Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 11. Juli 2018 - L 20 VG 30/17
nachgehend
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 27. Juli 2017 zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
* Der Stiefvater des Klägers, K. R., hat dort angegeben, dass es schon sein könne, dass er den Kläger geschlagen habe, schließlich habe er ja auch für seine beiden Stiefsöhne gesorgt. Auf die Frage des Vorsitzenden, ob es sich eher um einen Klaps gehandelt habe oder ob der Kläger heftiger verprügelt worden sei, hat der Zeuge angegeben, der Kläger habe eher einen Klaps bekommen. Der ihm vorgeworfene Alkoholkonsum könne - so der Zeuge - schon aufgrund seiner damaligen beruflichen Tätigkeit so nicht stattgefunden haben, da er u.a. für Fahrtätigkeiten eingesetzt gewesen sei und auch Bereitschaftsdienste gehabt habe. An welchen Körperstellen er den Kläger mit seinen Schlägen getroffen habe und wie oft das vorgekommen sei, könne er nicht mehr sagen, das sei schon zu lange her. Auch er selbst habe, als er in die Schule gekommen sei, Ohrfeigen bekommen. Schlagen passiere immer mal wieder.
* Anschließend hat sich der Kläger dahingehend geäußert, dass er ein eher unruhiges Kind gewesen sei. Bei einem Gottesdienst sei er nicht ruhig sitzen geblieben, woraufhin seine Mutter vom Gemeindeoberhaupt der Kirche angesprochen worden sei. Sie habe ihn dann an den Haaren gepackt und bis zur Toilette gezogen. Dort habe sie ihn verprügelt und zwar so sehr, dass er nicht mehr gewusst habe, ob er Männlein oder Weiblein sei. Damals sei er etwa in der Grundschule gewesen.
* Der Bruder des Klägers, R. A., hat erläutert, dass er aus der Zeit im Hort vieles aus seinem Gedächtnis gestrichen habe, an einiges erinnere er sich aber schon noch. So hätten sie nach draußen gehen müssen, wenn auf dem Gelände des Horts Ruhe habe sein müssen. Der Kläger sei zu diesem Zeitpunkt ein zierliches Kind gewesen und er, der Bruder, habe versucht, diesen zu schützen. Er sehe noch, wie die Meute auf seinen Bruder losgegangen sei. Er erinnere sich auch noch daran, wie seinem Bruder etwas in den Mund gestopft worden sei. Was, könne er nicht mehr genau sagen. Sein Bruder sei weinend am Boden gelegen. Er habe seinem Bruder nicht helfen können. Daran, ob die Initiative zu Prügeleien ausschließlich von den anderen Kindern ausgegangen sei, könne er sich nicht mehr erinnern. Auf Nachfrage nach der Nazilehrerin hat der Zeuge erklärt, er wisse zwar, dass es eine sehr strenge Frau gegeben habe, an mehr erinnere er sich jedoch nicht. Zuhause sei sicherlich viel über die Situation im Hort gesprochen worden. Seine Mutter habe sich dann entschieden, den Kläger und ihn nach einem Jahr wieder aus dem Hort herauszunehmen. Es sei keine schöne Zeit für ihn und seinen Bruder gewesen; er habe viele Erinnerungen aus dieser Zeit aus seinem Gedächtnis gelöscht. Auch zu Hause habe es unschöne Situationen gegeben, an die er sich jetzt nicht mehr gerne erinnere. Seiner Ansicht nach sei der Stiefvater ein Alkoholiker gewesen. Es sei öfters vorgekommen, dass er bereits nach der Arbeit betrunken nach Hause gekommen sei. Die Situation habe sich verschlechtert, als ihre Mutter und der Stiefvater ein gemeinsames Kind bekommen hätten. Der Stiefvater habe ihn und den Kläger geschlagen, Es seien richtige Schläge gewesen. Der Stiefvater sei durch den Alkohol sicherlich enthemmt gewesen. Geblutet habe er nach den Schlägen allerdings nie. Er habe sich auch nicht misshandelt gefühlt. Auf Nachfrage, ob er das Gefühl gehabt habe, die Schläge seien zur Erziehung erfolgt, hat der Zeuge erklärt, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Vielmehr habe ein falsches Wort genügt, dass sein Stiefvater zugeschlagen habe. Er könne sich nicht mehr daran erinnern, dass es den Kläger häufiger erwischt habe als ihn. Seine Kindheit sei ein einziges Drama gewesen. Befragt nach der Patentante, hat der Zeuge erklärt, dass diese eine sehr aufdringliche Person gewesen sei. Sie habe einen auch immer gleich abschmatzen wollen. Er sei kräftiger gewesen und habe sie auf Distanz halten können. Er habe dies über sich ergehen lassen, weil sie ihm ein großzügiges Taschengeld gegeben habe. Er habe die Frau furchtbar aufdringlich gefunden, aber nicht mehr. Manchmal sei er auch alleine hingefahren. Ob sein Bruder auch alleine hingefahren sei, könne er nicht mehr sagen. Auf Nachfrage hat er angegeben, dass er sich noch daran erinnere, dass sein Bruder ihm einmal etwas erzählt habe, er wisse aber nicht mehr was und wann. Er könne sich aber vorstellen, dass irgendetwas passiert sei, weil er ja später immer alleine hin gegangen sei und sein Bruder somit auch auf das Taschengeld verzichtet habe.
das Urteil des SG Nürnberg vom 27.07.2017 sowie den Bescheid vom 10.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.09.2015 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ab Antragstellung Versorgungsrente nach einem GdS von wenigstens 30 aufgrund der Misshandlung und Vernachlässigung im Kindesalter zu gewähren.
die Berufung zurückzuweisen.
Gründe
1. Erlebnisse im Hort
1.1. Prügeleien
1.2. Kot in den Mund gestopft
1.3. Quälereien und Eingesperrtwerden durch die „Nazilehrerin.“
2. Geschehnisse bei der Patin
3. Prügel durch den Stiefvater des Klägers
„Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung iSd § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 I 1 OEG vor. Nach § 1631 II BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales EntschädigungsR, 2012, § 1 OEG Rn. 51). …
Derartige schädigende Vorgänge“ - Anmerkung des Senats: gemeint sind damit körperliche Misshandlungen - „werden zwar von § 1 Abs. 1 S. 1 OEG erfasst, soweit sie nicht von dem seinerzeit noch anerkannten elterlichen Züchtigungsrecht (vgl BGH Beschluss vom 25.11.1986 - 4 StR 605/86 - JZ 1988, 617) gedeckt waren.“
3.1. Schläge in Anwesenheit des Zeugen R. A.
3.2. Schläge, ohne dass es dafür einen Zeugen gibt
4. Schläge durch die Mutter
5. Vernachlässigung durch die Mutter des Klägers
ra.de-Urteilsbesprechung zu Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 11. Juli 2018 - L 20 VG 30/17
Urteilsbesprechung schreiben0 Urteilsbesprechungen zu Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 11. Juli 2018 - L 20 VG 30/17
Referenzen - Gesetze
Referenzen - Urteile
Urteil einreichenBayerisches Landessozialgericht Urteil, 11. Juli 2018 - L 20 VG 30/17 zitiert oder wird zitiert von 7 Urteil(en).
(1) Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds gehandelt hat.
(2) Einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 stehen gleich
- 1.
die vorsätzliche Beibringung von Gift, - 2.
die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen.
(3) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind; Buchstabe e gilt auch für einen Unfall, den der Geschädigte bei der unverzüglichen Erstattung der Strafanzeige erleidet.
(4) Ausländerinnen und Ausländer haben dieselben Ansprüche wie Deutsche.
(5) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt.
(6) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die ein Berechtigter oder Leistungsempfänger nach Absatz 1 oder 5 in Verbindung mit § 10 Abs. 4 oder 5 des Bundesversorgungsgesetzes, eine Pflegeperson oder eine Begleitperson bei einer notwendigen Begleitung des Geschädigten durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes erleidet.
(7) Einer gesundheitlichen Schädigung im Sinne des Absatzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz gleich.
(8) Wird ein tätlicher Angriff im Sinne des Absatzes 1 durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers verübt, werden Leistungen nach diesem Gesetz erbracht.
(9) § 1 Abs. 3, die §§ 64 bis 64d, 64f sowie 89 des Bundesversorgungsgesetzes sind mit der Maßgabe anzuwenden, daß an die Stelle der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde tritt, sofern ein Land Kostenträger ist (§ 4). Dabei sind die für deutsche Staatsangehörige geltenden Vorschriften auch für von diesem Gesetz erfaßte Ausländer anzuwenden.
(10) § 20 des Bundesversorgungsgesetzes ist mit den Maßgaben anzuwenden, daß an die Stelle der in Absatz 1 Satz 3 genannten Zahl die Zahl der rentenberechtigten Beschädigten und Hinterbliebenen nach diesem Gesetz im Vergleich zur Zahl des Vorjahres tritt, daß in Absatz 1 Satz 4 an die Stelle der dort genannten Ausgaben der Krankenkassen je Mitglied und Rentner einschließlich Familienangehörige die bundesweiten Ausgaben je Mitglied treten, daß Absatz 2 Satz 1 für die oberste Landesbehörde, die für die Kriegsopferversorgung zuständig ist, oder die von ihr bestimmte Stelle gilt und daß in Absatz 3 an die Stelle der in Satz 1 genannten Zahl die Zahl 1,3 tritt und die Sätze 2 bis 4 nicht gelten.
(11) Im Rahmen der Heilbehandlung sind auch heilpädagogische Behandlung, heilgymnastische und bewegungstherapeutische Übungen zu gewähren, wenn diese bei der Heilbehandlung notwendig sind.
(1) Wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung.
(2) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die herbeigeführt worden sind durch
- a)
eine unmittelbare Kriegseinwirkung, - b)
eine Kriegsgefangenschaft, - c)
eine Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit, - d)
eine mit militärischem oder militärähnlichem Dienst oder mit den allgemeinen Auflösungserscheinungen zusammenhängende Straf- oder Zwangsmaßnahme, wenn sie den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist, - e)
einen Unfall, den der Beschädigte auf einem Hin- oder Rückweg erleidet, der notwendig ist, um eine Maßnahme der Heilbehandlung, eine Badekur, Versehrtenleibesübungen als Gruppenbehandlung oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 26 durchzuführen oder um auf Verlangen eines zuständigen Leistungsträgers oder eines Gerichts wegen der Schädigung persönlich zu erscheinen, - f)
einen Unfall, den der Beschädigte bei der Durchführung einer der unter Buchstabe e aufgeführten Maßnahmen erleidet.
(3) Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, kann mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt werden; die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.
(4) Eine vom Beschädigten absichtlich herbeigeführte Schädigung gilt nicht als Schädigung im Sinne dieses Gesetzes.
(5) Ist der Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben, so erhalten seine Hinterbliebenen auf Antrag Versorgung. Absatz 3 gilt entsprechend.
Tenor
-
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufgehoben.
-
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
- 1
-
Streitig ist, ob der Kläger an einem entschädigungspflichtigen Impfschaden leidet.
- 2
-
Der Kläger wurde in der 33. Schwangerschaftswoche am 24.10.1985 geboren. Vor und unter der Geburt kam es zu einem Sauerstoffmangel und einer Säureüberladung (perinatale Asphyxie). Am 17.4.1986 erhielt der Kläger die im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfung gegen Diphtherie und Tetanus (Kombination) sowie gegen Poliomyelitis (oral). Zwei Wochen nach dieser Impfung sackte der Kläger im Arm seiner Mutter schlaff zusammen; sein Gesicht war blass, die Augen halb geschlossen; nach einigen Minuten setzte eine Erholung ein; Fieber und Krämpfe traten nicht auf. Nach Angaben seiner Mutter hat sich das Kind nicht mehr vollständig erholt. Ende 1986 wurde beim Kläger eine spastische Tetraplegie mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung diagnostiziert. Die beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis erhielt der Kläger am 12. und 30.4.1987.
- 3
-
Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von nunmehr 100 anerkannt.
- 4
-
Im März 2001 stellte der Kläger bei dem beklagten Land einen Antrag auf Leistungen wegen eines Impfschadens. Daraufhin holte dieses ein nervenärztliches Gutachten von Dr. D. ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5.9.2002 ab. Auf der Grundlage einer nervenärztlichen Stellungnahme von Dr. M. wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.8.2003 zurück, weil ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der infantilen spastischen Cerebralparese zwar möglich aber nicht wahrscheinlich sei. Überwiegend wahrscheinlich sei, dass für die Erkrankung andere Faktoren, wie die Frühgeburt und Auffälligkeiten in der Schwangerschaft, ausschlaggebend gewesen seien.
- 5
-
Der Kläger hat daraufhin beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben. Dieses hat verschiedene ärztliche Unterlagen sowie von Amts wegen ein pädiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 2.1.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 14.6.2005 eingeholt. Dieser ist - vorbehaltlich der Richtigkeit der Schilderung der Mutter des Klägers betreffend das Ereignis zwei Wochen nach der Impfung - zu dem Ergebnis gelangt, dass die perinatale Asphyxie (lediglich) zu einem leichten bis mäßigen Hirnschaden geführt habe. Die ab Mai 1986 ersichtlichen schweren neurologischen Störungen (Cerebralparese) seien überwiegend als Impfschadensfolge einzuordnen.
- 6
-
Der Beklagte hat demgegenüber ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Prof. Dr. S. Facharzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin - vom 21.2.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 27.2.2006 vorgelegt. Dieser hat die Auffassung vertreten, dass das Krankheitsbild des Klägers plausibel auf die perinatale Sauerstoffmangelsituation zurückzuführen sei und eine ursächliche oder mitursächliche Rolle der Dreifachimpfung höchst unwahrscheinlich sei. Im Anschluss daran hat das SG die Mutter des Klägers als Zeugin über den Zwischenfall zwei Wochen nach dem 17.4.1986 vernommen und danach ein weiteres Gutachten von Amts wegen eingeholt und zwar von Prof. Dr. D. Unter dem 27.11.2006 ist dieser Sachverständige ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorliegende Cerebralparese mit bestimmten Störungen bzw Behinderungen überwiegend wahrscheinlich durch die perinatale Asphyxie verursacht worden sei, jedoch keine Wahrscheinlichkeit für eine zusätzliche Impfschädigung bestehe.
- 7
-
Durch Urteil vom 10.5.2007 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17.4.1986 unter Anerkennung der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung als Impfschadensfolge ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 65 vH zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei am 13. oder 14. Tag nach der Impfung auf dem Arm der Mutter plötzlich schlaff geworden und mit halb geschlossenen Augen im Gesicht bleich gewesen, er habe sich danach zwar erholt, aber nicht mehr wie zuvor bewegt. Zur Frage der Verursachung sei der Auffassung von Prof. Dr. K. zu folgen. Die anders lautenden Beurteilungen der übrigen Sachverständigen seien nicht überzeugend. Die MdE von 65 vH ergebe sich daraus, dass der mit 100 vH zu bewertende dauerhafte Gesundheitsschaden des Klägers nach der Beurteilung von Prof. Dr. K. zu zwei Dritteln durch die Impfung am 17.4.1986 verursacht worden sei.
- 8
-
Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Kläger hilfsweise beantragt, durch Anfrage bei der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Tatsache zu erweisen, dass die heute verwendeten Impfstoffe gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nicht identisch sind mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen, sowie zum Beweis der Tatsache, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können, ein medizinisches Sachverständigengutachten eines erfahrenen klinisch tätigen Arztes einzuholen, der über Erfahrungen auch zu Impfungen in den achtziger Jahren verfügt.
- 9
-
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.3.2010). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Anspruchsvoraussetzungen nach den im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorschriften des bis zum 31.12.2000 geltenden § 51 Abs 1 Satz 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) und des am 1.1.2001 in Kraft getretenen § 60 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seien nicht erfüllt. Danach sei der Nachweis einer schädigenden Einwirkung (der Impfung), einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion und der Schädigungsfolgen (Dauerleiden) erforderlich. Für die jeweiligen Kausalzusammenhänge reiche eine Wahrscheinlichkeit aus.
