehen, da die Abgabe der Bescheinigung im eigenwirtschaftlichen Interesse der Klägerin gelegen habe.

4

Die Klagen und die Berufung sind erfolglos geblieben (Gerichtsbescheid des SG Landshut vom 29.3.2010 und Urteil des Bayerischen LSG vom 8.2.2011). Das LSG hat ausgeführt: Ein sachlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit als Beschäftigte und der Überbringung des Formulars liege nicht vor. Das private Interesse der Klägerin im Rahmen ihrer Sozialversicherungsangelegenheit stehe hierbei im Vordergrund. Soweit auch Belange des Arbeitgebers berührt seien, beträfen diese weder seine unmittelbaren Pflichten aus dem Arbeitsvertrag noch seine allgemeine Fürsorgepflicht. Dass die Gewährung von Altersrente zugleich Voraussetzung für die Gewährung einer Betriebsrente sei und dass der Arbeitgeber bei fehlerhafter oder verspäteter Ausstellung der Bescheinigung sich möglicherweise schadensersatzpflichtig mache, rechtfertige kein anderes Ergebnis. Zwar habe das BSG einen Arbeitnehmer auf dem Weg zum Personalbüro als versichert angesehen, wenn er dort eine Arbeitsbescheinigung abholen wollte, die er für die weitere Aufenthaltserlaubnis benötige (Urteil vom 29.1.1986 - 9b RU 76/84 - SozR 2200 § 548 Nr 78). Während der Arbeitgeber die Ausstellung der Arbeitsbescheinigung aufgrund seiner Fürsorgepflicht aus dem Arbeitsverhältnis schulde, diene die Vorausbescheinigung jedoch wesentlich dem eigenwirtschaftlichen Interesse der Realisierung von Sozialleistungsansprüchen.

5

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 8 Abs 1 SGB VII. Das Überbringen des Formulars für eine Vorausbescheinigung des Arbeitgebers stehe im sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit. Die ordnungsgemäße Ausfüllung einer Vorausbescheinigung iS des § 194 SGB VI stelle neben der Erfüllung seiner Fürsorgepflicht aus dem Arbeitsverhältnis eine eigene gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers dar und habe daher nicht ausschließlich in ihrem privaten Interesse gelegen. Eine unrichtige oder verspätete Ausstellung der Bescheinigung hätte nicht nur dazu geführt, dass die Klägerin nicht nahtlos die rentenversicherungsrechtliche Altersrente erhalten hätte. Der Bezug der Altersrente sei auch Voraussetzung für den Bezug der betrieblichen Altersrente gewesen. Die Ausstellung der Bescheinigung habe also im Hinblick auf ihre möglicherweise entstehenden Schadensersatzansprüche im wirtschaftlichen Interesse des Arbeitgebers gelegen. Sie habe ohne weiteres der Auffassung sein können, mit der Überbringung des Formulars und der beabsichtigten gemeinsamen Ausfüllung desselben mit dem zuständigen Mitarbeiter des Arbeitgebers, eine sich aus ihrem Arbeitsverhältnis ergebende Nebenpflicht zu erfüllen. Schließlich müsse die Entscheidung des BSG (Urteil vom 29.1.1986 - 9b RU 76/84 - SozR 2200 § 548 Nr 78) - anders als das LSG meint - aufgrund der in beiden Fällen vergleichbaren Motivation der Arbeitnehmer zur Zurechnung der Abgabe des Formulars zur versicherten Tätigkeit führen. In beiden Fällen bestehe eine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers aus dem Arbeitsverhältnis.

6

Die Klägerin beantragt,

        

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Februar 2011 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 29. März 2010 aufzuheben und unter Aufhebung der die Feststellung eines Versicherungsfalls ablehnenden Entscheidung in dem Bescheid der Beklagten vom 17. August 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Januar 2007 festzustellen, dass das Ereignis vom 5. Mai 2006 ein Arbeitsunfall der Klägerin ist.

7

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

8

Sie hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend. Die Entscheidung des BSG vom 29.1.1986 - 9b RU 76/84 - sei nicht einschlägig. Die Klägerin habe die Vorausbescheinigung zur Berechnung ihrer Altersrente und nicht für ihre Arbeitstätigkeit benötigt. Mangels Aufforderung zum Tätigwerden sei auch die Motivationslage in beiden Fällen unterschiedlich gewesen.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Das LSG hat die zulässige Berufung der Klägerin zu Recht zurückgewiesen, da das SG ihre zulässigen Klagen zutreffend als unbegründet abgewiesen hat.

10

Gemäß § 54 Abs 1 iVm § 55 Abs 1 Nr 1, § 56 SGG ist die Kombination einer Anfechtungs- mit einer Feststellungsklage zulässig.

11

Die Anfechtungsklage richtet sich zulässig gegen die Ablehnung des von der Klägerin bei der Beklagten verfolgten Anspruchs auf Feststellung des geltend gemachten Arbeitsunfalls.

12

Die Feststellungsklage ist statthaft auf die gerichtliche Feststellung eines konkreten Rechtsverhältnisses iS des § 55 Abs 1 Nr 1 SGG, nämlich des geltend gemachten Versicherungsfalls, gerichtet. Der Eintritt eines Versicherungsfalls iS des § 7 Abs 1 SGB VII bedeutet die Begründung eines konkreten, nach Inhalt und Umfang durch den Versicherungsfall bestimmten Leistungsrechtsverhältnisses zwischen dem Versicherten und einem bestimmten Unfallversicherungsträger, aus dem konkrete Rechte auf Versicherungsleistungen entstehen können, aber nicht müssen.

13

Die Klägerin hat auch ein berechtigtes Interesse an der baldigen gerichtlichen Feststellung, ob ein Arbeitsunfall vorliegt, also das Leistungsrechtsverhältnis besteht. Insbesondere fehlt es hieran nicht deshalb, weil sie nach ständiger Rechtsprechung des BSG zulässig auch eine Klage auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Arbeitsunfalls, also auf Erlass eines feststellenden Verwaltungsaktes, erheben könnte. Der prozessuale Nachrang der Feststellungsklage im Verhältnis zu den (Gestaltungs- und) Leistungsklagen (Verpflichtungsklagen, allgemeine Leistungsklagen) besteht nur, wenn das jeweilige Rechtsschutzbegehren umfassend und effektiv durch eine dieser spezieller ausgestalteten Klagen verfolgt werden kann. Die Feststellungsklage ist aber gerade bei der Entscheidung über das Vorliegen eines Versicherungsfalls jedenfalls gleich rechtsschutzintensiv, da die gerichtliche Feststellung des Versicherungsfalls mit Eintritt ihrer Unanfechtbarkeit für die Beteiligten auch materiell rechtskräftig wird (§§ 141 Abs 1, 179, 180 SGG). Allerdings kann die Verpflichtungsklage dem maßgeblichen (§ 123 SGG) Begehren des Verletzten im Einzelfall eher entsprechen. Daher erkennt das BSG ein Wahlrecht des Verletzten zwischen einer zulässigen Feststellungs- und einer zulässigen Verpflichtungsklage an (zuletzt BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 = SozR 4-2700 § 11 Nr 1, RdNr 12 mwN; BSG vom 27.4.2010 - B 2 U 23/09 R - Juris RdNr 9 mwN - UV-Recht Aktuell 2010, 897 und BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 29/06 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 25 RdNr 8 mwN).

14

Die Klagen sind, wie die Vorinstanzen richtig gesehen haben, nicht begründet.

15

Die Anfechtungsklage ist unbegründet, weil die Ablehnung der Feststellung eines Arbeitsunfalls durch die Beklagte rechtmäßig und die Klägerin dadurch nicht in einem ihr zustehenden subjektiv-öffentlichen Recht verletzt ist (§ 54 Abs 2 S 1 SGG). Sie hat nämlich gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung, da kein Arbeitsunfall vorliegt. Deswegen ist der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig und auch die Feststellungsklage unbegründet, weil das umstrittene Rechtsverhältnis nicht besteht.

16

Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Feststellung eines Arbeitsunfalls vom 5.5.2006.

17

Der Versicherte kann vom zuständigen Unfallversicherungsträger gemäß § 102 SGB VII die Feststellung eines Versicherungsfalls, hier eines Arbeitsunfalls iS von § 8 Abs 1 SGB VII, beanspruchen, wenn ein solcher eingetreten ist(vgl BSG vom 31.1.2012 - B 2 U 2/11 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, Juris RdNr 15 sowie BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - SozR 4-2700 § 11 Nr 1 RdNr 15 f).

18

Nach § 8 Abs 1 S 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit(versicherte Tätigkeit, S 1). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Abs 1 S 2).

19

Ein Arbeitsunfall setzt danach voraus: Eine Verrichtung des Verletzten vor dem fraglichen Unfallereignis muss den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt haben. Diese Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis (Unfallereignis) wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität). Diese Einwirkung muss schließlich einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten wesentlich verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität; vgl ua BSG vom 31.1.2012 - B 2 U 2/11 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, Juris RdNr 16; BSG vom 29.11.2011 - B 2 U 10/11 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; BSG vom 18.1.2011 - B 2 U 9/10 R - BSGE 107, 197 = SozR 4-2700 § 2 Nr 17, RdNr 10; BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 27/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 30 RdNr 10 mwN).

20

Die Klägerin hat keine versicherte Tätigkeit verrichtet, war also keine Versicherte und hat deshalb keinen Arbeitsunfall erlitten, als sie ihrem Arbeitgeber das Formular für eine Vorausbescheinigung von Arbeitsentgelt für den Rentenversicherungsträger brachte und dabei auf einer Treppe im Betriebsbereich stürzte. Versicherter ist jemand nur, wenn, solange und soweit er den Tatbestand einer (in der freiwilligen Versicherung nach § 6 Abs 1 SGB VII nur kraft Antrags iS des Abs 2 aaO) versicherten Tätigkeit durch eigene Verrichtungen erfüllt.

21

Eine Verrichtung ist jedes konkrete Handeln eines Verletzten, das (objektiv) seiner Art nach von Dritten beobachtbar (BSG vom 9.11.2010 - B 2 U 14/10 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 39 RdNr 22) und (subjektiv) - zumindest auch - auf die Erfüllung des Tatbestandes der jeweiligen versicherten Tätigkeit ausgerichtet ist. Diese auch als "Handlungstendenz" bezeichnete subjektive Ausrichtung des objektiven konkreten Handelns des Verletzten ist eine innere Tatsache.