- 10
-
Der dauerhafte Gesundheitsschaden in Form einer Cerebralparese sei hier nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzuführen, weil sich ein Impfschaden als Primärschädigung nicht habe nachweisen lassen. Welche Impfreaktionen als Impfschäden anzusehen seien, lasse sich den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung entnehmen. Bezogen auf den Anspruchszeitraum ab Antragstellung im April 2001 sei grundsätzlich die Nr 57 AHP in den Fassungen von 1996, 2004 und 2005 heranzuziehen, die für die einzelnen Schutzimpfungen die üblichen Impfreaktionen von den Impfschäden abgrenze. Eine Änderung sei mit den AHP 2008 eingetreten, in welchen von einer Aufführung der spezifischen Impfschäden Abstand genommen worden sei. Vielmehr habe Nr 57 Satz 1 AHP 2008 auf die im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Arbeitsergebnisse der bei dem Robert-Koch-Institut eingerichteten STIKO verwiesen, die Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Ausmaß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelten. Nach Nr 57 Satz 2 AHP 2008 stellten diese Ergebnisse den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Hieran habe sich auch mit Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zum 1.1.2009 nichts geändert, denn die Nr 53 bis 143 AHP 2008 behielten auch nach Inkrafttreten der VersmedV weiterhin Gültigkeit als antizipiertes Sachverständigengutachten (BR-Drucks 767/07, S 4 zu § 2 VersMedV).
- 11
-
Die aktuellen Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 (EB Nr 25/2007, 209 ff), die zwar in erster Linie Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen von Schutzimpfungen enthielten, seien gleichwohl zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden heranzuziehen. Bei den einzelnen Impfstoffen würden jeweils in dem mit "Komplikationen" bezeichneten Abschnitt in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung beobachtete Krankheiten bzw Krankheitserscheinungen dargestellt, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Erkenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang als gesichert oder überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei.
- 12
-
Im Streit stehe der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung des Klägers im Sinne einer Verschlimmerung, nicht im Sinne der Entstehung. Nach Nr 42 Abs 1 Satz 3 AHP 2008 bzw nach Teil C Nr 7 Buchst a Satz 3 Anlage zur VersMedV komme, sofern zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorgangs bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch unbemerkt, vorhanden gewesen sei, eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in Frage, falls die äußere Einwirkung den Zeitpunkt vorverlegt habe, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schädigungsbedingt in schwererer Form aufgetreten sei, als es sonst zu erwarten gewesen wäre.
- 13
-
Bei dem Kläger liege nach Einschätzung aller Gutachter ein durch die Geburtsasphyxie hervorgerufener Hirnschaden vor. Einigkeit bestehe auch darüber, dass derartige frühkindliche Schäden sich oft verspätet in Gestalt einer Spastik manifestierten. Kern des Rechtsstreits sei die Frage, ob ein bestimmter Anteil der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese auf die Impfung zurückzuführen sei. Ein derartiger Zusammenhang sei indessen nicht hinreichend wahrscheinlich, weil es am Nachweis eines Impfschadens (atypische Impfreaktion als Primärschädigung) fehle.
- 14
-
In den Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 seien für die Verwendung des Diphtherie-Impfstoffs sowie für die Verwendung des Kombinationsimpfstoffs gegen Diphtherie und Tetanus spezifische Komplikationen aufgezählt, die sämtlich beim Kläger nicht aufgetreten seien. Insbesondere habe keiner der Sachverständigen eine Erkrankung des peripheren Nervensystems diagnostiziert.
- 15
-
Soweit der Kläger die Mitteilungen der STIKO für nicht maßgebend halte, weil sie sich auf die heute verwendeten Impfstoffe gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus bezögen, die nicht identisch mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen seien, komme es auf seinen entsprechenden Beweisantrag nicht an. Selbst wenn man unterstelle, dass die Empfehlungen der STIKO Impfungen mit anderen als den damals bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen beträfen, sei der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung weiterhin nicht hinreichend wahrscheinlich.
- 16
-
In diesem Fall wären die AHP 2005 heranzuziehen, deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Nr 57 Abs 12 und 13 AHP 2005 nenne für Diphtherie- und Tetanusschutzimpfungen spezifische Erscheinungen als Impfschäden, die bei dem Kläger nach Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K. nicht aufgetreten seien. Der von diesem als zentralnervöser Zwischenfall bezeichnete Vorgang zwei Wochen nach der Impfung sei keine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) gewesen. Die von Prof. Dr. S. genannten typischen Merkmale einer schweren ZNS-Erkrankung fehlten beim Kläger. Selbst wenn man die vom Kläger unter Beweis gestellte Behauptung, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten könnten, als wahr unterstellte, ändere dies nichts daran, das vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems gerade nicht positiv festgestellt werden könne. Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge aber für die Anerkennung eines Impfschadens nicht. Der nach den AHP 2005 erforderliche Nachweis einer Antikörperbildung möge heute noch möglich sein, sei aber nicht zielführend, weil hierdurch lediglich eine durchgeführte Impfung bestätigt würde und nicht mehr geklärt werden könne, welche der drei Impfungen des Klägers diesen Zustand herbeigeführt habe. Im Übrigen schieden andere Ursachen der Erkrankung nicht aus. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass die Cerebralparese allein auf die Geburtsasphyxie zurückzuführen sei.
- 17
-
Hinsichtlich der Erkrankungen, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang mit der Poliomyelitisschutzimpfung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei, sei - wovon auch die Beteiligten ausgingen - auf die AHP 2005 abzustellen. Die Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 enthielten offensichtlich lediglich Angaben zu Kombinationsimpfungen, die neben Diphtherie-, Tetanus- und Poliomyelitisimpfstoffen weitere Impfstoffe insbesondere gegen Pertussis, Influenza und Hepatitis B, enthielten. Als Impfschäden nach einer Poliomyelitisschutzimpfung seien in Nr 57 Abs 2 AHP 2005 verschiedene Erkrankungen genannt, insbesondere poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer. In keinem der vorliegenden Gutachten sei erwähnt, dass der Kläger an einer derartigen Impfpoliomyelitis erkrankt gewesen sei. Ebenso wenig seien Hinweise auf ein Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Schließlich seien beim Kläger auch weder eine Meningoenzephalitis noch die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens diagnostiziert worden. Die von Prof. Dr. K. angenommene Encephalopathie sei nach den AHP 2005 nur nach Pertussis- und Pockenschutzimpfungen als Impfschaden genannt, die beim Kläger nicht vorgenommen worden seien.
- 18
-
Mit der vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe materielles und formelles Recht verletzt.
- 19
-
Verletzt sei § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG bzw § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG. Das LSG habe bei ihm das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung durch die Dreifachschutzimpfung, dh eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung und damit einen dauerhaften Impfschaden, zu Unrecht verneint, weil es verkannt habe, dass es für die Anerkennung einer unüblichen Impfreaktion und eines Impfschadens nach einer Dreifachimpfung im Jahre 1986 weiterhin auf den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu unüblichen Impfreaktionen auf die 1986 verwendeten Impfstoffe ankomme. Stattdessen sei das LSG von den Hinweisen der STIKO von 2007 ausgegangen, die über unübliche Impfreaktionen auf die aktuell verwendeten Impfstoffe informierten, ohne aufgeklärt zu haben, ob es sich bei diesen Impfstoffen um die gleichen handele, die bei seiner Dreifachimpfung 1986 verwendet worden seien, oder ob sie sich unterschieden. Außerdem sei das LSG von einem unzutreffenden Verständnis der medizinischen Voraussetzungen, dh der Krankheitsbilder, ausgegangen.
- 20
-
Damit habe das LSG die Rechtstatsachen "aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand" sowie die ebenfalls als Rechtstatsachen anzusehenden Krankheitsbegriffe "akut entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems" sowie "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" verkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Hinweis auf das Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R -) würden wissenschaftliche Erkenntnisse über medizinische Ursachen- und Wirkungszusammenhänge nicht mehr als Tatsachenfeststellungen iS von § 163 SGG gewertet, weil sie keine Tatsachen des Einzelfalles seien, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen (dort Berufskrankheiten-) Fälle von Bedeutung seien. Es gehe nicht nur um die Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt, sondern um sog Rechtstatsachen, die für die Auslegung dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt würden.
- 21
-
Aus den tatsächlichen Feststellungen zu seinem Zusammenbruch Ende April 1986 und zu seiner Entwicklung vor und nach der Impfung folge jedoch, dass es bei ihm zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen sei, nämlich zu einer Enzephalopathie (möglicher Diphtherieimpfschaden gemäß den AHP 1983) bzw zu einer nicht poliomyelitischen Erkrankung am ZNS (möglicher Impfschaden nach der Polio-Schluckimpfung gemäß den AHP 1983) bzw zu einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS (möglicher Impfschaden nach der Diphtherieschutzimpfung gemäß AHP 2005).
- 22
-
Das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Bei den Rechtstatsachen "aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand", "akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems" und "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" handele es sich um allgemeine Erfahrungssätze, deren Verkennung eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung beinhalte.
- 23
-
Verstoßen habe das LSG gegen den Erfahrungssatz, dass die Impffolgen abhängig von den verwendeten Impfstoffen seien. Zudem habe das LSG bei der Deutung der Krankheitsbilder gegen medizinische Erfahrungssätze verstoßen. Das LSG habe weiter seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, insbesondere den Sachverhalt nicht vollständig erfasst bzw ermittelt. So habe es sich nicht veranlasst gesehen, seinem - des Klägers - Beweisantrag zum Fehlen einer Identität der 1986 und heute verwendeten Impfstoffe zu folgen. Diesen und den weiteren Beweisantrag zur Möglichkeit einer Erkrankung des ZNS bei immunologisch unreifen Kindern ohne Fieberausbrüche habe das LSG mit der Begründung abgelehnt, dass eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS nicht festgestellt worden sei. Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. K. durchaus eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS bejaht. Schließlich habe das LSG seine Pflicht zur Auseinandersetzung mit (sich) widersprechenden Gutachten dadurch verletzt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr. S. hinsichtlich des Nichtvorliegens einer akut entzündlichen ZNS-Erkrankung gefolgt sei, ohne sich mit den gegenteiligen Ausführungen des Prof. Dr. K. auseinander zu setzen und ohne darzulegen, aufgrund welcher Sachkunde es dem Gutachten von Prof. Dr. S. folge und worauf diese Sachkunde beruhe.
- 24
-
Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe die Entscheidung des LSG, dass ein Zusammenhang des Leidens der Tetraplegie mit der Dreifachimpfung nicht wahrscheinlich sei, weil es am Nachweis eines Impfschadens fehle und im Übrigen andere Ursachen der Erkrankung nicht ausschieden.
- 25
-
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2007 zurückzuweisen.
- 26
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
- 27
-
Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.
- 28
-
Der Senat hat eine Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 mit einer Auflistung der seit 1979 zugelassenen Polio Oral-Impfstoffe sowie der Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus eingeholt und den Beteiligten ausgehändigt.
Entscheidungsgründe
- 29
-
1. Die Revision des Klägers ist zulässig.
- 30
-
a) Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, wenn er geltend macht, das LSG habe generelle "Rechtstatsachen" verkannt. Es spricht zunächst nichts dagegen, die in den AHP 1983 bis 2005 unter Nr 57 für Schutzimpfungen ausgeführten Erkenntnisse zu üblichen Impfreaktionen und "Impfschäden" als generelle Tatsachen anzusehen. Zutreffend hat der Kläger insoweit auf das Urteil des 2. Senats des BSG vom 27.6.2006 (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) zum Berufskrankheitenrecht hingewiesen. Auch der erkennende Senat ist bereits im Bereich des Schwerbehindertenrechts davon ausgegangen, dass generelle Tatsachen vorliegen, soweit es um allgemeine medizinische Erkenntnisse geht (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 28). Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG führt die Annahme, dass ein bestimmter Umstand nicht (nur) einzelfallbezogene Tatsache ist, sondern eine generelle Tatsache darstellt, indes nur zur Durchbrechung der nach § 163 SGG angeordneten strikten Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des LSG verbunden mit der Befugnis bzw der Aufgabe für das Revisionsgericht, entsprechende generelle Tatsachen selbst zu ermitteln und festzustellen(BSG aaO). Die Nichtberücksichtigung genereller Tatsachen durch das Berufungsgericht bewirkt damit nicht unmittelbar eine Verletzung materiellen Rechts.
- 31
-
Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn es um die unterlassene oder die fehlerhafte Berücksichtigung von generellen Rechtstatsachen geht, muss hier nicht entschieden werden. Zwar mag eine im og Sinne generelle Tatsache dann als Rechtstatsache anzusehen sein, wenn sie Gegenstand einer Rechtsnorm ist (vgl BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 7; noch nicht differenziert in BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 4). Das BSG ist aber auch im Fall der Annahme einer generellen "Rechtstatsache" bisher ausdrücklich allein von der Durchbrechung der Bindung des § 163 SGG ausgegangen(BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 24; BSGE 94, 90 = SozR 3-2500 § 18 Nr 6; s dazu Dreher, Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsprechung des BSG, Festschrift 50 Jahre BSG, 791, 796). Ob eine Erweiterung dieser Rechtsprechung in einem Fall angezeigt ist, in dem es um Inhalt und Reichweite der AHP geht, deren Änderung in der Rechtsprechung des BSG wegen der "rechtsnormähnlichen Qualität" der AHP als Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X angesehen worden ist(BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5 S 6), kann ebenfalls auf sich beruhen.
- 32
-
b) Jedenfalls reicht es zur Zulässigkeit einer Revision aus, wenn der Revisionsführer die berufungsgerichtliche Feststellung genereller Tatsachen mit zulässigen Verfahrensrügen angreift (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Das ist hier geschehen. Der Kläger hat insbesondere schlüssig dargetan, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen aufzuklären, ob sich die vom LSG herangezogenen, in den Hinweisen der STIKO von 2007 und den AHP 2005 niedergelegten medizinischen Erkenntnisse auf die Impfstoffe beziehen, die im Jahre 1986 bei ihm (dem Kläger) verwendet worden sind. Dazu hat der Kläger auch hinreichend vorgetragen, dass es - ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG - auf diese Feststellungen ankam, weil nach den AHP 1983 andere Krankheitserscheinungen zur Bejahung eines über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschadens (dort als "Impfschaden" bezeichnet) ausreichten als nach den - insoweit gleichlautenden - AHP 1996 bis 2005. Sollten im vorliegenden Fall die AHP 1983 maßgebend sein, so wäre danach eine für den Kläger günstigere Entscheidung des LSG möglich gewesen. Diese Rüge erfasst den gesamten Gegenstand des Revisionsverfahrens. Sie führt mithin zur unbeschränkten Zulässigkeit der Revision.
- 33
-
2. Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.
- 34
-
a) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Beschädigtenrente wegen eines Impfschadens nach einer MdE um 65 vH ab April 2001 (ab 21.12.2007: Grad der Schädigungsfolgen
von 65). Mit Urteil vom 10.5.2007 hat das SG - entsprechend dem Klageantrag - den Beklagten verpflichtet, dem Kläger wegen der am 17.4.1986 erfolgten Impfung unter Anerkennung der Impfschadensfolge "Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung, leichte Sprachstörung" ab April 2001 Versorgung nach dem IfSG iVm dem BVG nach einer MdE von 65 vH zu gewähren. Dieses Urteil hatte der Kläger vor dem LSG erfolglos gegen die Berufung des Beklagten verteidigt. Im Revisionsverfahren erstrebt er die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit der - in der Revisionsverhandlung klargestellten - Maßgabe, dass er nicht allgemein Versorgung, sondern Beschädigtenrente begehrt (vgl dazu BSGE 89, 199, 200 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 92 f).
- 35
-
b) Der Anspruch des Klägers, der für die Zeit ab März 2001 zu prüfen ist, richtet sich nach § 60 Abs 1 IfSG, der am 1.1.2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin und auch schon zur Zeit der hier in Rede stehenden Impfung des Klägers im Jahre 1986 geltenden - weitgehend wortlautgleichen (BSGE 95, 66 = SozR 4-3851 § 20 Nr 1, RdNr 6; SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 12) - § 51 Abs 1 BSeuchG abgelöst hat. § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG bestimmt:
Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die
1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3. gesetzlich vorgeschrieben war oder
4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens iS des § 2 Nr 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.
Nach § 2 Nr 11 Halbs 1 IfSG ist im Sinne dieses Gesetzes Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.
- 36
-
aa) Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG - ua zB öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde - erfolgteSchutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (s zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG Urteile vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58, 59 = SozR 3850 § 51 Nr 9 S 46 und - 9a RVi 4/84 - SozR 3850 § 51 Nr 10 S 49; ebenso auch Nr 57 AHP 1983 bis 2005).
- 37
-
Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. (s Rohr/Sträßer/Dahm, BVG-Kommentar, Stand 1/11, § 1 Anm 10 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1/11, § 8 SGB VII RdNr 8 mwN).
- 38
-
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.
- 39
-
bb) Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales
) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog antizipierte Sachverständigengutachten (s nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar (BSG aaO). Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.