22

Wenn das beobachtbare objektive Verhalten allein noch keine abschließende Subsumtion unter den jeweiligen Tatbestand der versicherten Tätigkeit erlaubt, diese aber auch nicht ausschließt, kann die finale Ausrichtung des Handelns auf die Erfüllung des jeweiligen Tatbestandes, soweit die Intention objektiviert ist (sog objektivierte Handlungstendenz), die Subsumtion tragen. Die bloße Absicht einer Tatbestandserfüllung (erst recht nicht eine niedrigere Vorsatzstufe) reicht hingegen nicht.

23

Zwar liegt die objektive Grundvoraussetzung der Verrichtung einer versicherten Tätigkeit, das von außen beobachtbare Handeln an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, mit dem Begehen der Treppe vor. Dieses sehr unspezifische Verhalten lässt aber aus sich heraus keinen Schluss auf die Erfüllung eines bestimmten Tatbestandes einer versicherten Tätigkeit zu. Jedoch steht es in natürlicher Handlungseinheit mit der Überbringung des Formulars, dessen Ausfüllung als Vorausbescheinigung die Klägerin von ihrem Arbeitgeber beanspruchte. Daher kommt, wie die Vorinstanzen zutreffend angesprochen haben, als einziger Tatbestand einer versicherten Tätigkeit der der Beschäftigtenversicherung, also die Tätigkeit als "Beschäftigte" iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII in Betracht.

24

Die Klägerin hat die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Beschäftigung iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift sind "Beschäftigte" versichert.

25

Das Gesetz stellt für die Versicherteneigenschaft nicht abstrakt auf einen rechtlichen "Status" als "Beschäftigter" ab. In der gesetzlichen Unfallversicherung sind Rechte auf Versicherungsleistungen nach den §§ 26 ff SGB VII bei Arbeitsunfällen iS des § 8 Abs 1 S 1 SGB VII nur wegen solcher Unfälle vorgesehen, die infolge "einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit)" entstanden sind. Die Tatbestände der versicherten Tätigkeiten sind jeweils gesondert materiell gesetzlich bestimmt und begründen eigenständige "Sparten" der gesetzlichen Unfallversicherung mit eigenen Schutzbereichen. Nur wenn, solange und soweit jemand den Tatbestand einer versicherten Tätigkeit durch eine eigene Verrichtung erfüllt, ist er gegen Unfälle (§ 8 Abs 1 S 2 SGB VII) versichert, die rechtlich wesentlich durch diese Verrichtung verursacht werden.

26

Deswegen reicht die Fiktion einer Beschäftigung für Personen nach § 7 Abs 1a SGB IV, die wegen Altersteilzeit von der Pflicht zur Arbeitsleistung freigestellt sind, zur Begründung der Versicherteneigenschaft nicht aus. § 7 Abs 1 und 1a SGB IV lassen die unfallversicherungsrechtliche Bedeutung des Rechtsbegriffs "Beschäftigte" iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII unberührt, soweit sie davon abweichen(§ 1 Abs 3 SGB IV). Erforderlich ist auch bei solchen Freigestellten stets die tatsächliche Verrichtung einer Beschäftigung.

27

1. Eine nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versicherte Tätigkeit als "Beschäftigter" setzt tatbestandlich voraus, dass der Verletzte eine eigene Tätigkeit(vgl auch § 121 Abs 1 SGB VII) in Eingliederung in das Unternehmen eines anderen (vgl § 7 Abs 1 SGB IV) zu dem Zweck verrichtet, dass die Ergebnisse seiner Verrichtung diesem und nicht ihm selbst unmittelbar zum Vorteil oder Nachteil gereichen (§ 136 Abs 3 Nr 1 SGB VII).

28

Das ist nur der Fall, wenn

-       

seine Verrichtung zumindest dazu ansetzt und darauf gerichtet ist, eine eigene objektiv bestehende Haupt- oder Nebenpflicht aus seinem Beschäftigungsverhältnis zu erfüllen,

-       

er eine objektiv nicht geschuldete Handlung vornimmt, um eine vermeintliche Pflicht aus dem Beschäftigungsverhältnis zu erfüllen, sofern er nach den besonderen Umständen seiner Beschäftigung zur Zeit der Verrichtung annehmen durfte, ihn treffe eine solche Pflicht,

-       

er eigene unternehmensbezogene Rechte aus der Beschäftigung ausübt.

29

a) Für die Verrichtung einer Tätigkeit als Beschäftigter iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII kommt es nach dem Wortlaut dieser Vorschrift im Zusammenhang des SGB VII objektiv auf die Eingliederung des Handelns des Verletzten in das Unternehmen eines anderen und subjektiv auf die zumindest auch darauf gerichtete Willensausrichtung an, dass die eigene Tätigkeit unmittelbare Vorteile nur für das Unternehmen des anderen bringen soll. Denn nur unter diesen Voraussetzungen ist nicht der die Tätigkeit Verrichtende selbst Unternehmer im unfallversicherungsrechtlichen Sinne (§ 136 Abs 3 Nr 1 SGB VII), sondern der andere, der durch sie unmittelbar begünstigt wird. Der "Beschäftigte" verrichtet seine Beschäftigung also nur, wenn er Handlungen in Unterordnung zur selbständigen Tätigkeit eines anderen und zu deren unmittelbaren Förderung vornimmt.

30

b) Auch die Entstehungsgeschichte des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII führt zu diesem Ergebnis.

31

Nach den Gesetzesmaterialien zum Gesetz zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz ) vom 7.8.1996 (BGBl I 1254) erfasst § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII die Beschäftigten iS des § 7 Abs 1 SGB IV(vgl BT-Drucks 13/2204, S 74 zu § 2 Abs 1 SGB VII). Danach ist Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis (S 1). Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers (S 2).

32

§ 7 Abs 1 SGB IV ist mit Wirkung vom 1.7.1977 durch Gesetz vom 23.12.1976 (BGBl I 3845, 3846) eingeführt worden. Eine entsprechende Vorschrift gab es bis dahin nicht. Der Begriff der Beschäftigung war jedoch Gegenstand einer umfangreichen Rechtsprechung zu allen Bereichen des Sozialversicherungsrechts, die mit der Begriffsbestimmung zu § 7 SGB IV im Wesentlichen übereinstimmt. Nach § 7 Abs 1 SGB IV liegt eine Beschäftigung zwar immer dann vor, wenn ein Arbeitsverhältnis besteht; sie kann allerdings auch ohne ein Arbeitsverhältnis gegeben sein (vgl BT-Drucks 7/4122, S 31). Hierin ist eine Konkretisierung und behutsame Weiterentwicklung der in der Rechtsprechung bereits vorher herausgearbeiteten Rechtsgrundsätze zu sehen (vgl Knospe in Hauck/Noftz, SGB IV, Stand August 2009, K § 7 RdNr 9 unter Hinweis auf BSGE 37, 10, 13; 41, 24, 25; 41, 41, 53; vgl zur Entwicklung des § 7 SGB IV in der Folgezeit: Seewald in Kasseler Kommentar, § 7 SGB IV RdNr 1, Stand April 2012 sowie Rittweger in BeckOK SGB IV, § 7 RdNr 1, Stand 1.3.2012). Auch Dienstleistungsverhältnisse anderer Art werden erfasst, soweit das Handeln des Dienstverpflichteten sich in das Unternehmen des Dienstberechtigten einfügt und dessen unmittelbarer Förderung dient.

33

Ein Verletzter hat nach den allgemeinen Anhaltspunkten des § 7 Abs 1 SGB VII dann eine Beschäftigung iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII ausgeübt, wenn er sich in ein fremdes Unternehmen (eine fremde Arbeitsorganisation) eingliedert und seine konkrete Handlung sich dem Weisungsrecht eines Unternehmers, insbesondere in Bezug auf Zeit, Dauer und Art der Verrichtung, unterordnet(vgl hierzu etwa BSG vom 29.1.1981 - 12 RK 63/79 - BSGE 51, 164, 167 = SozR 2400 § 2 Nr 16 mwN sowie BSG vom 17.3.1992 - 2 RU 22/91 - SozR 3-2200 § 539 Nr 16 S 57). Naturgemäß ist dieses Weisungsrecht besonders bei Diensten höherer Art erheblich eingeschränkt; es genügt für die Unterordnung unter die Tätigkeit des anderen die "funktionsgerecht dienende Teilhabe am Arbeitsprozess" (vgl hierzu schon BSG vom 14.12.1999 - B 2 U 38/98 R - BSGE 85, 214, 216 = SozR 3-2200 § 539 Nr 48 S 202 mwN).

34

c) Ferner sind die unfallversicherungsrechtlichen Bedeutungen der Begriffe des "Beschäftigten" und der Verrichtung einer Beschäftigung iS von § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII eigenständig nach dem Zweck dieses Versicherungstatbestandes im Gefüge des SGB VII zu bestimmen.

35

Die Schutzzwecke der Beschäftigtenversicherung und ihre Stellung im Rechtssystem begrenzen den Anwendungsbereich des Versicherungstatbestandes des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII gleichfalls auf die oben umschriebenen Voraussetzungen.

36

Zweck der Beschäftigtenversicherung ist vor allem anderen der umfassende Unfallversicherungsschutz aller Beschäftigten vor und bei Gesundheitsschäden (oder Tod) infolge der Verrichtung der Beschäftigung, unabhängig davon, ob ein anderer den Unfall überhaupt mitverursacht und ggf dabei rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hat.

37

Die Versicherung zielt primär auf die Verhütung von Gesundheitsschäden und Tod infolge der Gefahren ab, denen die Beschäftigten gerade durch die Verrichtung der Beschäftigung in Eingliederung in den fremdbestimmten Unternehmensbereich ausgesetzt sind (Prävention nach §§ 14 ff SGB VII). Ferner wird ihnen, falls die Prävention versagt, bei Gesundheitsschäden eine umfassende medizinische Rehabilitation sowie berufliche und soziale Teilhabe gesichert. Zudem werden sie gegen die wirtschaftlichen Folgen einer unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit oder Minderung der Erwerbsfähigkeit geschützt. Bei unfallbedingtem Tod sollen auch ihre Familienangehörigen gegen den Unterhaltsverlust abgesichert werden.

38

Daneben soll die Beschäftigtenversicherung auch den sog Betriebsfrieden nach Unfällen infolge der Verrichtung der Beschäftigung schützen, wenn umstritten sein könnte, ob der Unternehmer (oder ein ihm gesetzlich gleichgestellter Dritter) den Gesundheitsschaden oder den Tod mitverursacht und ggf dabei rechtswidrig und fahrlässig oder sogar grob fahrlässig gehandelt hat und dem Verletzten deswegen nach Zivilrecht/Arbeitsrecht haftet. Da die Versicherung dem Verletzten die Schadensfolgen weitgehend ausgleicht, besteht insoweit kein Bedarf für einen Rechtsstreit zwischen dem Verletzten und dem Unternehmer (oder ihm gleichgestellten Dritten), wenn dieser nicht vorsätzlich gehandelt hat. Deshalb entzieht das SGB VII dem Verletzten insoweit seine ggf nach Zivilrecht entstandenen Schadensersatzansprüche (einschließlich der Schmerzensgeldansprüche) gegen den Unternehmer (§§ 104 bis 109 SGB VII).