- 40
-
Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 - IV.c.6-48064-3; vgl auch Nr 57 AHP 2008):
Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr 11 IfSG und Nr 56 Abs 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.
- 41
-
Die seit dem 1.1.2009 an die Stelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern (s BMAS
, Einleitung zur VersMedV, S 5) , sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen.
- 42
-
cc) Zutreffend hat das LSG die Auffassung vertreten, dass alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG im Sozialen Entschädigungsrecht, insbesondere im Impfschadensrecht, und Schwerbehindertenrecht (s BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVi 1/95 - SozR 3-3850 § 52 Nr 1 S 3, Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25) sowie im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7). Ein bestimmter Vorgang, der unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat, muss, wenn über ihn erst jetzt abschließend zu entscheiden ist, nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft beurteilt werden. So kann auch die vor Jahrzehnten bejahte Kausalität aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden als fehlend erkannt werden, mit der Folge, dass Anerkennungen unter Umständen zurückzunehmen oder nur aus Gründen des Vertrauensschutzes (§ 45 SGB X) zu belassen sind (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 V 1/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).
- 43
-
Bei der Anwendung der neuesten medizinischen Erkenntnisse ist allerdings jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, ggf lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben.
- 44
-
c) Diesen Grundsätzen entspricht das angefochtene Berufungsurteil nicht in vollem Umfang.
- 45
-
aa) Zunächst hat das LSG unangegriffen festgestellt, dass der Kläger am 17.4.1986 im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfungen, nämlich gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis, erhalten hat. Sodann ist allerdings unklar, das Auftreten welcher genauen Gesundheitsstörungen das LSG in der Zeit nach diesen Impfungen als bewiesen angesehen hat. Das LSG hat sich darauf beschränkt, das Vorliegen eines "Impfschadens" im Sinne einer primären Schädigung (also einer Impfkomplikation) zu verneinen. Bei der insoweit erfolgten Kausalitätsbeurteilung hat es sich in erster Linie auf die Hinweise der STIKO von Juni 2007 (Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen/Stand: 2007, EB vom 22.6.2007/Nr 25
) und hilfsweise auch auf die Nr 57 AHP 2005 gestützt, ohne - wie der Kläger zutreffend geltend macht - Feststellungen dazu getroffen zu haben, ob sich die darin zusammengefassten medizinischen Erkenntnisse auch auf die beim Kläger im Jahre 1986 verwendeten Impfstoffe beziehen.
- 46
-
Das LSG hat es bereits unterlassen, ausdrücklich festzustellen, welche Impfstoffe dem Kläger am 17.4.1986 verabreicht worden sind. Auch aus den vom LSG allgemein in Bezug genommenen Akten ergibt sich insofern nichts. Der in Kopie vorliegende Impfpass des Klägers enthält für den 17.4.1986 nur den allgemeinen Eintrag "Polio oral, Diphtherie, Tetanus". In der ebenfalls in Kopie vorliegenden Krankenkartei der behandelnden Kinderärztin findet sich unter dem 17.4.1986 die Angabe "DT-Polio".
- 47
-
Ermittlungen zu dem im Jahre 1986 beim Kläger verwendeten Impfstoff sowie zu dessen Einbeziehung in die Hinweise der STIKO (EB Nr 25/2007) und - hinsichtlich des oral verabreichten Poliolebendimpfstoffes - in die Nr 57 Abs 2 AHP 2005 hat das LSG offenbar für entbehrlich gehalten. Es hat den Umstand, dass die Impfstoffe im Laufe der Jahre verändert worden sind, hypothetisch als wahr unterstellt und anhand der AHP 2005 unter Auswertung der Sachverständigengutachten den Eintritt von Impfkomplikationen beim Kläger verneint. Dabei hat es jedoch nicht geklärt, ob die AHP 2005 für die Beurteilung von Komplikationen infolge der im Jahre 1986 vorgenommenen Impfungen auch wirklich uneingeschränkt maßgebend sind.
- 48
-
bb) Entsprechende Feststellungen wären sicher dann überflüssig, wenn die Angaben zu Impfkomplikationen nach Schutzimpfungen der beim Kläger vorgenommenen Art von den 1986 noch maßgebenden AHP 1983 bis zu den STIKO-Hinweisen von Juni 2007 gleich geblieben wären. Dann könnte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich weder die Auswirkungen der insoweit gebräuchlichen Impfstoffe noch diesbezügliche wissenschaftliche Erkenntnisse geändert haben. Ebenso könnte auf nähere Feststellungen zu diesem Punkt verzichtet werden, wenn feststünde, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis bei den STIKO-Hinweisen von 2007 oder den Angaben in Nr 57 AHP 2005 Berücksichtigung gefunden haben, sei es, weil die Impfstoffe (jedenfalls hinsichtlich der zu erwartenden Impfkomplikationen) im gesamten Zeitraum im Wesentlichen unverändert geblieben sind, sei es, weil etwaige Unterschiede differenziert behandelt worden sind. Von alledem kann nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht ausgegangen werden.
- 49
-
aaa) Zunächst lassen sich Unterschiede in den Ausführungen der Nr 57 AHP 1983 und 1996 (letztere sind in die AHP 2004 und 2005 übernommen worden) sowie in den STIKO-Hinweisen von 2007 feststellen:
So enthält die Nr 57 Abs 2 AHP (Poliomyelitis-Schutzimpfung) für die Impfung mit Lebendimpfstoff zwar hinsichtlich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 (2004/2005) im Wesentlichen die gleichen Formulierungen, der Text betreffend "Impfschäden" (im Sinne von Impfkomplikationen) weicht jedoch in beiden Fassungen voneinander ab. In den AHP 1983 heißt es insoweit:
Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen; Inkubationszeit 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (21 bis 158 Tage beobachtet). Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralnervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder - sehr selten - eine Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen stets einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Dieselben Voraussetzungen gelten für das selten als Impfschaden in Betracht kommende Erythema nodosum.
- 50
-
Die Fassung der AHP 1996 nennt dagegen als "Impfschäden" (Komplikationen):
Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten). Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.
- 51
-
In den EB 25/2007 finden sich zu einem Poliomyelitisimpfstoff mit Lebendviren, wie er dem Kläger (oral) verabreicht worden ist, keine Angaben. Dies beruht darauf, dass dieser Impfstoff seit 1998 nicht mehr zur Schutzimpfung bei Kleinkindern öffentlich empfohlen ist (vgl dazu BSG SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 16).
- 52
-
Für die Diphtherie-Schutzimpfung ist die Nr 57 Abs 12 AHP bezüglich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 im Wesentlichen wortlautgleich.
- 53
-
Die "Impfschäden" (im Sinne von Komplikationen) sind in der Fassung der AHP 1983 beschrieben mit:
Sterile Abszesse mit Narbenbildung. Selten in den ersten Wochen Enzephalopathie, Enzephalomyelitis oder Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit). Selten Thrombose, Nephritis.
- 54
-
Demgegenüber ist Abs 12 der Nr 57 AHP 1996 hinsichtlich der "Impfschäden" (Komplikationen) wie folgt gefasst:
Sehr selten akut entzündliche Erkrankungen des ZNS; sie bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Sehr selten Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit), Thrombose, Nephritis.
- 55
-
Hinsichtlich der Tetanus-Schutzimpfung sind in Abs 13 der Nr 57 der hier relevanten Fassungen der AHP die "Impfschäden" wie folgt übereinstimmend umschrieben:
Sehr selten Neuritis, Guillain-Barré-Syndrom.
- 56
-
Demgegenüber differiert hier die Beschreibung der "üblichen Impfreaktionen" zwischen den Fassungen 1983 und 1996. Während 1983 als "übliche Impfreaktionen" beschrieben sind:
Geringe Lokalreaktion,
- 57
-
enthält die Fassung der AHP 1996 die Formulierung:
Lokalreaktion, verstärkt nach Hyperimmunisierung.
- 58
-
In den STIKO-Hinweisen von 2007 (EB 25/2007, 211) heißt es zum Diphtherie-Tetanus-Impfstoff (DT-Impfstoff):
Lokal- und Allgemeinreaktion
Als Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff kann es innerhalb von einem bis drei Tagen, selten länger anhaltend, sehr häufig (bei bis zu 20 % der Impflinge) an der Impfstelle zu Rötung, Schmerzhaftigkeit und Schwellung kommen, gelegentlich auch verbunden mit Beteiligung der zugehörigen Lymphknoten. Sehr selten bildet sich ein kleines Knötchen an der Injektionsstelle, ausnahmsweise im Einzelfall mit Neigung zu steriler Abszedierung.
Allgemeinsymptome wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik (Frösteln, Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufbeschwerden) oder Magen-Darm-Beschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) treten gelegentlich (1 % der Impflinge) und häufiger (bis 10 %) bei hyperimmunisierten (häufiger gegen Diphtherie und/oder Tetanus geimpften) Impflingen auf.
In der Regel sind diese genannten Lokal- und Allgemeinreaktionen vorübergehender Natur und klingen rasch und folgenlos wieder ab.
Komplikationen
Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind gelegentlich zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen. Komplikationen der Impfung in Form allergischer Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen treten selten auf. Im Einzelfall kann es zu Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- oder Polyneuritiden, Neuropathie) kommen, auch Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur beschrieben.
- 59
-
bb) Der erkennende Senat hat auch keine Veranlassung anzunehmen, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus (DT-Impfstoffe) von den STIKO-Hinweisen von 2007 erfasst worden sind. Dafür dass sich diese nur auf im Jahre 2007 gebräuchliche Impfstoffe beziehen, spricht schon der vom LSG selbst erkannte Umstand, dass es sich dabei ausdrücklich um "Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen Stand: 2007" handelt. Zudem wird in diesen Hinweisen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die nachfolgende Textfassung sowie das zugehörige Literaturverzeichnis auf alle gegenwärtig (Stand: Juni 2007) in Deutschland zugelassenen Impfstoffe beziehen (s EB Nr 25/2007 S 210 rechte Spalte). Weiter heißt es dort:
Auf dem deutschen Markt stehen Impfstoffe unterschiedlicher Hersteller mit zum Teil abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen zur Verfügung, die zur gleichen Anwendung zugelassen sind. Die Umsetzung von STIKO-Empfehlungen kann in der Regel mit allen verfügbaren und zugelassenen Impfstoffen erfolgen. Zu Unterschieden im Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist ggf auf die jeweiligen Fachinformationen zu verweisen. Die Aktualisierung der Fachinformationen erfolgt nach Maßgabe der Zulassungsbehörden entsprechend den Änderungsanträgen zur Zulassung. Diese aktualisierten Fachinformationen sind ggf ergänzend zu den Ausführungen in diesen Hinweisen zu beachten.
- 60
-
Nach der vom erkennenden Senat eingeholten Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 waren im Juni 2007 noch drei DT-Impfstoffe zugelassen, deren Zulassung vor 1986 lag. Daneben waren im Juni 2007 und bis heute weitere neun DT-Impfstoffe zugelassen, deren zeitlich früheste Zulassung im Jahr 1997 datiert. Hinzu kommt, dass es nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts nach Einführung der Zulassungspflicht im Jahre 1978 eine Übergangszeit von mehreren Jahren gab. In dieser Zeit erhielten Impfstoffe nach und nach eine Zulassung im heutigen Sinne. So können Impfstoffe, die erst nach 1986 offiziell zugelassen worden sind, bereits vorher in Deutschland gebräuchlich gewesen sein.
- 61
-
Diese Gegebenheiten schließen nach Auffassung des erkennenden Senats - jedenfalls auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnisse - eine undifferenzierte Anwendung der STIKO-Hinweise auf die 1986 beim Kläger erfolgten Impfungen aus. Es lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass alle 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe zu den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen gehört haben, auf die sich diese Hinweise nach ihrem Inhalt beziehen. Darüber hinaus werden darin ausdrücklich Unterschiede im Spektrum der unerwünschten Arzneimittelwirkungen angesprochen, die sich aus abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen ergeben können. Ohne nähere Feststellungen zu den Zusammensetzungen der 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe, insbesondere der beim Kläger verwendeten, lässt sich mithin nicht beurteilen, ob und inwieweit die STIKO-Hinweise von 2007 bei der hier erforderlichen Kausalitätsprüfung zugrunde gelegt werden können.
- 62
-
Entsprechend verhält es sich mit den AHP 2005, die das LSG in erster Linie bei der Poliomyelitisimpfung und hilfsweise auch bei der DT-Impfung zur Kausalitätsbeurteilung herangezogen hat. In Nr 56 und 57 AHP 2005, die insoweit mit den AHP 1996 und 2004 übereinstimmen, wird nicht genau angegeben, auf welche Impfstoffe sich die betreffenden Angaben beziehen. Insbesondere wird nicht deutlich, ob diese Angaben auch für die 1986 gebräuchlichen Impfstoffe Geltung beanspruchen. Da das LSG auch nicht festgestellt hat, dass die in Frage kommenden Impfstoffe in ihren Auswirkungen von 1986 bis 1996 gleich geblieben sind, können die AHP 1996/2004/2005 hier nicht ohne Weiteres angewendet werden. Denkbar wäre immerhin, dass für die im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe grundsätzlich noch die AHP 1983 maßgebend sind, ggf ergänzt durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der betreffenden Impfstoffe.
- 63
-
d) Zwar könnte der erkennende Senat die danach erforderlichen Feststellungen, soweit sie sich auf allgemeine Tatsachen beziehen, nach entsprechenden Ermittlungen selbst treffen. Eine derartige Vorgehensweise hält er hier jedoch nicht für tunlich.
- 64
-
aa) Zur Klärung einer Anwendung der STIKO-Hinweise von 2007 müsste - ohne vorherige Ermittlung der konkret beim Kläger verwendeten Impfstoffe, die der Senat nicht selbst durchführen darf (vgl § 163 SGG) - allgemein, dh voraussichtlich mit erheblichem Aufwand, geprüft werden, ob alle im April 1986 gebräuchlichen Impfstoffe den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen derart entsprachen, dass mit denselben Impfkomplikationen zu rechnen war, wie sie in den STIKO-Hinweisen für DT-Impfstoffe aufgeführt werden. Sollte sich dabei kein einheitliches Bild ergeben, könnte auf die Feststellung der tatsächlich angewendeten Impfstoffe wahrscheinlich nicht verzichtet werden.
- 65
-
bb) Soweit sich feststellen ließe, dass die AHP 1996/2004/2005 - ggf mit allgemeinen Modifikationen - ohne Feststellung der konkreten Impfstoffe für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblich sind, könnte das Berufungsurteil jedenfalls nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Zumindest hinsichtlich der Verneinung einer durch die Diphtherieimpfung verursachten Impfkomplikation beruht die Entscheidung des LSG nämlich sowohl auf einer teilweise unzutreffenden Rechtsauffassung als auch auf Tatsachenfeststellungen, die verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind.
- 66
-
Nach der vom LSG (hilfsweise) als einschlägig angesehenen Nr 57 Abs 12 AHP 2005 kommt bei einer Diphtherieschutzimpfung als "Impfschaden" (Komplikation) ua eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.
- 67
-
aaa) Dementsprechend ist zunächst festzustellen, ob eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS im maßgeblichen Zeitraum nach der Impfung eingetreten ist. Soweit das LSG bezogen auf den vorliegenden Fall angenommen hat, eine entsprechende Erkrankung des ZNS lasse sich nicht feststellen, beruht dies - wie der Kläger hinreichend dargetan hat - auf einem Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs 1 Satz 1 SGG.
- 68
-
Zwischen den Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. S. bestand darüber Streit, ob beim Kläger zwei Wochen nach der ersten Impfung eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" aufgetreten ist. Das LSG hat sich für die Verneinung einer derartigen Erkrankung in erster Linie auf die Auffassung von Prof. Dr. S. gestützt, der als typische Merkmale einer "schweren" ZNS-Erkrankung Fieber, Krämpfe, Erbrechen und längere Bewusstseinstrübung genannt habe. Dagegen hatte der Kläger unter Beweis gestellt, dass Erkrankungen des ZNS gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können. Diese Behauptung hat das LSG hypothetisch als wahr unterstellt und dazu die Ansicht vertreten, dies ändere "nichts daran, dass vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS gerade nicht positiv festgestellt werden kann". Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge nicht.