39

Schließlich bezweckt sie auch eine gerechte Lastenverteilung unter den beitragszahlenden Unternehmern, die durch ihre Umlagebeiträge zu ihrer Berufsgenossenschaft den Versicherungsschutz in der Beschäftigtenversicherung bezahlen. Ein Unternehmer, der den Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig mitverursacht hat, haftet dem Unfallversicherungsträger (also mittelbar auch den anderen Unternehmern) auf Ersatz der Ausgaben für Versicherungsleistungen an den Verletzten (§§ 110 bis 113 SGB VII).

40

Die Beschäftigtenversicherung hat also in diesem Sinne und in diesen Grenzen eine möglicherweise gegebene zivilrechtliche Haftung der Unternehmer (oder gleichgestellter Dritter) gegenüber den Beschäftigten aus Gefährdungshaftung, Delikt oder aus der Verletzung von arbeitsrechtlichen Schutz- oder Fürsorgepflichten ersetzt (vgl BSG vom 19.12.2000 - B 2 U 37/99 R - BSGE 87, 224 = SozR 3-2200 § 548 Nr 41; Gitter/Nunius in Schulin, HS-UV, § 5 RdNr 28, 51, 119; zu §§ 539 Abs 1 Nr 1, 636 ff RVO: BSG vom 25.10.1989 - 2 RU 26/88 - SozR 2200 § 548 Nr 96; ferner auch BSG vom 26.6.2007 - B 2 U 17/06 R - BSGE 98, 285 = SozR 4-2700 § 105 Nr 2, RdNr 16 ff).

41

Sie bildet jeher den Kern des Systems der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl schon § 95 des Unfallversicherungsgesetzes vom 6.7.1884, RGBl 69; §§ 898 f RVO vom 19.7.1911, RGBl 509; die Vorläufervorschrift in § 636 Abs 1 RVO). Sie versichert im genannten Sinn die Beschäftigten unter weitgehendem Ausschluss ihrer zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche nur gegen solche Gesundheits- und Lebensgefahren, die sich spezifisch daraus ergeben, dass sie Tätigkeiten für einen anderen unter Eingliederung in dessen Tätigkeit und nur zu dessen unmittelbarem Vorteil verrichten.

42

2. Auch die Entwicklung der Rechtsprechung des BSG zu § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII und dessen Vorgängervorschriften führt zu dem Ergebnis, dass nur unter den drei oben genannten Voraussetzungen eine Beschäftigung verrichtet wird.

43

a) Nach der Rechtsprechung des BSG wird eine Beschäftigung iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII verrichtet, wenn der Verletzte zumindest dazu ansetzt, eine ihn gegenüber dem Unternehmer treffende Haupt- oder Nebenpflicht aus dem Beschäftigungsverhältnis tatsächlich zu erfüllen.

44

aa) Dies ist dann der Fall, wenn die Verrichtung eine Hauptpflicht des Beschäftigten erfüllt, weil sie die vertragsgemäß geschuldete Arbeits- oder Dienstleistung ist (vgl BSG vom 31.1.2012 - B 2 U 2/11 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, Juris RdNr 18; BSG vom 9.11.2010 - B 2 U 14/10 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 39 RdNr 19; BSG vom 18.3.2008 - B 2 U 12/07 R - SozR 4-2700 § 135 Nr 2 RdNr 14; BSG vom 7.12.2004 - B 2 U 47/03 R - Juris RdNr 26 - SozR 4-2700 § 8 Nr 11).

45

bb) Der Tatbestand der versicherten Tätigkeit iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII wird auch erfüllt, wenn die Verrichtung eine Nebenpflicht des Beschäftigten gegenüber dem Unternehmer aus dem Beschäftigungsverhältnis erfüllen soll.

46

Als Nebenpflichten kommen vor allem die Mitwirkungspflichten des Beschäftigten als Gläubiger von Leistungspflichten des Unternehmers (§§ 293 ff BGB) und die Pflichten zur Rücksichtnahme auf dessen Rechte, Rechtsgüter und Interessen in Betracht. Diese seit dem 1.1.2002 in § 241 Abs 2 BGB ausdrücklich normierte Pflicht wurde zuvor aus § 242 BGB hergeleitet(BAG vom 22.1.2009 - 8 AZR 161/08 - Juris RdNr 27, NZA 2009, 608; vgl auch Müller-Glöge in Münchener Kommentar zum BGB, § 611, RdNr 985 f). Arbeitsrechtlich muss jeder Vertragspartner seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis so erfüllen, seine Rechte so ausüben und die im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehenden Interessen des Vertragspartners so wahren, wie dies unter Berücksichtigung der wechselseitigen Belange verlangt werden kann (vgl BAG vom 16.2.2012 - 6 AZR 553/10 - Juris RdNr 12, zur Veröffentlichung in BAGE vorgesehen; BAG vom 13.8.2009 - 6 AZR 330/08 - Juris RdNr 31 - BAGE 131, 325; BAG vom 19.5.2010 - 5 AZR 162/09 - Juris RdNr 26 - BAGE 134, 296; Müller-Glöge in Münchener Kommentar zum BGB, § 611, RdNr 984, 1074). Gleiches gilt für Beschäftigte und Unternehmer, die nicht durch ein Arbeitsverhältnis, sondern durch ein anderes Beschäftigungsverhältnis miteinander verbunden sind. Auch für den Beschäftigten zählt dazu die sog Treuepflicht, sich im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses so zu verhalten, dass Leben, Körper, Eigentum und sonstige absolute Rechtsgüter des Unternehmers nicht verletzt werden (vgl dazu BSG vom 18.3.2008 - B 2 U 12/07 R - SozR 4-2700 § 135 Nr 2 RdNr 16).

47

Das BSG hat bisher zumeist nicht zwischen Haupt- oder Nebenpflichten des Beschäftigten unterschieden. Die Erfüllung des Tatbestandes des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII (bzw nach früherem Sprachgebrauch: der innere Zusammenhang zwischen der Verrichtung und der versicherten Tätigkeit) wurde als gegeben erachtet, wenn die Verrichtung Teil der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung des Beschäftigten war, bzw dann, wenn der Beschäftigte zur Erfüllung einer sich aus seinem Arbeitsvertrag ergebenden Verpflichtung handelte(vgl BSG vom 30.6.2009 - B 2 U 22/08 R - Juris RdNr 14 - UV-Recht Aktuell 2009, 1040; BSG vom 18.11.2008 - B 2 U 31/07 R - Juris RdNr 11 - UV-Recht Aktuell 2009, 485; so auch noch einleitend, später aber differenzierend BSG vom 18.3.2008 - B 2 U 12/07 R - SozR 4-2700 § 135 Nr 2 RdNr 14; BSG vom 30.1.2007 - B 2 U 8/06 R - Juris RdNr 12 - UV-Recht Aktuell 2007, 860; BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 11/04 R - BSGE 94, 262 = SozR 4-2700 § 8 Nr 14, RdNr 14; BSG vom 7.12.2004 - B 2 U 47/03 R - Juris RdNr 26 - SozR 4-2700 § 8 Nr 11).

48

Es hat aber seit dem genannten Urteil vom 18.3.2008, insbesondere in seinen Entscheidungen vom 9.11.2010 - B 2 U 14/10 R - (SozR 4-2700 § 8 Nr 39 RdNr 19) und vom 31.1.2012 - B 2 U 2/11 R - (Juris RdNr 18 - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen - SGb 2012, 148 ), ausdrücklich die Erfüllung beider Pflichtenarten aus dem Beschäftigungsverhältnis als Verrichtung einer versicherten Beschäftigung anerkannt (vgl auch BSG vom 17.2.2009 - B 2 U 26/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 32 RdNr 21). Es hat schon im Urteil vom 18.3.2008 (B 2 U 12/07 R - SozR 4-2700 § 135 Nr 2 RdNr 16 ff) entschieden, dass auch die Erfüllung allein einer Nebenpflicht aus dem Beschäftigungsverhältnis den Tatbestand der versicherten Tätigkeit iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII zu erfüllen vermag. Den Arbeitnehmer treffe die aus § 241 Abs 2 BGB folgende Nebenpflicht, sich bei der Abwicklung des Arbeitsverhältnisses so zu verhalten, dass Leben, Körper, Eigentum und sonstige absolute Rechtsgüter des Arbeitgebers nicht verletzt werden. Das Aufstellen eines Warndreiecks sei eine Nebenpflicht eines Beschäftigten, der in Verrichtung der Beschäftigung mit dem Pkw des Unternehmers an einem Verkehrsunfall beteiligt sei. Dadurch würden die Unfallstelle gesichert, der nachfolgende Verkehr gewarnt und damit Folgeschäden vermieden, die sich zu Lasten des Unternehmers auswirken könnten (BSG vom 18.3.2008 - B 2 U 12/07 R - SozR 4-2700 § 135 Nr 2 RdNr 16 ff). Es hat dazu festgestellt, dass der Verletzte durch sein Handeln objektiv seine Nebenpflicht aus dem Beschäftigungsverhältnis erfüllt hatte. Daher kam es nicht darauf an, ob er dabei das Rechtsbewusstsein hatte, auch einer Nebenpflicht aus dem Beschäftigungsverhältnis nachzukommen, oder ob er in erster Linie sich und andere schützen und seiner allgemeinen Verkehrssicherungspflicht genügen wollte. Das Bewusstsein, dem Unternehmer rechtlich zu der Handlung verpflichtet zu sein, ist weder notwendige subjektive Voraussetzung des Versicherungstatbestandes der Beschäftigung noch einer Verrichtung einer Beschäftigung. Es reicht, wenn die Intention auch darauf gerichtet war, etwas zu tun, das objektiv dem Unternehmer geschuldet war.

49

cc) Eigene Nebenpflichten aus dem Beschäftigungsverhältnis gegenüber dem Unternehmer erfüllt der Verletzte auch, wenn er Mitwirkungshandlungen vornimmt, die ihm zu dem Zweck obliegen (vgl §§ 241 Abs 2, 293 ff BGB), dass der Unternehmer seine ihm aus dem Beschäftigungsverhältnis gegenüber dem Beschäftigten treffenden Haupt- oder Nebenpflichten erfüllen kann.