- 69
-
Zwar trifft es zu, dass der Eintritt einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS beim Kläger für den relevanten Zeitraum von 28 Tagen nach Impfung bewiesen sein muss. Den Ausführungen des LSG lässt sich jedoch nicht entnehmen, auf welche medizinische Sachkunde es sich bei der Beurteilung gestützt hat, eine positive Feststellung sei im vorliegenden Fall unmöglich. Auf die Ausführungen von Prof. Dr. S. konnte sich das LSG dabei nicht beziehen, da es in diesem Zusammenhang gerade - abweichend von dessen Auffassung - die Möglichkeit einer ohne Fieberausbrüche auftretenden akut entzündlichen Erkrankung des ZNS unterstellt hat. Mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K., auf die sich der Kläger berufen hatte, hat sich das LSG nicht auseinandergesetzt. Folglich hätte das LSG entweder zunächst dem auf allgemeine medizinische Erkenntnisse gerichteten Beweisantrag des Klägers nachkommen oder sogleich mit sachkundiger Hilfe (unter Abklärung des medizinischen Erkenntnisstandes betreffend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS) konkret feststellen müssen, ob das (von Prof. Dr. K. als "zentralnervöser Zwischenfall" bezeichnete) Krankheitsgeschehen, das beim Kläger vierzehn Tage nach der Impfung ohne einen Fieberausbruch abgelaufen ist, als akut entzündliche Erkrankung des ZNS anzusehen ist.
- 70
-
bbb) Auch (allein) mit dem (bislang) fehlenden Nachweis einer Antikörperbildung hätte das LSG eine Impfkomplikation nicht verneinen dürfen. Seine Begründung, selbst wenn sich noch heute Antikörper feststellen ließen, könnten sie - wegen der im Jahre 1987 erfolgten weiteren Impfungen - nicht mit Sicherheit der am 17.4.1986 vorgenommenen ersten Impfung zugeordnet werden, ist aus Rechtsgründen nicht tragfähig. Der erkennende Senat hält es für unzulässig, eine Versorgung nach dem IfSG an Anforderungen scheitern zu lassen, die im Zeitpunkt der Impfung nicht erfüllt zu werden brauchten und im nachhinein nicht mehr erfüllt werden können (vgl dazu Thüringer LSG Urteil vom 20.3.2003 - L 5 VJ 624/01 - juris RdNr 32; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.7.2006 - L 8 VJ 847/04 - juris RdNr 40). Der Nachweis der Antikörperbildung als Hinweis auf eine Verursachung der Erkrankung des ZNS durch die Impfung ist erstmals in der Nr 57 Abs 12 AHP 1996 enthalten. Die AHP 1983 nannten an entsprechender Stelle als "Impfschäden" (Komplikationen) noch nicht einmal die akut entzündliche Erkrankung des ZNS, sondern andere Erkrankungen, wie zB die Enzephalopathie, ohne einen Antikörpernachweis zu fordern. Nach der am 17.4.1986 erfolgten Impfung bestand somit grundsätzlich keine Veranlassung, die Bildung von Antikörpern zu prüfen. Wenn die Zuordnung von jetzt noch feststellbaren Antikörpern nach den weiteren Impfungen von 1987 aus heutiger Sicht medizinisch nicht möglich sein sollte, verlangte man rechtlich etwas Unmögliches vom Kläger. Demzufolge muss es zur Erfüllung der Merkmale der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 jedenfalls ausreichen, wenn sich heute noch entsprechende Antikörper beim Kläger nachweisen lassen.
- 71
-
ccc) Soweit das LSG schließlich im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 festgestellt hat, dass andere Ursachen der Krankheitszeichen, die beim Kläger zwei Wochen nach der Impfung vom 17.4.1986 aufgetreten sind, nicht ausscheiden, ist auch diese Feststellung - wie vom Kläger zutreffend gerügt - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hat insoweit nicht das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigt. Denn es hat sich nicht hinreichend mit der abweichenden medizinischen Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. K. auseinandergesetzt. Neben dem vom LSG erörterten verringerten Schädelwachstum des Klägers hat Prof. Dr. K. in diesem Zusammenhang auch auf einen Entwicklungsknick hingewiesen, der beim Kläger nach dem "zentralnervösen Zwischenfall" eingetreten sei. Es ist jedenfalls nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich ein solcher Vorgang mit der vom LSG - gestützt auf Prof. Dr. S. angenommenen "allmählichen Manifestation" der Symptome einer Cerebralparese vereinbaren lässt.
- 72
-
e) Nach alledem ist es geboten, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
- 73
-
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Tenor
-
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 2011 aufgehoben, soweit es einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter betrifft.
-
In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
-
Im Übrigen wird die Revision der Klägerin zurückgewiesen.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
- 2
-
Die 1962 geborene Klägerin beantragte am 16.9.1999 beim damals zuständigen Versorgungsamt B. Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Sie gab an, ihre Gesundheitsstörungen seien Folge von Gewalttaten und sexuellem Missbrauch im Elternhaus sowie von sexuellem Missbrauch durch einen Fremden. Die Taten hätten sich zwischen ihrem Geburtsjahr 1962 mit abnehmender Tendenz bis 1980 zugetragen.
- 3
-
Nachdem das Versorgungsamt die Klägerin angehört, eine Vielzahl von Arztberichten, insbesondere über psychiatrische Behandlungen der Klägerin, sowie eine schriftliche Aussage ihrer Tante eingeholt hatte, stellte die Ärztin für Neurologie und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin Dr. W. mit Gutachten vom 26.9.2001 für das Versorgungsamt zusammenfassend fest, die Untersuchung der Klägerin habe nur in Ansätzen detaillierte Angaben zu den geltend gemachten Misshandlungen und dem sexuellen Missbrauch erbracht. Diagnostisch sei von einer Persönlichkeitsstörung auszugehen. Aufgrund der Symptomatik sei nicht zu entscheiden, ob die psychische Störung der Klägerin ein Milieuschaden im weitesten Sinne sei oder mindestens gleichwertig auf Gewalttaten im Sinne des OEG zurückzuführen sei. Das Versorgungsamt lehnte daraufhin den Antrag der Klägerin auf Beschädigtenversorgung mit der Begründung ab: Die psychische Störung könne nicht als Folge tätlicher Gewalt anerkannt werden. Zwar seien einzelne körperliche Misshandlungen, Schläge und sexueller Missbrauch geschildert worden, insbesondere aber insgesamt zerrüttete Familienverhältnisse. Vor allem diese frühere, allgemeine familiäre Situation sei für die psychischen Probleme verantwortlich (Bescheid vom 15.10.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.5.2002).
- 4
-
Das Sozialgericht (SG) Detmold hat die - zunächst gegen das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) und ab 1.1.2008 gegen den jetzt beklagten Landschaftsverband gerichtete - Klage nach Anhörung der Klägerin, Vernehmung mehrerer Zeugen und Einholung eines Sachverständigengutachtens der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapeutische Medizin und Sozialmedizin Dr. S. vom 23.6.2005 sowie eines Zusatzgutachtens der Diplom-Psychologin H. vom 5.4.2005 auf aussagepsychologischem Gebiet durch Urteil vom 29.8.2008 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) NRW hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 16.12.2011), nachdem es ua zur Frage der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin ein auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG erstattetes Sachverständigengutachten des Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie Sp. vom 25.9.2009 sowie eine ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen Dr. S. vom 20.4.2011 beigezogen hatte. Seine Entscheidung hat es im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
- 5
-
Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Gewährung von Versorgung nach § 1 OEG iVm § 31 BVG, weil sich vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe auf die Klägerin, die zur Verursachung der bei ihr bestehenden Gesundheitsschäden geeignet wären, nicht hätten feststellen lassen. Unter Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens sei es nicht in einem die volle richterliche Überzeugung begründenden Maß wahrscheinlich, dass die Klägerin in ihrer Kindheit und Jugend Opfer der von ihr behaupteten körperlichen und sexuellen Misshandlungen und damit von Angriffen iS von § 1 Abs 1 S 1 OEG geworden sei. Keiner der durch das SG vernommenen Zeugen habe die von der Klägerin behaupteten anhaltenden und wiederholten Gewalttätigkeiten durch ihren Vater und ihre Mutter und erst recht nicht den von ihrem Vater angeblich verübten sexuellen Missbrauch bestätigt. Das LSG folge der Beweiswürdigung des SG, das keine generellen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugen dargelegt habe. Es habe daher das ihm eingeräumte Ermessen dahingehend ausgeübt, die Zeugen nicht erneut zu vernehmen. Angesichts des langen Zeitablaufs seit der Zeugenvernehmung durch das SG und mangels neuer Erkenntnisse zu den angeschuldigten Ereignissen, die noch wesentlich länger zurücklägen, gehe das LSG davon aus, dass eine erneute Zeugenvernehmung nicht ergiebig gewesen wäre und lediglich die Aussagen aus der ersten Instanz bestätigt hätte. Zudem hätten die Mutter der Klägerin sowie einer ihrer Brüder gegenüber dem LSG schriftlich angekündigt, im Fall einer Vernehmung erneut das Zeugnis aus persönlichen Gründen zu verweigern. Das LSG habe deswegen auf ihre erneute Ladung zur Vernehmung verzichtet.
- 6
-
Ebenso wenig habe sich das LSG allein auf der Grundlage der Angaben der Klägerin die volle richterliche Überzeugung vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 Abs 1 S 1 OEG bilden können, da es ihre Angaben in wesentlichen Teilen nicht als glaubhaft betrachte. Denn sie widersprächen im Kern den Aussagen ihres Vaters und ihres anderen Bruders. Die dadurch begründeten ernstlichen Zweifel am Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen habe die aussagepsychologische Begutachtung der Klägerin durch die vom SG beauftragte Sachverständige H. nicht ausgeräumt, sondern sogar bestärkt. Die vom Sachverständigen Sp. geäußerte Kritik an der aussagepsychologischen Begutachtung überzeuge das LSG nicht. Denn theoretischer Ansatz und methodische Vorgehensweise des vom SG eingeholten aussagepsychologischen Gutachtens entsprächen dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft. Das Gutachten stütze sich insoweit zu Recht ausdrücklich auf die in der Leitentscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH) in Strafsachen (Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellten Grundsätze der aussagepsychologischen Begutachtung für Glaubhaftigkeitsgutachten, wie sie die Strafgerichte seitdem in ständiger Rechtsprechung anwendeten. Diese aussagepsychologischen Grundsätze seien auf den Sozialgerichtsprozess übertragbar. Dabei könne dahinstehen, ob im Strafprozess grundsätzlich andere Beweismaßstäbe gälten als im Sozialgerichtsprozess. Denn die genannten wissenschaftlichen Prinzipien der Glaubhaftigkeitsbegutachtung beanspruchten Allgemeingültigkeit und entsprächen dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft. Ihre Anwendung sei der anschließenden Beweiswürdigung, die etwaigen Besonderheiten des jeweiligen Prozessrechts Rechnung tragen könne, vorgelagert und lasse sich davon trennen.
- 7
-
Die nach diesen aussagepsychologischen Grundsätzen von der Sachverständigen H. gebildete Alternativhypothese, dass es sich bei den Schilderungen der Klägerin um irrtümliche, dh auf Gedächtnisfehlern beruhende Falschangaben handele, lasse sich nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen nicht widerlegen, sondern gut mit den vorliegenden Daten vereinbaren. Hierfür sprächen die großen Erinnerungslücken der Klägerin hinsichtlich ihrer frühen Kindheit, wobei in der aussagepsychologischen Forschung ohnehin umstritten sei, ob es überhaupt aktuell nicht abrufbare, aber trotzdem zuverlässig gespeicherte Erinnerungen an lange zurückliegende Ereignisse gebe. Es könne dahingestellt bleiben, ob sich das Gericht bei der Beurteilung "wiedergefundener" Erinnerungen sachverständiger Hilfe nicht nur bedienen könne, sondern sogar bedienen müsse, obwohl die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen sowie Beteiligten und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen grundsätzlich richterliche Aufgabe sei. Die Entscheidung des SG für eine aussagepsychologische Begutachtung sei angesichts der Besonderheiten der Aussageentstehung bei der Klägerin jedenfalls ermessensgerecht. Auf der Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstands habe die Sachverständige H. darauf hingewiesen, dass die ursprüngliche Wahrnehmung durch die jahrelange psychotherapeutisch unterstützte mentale Auseinandersetzung der Klägerin mit den fraglichen Gewalterlebnissen durch nachträgliche Bewertungen überlagert und damit unzugänglich geworden sein könne. Daher hätten die Angaben der Klägerin, um als erlebnisbegründet angesehen zu werden, wegen der Gefahr einer möglichen Verwechslung von Gedächtnisquellen besonders handlungs- und wahrnehmungsnahe, raum-zeitlich vernetzte Situationsschilderungen enthalten müssen, die konsistent in die berichtete Gesamtdynamik eingebettet und konstant wiedergegeben würden. Diese Qualitätsanforderungen erfüllten die Schilderungen der Klägerin nicht, da sie nicht das erforderliche Maß an Detailreichtum, Konkretheit und Konstanz aufwiesen und nicht ausreichend situativ eingebettet seien.
- 8
-
Das Gutachten des Sachverständigen Sp. habe das Ergebnis der aussagepsychologischen Begutachtung nicht entkräften können. Da er weder eine hypothesengeleitete Analyse der Angaben der Klägerin nach den genannten wissenschaftlichen Grundsätzen vorgenommen noch ein Wortprotokoll seiner Exploration habe zur Verfügung stellen können, sei die objektive Überprüfbarkeit seiner Untersuchungsergebnisse stark eingeschränkt. Er habe eingeräumt, als Psychiater die aussagepsychologische Begutachtung nicht überprüfen und bewerten zu können und seinerseits durch seinen klinisch-psychiatrischen Zugang nicht zur Wahrheitsfindung in der Lage zu sein. Schließlich sei der von ihm vorgenommene Rückschluss von psychiatrischen Krankheitsanzeichen der Klägerin, konkret dem Vorliegen einer von ihm festgestellten posttraumatischen Belastungsstörung, auf konkrete schädigende Ereignisse iS des § 1 OEG in der Kindheit der Klägerin wegen der Vielzahl möglicher Ursachen einer Traumatisierung methodisch nicht haltbar.
- 9
-
Der abgesenkte Beweismaßstab des § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) komme der Klägerin nicht zugute. Zwar sei diese Regelung analog anzuwenden, wenn andere Beweismittel, wie zB Zeugen, nicht vorhanden seien. Lägen dagegen - wie hier - Beweismittel vor und stützten diese das Begehren des Anspruchstellers nicht, könne die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG nicht angewendet werden, weil diese Norm gerade das Fehlen von Beweismitteln voraussetze. Selbst bei Anwendung des Beweismaßstabs der Glaubhaftigkeit bliebe allerdings die Berufung der Klägerin ohne Erfolg. Denn aufgrund des methodisch einwandfreien und inhaltlich überzeugenden aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen H. stehe für das LSG fest, dass die Angaben der Klägerin nicht als ausreichend glaubhaft angesehen werden könnten, weil zu viele Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Erinnerungen verblieben.
- 10
-
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 15 S 1 KOVVfG, des § 128 Abs 1 S 1 SGG sowie des § 1 Abs 1 OEG. Hierzu führt sie im Wesentlichen aus: Das LSG habe seiner Entscheidung nicht die Regelung des § 15 S 1 KOVVfG zugrunde gelegt und damit den anzulegenden Beweismaßstab verkannt. Richtigerweise hätte es hinsichtlich des von ihr behaupteten sexuellen Missbrauchs der Erbringung des Vollbeweises nicht bedurft; vielmehr wäre insoweit eine Glaubhaftmachung allein aufgrund ihrer Angaben ausreichend gewesen. Denn bezüglich dieses Vorbringens seien - bis auf ihren Vater als möglichen Täter - keine Zeugen vorhanden. Die Möglichkeit, dass sich die von ihr beschriebenen Vorgänge tatsächlich so zugetragen hätten, sei nicht auszuschließen; das Verbleiben gewisser Zweifel schließe die Glaubhaftmachung nicht aus. Dem stehe auch nicht entgegen, dass sie sich erst durch Therapien im Laufe des Verwaltungsverfahrens an die Geschehnisse habe erinnern können.