50

Das ist der Fall bei Handlungen des Verletzten zwecks Empfangnahme des Lohnes (BSG vom 1.12.1960 - 5 RKn 69/59 - BSGE 13, 178 = SozR Nr 31 zu § 543 RVO unter Bezugnahme auf RVA EuM Bd 20, 31; 26, 165; 33, 270) oder zur Geltendmachung von (vermeintlichen) Fehlern bei der Lohnabrechnung (BSG vom 1.12.1960 - 5 RKn 69/59 - BSGE 13, 178 = SozR Nr 31 zu § 543 RVO) oder zum Abtransport von Deputatholz als Teil der Vergütung (BSG vom 4.5.1999 - B 2 U 21/98 R - SozR 3-2200 § 548 Nr 34). In diesen Fällen ist der Beschäftigte zivilrechtlich gehalten, dem Unternehmer zu ermöglichen, seine Hauptpflicht (§ 611 Abs 1 BGB) zu erfüllen, die Vergütung zur rechten Zeit, am rechten Ort, in rechter Weise und in richtiger Höhe zu leisten (vgl BSG vom 4.5.1999 - B 2 U 21/98 R - SozR 3-2200 § 548 Nr 34 ua unter Hinweis auf BSGE 13, 178 = SozR Nr 31 zu § 543 RVO aF; BSGE 41, 207 = SozR 2200 § 548 Nr 16; BSGE 43, 119, 121 = SozR 2200 § 548 Nr 28).

51

Gleiches gilt für eine ggf bestehende Obliegenheit des Beschäftigten, dem Unternehmer die Erfüllung seiner Nebenpflichten aus dem Beschäftigungsverhältnis zu ermöglichen. Solche Nebenpflichten des Beschäftigten können sich aus § 241 Abs 2 BGB, der nicht nur in Arbeitsverhältnissen gilt, ergeben. Voraussetzung ist, dass eine solche Haupt- oder Nebenpflicht des Unternehmers bereits entstanden ist und er sie nur erfüllen kann, wenn der Beschäftigte in bestimmter und ihm zumutbarer Weise mitwirkt. Denn der Beschäftigte und der Unternehmer müssen bei ihrem Zusammenwirken jeweils auf das Wohl und die berechtigten Interessen des anderen Rücksicht nehmen (vgl BAG vom 16.11.2010 - 9 AZR 573/09 - BAGE 136, 156 mwN; vgl zu den Einzelheiten Preis in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 12. Aufl 2012, § 611 BGB RdNr 610 ff).

52

In diesem Sinn hat das BSG die Verrichtung einer Beschäftigung in einer Mitwirkungshandlung gesehen, als ein Beschäftigter den Weg zum Ort seiner bisherigen Tätigkeit zurücklegte, um sich dort seine Arbeitspapiere aushändigen zu lassen. Der Beschäftigte hatte den Unternehmer in gebotener Rücksichtnahme auf die Belange seines bisherigen Arbeitgebers durch die (beabsichtigte) Empfangnahme der Arbeitspapiere von der diesem obliegenden (nachgehenden) Nebenpflicht entlastet, ihm seine Arbeitspapiere - nach erfolglosem ersten Abholversuch - auf seine Rechnung und Gefahr zu übersenden (BSG vom 30.8.1963 - 2 RU 68/60 - BSGE 20, 23, 25 = SozR Nr 43 zu § 543 RVO aF). Die Verrichtung einer Beschäftigung lag auch bei einer Mitwirkungshandlung des Verletzten vor, der vom Arbeitgeber eine Arbeitsbescheinigung abholte, die er auf Verlangen der Ausländerbehörde für seine weitere Aufenthaltserlaubnis und damit für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses benötigte. Er hat vom Arbeitgeber eine Handlung begehrt, die dieser ihm aus dem Arbeitsverhältnis schuldete; das Abholen der Bescheinigung war vertragsgemäße arbeitsrechtliche Nebenpflicht des Beschäftigten (BSG vom 29.1.1986 - 9b RU 76/84 - Juris RdNr 11 - SozR 2200 § 548 Nr 78).

53

b) Keine Verrichtung einer Beschäftigung iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII durch Erfüllung einer Nebenpflicht liegt hingegen dann vor, wenn der Verletzte zur Mitwirkungshandlung bei der Pflichtenerfüllung des Unternehmers aus dem Beschäftigungsverhältnis nicht verpflichtet war. Dasselbe gilt, wenn die Pflicht des Unternehmers nur entstanden ist, weil der Beschäftigte nach freiem Ermessen ein Recht gegen ihn ausgeübt hatte, das nicht auf die Förderung des Unternehmens gerichtet ist und auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, die den Unternehmer hoheitlich für den Staat zugunsten von Verwaltungsverfahren in Dienst nimmt. In beiden Fällen erfüllt nämlich der Beschäftigte keine Haupt- oder Nebenpflichten aus dem Beschäftigungsverhältnis, sondern begibt er sich freiwillig in den unternehmerischen Gefahrenbereich, um daraus unmittelbar nur eigene Vorteile zu erlangen (sog eigenwirtschaftliche Verrichtung).

54

War er zur Mitwirkung nicht verpflichtet, unterlag er dem unternehmerischen Gefahrenbereich nicht kraft des Beschäftigungsverhältnisses, sondern kraft freien Entschlusses, wie zB bei einer Gefälligkeit. Entstand die Pflicht des Unternehmers nicht aus dem Beschäftigungsverhältnis, sondern durch die freiwillige Ausübung eines anderweitig begründeten Rechts des Beschäftigten, ist seine Mitwirkungshandlung an der Durchsetzung seines eigenen Rechts nicht "der Beschäftigung geschuldet", sondern allein der Verfolgung eigener Interessen, also gleichfalls ein freiwilliger Eintritt in den unternehmerischen Gefahrenbereich. Das wird durch die Beschäftigtenversicherung nicht versichert. Denn sie soll nur gegen solche Gefahren begründet werden, denen der Beschäftigte wegen der Ausübung seiner Beschäftigung im fremden Gefahrenbereich, nicht aber aus eigenem Entschluss in Verfolgung nur eigener Belange ausgesetzt ist. Haupt- und Nebenpflichten aus dem Beschäftigungsverhältnis sind also nur solche, die das Zusammenwirken des Unternehmers mit dem Beschäftigten zur Förderung der Unternehmenszwecke betreffen. In beiden Fallgruppen fehlt es an der aus der Beschäftigung entstehenden Nebenpflicht des Beschäftigten, in der zweiten außerdem an der Förderung der Unternehmenszwecke.

55

In der arbeitsrechtlichen höchstrichterlichen Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt, dass den Arbeitgeber treffende öffentlich-rechtliche Pflichten (zumeist aus dem Steuer- und Sozialversicherungsrecht), die an das Arbeitsverhältnis tatbestandlich anknüpfen und durch die der Arbeitgeber hoheitlich für den Staat in Dienst genommen wird, zugleich zivilrechtliche (arbeitsrechtliche) Nebenpflichten des Arbeitgebers aus dem Arbeitsverhältnis gegenüber dem Arbeitnehmer sind. Sie werden arbeitsrechtlich als Konkretisierungen der privatrechtlichen Fürsorgepflicht des Arbeitgebers verstanden (vgl die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen; BAG vom 29.3.2001 - 6 AZR 653/99 - NZA 2003, 105; BAG vom 11.6.2003 - 5 AZB 1/03 - BAGE 106, 269 ; BAG vom 15.1.1992 - 5 AZR 15/91 - BAGE 69, 204, 210 ; BAG vom 13.5.1970 - 5 AZR 385/69 - BAGE 22, 332 ; BAG vom 30.1.1969 - 5 AZR 229/68 - BB 1969, 407 ; BAG vom 2.6.1960 - 2 AZR 168/59 - BB 1960, 983 ; Linck in Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 14. Aufl 2011, § 106, RdNr 56 mwN; Ring in Handkommentar zum Arbeitsrecht, 2. Aufl 2010, § 611 BGB, RdNr 658; vgl zum Begriff der Fürsorgepflicht auch Boemke in Handkommentar zum Arbeitsrecht, 2. Aufl 2010, § 611 BGB, RdNr 378 mwN, danach stellt die Fürsorgepflicht selbst keine eigenständige Pflicht, sondern ein Bündel einzelner Nebenpflichten dar und soll nach im Vordringen befindlicher Auffassung sogar ganz fallen gelassen werden).

56

Hierauf ist nicht näher einzugehen, da es für die Verrichtung einer Beschäftigung iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII nicht entscheidend auf die arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht des Arbeitgebers oder deren öffentlich-rechtliche "Konkretisierungen" ankommt. Entscheidend ist, ob der Beschäftigte zur Mitwirkung an der Erfüllungshandlung des Arbeitgebers aus dem Beschäftigungsverhältnis verpflichtet war. Falls überhaupt eine Mitwirkungspflicht bestand, ist er nicht "aus dem Beschäftigungsverhältnis" zur Mitwirkung verpflichtet, wenn der Arbeitgeber seine Handlung nur deshalb vornehmen muss, weil der Beschäftigte ein Recht ohne Bindungen aus dem Beschäftigungsverhältnis im ausschließlich eigenen Interesse ausgeübt hat, das ihm durch öffentliches Recht verliehen wurde.

57

c) Ferner verrichtet der Verletzte eine Beschäftigung iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII, wenn er in der vertretbaren, aber objektiv irrigen Annahme handelt, dazu aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses verpflichtet zu sein. Die Annahme dieser Pflicht ist vertretbar, wenn der Beschäftigte nach den besonderen Umständen seiner Beschäftigung zur Zeit der Verrichtung (ex ante) und nach Treu und Glauben annehmen durfte, ihn treffe eine solche Pflicht. Die durchgeführte Verrichtung muss objektiviert darauf ausgerichtet sein, die angenommene Pflicht zu erfüllen.

58

Die Einbeziehung dieser Fallgruppe der vermeintlichen Pflichterfüllung durch den Beschäftigten rechtfertigt sich aus dem genannten ersten Schutzzweck der Beschäftigtenversicherung. Jeder, der etwas in Eingliederung in das Unternehmen eines anderen zu dessen unmittelbarem Vorteil tut, muss, außer bei völliger Weisungsabhängigkeit, seine Pflichten kennen. Er kann durch die Beschäftigung aber auch in Umstände geraten, in denen er sofort entscheiden muss, ob ihn eine Haupt- oder Nebenpflicht zur Vornahme bestimmter Handlungen trifft. Dies ist ggf Teil seiner Pflichten aus seiner Beschäftigung.

59

In diesem Sinne hat das BSG die Verrichtung einer Beschäftigung iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII bejaht, als ein Versicherter aus gutem Grund der Auffassung sein konnte, sich "betriebsdienlich" zu verhalten(BSG vom 18.3.2008 - B 2 U 12/07 R - SozR 4-2700 § 135 Nr 2 RdNr 14 unter Verweis auf BSGE 20, 215, 218 = SozR Nr 67 zu § 542 RVO aF; BSG SozR Nr 30 zu § 548 RVO; BSGE 52, 57, 59 = SozR 2200 § 555 Nr 5). Daher liegt bei einem "nur" eigenwirtschaftlichen Zwecken dienenden Verhalten, also bei einer Handlung mit der Absicht (dolus directus ersten Grades), nur andere Zwecke zu verfolgen als die Erfüllung des Versicherungstatbestandes der Beschäftigung, auch dann keine Verrichtung einer Beschäftigung vor, wenn das Handeln zugleich dem Unternehmen objektiv nützlich ist (BSG vom 18.3.2008 - B 2 U 12/07 R - SozR 4-2700 § 135 Nr 2 RdNr 14 unter Bezugnahme auf BSG vom 25.10.1989 - 2 RU 26/88 - SozR 2200 § 548 Nr 96; BSG vom 20.1.1987 - 2 RU 15/86 - SozR 2200 § 539 Nr 119). Entscheidend ist nur, ob der Verletzte von seinem Standpunkt aufgrund objektiver Anhaltspunkte der Auffassung sein durfte, seine Verrichtung sei von ihm geschuldet, um den Interessen des Unternehmens zu dienen. Dafür reichen aber subjektive Vorstellungen ohne bestätigende objektive Anhaltspunkte nicht aus.

60

d) Den Tatbestand einer versicherten Beschäftigung iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII erfüllt ein Verletzter schließlich auch dann, wenn er handelt, um eigene unternehmensbezogene Rechte wahrzunehmen. Dabei handelt es sich um die Wahrnehmung von Rechten, die die Regelung innerbetrieblicher Belange zum Gegenstand haben und/oder den Zusammenhalt in der Belegschaft und mit der Unternehmensführung fördern. Hierzu zählen ua:

die Teilnahme an Betriebsversammlungen (vgl hierzu etwa Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 8 RdNr 65, Stand Mai 2011; Ricke in Kasseler Kommentar, § 8 SGB VII RdNr 59, Stand Dezember 2011; Schmitt, 3. Aufl 2008, § 8 SGB VII RdNr 40; Schwerdtfeger in Lauterbach, § 8 SGB VII RdNr 179, Stand August 2009; Wagner in jurisPK-SGB VII, § 8 RdNr 103, Stand Mai 2010),

die Tätigkeit als Betriebsratsmitglied bei der Ausübung der im Betriebsverfassungsgesetz vorgesehenen Aufgaben (vgl etwa BSG vom 20.5.1976 - 8 RU 76/75 - BSGE 42, 36, 37 = SozR 2200 § 539 Nr 19 RdNr 18 und BSG vom 20.2.2001 - B 2 U 7/00 R - SozR 3-2200 § 539 Nr 54; vgl ferner Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 8 RdNr 65, Stand Mai 2011; Ricke in Kasseler Kommentar, § 8 SGB VII RdNr 59, Stand Dezember 2011; Schmitt, 3. Aufl 2008, § 8 SGB VII RdNr 38; Schwerdtfeger in Lauterbach, § 8 SGB VII RdNr 180, Stand August 2009; Wagner in jurisPK-SGB VII, § 8 RdNr 102, Stand Mai 2010),

und die Tätigkeiten zur Vorbereitung und Durchführung der zur Bildung der Räte erforderlichen Wahlen (Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 8 RdNr 65, Stand Mai 2011; Ricke in Kasseler Kommentar, § 8 SGB VII RdNr 59, Stand Dezember 2011; Schmitt, 3. Aufl 2008, § 8 SGB VII RdNr 40; Schwerdtfeger in Lauterbach, § 8 SGB VII RdNr 180, Stand August 2009; Wagner in jurisPK-SGB VII, § 8 RdNr 103, Stand Mai 2010; vgl hierzu insgesamt zuletzt auch Krasney, SGb 2012, 130).

61

3. Die Klägerin hat vor ihrem Treppensturz keine versicherte Beschäftigung im Sinne der abschließend aufgeführten Voraussetzungen des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII verrichtet.

62

Nach § 194 Abs 1 S 1 SGB VI(in der bis zum 31.12.2007 geltenden und damit hier maßgeblichen Fassung, die die Vorschrift durch das Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 21.7.2004 - BGBl I 1791 - erhalten hatte ) haben die Arbeitgeber auf Verlangen des Beschäftigten, der für die Zeit nach dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses eine Altersrente beantragt hat, die Pflicht, das voraussichtliche Arbeitsentgelt bis zu drei Monate im Voraus zu bescheinigen (vgl Finke in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 194 RdNr 1, Stand Juli 1996).

63

Die Klägerin beabsichtigte, von ihrem Arbeitgeber eine sog Vorausbescheinigung iS des § 194 SGB VI zu verlangen. Dazu wollte sie ihm das einschlägige Formular vorlegen und hatte sich deshalb auf das Betriebsgelände begeben. Sie hatte also mit der Verrichtung, deren unfallversicherungsrechtliche Bedeutung hier umstritten ist, begonnen.

64

Die Abgabe des Formulars für eine Vorausbescheinigung erfüllt aber weder eine vertragliche Haupt- oder Nebenleistungspflicht der Klägerin aus ihrem Beschäftigungsverhältnis (s sogleich unter a>). Ferner durfte die Klägerin nicht annehmen, sie treffe eine solche Pflicht (dazu unter b>). Schließlich hat sie auch keine unternehmensbezogenen Rechte wahrgenommen (dazu unter c>).

65

a) Die Abgabe des Formulars für die Ausstellung der Vorausbescheinigung iS des § 194 SGB VI ist augenfällig keine sich aus dem Beschäftigungsverhältnis ergebende Hauptpflicht der Klägerin.

66

Sie hat damit auch keine gegenüber dem Unternehmer treffende Nebenpflicht aus dem Beschäftigungsverhältnis erfüllt, sondern, wie die Vorinstanzen richtig gesehen haben, nur eigene Vorteile angestrebt. Mit ihrem Vortrag, sie habe auch abstrakt denkbare mittelbare Schadensersatzansprüche aus verzögerter Betriebsrentenzahlung vom Arbeitgeber abwehren wollen, hat sie keine solche eigene Nebenpflicht dargetan. Sie hat nicht zur Abwendung von Gefahren, die absolut geschützte Rechtsgüter des Unternehmers betrafen, gehandelt, sondern Gefahren bedacht, die allenfalls mittelbar seinen Vermögensinteressen drohten. Nach den Feststellungen des LSG gab es aber keine allgemeine oder spezielle Vermögensfürsorgepflicht der Klägerin für ihren Arbeitgeber. Hierfür sind auch keine Anhaltspunkte ersichtlich.

67

Die beabsichtigte Vorlage des Formulars erfüllte auch keine sie treffende Mitwirkungspflicht, dem Unternehmer dabei Hilfe zu leisten, eine ihm aus dem Beschäftigungsverhältnis ihr gegenüber obliegende Haupt- oder Nebenleistungspflicht zu erfüllen.

68

Die begehrte Ausstellung der Vorausbescheinigung durch den Arbeitgeber ist für die Erfüllung seiner Hauptleistungspflicht gegenüber der Klägerin - nämlich seiner Pflicht zur Vergütung iS des § 611 Abs 1 BGB - offensichtlich ohne rechtlichen Belang. Eine Mitwirkungspflicht der Klägerin zur Ermöglichung der Hauptleistung des Arbeitgebers bestand somit nicht.

69

Sie hatte zudem keine Mitwirkungspflicht aus dem Beschäftigungsverhältnis gegenüber ihrem Arbeitgeber, von diesem die Ausstellung einer Vorausbescheinigung zu verlangen und ihm dies dann durch Vorlage des Formulars zu ermöglichen. Aufgrund ihrer Beschäftigung war sie nicht verpflichtet, vom Unternehmer die Vorausbescheinigung zu verlangen, die ausschließlich der Durchsetzung ihres allein gegen den Rentenversicherungsträger gerichteten Rechts auf nahtlose richtige Zahlung der dort beantragten Altersrente diente.

70

Dass der Unternehmer allein aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses, ohne § 194 SGB VI, nicht verpflichtet war, eine Vorausbescheinigung zu erteilen, liegt auf der Hand. Daher bestand allein auf dieser Grundlage keine Mitwirkungspflicht der Klägerin. Notwendige Voraussetzungen der Entstehung dieser Pflicht waren das Bestehen einer gesetzlichen Vorschrift, die dem Beschäftigten das Recht gegen den Arbeitgeber gewährt, nach freiem Willen die Ausstellung der Bescheinigung zu verlangen, und die Ausübung dieses Rechts. Dieses dient allein dem privaten Interesse der Klägerin an richtiger Rentenzahlung durch den Rentenversicherungsträger. Dasselbe gilt daher auch für ihre Mitwirkung an der Ausstellung der Vorausbescheinigung durch den Arbeitgeber, dessen Unternehmen dadurch nicht berührt wird.

71

Entgegen der Ansicht der Klägerin unterscheidet sich ihr Fall grundlegend von dem der Erteilung einer Arbeitsbescheinigung zur Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis, die auch die Fortführung des Beschäftigungsverhältnisses ermöglichte. Der Arbeitnehmer hat, wie oben schon gesagt, vom Arbeitgeber eine Handlung begehrt, die dieser ihm unmittelbar aus dem Arbeitsverhältnis schuldete; das Abholen der Bescheinigung war vertragsgemäße arbeitsrechtliche Nebenpflicht des Beschäftigten (vgl BSG vom 29.1.1986 - 9b RU 76/84 - SozR 2200 § 548 Nr 78).

72

b) Die Klägerin hat ferner keine objektiv nicht geschuldete Handlung vorgenommen in der vertretbaren, aber irrigen Annahme, damit eine vermeintliche Pflicht aus dem Beschäftigungsverhältnis zu erfüllen. Die Annahme dieser Pflicht ist nur vertretbar, wenn der Beschäftigte nach den besonderen Umständen seiner Beschäftigung zur Zeit der Verrichtung (ex ante) aufgrund objektiver Anhaltspunkte und nach Treu und Glauben annehmen durfte, ihn treffe eine solche Pflicht (BSG vom 18.3.2008 - B 2 U 12/07 R - SozR 4-2700 § 135 Nr 2 RdNr 14; BSG vom 29.1.1986 - 9b RU 18/85 - BSGE 59, 291 = SozR 2200 § 539 Nr 115 und BSG vom 27.6.1991 - 2 RU 17/90 - Juris RdNr 15; vgl auch Wagner in jurisPK-SGB VII, § 8 RdNr 34 f, Stand Mai 2010).