- 11
-
Das LSG habe ferner gegen § 128 Abs 1 S 1 SGG verstoßen, da es ein aussagepsychologisches Gutachten berücksichtigt habe. Ein solches Gutachten habe nicht eingeholt und berücksichtigt werden dürfen, da aussagepsychologische Gutachten in sozialgerichtlichen Entschädigungsprozessen keine geeigneten Mittel der Sachverhaltsfeststellung darstellten. Die Arbeitsweise bei aussagepsychologischen Gutachten lasse sich entgegen der Auffassung des LSG nicht ohne Weiteres auf sozialrechtliche Entschädigungsprozesse übertragen, da diese nicht mit Strafverfahren vergleichbar seien. Denn in Strafverfahren sei die richterliche Überzeugung vom Vorliegen bestimmter Tatsachen in der Weise gefordert, dass ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit bestehe, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht laut werden dürften. Das OEG hingegen sehe gemäß § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 S 1 KOVVfG einen herabgesetzten Beweismaßstab vor. Ein weiterer Grund, weshalb aussagepsychologische Gutachten in sozialgerichtlichen Entschädigungsprozessen nicht eingeholt werden dürften, sei die darin erfolgende Zugrundelegung der sog Nullhypothese. Diese entspreche im Strafverfahren dem Grundsatz "in dubio pro reo", sodass als Arbeitshypothese von der Unschuld des Angeklagten auszugehen sei; mit sozialgerichtlichen Verfahren sei dies jedoch nicht in Einklang zu bringen. Zudem unterscheide sich die Art der Gutachtenerstattung in den beiden Verfahrensordnungen; in sozialgerichtlichen Verfahren erstatte der Sachverständige das Gutachten aufgrund der Aktenlage und einer Untersuchung der Person, wohingegen der Sachverständige im Strafprozess während der gesamten mündlichen Verhandlung anwesend sei und dadurch weitere Eindrücke von dem Angeklagten gewinne. Schließlich könne eine aussagepsychologische Untersuchung der Aussage eines erwachsenen Zeugen zu kindlichen Traumatisierungen auf keinerlei empirisch gesicherte Datenbasis hinsichtlich der Unterscheidung zwischen auto- oder fremdsuggerierten und erlebnisbasierten Erinnerungen zurückgreifen und sei daher wissenschaftlich nicht sinnvoll.
- 12
-
Ein weiterer Verstoß gegen § 128 Abs 1 S 1 SGG liege in einer widersprüchlichen, mitunter nicht nachvollziehbaren und teilweise einseitigen Beweiswürdigung des LSG begründet, womit es die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten habe. Das LSG habe den Aussagen ihres Bruders sowie ihres Vaters ein höheres Gewicht als ihren eigenen Angaben beigemessen und sich nicht kritisch mit den Zeugenaussagen auseinandergesetzt. Es sei einerseits von einer unberechenbaren Aggressivität des Vaters, einer aggressiven Atmosphäre und emotionalen Vernachlässigung in der Familie sowie einigen nachgewiesenen körperlichen Misshandlungen ausgegangen, halte andererseits jedoch ihre Angaben zu den Misshandlungen nicht für glaubhaft. Kaum berücksichtigt habe es zudem die Aussage ihrer Tante. Das LSG habe ferner ihre teilweise fehlenden, ungenauen oder verspäteten Erinnerungen nur einseitig zu ihrem Nachteil gewürdigt und dabei nicht in Erwägung gezogen, dass diese Erinnerungsfehler Folgen ihres Alters zum Zeitpunkt der Vorfälle, der großen Zeitspanne zwischen den Taten und dem durchgeführten Verfahren sowie ihrer Krankheit sein könnten. Im Rahmen des OEG könnten auch bruchstückhafte, lückenhafte oder voneinander abweichende Erinnerungen als Grundlage für eine Überzeugungsbildung ausreichen. Nicht umfassend gewürdigt habe das LSG schließlich das aussagepsychologische Gutachten, das selbst Anlass zur Kritik biete. Auch dieses habe nicht berücksichtigt, dass die Erinnerungslücken und Abweichungen in den Angaben eine Erscheinungsform ihrer Krankheit sein könnten. Dieses Gutachten entspreche daher nicht den erforderlichen wissenschaftlichen Standards und könne auch aus diesem Grunde nicht berücksichtigt werden. Zudem hätte das Gutachten von einem auf Traumatisierung spezialisierten Psychologen erstattet werden müssen.
- 13
-
Das LSG habe darüber hinaus verkannt, dass die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 OEG bereits durch ihre grobe Vernachlässigung als Schutzbefohlenen erfüllt seien. Das Verhalten ihrer Eltern sei nicht durch ein Züchtigungsrecht gedeckt gewesen. Die familiäre Atmosphäre sei - wie von den Vorinstanzen festgestellt - von elterlicher Aggression, gestörten Beziehungen und emotionaler Vernachlässigung geprägt gewesen. Zudem habe das LSG einige Schläge als erwiesen erachtet. Auch die fachärztlichen Gutachten hätten ergeben, dass ihre psychische Störung jedenfalls durch die aggressive Familienatmosphäre verursacht worden sei.
- 14
-
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 2011 sowie des Sozialgerichts Detmold vom 29. August 2008 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 15. Oktober 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2002 zu verurteilen, ihr wegen der Folgen von sexuellem Missbrauch sowie körperlichen und seelischen Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.
- 15
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
- 16
-
Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend.
- 17
-
Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland auf deren Antrag hin beigeladen (Beschluss vom 29.1.2013). Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
- 18
-
Die Revision der Klägerin ist zulässig.
- 19
-
Sie ist vom LSG zugelassen worden und damit statthaft (§ 160 Abs 1 SGG). Die Klägerin hat bei der Einlegung und Begründung der Revision Formen und Fristen eingehalten (§ 164 Abs 1 und 2 SGG). Die Revisionsbegründung genügt den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Entschädigungsanspruch nach dem OEG auf eine Vielzahl von schädigenden Vorgängen stützt. Demnach ist der Streitgegenstand derart teilbar, dass die Zulässigkeit und Begründetheit der Revision für jeden durch einen abgrenzbaren Sachverhalt bestimmten Teil gesondert zu prüfen ist (vgl BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9a V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3). Dabei bietet es sich hier an, die verschiedenen Vorgänge in drei Gruppen zusammenzufassen: seelische Misshandlungen (Vernachlässigung, beeinträchtigende Familienatmosphäre), körperliche Misshandlungen und sexueller Missbrauch.
- 20
-
Soweit die Klägerin Entschädigung wegen der Folgen seelischer Misshandlungen durch ihre Eltern geltend macht, hat sie einen Verstoß gegen materielles Recht hinreichend dargetan. Sie ist der Ansicht, die betreffenden Vorgänge würden von § 1 OEG erfasst. Soweit das LSG umfangreichere körperliche Misshandlungen der Klägerin im Elternhaus sowie sexuellen Missbrauch durch ihren Vater bzw einen Fremden verneint hat, rügt die Klägerin zunächst substantiiert eine Verletzung von § 15 S 1 KOVVfG, also eine unzutreffende Verneinung der Anwendbarkeit einer besonderen Beweiserleichterung(vgl dazu BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 124 f = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass insbesondere dafür, ob sie Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sei, Beweismittel vorhanden seien. Im Hinblick darauf, dass die Vorinstanz hilfsweise auf § 15 S 1 KOVVfG abgestellt hat, bedarf es auch dazu einer ausreichenden Revisionsbegründung. Diese sieht der Senat vornehmlich in der Rüge der Klägerin, das LSG habe, indem es in diesem Zusammenhang auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 Bezug genommen habe, ein ungeeignetes Beweismittel verwertet (vgl allgemein dazu zB BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527; BGH Beschluss vom 15.3.2007 - 4 StR 66/07 - NStZ 2007, 476) und damit seiner Entscheidung zugleich einen falschen Beweismaßstab zugrunde gelegt. Dazu trägt die Klägerin ua vor, dass die Sachverständige H. ihr Glaubhaftigkeitsgutachen nach anderen Kriterien erstellt habe, als im Rahmen einer Glaubhaftmachung nach § 15 S 1 KOVVfG maßgebend seien.
- 21
-
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), soweit das Berufungsurteil einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter betrifft. Im Übrigen - also hinsichtlich Folgen seelischer Misshandlungen - ist die Revision unbegründet.
- 22
-
1. Einer Sachentscheidung entgegenstehende, von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrenshindernisse bestehen nicht.
- 23
-
Zutreffend sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass bereits während des Klageverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes stattgefunden hat und seit dem 1.1.2008 der beklagte Landschaftsverband passiv legitimiert ist (vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 20 mwN). Denn § 4 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung(= Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW 482) hat die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung mit Wirkung zum 1.1.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung sowie der Opferentschädigung auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG verstößt (vgl hierzu Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21, und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann, sodass sich die von der Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGG)ab 1.1.2008 gemäß § 6 Abs 1 OEG gegen den für die Klägerin örtlich zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe zu richten hat. Darüber hinaus hat die Klägerin in der mündlichen Revisionsverhandlung klargestellt, dass sie im vorliegenden Verfahren ausschließlich einen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenrente verfolgt (vgl dazu BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 12).
- 24
-
2. Für einen Anspruch der Klägerin auf eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend:
- 25
-
a) Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs 1 S 1 OEG gegeben sind(vgl hierzu BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.
- 26
-
In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
- 27
-
b) Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Dabei hat der erkennende Senat je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben. Leitlinie des erkennenden Senats ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat daher aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist er in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger bzw rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (stRspr; vgl nur BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 36 mwN).
- 28
-
In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von § 176 StGB hat der Senat den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Für den Senat ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat war (vgl BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 28 mwN). Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG sein(BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 - BSGE 77, 7, 8 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 23 f, und - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 28 f). Diese erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten. Eine Erstreckung dieses Begriffsverständnisses auf andere Fallgruppen hat das Bundessozialgericht (BSG) bislang abgelehnt (vgl BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 RdNr 12).
- 29
-
Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung iS des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs 1 S 1 OEG vor. Nach § 1631 Abs 2 BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG RdNr 51). Auch insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind.
- 30
-
Zum "Mobbing" als einem sich über längere Zeit hinziehenden Konflikt zwischen dem Opfer und Personen seines gesellschaftlichen Umfeldes hat der erkennende Senat entschieden, dass bei einzelnen "Mobbing"-Aktivitäten die Schwelle zur strafbaren Handlung und somit zum kriminellen Unrecht überschritten sein kann; tätliche Angriffe liegen allerdings nur vor, wenn auf den Körper des Opfers gezielt eingewirkt wird, wie zB durch einen Fußtritt (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 278 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 72).
- 31
-
Auch in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, in denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, ist maßgeblich auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib und Leben des Opfers abzustellen. Die Grenze der Wortlautinterpretation hinsichtlich des Begriffs des tätlichen Angriffs sieht der Senat jedenfalls dann erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 44 mwN). So ist beim "Stalking" die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem StGB - erst überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen das Opfer begangen und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 69 mwN).
- 32
-
c) Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrundezulegen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
- 33
-
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN).
- 34
-
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.
- 35
-
Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).
- 36
-
3. Ausgehend von diesen rechtlichen Vorgaben hat die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenrente wegen der Folgen seelischer Misshandlungen durch ihre Eltern.
- 37
-
Entgegen der Ansicht der Klägerin stellen die von den Vorinstanzen angenommenen allgemeinen Verhältnisse in der Familie der Klägerin keinen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG dar. Das SG hat hierzu festgestellt, die bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen seien mehr auf ein Zusammenwirken atmosphärisch ungünstiger Entwicklungsbedingungen (ablehnende Haltung der Mutter gegenüber der Klägerin, unberechenbare Aggressivität sowie grenzüberschreitende weinerliche Anhänglichkeit des Vaters) zurückzuführen (S 23 des Urteils). Darauf hat das LSG Bezug genommen. Die Verhaltensweise der Eltern hat danach zwar seelische Misshandlungen der Klägerin umfasst, es fehlt insoweit jedoch an dem Merkmal der Gewaltanwendung im Sinne einer gegen den Körper der Klägerin gerichteten Tätlichkeit.
- 38
-
4. Soweit die Klägerin Beschädigtenrente nach dem OEG wegen der Folgen körperlicher Misshandlungen und sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter beansprucht, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung unmöglich. Derartige schädigende Vorgänge werden zwar von § 1 Abs 1 S 1 OEG erfasst, soweit sie nicht von dem seinerzeit noch anerkannten elterlichen Züchtigungsrecht(vgl BGH Beschluss vom 25.11.1986 - 4 StR 605/86 - JZ 1988, 617) gedeckt waren. Es fehlen jedoch hinreichende verwertbare Tatsachenfeststellungen.
- 39
-
a) Das LSG hat unterstellt, dass als vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe einzelne Schläge durch die Eltern (ein heftiger Schlag durch den Vater sowie zwei "Ohrfeigen" durch die Mutter) nachgewiesen seien. Diese hätten jedoch nicht genügt, um die gravierenden seelischen Erkrankungen der Klägerin zu verursachen. Das LSG verweist hierbei auf das Gutachten der Sachverständigen Dr. S. sowie auf die Ausführungen des SG, wonach diese Taten keine posttraumatische Belastungsstörung hätten auslösen können. Die hierauf gründende tatrichterliche Wertung des LSG ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Weder lässt sich feststellen, dass die Vorinstanz insoweit von unrichtigen Rechtsbegriffen ausgegangen ist, noch hat die Klägerin die betreffenden Tatsachenfeststellungen mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen.
- 40
-
b) Den überwiegenden Teil der von der Klägerin angegebenen körperlichen Misshandlungen durch deren Eltern sowie den behaupteten sexuellen Missbrauch durch deren Vater und einen Fremden hat das LSG nicht als nachgewiesen erachtet. Diese Beurteilung vermag der Senat nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu bestätigen. Denn sie beruht auf einer Auslegung des § 15 S 1 KOVVfG, die der Senat nicht teilt.
- 41
-
Nach § 15 S 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6).
- 42
-
Diesen Kriterien hat das LSG nicht hinreichend Rechnung getragen, indem es eine Anwendbarkeit des § 15 S 1 KOVVfG mit der pauschalen Begründung verneint hat, es lägen Beweismittel vor. Zwar hat sich das LSG hinsichtlich der Verneinung umfangreicher körperlicher Misshandlungen der Klägerin durch ihre Eltern, insbesondere durch den Vater, auch auf die Zeugenaussage des Bruders T. der Klägerin gestützt. Es hätte insoweit jedoch näher prüfen müssen, inwiefern die Klägerin Misshandlungen behauptet hat, die dieser Zeuge (insbesondere wegen Abwesenheit) nicht wahrgenommen haben kann. Soweit es den angegebenen sexuellen Missbrauch betrifft, ist nicht ersichtlich, dass diesen eine als Zeuge in Betracht kommende Person wahrgenommen haben kann.
- 43
-
c) Soweit das LSG den § 15 S 1 KOVVfG hilfsweise herangezogen hat, lassen seine Ausführungen nicht hinreichend deutlich erkennen, dass es dabei den von dieser Vorschrift eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde gelegt hat. Aus der einschränkungslosen Bezugnahme auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 lässt sich eher der Schluss ziehen, dass das LSG insoweit einen unzutreffenden, nämlich zu strengen Beweismaßstab angewendet hat. Diese Sachlage gibt dem Senat Veranlassung, grundsätzlich auf die Verwendung von sog Glaubhaftigkeitsgutachten in Verfahren betreffend Ansprüche nach dem OEG einzugehen.
- 44
-
aa) Die Einholung und Berücksichtigung psychologischer Glaubhaftigkeitsgutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten zulässig.
- 45
-
Grundsätzlich steht das Ausmaß von Ermittlungen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Einen Sachverständigen bestellt das Gericht, wenn es selbst nicht über ausreichende Sachkunde verfügt (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 118 RdNr 11b). Dies gilt auch für die Einholung eines sogenannten Glaubhaftigkeitsgutachtens. Dabei handelt es sich um eine aussagepsychologische Begutachtung, deren Gegenstand die Beurteilung ist, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Da eine solche Beurteilung an sich zu den Aufgaben eines Tatrichters gehört, kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BGH aaO, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22). Ob eine derartige Beweiserhebung erforderlich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen kann insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9
= Juris RdNr 22) . Die Entscheidung, ob eine solche Fallgestaltung vorliegt und ob daher ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen ist, beurteilt und trifft das Tatsachengericht im Rahmen der Amtsermittlung nach § 103 SGG. Fußt seine Entscheidung auf einem hinreichenden Grund, so ist deren Überprüfung dem Revisionsgericht entzogen (vgl BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9= Juris RdNr 20, 23) .
- 46
-
Von Seiten des Gerichts muss im Zusammenhang mit der Einholung, vor allem aber mit der anschließenden Würdigung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens stets beachtet werden, dass sich die psychologische Begutachtung von Aussagen nicht darauf beziehen kann, Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts zu machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben. Darüber hinaus besteht die Kompetenz und damit auch die Aufgabe des Sachverständigen darin abzuklären, ob sich dieser Erlebnishintergrund in der sog Wachwirklichkeit befindet, anstatt auf Träumen, Halluzinationen oder Vorstellungen zu beruhen. Ausschließlich auf diesen Aspekt des Wirklichkeitsbezuges einer Aussage kann sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beziehen (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49). In einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung trifft der Sachverständige erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt. Durch das Gutachten vermittelt er dem Gericht daher auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f). Die umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliegt sodann dem Gericht.