73

Objektive Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin der Auffassung sein durfte, eine vermeintliche eigene Pflicht aus dem Beschäftigungsverhältnis zu erfüllen, sind jedoch nicht ersichtlich. Die von ihr angenommene Vermögensbetreuungspflicht für das Vermögen des Arbeitgebers besteht nicht.

74

c) Schließlich hat die Klägerin durch die beabsichtigte Formularabgabe auch kein eigenes unternehmensbezogenes Recht wahrgenommen. Denn es ist nichts dafür ersichtlich, dass die Handlung die Regelung innerbetrieblicher Belange zum Gegenstand hatte oder sie den Zusammenhalt in der Belegschaft und mit der Unternehmensführung förderte. Vielmehr ging es nur um das eigenwirtschaftliche Interesse an der sofort richtigen Altersrente.

75

4. Das Berufungsgericht hat schließlich auch zu Recht darauf hingewiesen, dass eine versicherte Tätigkeit im Sinne einer sog gemischten Tätigkeit nicht vorliegt. Es liegt mit dem Gehen auf der Treppe vor der Abgabe des Formulars für eine Vorausbescheinigung nämlich nur eine einzige Verrichtung vor. Gemischte Tätigkeiten setzen (zumindest) zwei gleichzeitig ausgeübte untrennbare Verrichtungen voraus, von denen (wenigstens) eine den Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt.

76

Das LSG hat schließlich auch richtig erkannt, dass diese einzige Verrichtung auch nicht auf einer gemischten Motivationslage beruhte. Denn es hat schon nicht festgestellt, dass die Klägerin mit dem Weg zur Vorlage des Formulars zusätzlich noch eine andere Intention hatte als diejenige, die Vorausbescheinigung des Arbeitgebers und dadurch sofort die angestrebte Rentenhöhe zu erhalten.

77

5. Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG.

(1) Für die Übernahme der vor dem 1. Januar 1992 eingetretenen Unfälle und Krankheiten als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ist § 1150 Abs. 2 und 3 der Reichsversicherungsordnung in der am Tag vor Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden Fassung weiter anzuwenden. § 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung gilt nicht für Versicherungsfälle aus dem Wehrdienst ehemaliger Wehrdienstpflichtiger der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik. Tritt bei diesen Personen nach dem 31. Dezember 1991 eine Berufskrankheit auf, die infolge des Wehrdienstes entstanden ist, gelten die Vorschriften dieses Buches.

(2) Die Vorschriften über den Jahresarbeitsverdienst gelten nicht für Versicherungsfälle in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrags genannten Gebiet, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind; für diese Versicherungsfälle ist § 1152 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung in der am Tag vor Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden Fassung weiter anzuwenden mit der Maßgabe, dass der zuletzt am 1. Juli 2001 angepasste Betrag aus § 1152 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung ab 1. Januar 2002 in Euro umgerechnet und auf volle Euro-Beträge aufgerundet wird.

(3) Für Versicherungsfälle im Zuständigkeitsbereich der Unfallversicherung Bund und Bahn nach § 125 Absatz 1, die nach dem 31. Dezember 1991 eingetreten sind, gilt § 85 Abs. 2 Satz 1 mit der Maßgabe, daß der Jahresarbeitsverdienst höchstens das Zweifache der im Zeitpunkt des Versicherungsfalls geltenden Bezugsgröße (West) beträgt.

(4) Für Versicherte an Bord von Seeschiffen und für nach § 2 Abs. 1 Nr. 7 versicherte Küstenschiffer und Küstenfischer ist § 1152 Abs. 6 der Reichsversicherungsordnung in der am Tag vor Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden Fassung weiter anzuwenden mit der Maßgabe, daß an die Stelle der dort genannten Vorschriften der Reichsversicherungsordnung § 92 dieses Buches tritt.

(5) Die Vorschriften über die Anpassung der vom Jahresarbeitsverdienst abhängigen Geldleistungen und über die Höhe und die Anpassung des Pflegegeldes gelten nicht für Versicherungsfälle in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrags genannten Gebiet; für diese Versicherungsfälle sind § 1151 Abs. 1 und § 1153 der Reichsversicherungsordnung in der am Tag vor Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden Fassung weiter anzuwenden mit der Maßgabe, daß an die Stelle der dort genannten Vorschriften der Reichsversicherungsordnung § 44 Abs. 2 und 4 sowie § 95 dieses Buches treten. Abweichend von Satz 1 ist bei den Anpassungen ab dem 1. Juli 2001 der Vomhundertsatz maßgebend, um den sich die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet verändern. § 1151 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung gilt mit der Maßgabe, dass ab 1. Januar 2002 an die Stelle des Pflegegeldrahmens in Deutscher Mark der Pflegegeldrahmen in Euro tritt, indem die zuletzt am 1. Juli 2001 angepassten Beträge in Euro umgerechnet und auf volle Euro-Beträge aufgerundet werden.

(6) Für die Feststellung und Zahlung von Renten bei Versicherungsfällen, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind, ist § 1154 der Reichsversicherungsordnung in der am Tag vor Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden Fassung weiter anzuwenden mit der Maßgabe, daß an die Stelle der dort genannten Vorschriften der Reichsversicherungsordnung die §§ 56 und 81 bis 91 dieses Buches treten.

(7) Für die Feststellung und Zahlung von Leistungen im Todesfall ist § 1155 Abs. 1 Satz 2 und 3 sowie Abs. 2 und 3 der Reichsversicherungsordnung in der am Tag vor Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden Fassung weiter anzuwenden mit der Maßgabe, daß an die Stelle der dort genannten Vorschriften der Reichsversicherungsordnung § 65 Abs. 3 und § 66 dieses Buches treten. Bestand am 31. Dezember 1991 nach dem in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrags genannten Gebiet geltenden Recht ein Anspruch auf Witwenrente, Witwerrente oder Waisenrente, wird der Zahlbetrag dieser Rente so lange unverändert weitergezahlt, wie er den Zahlbetrag der Rente, die sich aus den §§ 63 bis 71 und aus Satz 1 ergeben würde, übersteigt.

(8) Die Vorschrift des § 1156 der Reichsversicherungsordnung in der am Tag vor Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden Fassung ist weiter anzuwenden.

(9) (weggefallen)

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 1. Dezember 2011 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stendal vom 26. September 2007 zurückgewiesen.

Kosten sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob ein Unfall, den der Kläger während der Teilnahme an einem Lager der Gesellschaft für Sport und Technik der DDR (GST) erlitt, als Arbeitsunfall festzustellen ist.

2

Der Kläger war Lehrling für den Beruf des Werkzeugmachers bei dem VEB Armaturenkombinat Karl-Marx in M. Er nahm im Juni 1987 an einem Lager der GST in P. (Mecklenburg-Vorpommern) teil. Am 2.6.1987 erlitt er dort einen Unfall, als er auf der Sturmbahn von einem Balken sprang und sich beim Aufkommen auf dem Boden den Innenmeniskus des rechten Knies verletzte. Der Kläger wurde wegen des Unfalls in der medizinischen Einrichtung des Lagers in P. behandelt. In seinem Sozialversicherungsausweis wurde durch die zentrale Betriebsgewerkschaftsleitung des VEB Armaturenkombinats ein Arbeitsunfall mit der Kennzeichnung "GT" (für "Gesellschaftliche Tätigkeit") eingetragen. Die Staatliche Versicherung der DDR erkannte mit Schreiben vom 25.5.1988 einen "Schadenersatzanspruch" des Klägers wegen der ärztlichen Behandlung im Lager der GST dem Grunde nach an.

3

Der Kläger zeigte der Beigeladenen mit dem am 18.1.2006 eingegangenen Schreiben den Unfall vom 2.6.1987 an und beantragte, diesen als Arbeitsunfall festzustellen. Die Beigeladene leitete den Fall an die Beklagte weiter, da es sich um einen Fall nach § 1 Abs 1 der Verordnung über die Erweiterung des Versicherungsschutzes bei Unfällen in Ausübung gesellschaftlicher, kultureller und sportlicher Tätigkeiten vom 11.4.1973 (GBl I 199; im Folgenden ErwVO) handele, für den die Beklagte der zuständige Träger sei. Die Beklagte übernahm das Verwaltungsverfahren. Auf ihre Anfrage machte der Kläger geltend, er sei durch Lehrvertrag zur Teilnahme an dem Lager der GST verpflichtet gewesen. Er legte den Lehrvertrag vom 5.12.1985 vor, der im Abschnitt "Grundlegende Rechte und Pflichten des Betriebs und des Lehrlings" folgenden Absatz enthält: "Der Lehrling ist verpflichtet, während des Lehrverhältnisses an der vormilitärischen Ausbildung teilzunehmen, sich militärpolitische und militärfachliche Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen bzw. an den Maßnahmen der Zivilverteidigung mitzuwirken."

4

Die Beklagte lehnte die Anerkennung als Arbeitsunfall ab (Bescheid vom 25.10.2006). Die Voraussetzungen für eine Entschädigung des Unfalls aus der gesetzlichen Unfallversicherung seien nicht erfüllt. Einer Anerkennung stehe § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 1 RVO entgegen. Auch bestehe kein direkter Zusammenhang zwischen dem Lehrberuf und der Ausbildung bei der GST. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 15.1.2007).

5

Das SG Stendal hat die Klage mit Urteil vom 26.9.2007 abgewiesen. Zwar sei der Unfall, wie es sich aus dem Sozialversicherungsausweis ergebe, als solcher im Sinne der ErwVO anerkannt worden. Der Unfall sei einem bundesrechtlich zuständigen Träger der Unfallversicherung aber erst nach dem 31.12.1993 bekannt geworden. Ein Anspruch auf Feststellung als Arbeitsunfall bestehe nicht, weil es sich nicht um einen Arbeitsunfall im Sinne des Dritten Buches der RVO handele.

6

Das LSG hat auf die Berufung des Klägers mit Urteil vom 1.12.2011 das Urteil des SG aufgehoben und festgestellt, dass das Ereignis vom 2.6.1987 ein Arbeitsunfall im Sinne des Dritten Buchs der RVO sei, für den die Beklagte zuständig sei. Zwar sei der Unfall einem bundesdeutschen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung erst nach dem 31.12.1993 bekannt geworden. Der Kläger habe aber den Unfall bei einer Tätigkeit aufgrund seines Lehrverhältnisses erlitten (§ 539 Abs 1 Nr 1 iVm § 548 Abs 1 Satz 1 RVO). Zwischen dem Verhalten zum Unfallzeitpunkt und dem Beschäftigungsverhältnis habe ein sachlicher Zusammenhang bestanden, weil die Pflicht zum Erwerb militärischer Erkenntnisse zum Gegenstand des Lehrverhältnisses zwischen dem Betrieb und dem Kläger gemacht worden sei. Zwar diene die Teilnahme an einem Lager der GST der vormilitärischen Ausbildung, dies ändere aber nichts daran, dass der Kläger Pflichten aus dem Lehrvertrag erfüllt habe.

7

Die Beklagte rügt mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision eine Verletzung des § 215 Abs 1 Satz 1 SGB VII iVm § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 1 RVO. Der Unfall sei nach dem Recht der RVO nicht anzuerkennen, denn die Anerkennung in der DDR beruhe auf § 1 Abs 1 ErwVO. Danach sei der Unfall "wie ein Arbeitsunfall" zu behandeln. Bei der Teilnahme an der vormilitärischen Ausbildung habe es sich folglich - auch nach dem Recht der DDR - nicht um eine Tätigkeit iS des § 539 Abs 1 Nr 1 RVO gehandelt. Der Kläger sei nicht wie ein Lehrling tätig geworden. Vielmehr begründe die Kennzeichnung "GT" die gegenteilige Vermutung. Das Überwinden einer Hindernisbahn sei nicht als Ausübung der Beschäftigung im Ausbildungsverhältnis anzusehen. Es bestehe kein sachlicher Zusammenhang zwischen dem Verhalten zum Unfallzeitpunkt und dem Ausbildungsverhältnis. Die vormilitärische Ausbildung in dem Lager in P. stelle keine für die betriebliche Ausbildung wesentliche Handlung dar. Auch wenn der Betrieb Lehrlinge für die Ausbildung bei der GST freistelle, sei Ziel der Betätigung bei der GST nicht das Bestehen der Ausbildungsprüfung, sondern die Erhöhung der Wehrbereitschaft und -fähigkeit gewesen. Die RVO schütze aber nach § 539 Abs 1 Nr 1 nur Tätigkeiten des Versicherten im Rahmen seiner Berufsausbildung. Dazu gehöre nicht der Erwerb von militärischen Kenntnissen.

8

Die Beklagte beantragt,

        

das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 1. Dezember 2011 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stendal vom 26. September 2007 zurückzuweisen, hilfsweise festzustellen, dass die Beigeladene für den Arbeitsunfall der zuständige Versicherungsträger ist.

9

Der Kläger beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

10

Das LSG habe zu Recht entschieden, dass er aufgrund seiner Beschäftigung als Lehrling einen Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO erlitten habe. Dass zwischen der Betätigung für die GST und dem Ausbildungsverhältnis kein Zusammenhang bestehe sei "völlig abwegig" und stehe in Widerspruch zu den damals herrschenden Verhältnissen einschließlich des Ausbildungsverhältnisses des Klägers.

11

Die Beigeladene beantragt,

        

das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 1. Dezember 2011 aufzuheben, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stendal vom 26. September 2007 zurückzuweisen, hilfsweise, den Hilfsantrag der Beklagten zurückzuweisen.

12

Die Ausnahmeregelung des § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 1 RVO greife nicht durch, weil der Unfall nach dem Dritten Buch der RVO nicht zu entschädigen sei. Als Teilnehmer einer vormilitärischen Ausbildung im Rahmen eines Lagers der GST wäre der Kläger nach dem Recht des Dritten Buchs der RVO nicht unfallversichert gewesen. Ein innerer Zusammenhang zur betrieblichen Tätigkeit als Lehrling bestehe nicht.

Entscheidungsgründe

13

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des in der ehemaligen DDR am 2.6.1987 erlittenen Unfalls als Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 Satz 1 iVm § 539 Abs 1 Nr 1 RVO. Es handelt sich nicht um einen von der Beklagten, der Beigeladenen oder einem anderen Unfallversicherungsträger zu entschädigenden Arbeitsunfall. Die angefochtenen Bescheide sind daher rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.

14

Nach § 215 Abs 1 Satz 1 SGB VII sind für die Übernahme der vor dem 1.1.1992 eingetretenen Unfälle und Krankheiten als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung § 1150 Abs 2 und 3 RVO in der am Tag vor Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden Fassung weiter anzuwenden. Der Anspruch des Klägers richtet sich daher nach § 1150 Abs 2 RVO in der am 31.12.1996 geltenden Fassung des Renten-Überleitungsgesetzes vom 25.7.1991 (BGBl I 1606, 1688), denn der geltend gemachte Unfall ist vor dem 1.1.1992 im Beitrittsgebiet eingetreten. § 215 Abs 1 Sätze 2 und 3 SGB VII in der Fassung des UVMG vom 30.10.2008 (BGBl I 2130) schließen die Anwendung des § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 1 RVO in diesem Fall nicht aus, weil der Kläger zum Unfallzeitpunkt nicht bei der NVA der DDR im Wehrdienst stand.

15

Nach § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO sind die vor dem 1.1.1992 in der ehemaligen DDR eingetretenen Unfälle und Krankheiten als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des Dritten Buches der RVO anzuerkennen, wenn diese Unfälle oder Krankheiten vor dem 1.1.1992 eingetreten sind und nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren. Dies gilt nach § 1150 Abs 2 Satz 2 Nr 1 RVO nicht für Unfälle und Krankheiten, die einem ab 1.1.1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach dem 31.12.1993 bekannt geworden sind und die nach dem Dritten Buch der RVO nicht zu entschädigen wären (vgl Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung, BT-Drucks 12/405 S 116 Buchst b sowie S 154 zu § 1150 RVO; BSG vom 19.12.2000 - B 2 U 8/00 R - SozR 3-2200 § 1150 Nr 4; BSG vom 4.12.2001 - B 2 U 35/00 R - SozR 3-8440 Nr 50 Nr 1 S 2 f; BSG vom 18.8.2004 - B 8 KN 1/03 U R - BSGE 93, 149 = SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1).

16

Der Unfall des Klägers ist vor dem 1.1.1992 eingetreten. Unerheblich ist hier zunächst, dass der Arbeitsunfall gemäß § 1 Abs 1 ErwVO einem Unfall nach dem Recht der ehemaligen DDR(§ 220 Abs 1 und 3 Arbeitsgesetzbuch der DDR) gleichgestellt war (hierzu BSG vom 30.6.2009 - B 2 U 19/08 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 13 RdNr 31). Denn der Unfall ist einem ab 1.1.1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Unfallversicherungsträger erst im Juni 2006 und damit nach dem 31.12.1993 bekannt geworden. Wie die Beklagte und die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben, gilt die Fiktion des § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO gemäß dessen Abs 2 Satz 2 Nr 1 daher nur, wenn der Unfall nach dem Dritten Buch der RVO als Arbeitsunfall anzuerkennen wäre(zu den Voraussetzungen sogleich unter 1.), was aber hier nicht der Fall ist (vgl unter 2.).

17

1. Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO war ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten und danach versicherten Tätigkeiten erlitt. Nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO waren in der Unfallversicherung Personen gegen Arbeitsunfälle versichert gewesen, die aufgrund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses beschäftigt waren. Wesentliches Merkmal eines Lehrverhältnisses iS des § 539 Abs 1 Nr 1 RVO ist die Betätigung zum Erwerb von beruflichen Kenntnissen und Fähigkeiten in persönlicher Abhängigkeit gegenüber einem Ausbildungsbetrieb, die sich vornehmlich in der Eingliederung in einen Betrieb äußert, womit in aller Regel ein Direktionsrecht des für die Ausbildung Verantwortlichen verbunden ist. Hierfür ist kennzeichnend, dass der Lehrling seine Tätigkeit im Wesentlichen nicht frei gestalten kann, sondern allgemein einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Lehre umfassenden Weisungsrecht unterliegt (vgl zur Beschäftigung BSG vom 17.10.1990 - 2 RU 3/90 - HVBG-INFO 1991, 423 mwN).

18

Weiter erfordert das Vorliegen eines Arbeitsunfalls, dass das konkrete Verhalten (die Verrichtung), bei dem sich der Unfall ereignete, der versicherten Tätigkeit (rechtlich wertend) zuzurechnen ist (vgl zum Recht der RVO: BSG vom 28.6.1988 - 2 RU 60/87 - BSGE 63, 273, 274 = SozR 2200 § 548 Nr 92). Zwischen der Verrichtung zum Zeitpunkt des Unfalls und der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit, hier Ausbildung in einem Lehrverhältnis, muss ein sachlicher Zusammenhang bestehen. Dieser sog innere oder sachliche Zusammenhang rechtfertigt es, das fragliche Verhalten zum Unfallzeitpunkt der kraft Gesetzes versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Der innere oder sachliche Zusammenhang ist - auch für Unfälle nach dem Recht der RVO - wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (noch zum Recht der RVO: BSG vom 30.4.1985 - 2 RU 24/84 - BSGE 58, 76, 77 = SozR 2200 § 548 Nr 70; BSG vom 20.1.1987 - 2 RU 27/86 - BSGE 61, 127, 128 = SozR 2200 § 548 Nr 84; bereits zu § 1150 RVO: BSG vom 20.2.2001 - B 2 U 11/00 R - HVBG-INFO 2001, 1086; Juris RdNr 17). Wenn der erkennende Senat neuerdings den Aspekt in den Vordergrund rückt, dass die konkrete Betätigung nach dem Schutzbereich des Versicherungstatbestands zu den versicherten Tätigkeiten gehören muss (BSG vom 13.11.2012 - B 2 U 27/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 45, Juris RdNr 20; dazu auch BSG vom 15.5.2012 - B 2 U 16/11 R - BSGE 111, 52 = SozR 4-2700 § 2 Nr 21), so ist hiermit keine inhaltliche Änderung gegenüber den soeben aufgezeigten früheren Formulierungen verbunden.

19

2. Der Unfall des Klägers, der in einem Lehrverhältnis mit dem VEB Armaturenkombinat Karl-Marx in M. stand und daher grundsätzlich nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO versichert war, ereignete sich nach den bindenden Feststellungen des LSG am 2.6.1987 in einem Lager der GST in P. Dort betätigte sich der Kläger bei der vormilitärischen Ausbildung auf einer Kampfbahn und verletzte sich beim Aufkommen nach einem Sprung am rechten Knie.