- 47
-
Entgegen der Auffassung der Klägerin ergeben sich aus den Ausführungen in dem Urteil des LSG NRW vom 28.11.2007 - L 10 VG 13/06 - (Juris RdNr 25) keine Hinweise auf die Unzulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialrechtlichen Verfahren. Vielmehr hat das LSG NRW hierbei lediglich die Amtsermittlung des erstinstanzlichen Gerichts gerügt, das anstelle der Vernehmung der durch die dortige Klägerin benannten Zeugen ein Sachverständigengutachten eingeholt hatte (ua mit der Beweisfrage "Steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - dh es darf kein begründbarer Zweifel bestehen - fest, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs - in welchem Zeitraum, in welcher Weise - geworden ist?"; Juris RdNr 9). Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn das LSG NRW zum einen die Vernehmung der Zeugen gefordert und zum anderen festgestellt hat, dass die an die Sachverständigen gestellte Frage keinem Beweis durch ein medizinisches oder aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zugänglich sei, sondern dass das Gericht diese Tatsache selbst aufzuklären habe. Ausdrücklich zu aussagepsychologischen Gutachten hat das LSG NRW ferner zutreffend festgestellt, auch bei diesen dürfe dem Sachverständigen nicht die Entscheidung überlassen werden, ob eine behauptete Tat stattgefunden habe oder nicht. Vielmehr dürfe dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprächen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhten (LSG NRW, aaO, Juris RdNr 25). Aus diesen Ausführungen lässt sich nicht der Schluss ziehen, das LSG NRW gehe grundsätzlich davon aus, dass in sozialrechtlichen Verfahren keine Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt und berücksichtigt werden könnten.
- 48
-
bb) Für die Erstattung von Glaubhaftigkeitsgutachten gelten auch im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts zunächst die Grundsätze, die der BGH in der Entscheidung vom 30.7.1999 (1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellt hat. Mit dieser Entscheidung hat der BGH die wissenschaftlichen Standards und Methoden für die psychologische Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zusammengefasst. Nicht das jeweilige Prozessrecht schafft diese Anforderungen (zum Straf- und Strafprozessrecht vgl Fabian/Greuel/Stadler, StV 1996, 347 f), vielmehr handelt es sich hierbei um wissenschaftliche Erkenntnisse der Aussagepsychologie (vgl Vogl, NJ 1999, 603), die Glaubhaftigkeitsgutachten allgemein zu beachten haben, damit diese überhaupt belastbar sind und verwertet werden können (so auch BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f; vgl grundlegend hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 48 ff; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 16 ff). Die grundsätzlichen wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten stellen sich wie folgt dar (vgl zum Folgenden BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167 ff mwN; basierend ua auf dem Gutachten von Steller/Volbert, wiedergegeben in Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46 ff):
Bei der psychologischen Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen besteht das methodische Grundprinzip darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit einer bestimmten Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der wissenschaftlich ausgebildete psychologische Sachverständige arbeitet (gedanklich) also zunächst mit der Unwahrannahme als sog Nullhypothese (Steller/Volbert, Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46, 61; den Begriff der Nullhypothese sowie das Ausgehen von dieser kritisierend Stanislawski/Blumer, Streit 2000, 65, 67 f). Der Sachverständige bildet dazu neben der "Wirklichkeitshypothese" (die Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert) die Gegenhypothese, die Aussage sei unwahr. Bestehen mehrere Möglichkeiten, aus welchen Gründen eine Aussage keinen Erlebnishintergrund haben könnte, hat der Sachverständige bezogen auf den konkreten Einzelfall passende Null- bzw Alternativhypothesen zu bilden (vgl beispielhaft hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 52 f; ebenso, zudem mit den jeweiligen diagnostischen Bezügen Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 61 ff). Die Bildung relevanter, also auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmter Hypothesen ist von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. Im weiteren Verlauf hat der Sachverständige jede einzelne Alternativhypothese darauf zu untersuchen, ob diese mit den erhobenen Fakten in Übereinstimmung stehen kann; wird dies für sämtliche Null- bzw Alternativhypothesen verneint, gilt die Wirklichkeitshypothese, wonach es sich um eine wahre Aussage handelt.
- 49
-
Die zentralen psychologischen Konstrukte, die den Begriff der Glaubhaftigkeit - aus psychologischer Sicht - ausfüllen und somit die Grundstruktur der psychodiagnostischen Informationsaufnahme und -verarbeitung vorgeben, sind Aussagetüchtigkeit (verfügt die Person über die notwendigen kognitiven Grundvoraussetzungen zur Erstattung einer verwertbaren Aussage?), Aussagequalität (weist die Aussage Merkmale auf, die in erlebnisfundierten Schilderungen zu erwarten sind?) sowie Aussagevalidität (liegen potentielle Störfaktoren vor, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage begründen können?). Erst wenn die Aussagetüchtigkeit bejaht wird, kann der mögliche Erlebnisbezug der Aussage unter Berücksichtigung ihrer Qualität und Validität untersucht werden (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49; zur eventuell erforderlichen Hinzuziehung eines Psychiaters zur Bewertung der Aussagetüchtigkeit Schumacher, StV 2003, 641 ff). Das abschließende gutachterliche Urteil über die Glaubhaftigkeit einer Aussage kann niemals allein auf einer einzigen Konstruktebene (zB der Ebene der Aussagequalität) erfolgen, sondern erfordert immer eine integrative Betrachtung der Befunde in Bezug auf sämtliche Ebenen (Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 62).
- 50
-
Die wesentlichen methodischen Mittel, die der Sachverständige zur Überprüfung der gebildeten Hypothesen anzuwenden hat, sind die - die Aussagequalität überprüfende - Aussageanalyse (Inhalts- und Konstanzanalyse) und die - die Aussagevalidität betreffende - Fehlerquellen-, Motivations- sowie Kompetenzanalyse. Welche dieser Analyseschritte mit welcher Gewichtung durchzuführen sind, ergibt sich aus den zuvor gebildeten Null- bzw Alternativhypothesen; bei der Abgrenzung einer wahren Darstellung von einer absichtlichen Falschaussage sind andere Analysen erforderlich als bei deren Abgrenzung von einer subjektiv wahren, aber objektiv nicht zutreffenden, auf Scheinerinnerungen basierenden Darstellung (vgl hierzu Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 17 ff).
- 51
-
Diese Prüfungsschritte müssen nicht in einer bestimmten Prüfungsstrategie angewendet werden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau. Die einzelnen Elemente der Begutachtung müssen auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden (vgl BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f). Es ist vielmehr ausreichend, wenn sich aus einer Gesamtbetrachtung des Gutachtens ergibt, dass der Sachverständige das dargestellte methodische Grundprinzip angewandt hat. Vor allem muss überprüfbar sein, auf welchem Weg er zu seinen Ergebnissen gelangt ist.
- 52
-
cc) Die aufgrund der dargestellten methodischen Vorgehensweise, insbesondere aufgrund des Ausgehens von der sog Nullhypothese, vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialgerichtlichen Verfahren (vgl hierzu SG Fulda Urteil vom 30.6.2008 - S 6 VG 16/06 - Juris RdNr 33 aE; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.7.2010 - L 13 VG 25/07 - Juris RdNr 36; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.6.2012 - L 4 VG 13/09 - Juris RdNr 44 ff; offenlassend, aber Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese äußernd LSG Baden-Württemberg Urteil vom 15.12.2011 - L 6 VG 584/11 - ZFSH/SGB 2012, 203, 206) überzeugen nicht.
- 53
-
Nach derzeitigen Erkenntnissen gibt es für einen psychologischen Sachverständigen keine Alternative zu dem beschriebenen Vorgehen. Der Erlebnisbezug einer Aussage ist nicht anders als durch systematischen Ausschluss von Alternativhypothesen zur Wahrannahme zu belegen (Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 20, 22). Nach dem gegenwärtigen psychologischen Kenntnisstand kann die Wirklichkeitshypothese selbst nicht überprüft werden, da eine erlebnisbasierte Aussage eine hohe, aber auch eine niedrige Aussagequalität haben kann. Die Prüfung hat daher an der Unwahrhypothese bzw ihren möglichen Alternativen anzusetzen. Erst wenn sämtliche Unwahrhypothesen ausgeschlossen werden können, ist die Wahrannahme belegt (vgl Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 22). Zudem hat diese Vorgehensweise zur Folge, dass sämtliche Unwahrhypothesen geprüft werden, womit ein ausgewogenes Analyseergebnis erzielt werden kann (Schoreit, StV 2004, 284, 286).
- 54
-
Es ist zutreffend, dass dieses methodische Vorgehen ein recht strenges Verfahren der Aussageprüfung darstellt (so auch Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 205), denn die Tatsache, dass eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, bedeutet nicht zwingend, dass diese Hypothese tatsächlich zutrifft. Gleichwohl würde das Gutachten in einem solchen Fall zu dem Ergebnis gelangen, dass eine wahre Aussage nicht belegt werden kann. Insoweit korrespondieren das methodische Grundprinzip der Aussagepsychologie und die rechtlichen Anforderungen in Strafverfahren besonders gut miteinander (vgl dazu Volbert, aaO S 20). Denn auch die Unschuldsvermutung hat zugunsten des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten. Durch beide Prinzipien soll auf jeden Fall vermieden werden, dass eine tatsächlich nicht zutreffende Aussage als glaubhaft klassifiziert wird. Zwar soll möglichst auch der andere Fehler unterbleiben, dass also eine wahre Aussage als nicht zutreffend bewertet wird. In Zweifelsfällen gilt aber eine klare Entscheidungspriorität (vgl Volbert, aaO): Bestehen noch Zweifel hinsichtlich einer Unwahrhypothese, kann diese also nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, so gilt der Erlebnisbezug der Aussage als nicht bewiesen und die Aussage als nicht glaubhaft.
- 55
-
Diese Konsequenz führt nicht dazu, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialrechtlichen Entschädigungsverfahren nach dem OEG als Beweismittel schlichtweg ungeeignet sind. Soweit der Vollbeweis gilt, ist damit die Anwendung dieser methodischen Prinzipien der Aussagepsychologie ohne Weiteres zu vereinbaren. Denn dabei gilt eine Tatsache erst dann als bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Bestehen in einem solchen Verfahren noch Zweifel daran, dass eine Aussage erlebnisfundiert ist, weil eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, geht dies zu Lasten des Klägers bzw der Klägerin (von der Zulässigkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten ausgehend LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 9.9.2008 - L 11 VG 33/08 - Juris RdNr 24 ff; LSG NRW Urteil vom 29.9.2010 - L 6 (7) VG 16/05 - Juris RdNr 24; ebenso, jedoch bei Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG Bayerisches LSG Urteil vom 30.6.2005 - L 15 VG 13/02 - Juris RdNr 40; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05 - Juris RdNr 34 sowie Urteil vom 16.9.2011 - L 10 VG 26/07 - Juris RdNr 38 ff).
- 56
-
Die grundsätzliche Bejahung der Beweiseignung von Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialen Entschädigungsrecht wird auch dadurch gestützt, dass nach der dargestellten hypothesengeleiteten Methodik - unter Einschluss der sog Nullhypothese - erstattete Gutachten nicht nur in Strafverfahren Anwendung finden, sondern auch in Zivilverfahren (vgl BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527, 2528 f; Saarländisches OLG Urteil vom 13.7.2011 - 1 U 32/08 - Juris RdNr 50 ff) und in arbeitsrechtlichen Verfahren (vgl LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 20.7.2011 - 26 Sa 1269/10 - Juris RdNr 64 ff). In diesen Verfahren ist der Vollbeweis der anspruchsbegründenden Tatsachen bzw der Voraussetzungen für einen Kündigungsgrund (zumeist eine erhebliche Pflichtverletzung) ebenfalls erforderlich.
- 57
-
dd) Soweit allerdings nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG eine Glaubhaftmachung ausreicht, ist ein nach der dargestellten Methodik erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht ohne Weiteres geeignet, zur Entscheidungsfindung des Gerichts beizutragen. Das folgt schon daraus, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, während ein aussagepsychologischer Sachverständiger diese Angaben erst dann als glaubhaft ansieht, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen kann. Da ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten den Vollbeweis ermöglichen soll, muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines solchen Gutachtens nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können.
- 58
-
Will sich ein Gericht auch bei Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG eines aussagepsychologischen Gutachtens bedienen, so hat es den Sachverständigen mithin auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten kann. Dabei sind auch die Beweisfragen entsprechend zu fassen. Im Falle von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen lautet die übergeordnete psychologische Untersuchungsfragestellung: "Können die Angaben aus aussagepsychologischer Sicht als mit (sehr) hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert klassifiziert werden?" (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49). Demgegenüber sollte dann, wenn eine Glaubhaftmachung ausreicht, darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können.
- 59
-
Damit das Gericht den rechtlichen Begriff der Glaubhaftmachung in eigener Beweiswürdigung ausfüllen kann und nicht durch die Feststellung einer Glaubhaftigkeit seitens des Sachverständigen festgelegt ist, könnte es insoweit hilfreich sein, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergibt (für eine solche Vorgehensweise im Asylverfahren vgl Lösel/Bender, Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Bd 7, 2001, S 175, 184). Denn dem Tatsachengericht ist am ehesten gedient, wenn der psychologische Sachverständige im Rahmen des Möglichen die Wahrscheinlichkeiten bzw Wahrscheinlichkeitsgrade für die unterschiedlichen Hypothesen darstellt.
- 60
-
Diesen Maßgaben wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG ohne Weiteres auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 gestützt. Dieses Glaubhaftigkeitsgutachten ist vom SG zu den Fragen eingeholt worden:
Sind die Angaben der Klägerin zu den Misshandlungen durch die Eltern und zum sexuellen Missbrauch durch den Vater (…) unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlich-aussagepsychologischen Kenntnisstandes insgesamt oder in Teilen glaubhaft? Sind die Angaben insbesondere inhaltlich konsistent und konstant und sind aussagerelevante Besonderheiten der Persönlichkeitsentwicklung der Klägerin zu berücksichtigen? Welche Gründe sprechen insgesamt für und gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben?
- 61
-
Ein Hinweis auf den im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab der Glaubhaftmachung ist dabei nach Aktenlage nicht erfolgt. Dementsprechend lässt das Gutachten der Sachverständigen H. nicht erkennen, dass sich diese der daraus folgenden Besonderheiten bewusst gewesen ist. Vielmehr hat die Sachverständige in der Einleitung zu ihrem Gutachten ("Formaler Rahmen der Begutachtung") erklärt, dass sich das Vorgehen bei der Begutachtung und die Darstellung der Ergebnisse nach den Standards wissenschaftlich fundierter Glaubhaftigkeitsbegutachtung richte, wie sie im Grundsatzurteil des BGH vom 30.7.1999 (BGHSt 45, 164 = NJW 1999, 2746) dargelegt seien (S 1 des Gutachtens).
- 62
-
Da das Berufungsurteil mithin - soweit es die Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG betrifft - offenbar auf einer Tatsachenwürdigung beruht, der ein unzutreffender Beweismaßstab zugrunde liegt, vermag der erkennende Senat die Beurteilung des LSG auch zu diesem Punkt nicht zu bestätigen.
- 63
-
5. Der erkennende Senat sieht sich zu einer Aufhebung des Berufungsurteils und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG veranlasst (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), weil die jetzt nach zutreffenden Beweismaßstäben vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können (§ 163 SGG).
- 64
-
6. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.
(1) Die Versorgung nach diesem Gesetz obliegt den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden. Ist der Bund Kostenträger, so sind zuständig
- 1.
wenn der Geschädigte seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem Land hat, die Behörden dieses Landes; es finden die Übergangsregelungen gemäß § 4 Absatz 2 und 3 beschränkt auf die Zuständigkeit der Behörde entsprechend Anwendung, davon ausgenommen sind Versorgungen bei Schädigungen an einem Ort im Ausland, - 2.
wenn der Geschädigte seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes hat, die Behörden des Landes, das die Versorgung von Kriegsopfern in dem Wohnsitz- oder Aufenthaltsland durchführt.
(2) Die örtliche Zuständigkeit der Behörden bestimmt die Landesregierung durch Rechtsverordnung.
(3) Das Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung, mit Ausnahme der §§ 3 bis5,sowie die Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes über das Vorverfahren sind anzuwenden.
(4) Absatz 3 gilt nicht, soweit die Versorgung in der Gewährung von Leistungen besteht, die den Leistungen der Kriegsopferfürsorge nach den §§ 25 bis 27h des Bundesversorgungsgesetzes entsprechen.
Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.
Tenor
I.
Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Gründe
Entscheidungsgründe:
1. Der in der mündlichen Verhandlung vernommene Zeuge J. F. hat den von der Klägerin behaupteten Vorgang nicht bestätigt. Er hat lediglich erklärt, sich zwar an die Beziehung mit der Klägerin vor ca. zwei Jahrzehnten, nicht jedoch an ihr Ende erinnern zu können; an einen Vorfall in der genannten Diskothek hatte der Kläger nach seinen Angaben ebenfalls keine Erinnerung mehr. Der Senat sieht vor allem auch nach dem Eindruck aus der mündlichen Verhandlung keine Anhaltspunkte, an der Glaubwürdigkeit des Zeugen zu zweifeln, auch wenn dessen Interesse nicht von der Hand zu weisen ist, in keinem Fall als Täter dazustehen. Dabei ist u. a. zu beachten, dass der Zeuge im Hinblick auf Verjährung keine strafrechtlichen Sanktionen mehr zu befürchten hätte. Auch wenn der Zeuge nur sehr knappe Angaben gemacht hat, erlaubt dies nach Auffassung des Senats im Übrigen nicht den Verdacht, dass er etwas zu verbergen versucht habe. Denn seine Aussage ist generell (u. a. bereits bei den Angaben zur Person) dadurch gekennzeichnet gewesen, dass sie „mit dürren Worten“ erfolgt ist; der Zeuge ist wortkarg und wenig sprachgewandt erschienen.
2. Auch die als Zeugen vernommenen Eltern der Klägerin haben die geltend gemachten Handlungen des Würgens und der intensiven körperlichen Bedrängung nicht bestätigen können. Sie haben lediglich die von der Klägerin geschilderten Vorgänge in der angeblichen Tatnacht vor ihrem Wohnhaus in D-Stadt bestätigt. Danach steht aus Senatssicht fest, dass sich die Klägerin und der Beschuldigte in einer „emotional aufgewühlten Situation“ befunden haben. Im Einzelnen dürfte aus den Schilderungen folgen, dass die Klägerin vor J. F. Angst gehabt und dass sich dieser aggressiv verhalten hat. Der Senat geht daher davon aus, dass sich zwischen den beiden bereits vor dem Eintreffen in D-Stadt durchaus (größere) Auseinandersetzungen oder Ähnliches zugetragen haben dürften; welcher Art diese Auseinandersetzungen gewesen sind, bleibt jedoch völlig offen. Insbesondere ergibt sich aus den Vorgängen in D-Stadt in keinem Fall ein zwingender Rückschluss auf die von der Klägerin geschilderten Handlungen. Im Gegenteil ergeben sich sogar erhebliche Widersprüche zwischen der Schilderung der Klägerin einer- und den Angaben der Eltern andererseits im Hinblick auf die Uhrzeit der Vorgänge vor dem elterlichen Haus. So spricht aus Sicht des Senats - u. a. wegen der Detailliertheit der Angaben hinsichtlich der Uhrzeit - Einiges dafür, dass die Aussagen der Eltern zutreffend und die Klägerin und der Beschuldigte viel früher in D-Stadt angekommen sind, als die Klägerin angegeben hat. Daraus folgt jedoch, dass sich die Vorgänge nicht genau so zugetragen haben können, wie es die Klägerin dargestellt hat. Insbesondere war der Zeitraum, in dem der Beschuldigte bereits aggressives Verhalten gezeigt haben bzw. „ausgeflippt“ sein soll, wohl erheblich kürzer. Darüber hinaus hat die Mutter der Klägerin vor dem Senat die Schilderung ihrer Tochter berichtet, dass diese von J. F. in der Wohnung festgehalten worden sei, worauf sie um Hilfe gerufen habe und die Polizei gekommen sei. Auch diese Angabe der Zeugin lässt jedoch keine Annahme und nicht einmal eine Vermutung zu, inwieweit das geschilderte Geschehen (Würgen, massive körperliche Bedrängung der Klägerin) sich tatsächlich zugetragen hat. Vielmehr ergeben sich erhebliche Zweifel, da die Zeugin ausdrücklich erklärt hat, dass die Klägerin von einem Würgen in der Tatnacht gar nicht gesprochen und sie, die Zeugen, keinerlei Würge- oder weitere Spuren körperlicher Gewalt an der Klägerin bemerkt habe. Andererseits hat die Mutter der Klägerin erklärt, dass sie mit dieser zum Arzt gegangen wäre, wenn sie äußere Merkmale einer Gewalttat gesehen hätte. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte für eine nachvollziehbare Erklärung dafür, weshalb die Eltern der Klägerin Würgespuren an deren Hals nicht hätten bemerken sollen.
3. Ebenso wenig vermag sich der Senat allein auf der Grundlage der Angaben der Klägerin die volle richterliche Überzeugung vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG zu bilden. Zwar kann sich eine Entscheidung in freier Beweiswürdigung grundsätzlich jedenfalls dann allein auf den Beteiligtenvortrag stützen, wenn dieser glaubhaft ist - wobei „glaubhaft“ hier nicht im Sinn einer Herabsetzung des Überzeugungsmaßes verstanden werden darf -, der Lebenserfahrung entspricht und nicht zu anderen festgestellten Tatsachen im Widerspruch steht (vgl. Keller, a. a. O., Rdnr. 4; Gutzler, in: SGb 2/2009, S. 73 (76), jeweils m. w. N.; Urteil des Senats v. 05.02.2013, a. a. O.).
„Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind... nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind.“
Tenor
I.
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten wegen Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Die 1978 geborene Klägerin, für die mit Änderungsbescheid vom
Im Verwaltungsverfahren wertete der Beklagte die zahlreichen vorliegenden medizinischen Unterlagen aus. Der Facharzt für psychotherapeutische Medizin und Psychotherapie S. stellte in seinem Bericht vom 25.10.2001 die Diagnose einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung mit Borderline-Beziehungsstruktur und ausgeprägten dissoziativen Mechanismen. Im Entlassungsbericht des Bezirkskrankenhauses (BKH)
A-Stadt bzgl. eines Aufenthalts vom 10.03. bis 14.05.1997 wurde die Diagnose akute Belastungsreaktion bei Trennungskonflikt bei unreifer Persönlichkeit gestellt. Die Aufnahme sei erfolgt, weil die Klägerin sich eine Schnittverletzung am linken Unterarm zugefügt habe, nachdem sie ihr Freund wegen ihrer langjährigen besten Freundin verlassen habe. Der Großvater sei Alkoholiker gewesen. Sie verachte ihn; sie habe mitanschauen müssen, wie er die Großmutter verprügelt habe. Sie habe Angst vor ihm gehabt, obwohl sie seine Lieblingsenkelin gewesen sei. Überhaupt habe es in dieser Familie sehr viele Übergriffe gegeben.
Im Rahmen des früheren Betreuungsverfahrens - eine Betreuung besteht für die Klägerin derzeit nicht - erstellte der Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W. am 04.04.2001 ein Gutachten für das Amtsgericht B-Stadt. Die ersten fünf Jahre ihres Lebens, so die Klägerin, würden ihr fehlen. Ihr Großvater habe sie unsittlich angefasst. Dr. W. stellte die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung im Sinne einer emotional instabilen Persönlichkeit vom Borderline-Typ. Weiter stellte er „Selbstverletzungsverhalten, z. B. Halluzinose, z. B. manische Symptomatik“ fest. Es bestehe eine posttraumatische Belastungsstörung durch massive Misshandlungen durch den Ex-Partner der Klägerin (H. B.). Die Klägerin habe berichtet, dass die schlimmsten Misshandlungen in ihrem Leben durch diesen erfolgt seien. Die psychische Beeinträchtigung sei wohl auch im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung zu sehen, so Dr. W.. In dem Gutachten ist auch von Drogenkonsum die Rede. Im Rahmen der Borderline-Symptomatik, so Dr. W., seien offenbar - auch durch Drogenkonsum induziert - in deutlichem Umfang psychotische Elemente vorhanden.
Am
Im Rahmen eines Hausbesuchs wurde am
„Nach ihren Angaben musste sie ihren Großvater sowohl mit der Hand als auch oral befriedigen. Er hat sie auch anal vergewaltigt. Sie musste mit ihm zusammen Pornofilme ansehen, die er dann mit ihr nachgespielt hat. Er hat ihr auch gewaltverherrlichende Filme, zum Teil mit toten Kindern, die zerstückelt werden, gezeigt und ihr gedroht, wenn sie etwas verraten würde, dann würde er dasselbe mit ihrer Mama machen. Die Tathergänge waren nicht immer gleich. hat mir bis zu zehn verschiedene Varianten erzählt. Es kam wohl immer auf die Umstände und auch die Zeit an, die er zur Verfügung hatte.“
Die Klägerin habe zu Anfang nur darüber gesprochen, dass sie missbraucht worden sei. Wer der Täter sei oder ob es verschiedene Personen gewesen seien, sei der Klägerin selbst zu Anfang noch nicht richtig bewusst gewesen. Erst später, als das Bild des Täters wieder klar in ihrem Bewusstsein aufgetaucht sei, habe sie konkret ihren Großvater benannt. Der Missbrauch habe sich von dem besagten Urlaub in relativ regelmäßigen Abständen kontinuierlich bis zum elften Lebensjahr der Klägerin erstreckt. Nach einem Streit habe die Mutter der Klägerin den Kontakt mit ihrem Großvater verboten. Seit dem Urlaub habe sie, die Mutter, immer das Gefühl gehabt, dass die Klägerin etwas erlebt haben müsse. In der Zeit, als ihre Tochter mit H. B. befreundet gewesen sei, habe dieser sie einmal im schwangeren Zustand die Treppe hinabgestoßen; bei diesem Sturz habe sie dann das Kind verloren. Durch dieses Ereignis sei in ihrem Inneren etwas „aufgegangen“ und die Kindheitserlebnisse wohl „hochgekommen“.
Mit Bescheid vom
Hiergegen legte die Klägerin am
Ohne weitere Ermittlungen wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 26.11.2003 als unbegründet zurück. Bezüglich der erlittenen Missbrauchshandlungen bestünden von Seiten der Klägerin keine konkreten zeitlichen und örtlichen Einordnungen. Es werde nur von derartigen Handlungen gesprochen. Auch die Mutter der Klägerin vermöge hierzu keine genaueren Angaben zu machen. Der mutmaßliche Täter sei bereits 1992 verstorben. Aufgrund der vorliegenden Ermittlungen bestehe lediglich die Möglichkeit einer Gewalttat, was nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) jedoch nicht ausreiche. Neben den eigenen Angaben der Klägerin bestünden keinerlei weiteren Hinweise, insbesondere aus dem schulischen und beruflichen Verlauf als äußere Umstände deute nichts auf eine erlittene Gewalttat hin.
Mit Schreiben vom 23.12.2003 hat die Klägerin hiergegen Klage zum Sozialgericht Bayreuth (SG) erhoben. Zur Klagebegründung hat die Klägerin ihre Mutter und ihren Stiefvater als Zeugen benannt ( D. und C.) sowie auf die aktuellen Behandlungen verwiesen.
Im Entlassungsbericht der Fachklinik H. hinsichtlich einer stationären Behandlung vom
Mit Urteil vom 17.09.2009
Am 06.11.2009 hat die Klägerin Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) erhoben. Zur Begründung hat sie auf die Traumaforschung verwiesen und klargestellt, dass sie gezielt befragt werden wolle. Sie könne nicht ohne gezielte Fragestellung an Traumasequenzen kommen. Zudem hat die Klägerin einige abstrakte Kurzbeschreibungen von Missbrauchshandlungen ohne konkrete Zuordnungen mitgeteilt. Weiter hat die Klägerin fünf Zeugen genannt, die sie, die Klägerin, als Opfer kennen würden und den Täter erlebt hätten.
Auf die Anfragen des Gerichts zu den Quellen hinsichtlich der von der Klägerin erwähnten Traumaforschung hat die Klägerin nicht mehr mitgewirkt. Erst am 03.11.2013 hat sie sodann aktuelle Erklärungen über die Entbindung von der Schweigepflicht unterzeichnet und im Folgenden eine ärztliche Bescheinigung des Allgemeinmediziners Dr. S. vom 04.11.2013 übersandt, derzufolge die Klägerin unter den Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung mit emotional instabiler Persönlichkeitsstörung als Folge eines wiederholten vom Großvater verübten sexuellen Missbrauchs als Kind zwischen dem vierten und elften Lebensjahr leide.
Am
Mit Schriftsatz vom
Zudem ist von Klägerseite ein Schreiben der Klägerin (vom
Am
Weiter hat die Zeugin angegeben, dass sie selbst als Kind missbraucht worden sei und begonnen habe, dies Anfang der 1990er Jahre aufzuarbeiten; sie habe darauf vorsichtig hingewiesen. Ihre Tochter habe hierauf ungewöhnlich stark reagiert und auch im Übrigen entsprechende Situationen z. B. im Fernsehen gut zu deuten gewusst, soweit Kindesmissbrauch das Thema gewesen sei. Nach dem Tod des Großvaters habe sie dann Näheres vom Missbrauch berichtet. Sie habe erzählt, dass sie mit dem Großvater Filme ansehen habe müssen, in denen Leichen geschändet und tote Kinder missbraucht worden seien. Sie habe auch von einer Tätowierung des Großvaters am inneren Oberarm berichtet, die keiner jemals gesehen habe. Die Klägerin habe ihr, der Zeugin, berichtet, dass sie von ihrem Großvater anal vergewaltigt worden sei. Anhand der Datierung von Fotos habe sie das Geschehen zeitlich zugeordnet. Die Zeugin hat hierzu Fotos vorgelegt. Ihre Tochter sei in dem Raum, in dem der Großvater geschnitzt habe, dem sogenannten Vogelzimmer, missbraucht worden. Der Täter habe auf den Teddybär der Klägerin ejakuliert. Sie selbst, so die Zeugin, sei nicht von ihrem Vater missbraucht worden, sondern von ihrem - mittlerweile toten - Bruder.
Der Zeuge E. (Onkel der Klägerin) hat zu einem sexuellen Übergriff auf die Klägerin keine Angaben machen können. Auch über andere Fälle sexuellen Missbrauchs in der Familie könne er keine ordnungsgemäße Aussage treffen, weil er entweder noch nicht auf der Welt gewesen sei und auch sonst die Vorfälle nur vom Hörensagen kenne. Der Zeuge hat angegeben, sich an keinerlei Begebenheiten erinnern zu können, dass es zu Vorfällen gegenüber den Enkelkindern seines Vaters gekommen sei. Es habe regelmäßigen Kontakt zwischen seinem Vater, dem Großvater der Klägerin, und dieser gegeben habe, bei welchem er, der Zeuge, auch anwesend gewesen sei. Auffälligkeiten am Verhältnis zwischen der Klägerin und seinem Vater habe er nicht in Erinnerung.
Auch die Zeugin F. (Tante der Klägerin) hat keine Angaben über einen sexuellen Missbrauch bzgl. der Klägerin aus eigener Kenntnis machen können. Die Klägerin habe ihr, der Zeugin, als Erstere Anfang 20 gewesen sei, erzählt, dass sie von ihrem Großvater sexuell missbraucht worden sei. Sie sei von ihm anal vergewaltigt worden, nämlich in dem sogenannten Vogelzimmer. Er habe die Klägerin nach deren Angaben auch bedroht, indem er ihr Kriegserlebnisse erzählt und angedroht habe, ihr Ähnliches anzutun, wenn sie etwas von dem Missbrauch erzählen würde. Sie habe auch von Übergriffen in L-Stadt in der Pfalz im Urlaub erzählt; an Näheres hat sich die Zeugin aber nicht mehr erinnern können. Anfang der 1980er Jahre habe sie, die Zeugin, mit ihren Eltern, eine „depressive“ Stimmung in der Familie der Klägerin (damals Familie C.) bemerkt, die sich auch auf die Klägerin ausgewirkt habe. Als Schulkind etwa zehn Jahre später habe diese begonnen, sich selbst zu verletzen. Der Grund für diese Stimmungslage sei ihr, der Zeugin, damals nicht ersichtlich gewesen. Heute erkläre sie sich diese auch mit dem Missbrauch. D. sei wohl mit ihrem damaligen Ehemann C. auch nicht glücklich gewesen. Die Zeugin hat weiter angegeben, selbst - im Alter von weniger als zwei Jahren - von L. E. missbraucht worden zu sein. Hinsichtlich des Urlaubs in der Pfalz hat die Zeugin keine besonderen Auffälligkeiten in Erinnerung gehabt. Ferner hat sie berichtet, dass ihre Mutter sie davor gewarnt habe, als sie ein Kleinkind gewesen sei, zu Hause in Strumpfhosen herumzulaufen, um ihren Vater, den Großvater der Klägerin, „nicht auf falsche Gedanken zu bringen“. Beim gemeinsamen Baden in der Badewanne mit ihrem Vater habe sie Badekleidung tragen müssen. Schließlich hat sich die Zeugin an Missbrauchsspuren an ihrer Nichte Y. während eines gemeinsamen Urlaubs u. a. mit dem Großvater der Klägerin ca. 1976 erinnert.