20

Die konkret durchgeführte Verrichtung des Klägers auf der Kampfbahn im Lager der GST stand nicht in einem sachlichen oder inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit als Lehrling beim VEB Armaturenkombinat in M. Mit der Teilnahme am Lager der GST erfüllte er keine Aufgaben oder Pflichten aufgrund seines Lehrverhältnisses in oder für diesen Betrieb (BSG vom 15.5.2012 - B 2 U 8/11 R - BSGE 111, 37 = SozR 4-2700 § 2 Nr 20, RdNr 28).

21

Das Überwinden einer Kampfbahn stellt keine Handlung dar, die einen Bezug zu einer Lehre oder Berufsausbildung hat. Die unmittelbar zum Unfallzeitpunkt verrichtete Tätigkeit diente vielmehr der vormilitärischen Ausbildung, die in der damaligen DDR von der GST organisiert wurde. Ausweislich der Präambel der Verordnung der DDR über die GST vom 10.9.1968 (GBl II 779) sowie des Statuts der GST vom 11.4.1964 (GBl II 553) war die GST eine sozialistische Massenorganisation, deren Hauptaufgabe im System der sozialistischen Wehrerziehung darin bestand, die Jugendlichen im vorwehrpflichtigen Alter auf den Wehrdienst in den bewaffneten Kräften der DDR vorzubereiten und wehrsportliche Aktivitäten anzubieten. Diese Organisation war nach den so beschriebenen Aufgaben nicht in die Vermittlung beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten für den Lehrberuf einbezogen. Es handelte sich vielmehr um eine Organisation, die vormilitärische Ausbildungs- und wehrsportliche Ertüchtigung für Jugendliche durchführte. Die Jugendlichen sollten im Rahmen einer Grund- und sich anschließenden Spezialausbildung den Umgang mit Waffen und Militärgeräten erlernen und militärisch relevantes Wissen erwerben sowie technischen Sportarten nachgehen (vgl Berger, Frust und Freude - Die zwei Seiten der Gesellschaft für Sport und Technik, 2002; Henkel, Im Dienste der Staatspartei, 1. Aufl 1994, S 347, 356, 358 ff; Rogg, Armee des Volkes? Militär und Gesellschaft in der DDR, 2008, S 86 ff). Die GST sollte vor allem der gemeinschaftlichen Freizeitgestaltung technisch und sportlich interessierter Jugendlicher dienen, die dazu erforderlichen technischen Mittel (Motorräder, Flugzeuge, Funkgeräte) zur Verfügung stellen und technische Sportarten und dazugehörige Sportförderung und Wettkämpfe, wie Motor- und Schießsportarten pflegen bzw. veranstalten. Ab 1974 wurde für Jugendliche in der DDR die Teilnahme an den Angeboten der GST praktisch zur Pflicht gemacht. Ohne die Teilnahme konnte die berufliche Bildung kaum aufgenommen oder abgeschlossen werden. Das Ziel war es, Jugendliche und Erwachsene wehrsportlich auszubilden und ihnen technische Kenntnisse zu vermitteln, die beim Militär gebraucht wurden. Die GST galt als "Schule des Soldaten von morgen" und trug zur Militarisierung der Gesellschaft bei (Hartwig/Wimmel; http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Deutsche_Demokratische_Republik.html #Massenorganisationen).

22

Die Betätigung des Klägers auf der Kampfbahn in P. ist keine Verrichtung, während der er nach Zeit, Dauer, Ort oder Art der Betätigung in persönlicher Abhängigkeit oder im Rahmen des Direktionsrechts des Ausbildungsbetriebs (VEB Armaturenwerk in M.) tätig geworden ist. Die konkret durchgeführte Verrichtung bei der GST diente nicht dem Erwerb von Kenntnissen oder Fähigkeiten für den Lehrberuf. Der Kläger war während seiner Zeit im Lager der GST auch nicht in die betriebliche Organisation des VEB eingegliedert. Vielmehr unterstützte der Betrieb nur durch Freistellung des Klägers von den Pflichten des Lehrverhältnisses dessen Betätigung im Rahmen der vormilitärischen Ausbildung, ohne dass diese dem VEB Armaturenwerk oder dem Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten für den Lehrberuf zu dienen bestimmt war (vgl schon BSG vom 17.10.1990 - 2 RU 3/90 - HVBG-INFO 1991, 423; Juris RdNr 19 ff). Dies gilt auch dann, wenn der Betrieb die Lehrlingsvergütung weitergezahlt haben sollte. Durch den Besuch des Trainingslagers erfüllte der Kläger - ebenso wie alle anderen Jugendlichen der DDR in dem entsprechenden Alter - seine allgemeine Pflicht, an der vormilitärischen Ausbildung teilzunehmen.

23

Der fehlende innere Zusammenhang zwischen der konkret verrichteten und der im Versicherungstatbestand angeführten Tätigkeit wird auch nicht dadurch hergestellt, dass der Kläger durch einen Passus im Ausbildungsvertrag verpflichtet wurde, an der vormilitärischen Ausbildung teilzunehmen. Zwar sind Personen, die eine Verrichtung vornehmen, mit der sie eine objektiv bestehende Haupt- und Nebenpflicht aus dem Beschäftigungsverhältnis - hier Lehrverhältnis - erfüllen (BSG vom 15.5.2012 - B 2 U 8/11 R - BSGE 111, 37 = SozR 4-2700 § 2 Nr 20, RdNr 28), Beschäftigte iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII bzw § 539 Abs 1 Nr 1 RVO. Die Teilnahme an der vormilitärischen Ausbildung in der DDR war aber gesellschaftlich üblich, nach anderen Angaben sogar verpflichtend. Bei Nichtteilnahme drohten einem Jugendlichen, unabhängig davon, ob er in einem Lehrverhältnis stand oder die Erweiterte Oberschule absolvierte, Sanktionen. Mangels Teilnahme an der vormilitärischen Ausbildung konnte es zur vorzeitigen Beendigung von Lehre oder Schulausbildung kommen. Eine solche Maßnahme gilt nach Bundesrecht als "politische Verfolgung" im Sinne des Gesetzes über den Ausgleich beruflicher Benachteiligungen für Opfer politischer Verfolgung im Beitrittsgebiet (BerRehaG vom 1.7.1997, BGBl I 1625; dazu BVerwG vom 27.8.2012 - 3 PKH 5/12, 3 PKH 5/12 < 3 B 18/12 >).

24

Der Inhalt des Lehrvertrags stellt sich deshalb nicht als Vereinbarung über eine vertraglich erst zu begründende Rechtspflicht des Lehrlings dar, sondern als bloß deklaratorische Wiederholung der allgemein bestehenden Pflicht oder zumindest der gesellschaftlichen Notwendigkeit zur Teilnahme an der vormilitärischen Ausbildung. Die bloß deklaratorische Wiederholung einer gesetzlichen Pflicht oder gesellschaftlichen Notwendigkeit in einem Lehrvertrag ist aber nicht geeignet, den Schutzzweck des Versicherungstatbestands des § 539 Abs 1 Nr 1 RVO dahingehend zu erweitern, dass auch die Betätigung im Rahmen einer allgemein bestehenden Dienstpflicht oder gesellschaftlichen Verpflichtung dem Schutz des Versicherungstatbestandes des § 539 Abs 1 Nr 1 RVO unterfällt(so im Ergebnis auch BSG vom 17.10.1990 - 2 RU 3/90 - HVBG-INFO 1991, 423; Bayerisches LSG vom 1.12.1993 - L 1 U 142/89; ähnlich LSG Berlin-Brandenburg vom 9.6.2011 - L 3 U 109/09).

25

Nach Maßstäben des Bundesrechts ist die Betätigung des Klägers am ehesten mit derjenigen eines früheren Wehrpflichtigen vergleichbar, der seine Ausbildung für die Ableistung von Wehrdienst oder Wehrübung unterbricht. Gesundheitsschäden, die Dienstleistende im Rahmen eines solchen Dienstes erleiden, werden im Bundesrecht ggf nach Maßgabe des SVG anerkannt und entschädigt. Sie sind aber nach Bundesrecht keine Unfälle, die im Rahmen des Versicherungsschutzes bei betrieblicher Berufsausbildung (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO; jetzt: § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII)versichert wären. Der Unfall war auch im Recht der DDR kein Arbeitsunfall iS des § 220 Abs 1 und 3 Arbeitsgesetzbuch der DDR, sondern einem solchen nach § 1 Abs 1 ErwVO lediglich gleichgestellt.

26

Auch wenn die für das Unfallgeschehen maßgeblichen Verhältnisse in der ehemaligen DDR zugrunde zu legen wären, die von denen im Geltungsbereich der RVO abweichen( BSG vom 17.10.1990 - 2 RU 3/90 - HVBG-INFO 1991, 423), wäre danach (nur) zu berücksichtigen, dass in dem staatlichen System der ehemaligen DDR eine enge Verzahnung zwischen Wehrerziehung und vormilitärischer Ausbildung/Wehrsport einerseits und Schul-/Berufsausbildung andererseits bestand (dazu auch Bayerisches LSG vom 1.12.1993 - L 1 U 142/89). Auf Sachverhalte, die dem Versicherungsschutz nach dem Dritten Buch der RVO wesensfremd sind, kann der Schutzbereich der Beschäftigtenversicherung nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO dennoch nicht erweitert werden(vgl für das Fremdrentenrecht BSG vom 17.10.1990 - 2 RU 3/90 - HVBG-INFO 1991, 423).

27

Auch die vom BSG zum versicherten Betriebssport entwickelten Grundsätze (grundlegend BSG vom 28.11.1961 - 2 RU 130/59 - BSGE 16, 1 ff = SozR Nr 49 zu § 542 RVO; BSG vom 27.10.2009 - B 2 U 29/08 R - Juris RdNr 12) führen zu keinem anderen Ergebnis. Die vormilitärische Ausbildung diente nicht der Gesunderhaltung des Klägers oder der Wiederherstellung seiner Arbeitskraft, zumal die Betätigung im Rahmen der GST nicht auf Angehörige des Lehr- und Ausbildungsbetriebs beschränkt war. Für die Anerkennung eines unfallversicherten Betriebssports muss die sportliche Betätigung dem Ausgleich für die Belastung durch die versicherte Tätigkeit dienen. Die Teilnahme am allgemeinen vormilitärischen oder militärischen Dienst oder Wettkampf oder an Veranstaltungen zur Wehrertüchtigung entspricht dem nicht (BSG vom 17.10.1990 - 2 RU 3/90 - HVBG-INFO 1991, 423).

28

Nach allem war auf die Revision der Beklagten das Urteil des LSG aufzuheben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG war zurückzuweisen.

29

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs 1 SGG.

Vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der Deutschen Demokratischen Republik bleiben wirksam. Sie können aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen dieses Vertrags unvereinbar sind. Im übrigen bleiben die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten unberührt.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.