Die Großmutter der Klägerin (und Witwe des beschuldigten Täters) E. hat gegenüber dem Gericht am
Der Stiefvater der Klägerin C. hat gegenüber dem Gericht im Schreiben vom
Der Onkel der Klägerin E. hat am
Im Folgenden hat sich die Zeugin D. schriftlich an das Gericht gewandt und weitere Hinweise gegeben, u. a. zu einem „spürbaren sexualisierten Verhalten“ des Großvaters der Klägerin.
Mit Schreiben vom
Mit gerichtlichem Schreiben ist die Klägerseite sodann darauf hingewiesen worden, dass die Klägerin in dem Schreiben vom
Am
Zunächst hat der Beklagte die Auffassung vertreten, dass einige der geschilderten Handlungen bereits aus Rechtsgründen keinen tätlichen Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG darstellen würden. Auch in den Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern habe das BSG, so der Beklagte, nicht auf das Erfordernis der körperlichen Einwirkung des Täters auf das Opfer verzichtet. Weiter hat der Beklagte näher dargelegt, dass nach seiner Auffassung nur Verbrechen als schwere vorsätzliche Gewalttaten geeignet seien, dass ein Sekundäropfer, das Augenzeuge der entsprechenden Tat werde, hierauf einen Schockschaden stützen könne. Es komme also nicht darauf an, ob die Klägerin Augenzeugin von Körperverletzungen des beschuldigten Täters gegenüber der Großmutter geworden sei.
Allein die geschilderte anale, vaginale und orale Misshandlung durch den Großvater der Klägerin sowie gegebenenfalls das stichwortartig beschriebene Anfassen des Großvaters an den Genitalien würden tätliche Angriffe im Sinne der genannten Vorschrift darstellen. Ein Tatnachweis lasse sich, so der Beklagte, mit dem Beweismaßstab des Vollbeweises vorliegend aber nicht führen. Auch die Voraussetzungen des § 15 Satz 1 KOVVfG, wonach die Angaben der Klägerin glaubhaft erscheinen müssten, lägen nicht vor. Die Angaben der Klägerin über den sexuellen Missbrauch durch ihren Großvater könnten wegen der hohen Wahrscheinlichkeit von bloßen Scheinerinnerungen der Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden. Zudem hat der Beklagte die begünstigenden Faktoren und Kennzeichen für Scheinerinnerungen nach der maßgeblichen aussagepsychologischen Fachliteratur dargelegt und im Einzelnen herausgearbeitet, dass sich vorliegend mehrere der genannten Faktoren und Kennzeichen für Scheinerinnerungen finden würden. Die Aussagen der vernommenen Zeugen (vom Hörensagen) könnten, so der Beklagte, die aufgezeigten Anhaltspunkte für das Vorliegen von Scheinerinnerungen nicht entkräften.
Zur Frage einer aussagepsychologischen Begutachtung hat der Beklagte darauf hingewiesen, dass vorliegend die Einholung eines solchen Sachverständigengutachtens nicht zwingend und dass sogar möglich sei, dass eine Rekonstruktion der Aussageentstehung und Aussageentwicklung mangels Masse an verwertbaren vorangegangenen Aussagen der Klägerin an Grenzen stoße; die Untersuchung der Aktenlage erweise sich nämlich als problematisch, wenn lediglich zu einem bestimmten Zeitpunkt (hier mit Schreiben vom 21.07.2014) detaillierte Ausführungen gemacht und sich die Ausführungen des Probanden im Übrigen in stichwortartigen Andeutungen erschöpfen würden. Vorliegend sei zudem fraglich, ob die Klägerin über die erforderliche Aussagetüchtigkeit verfüge; diese Zweifel ergäben sich aus dem bisherigen Aussageverhalten der Klägerin, die sich jahrelang nicht in der Lage gesehen habe, detaillierte Ausführungen zu machen. Im Übrigen hat der Beklagte keinen Ansatz für weitere zielführende Ermittlungen gesehen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG vom
sowie hilfsweise,
die Ermittlungen von Amts wegen fortzuführen und ein aussagepsychologisches Gutachten einzuholen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat die Akten des Beklagten und des SG beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte, die allesamt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Gründe
Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Das SG hat zu Recht die Klage gegen den Bescheid vom
Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf die Klägerin im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist, wie das SG zutreffend entschieden hat, nicht nachgewiesen.
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Über die Voraussetzung hinaus, dass der tätliche Angriff im strafrechtlichen Sinn rechtswidrig sein muss, bestimmt § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG, dass Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Antragstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.
Bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG (und der Eingrenzung des schädigenden Vorgangs als erstem Glied der versorgungsrechtlichen Ursachenkette) geht der Senat von folgenden rechtlichen Maßgaben aus (vgl. z. B. Urteile
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist zu berücksichtigen, dass die Verletzungshandlung im OEG entsprechend dem Willen des Gesetzgebers eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das StGB geregelt ist (vgl. BSG, Urteil v. 07.04.2011, Az.: B 9 VG 2/10 R, m. w. N.). Gleichwohl orientiert sich die Auslegung an der im Strafrecht gewonnenen Bedeutung des auch dort verwendeten rechtstechnischen Begriffs des „tätlichen Angriffs“ (vgl. insbesondere BSG, Urteil v. 28.03.1984, Az.: B 9a RVg 1/83). Die Auslegung hat sich mit Rücksicht auf den das OEG prägenden Gedanken des lückenlosen Opferschutzes aber weitestgehend von subjektiven Merkmalen (z. B. einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) gelöst (st. Rspr. seit 1995; vgl. BSG, Urteil v. 07.04.2011, a. a. O., m. w. N.). Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat das BSG vornehmlich aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden (vgl. z. B.
Der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist also grundsätzlich unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung (§§ 113, 121 StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (vgl. BSG, a. a. O., m. w. N.).
Soweit eine gewaltsame Einwirkung vorausgesetzt wird, hat das BSG entschieden, dass der Gesetzgeber durch den Begriff des „tätlichen Angriffs“ den schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in rechtlich nicht zu beanstandender Weise begrenzt und den im Strafrecht uneinheitlich verwendeten Gewaltbegriff eingeschränkt hat (vgl. BSG, Urteil v. 07.04.2011, a. a. O., m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB (vgl. hierzu z. B. Fischer, StGB, 57. Aufl., § 240, Rdnr. 8 ff, m. w. N.) zeichnet sich der tätliche Angriff gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus, d. h. er wirkt physisch auf einen anderen ein (vgl. das strafrechtliche Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB).
Ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegt im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor (vgl. BSG, a. a. O., m. w. N.), setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus; das BSG ist einem an Aggression orientierten Begriffsverständnis des tätlichen Angriffs letztlich nicht gefolgt (st. Rspr. seit 1995; vgl. BSG, Urteile
Die von der Klägerin geltend gemachte Handlung der Vergewaltigung bzw. des sexuellen Missbrauchs durch den Beschuldigten muss jedoch nachgewiesen sein. Wie der Senat wiederholt (vgl. z. B. Urteile
Unter Beachtung dieser Maßgaben vermag sich das Gericht nicht im Sinne des Vollbeweises davon zu überzeugen, dass die Klägerin von ihrem Großvater L. E. sexuell missbraucht worden ist.
Auch die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG verhilft der Klägerin nicht zum Erfolg.
Nach dieser Vorschrift sind die Angaben des Antrag S.s, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen, „wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antrag S.s oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind“. Die Beweiserleichterung kann prinzipiell auch im Hinblick auf solche Tatsachen anwendbar sein, die in Zusammenhang mit einer Schädigung stehen, welche vom OEG erfasst wird. Zwar wollte der Gesetzgeber ursprünglich nur der Beweisnot entgegenwirken, in der sich Antrag S. befanden, weil sie durch Kriegsereignisse (wie Flucht, Vertreibung, Bombenangriffe etc.) die über sie geführten Krankengeschichten, Befundberichte, Urkunden etc. nicht mehr erlangen konnten. Mit der Verweisung in § 6 Abs. 3 OEG hat der Gesetzgeber jedoch der Beweisnot derjenigen Verbrechensopfer Rechnung tragen wollen, bei denen die Tat ohne Zeugen geschehen ist und bei denen sich der Täter einer Feststellung entzogen hat, mithin andere Beweismittel als die eigenen Angaben des Betroffenen nicht zur Verfügung stehen (vgl. BSG
Die Beweiserleichterung gilt nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil v. 31.05.1989, a. a. O.) - gewissermaßen in einer zweiten Stufe einer erweiternden Auslegung - zudem nicht nur für das Verwaltungsverfahren, sondern auch im gerichtlichen Verfahren, weil sie, so das BSG, nicht nur das Verfahren der Verwaltung regle, sondern „materielles Beweisrecht“ enthalte (a. a. O.).
Ob sie weiter darüber hinaus (dritte Stufe) sogar in Fällen wie dem vorliegenden anwendbar ist, in denen Zeugen als Beweismittel vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013, a. a. O.), kann hier offen bleiben (zu den grundlegenden Bedenken des Senats vgl. die Darlegungen im Urteil vom 21.04.2015, a. a. O.). Denn selbst wenn man den genannten Maßstab der Glaubhaftigkeit genügen lassen wollte, würde das der Berufung der Klägerin nicht zum Erfolg verhelfen. Nach Auffassung des Senats können die Aussagen der Klägerin nicht als glaubhaft angesehen werden, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für die Möglichkeit des sexuellen Missbrauchs der Klägerin durch ihren Großvater sprechen würde (vgl. BSG
Dies ergibt sich aus Folgendem:
Objektive Tatzeugen gibt es nicht. Nach den einzelnen Missbrauchshandlungen, die von der Klägerin behauptet werden, ist keine körperliche Untersuchung durchgeführt worden. Weitere objektive Beweismittel sind nicht vorhanden.
1. Keiner der einvernommenen Zeugen hat den sexuellen Missbrauch bestätigen können. Die Aussagen der Zeugen waren eher vage und bestanden in der Regel nur aus Vermutungen. Letztlich haben die Zeugenaussagen kaum Greifbares ergeben. Exemplarisch ist hierfür die Aussage des Stiefvaters der Klägerin C. vom 16.07.2014, in der er wörtlich geäußert hat, dass „in dieser Richtung eigentlich alles möglich“ sei. Konkretere Angaben konnten die Zeugen - mit Ausnahme der Mutter der Klägerin, D. (s. u.) - jedoch nicht machen.
Zwar haben die Zeuginnen D. und F. eine Wesensveränderung der Klägerin Anfang der 1980er Jahre behauptet. Wie der Beklagte jedoch zutreffend hervorgehoben hat, handelt es sich lediglich um ihre nachträgliche subjektive Interpretation. Aus keiner der Schilderungen der Zeugen ergibt sich eine spezifische und glaubhafte Veränderung der Klägerin nach der behaupteten Tat.
Insbesondere was den Urlaub in der Pfalz und etwaige Auffälligkeiten am Verhalten der Klägerin betrifft, lassen sich daraus keine Rückschlüsse auf ein mögliches Missbrauchserlebnis ziehen. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, wenn nicht sogar naheliegend, dass die Klägerin dort entsprechend der Aussage des Zeugen C. an Keuchhusten erkrankt war und sich deshalb anders als gewöhnlich verhalten hat, z. B. als dann ihre Mutter am Urlaubsort eingetroffen war.
Vielmehr ergeben sich aus den Zeugenaussagen sogar Hinweise, die gegen einen sexuellen Missbrauch durch den beschuldigten Großvater der Klägerin sprechen. So haben die Zeugen E., E. und C. eine Veränderung im Verhältnis zwischen der Klägerin und dem Beschuldigten gerade nicht bestätigen können. Vielmehr hat der Zeuge E. im Beweisaufnahmetermin des Senats auf Nachfrage ausdrücklich erklärt, dass es regelmäßigen Kontakt zwischen dem Großvater und seiner Enkelin gegeben habe, bei welchem er, der Zeuge, auch anwesend gewesen sei. Auffälligkeiten am Verhältnis zwischen der Klägerin und dem Beschuldigten hatte der Zeuge nicht in Erinnerung.
Auch aus der Zeugenaussage und den weiteren Angaben der Mutter der Klägerin, D., ergibt sich nicht, dass die Angaben der Klägerin als glaubhaft im Sinne von § 15 Satz 1 KOVVfG anzusehen wären. Zwar könnten die Aussagen der Mutter, vor allem im Rahmen des Hausbesuchs am 21.02.2003 wie auch im Beweisaufnahmetermin am 27.06.2014 u. U. als (gewisses) Indiz für das Vorliegen einer Missbrauchssituation im Kindesalter gewertet werden. Zur Überzeugung des Senats steht jedoch fest, dass die Zeugin, die ein eigenes Berufungsverfahren beim BayLSG führt (Az.: L 18 VG 42/12), entsprechend ihrer eigenen Aussage seit Anfang der 1990er Jahre einen (angeblich) selbst erlittenen sexuellen Missbrauch aufarbeitet. Insoweit ist nicht von der Hand zu weisen, dass mit Blick auf das Eigeninteresse der Zeugin hier erhebliche Objektivitätsdefizite bestehen könnten. Die Zeugin spielt aus Sicht des Senats im Hinblick auf die Angaben der Klägerin eine zentrale Rolle. Sie hat versucht, mit der Klägerin deren (angebliche) Missbrauchserlebnisse aufzuarbeiten; der Beklagte hat in seinem Schriftsatz vom 22.04.2015 im Einzelnen zu Recht darauf hingewiesen, dass es von der Zeugin insoweit suggestive Informationen (als respektierte Autoritätsperson) hinsichtlich des angeblichen sexuellen Missbrauchs der Klägerin gegeben hat (vgl. auch unten).
2. Auch die Aussagen der Klägerin führen nicht zu der Wertung, dass besonders viel für die Möglichkeit eines sexuellen Missbrauchs zu ihren Lasten sprechen würde. Trotz der im Schreiben vom 21.07.2014 - schließlich doch - gemachten konkreteren Angaben über einen anal, vaginal und oral „über Jahre“ erfolgten sexuellen Missbrauch sieht sich der Senat nicht in der Lage, mehr als eine geringe Möglichkeit für das von der Kläger geschilderte Geschehen anzunehmen. Es kann somit letztlich offen bleiben, ob der Annahme eines solchen Missbrauchs entgegensteht, dass die einzelnen Missbrauchshandlungen im Rahmen der Beweiserhebung zeitlich nicht genau fixierbar waren und der Tathergang nicht näher rekonstruiert werden konnte (vgl. hierzu offenbar das Urteil des BSG vom 18.11.2015, Az.: B 9 V 1/14
Zum einen ist dies die nicht konstante Schilderung der Klägerin. Vor allem aber besteht nach Überzeugung des Senats vorliegend eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass bei der Klägerin Scheinerinnerungen gegeben sind. Schließlich ist auch nicht fernliegend, dass bei der Klägerin pathologische Störungen des Wahrnehmungsvorgangs oder eine Gedächtnistäuschung etc. bestehen. Wie aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen ohne Weiteres hervorgeht, spielten bei der Klägerin im Rahmen der Borderline-Symptomatik in deutlichem Umfang auch psychotische Elemente eine Rolle (vgl. Gutachten Dr. W. vom 04.04.2001; s. auch unten). Es ist gut möglich, dass tatsächlich nicht erfolgte Handlungen für die Klägerin reelle Tatsachen dargestellt haben könnten. Schließlich könnten auch der vorübergehende Drogenkonsum durch die Klägerin und weitere sie belastende Lebensereignisse, die in dem Verfahren bereits thematisiert worden sind (s.o.), die geltend gemachten Schädigungsfolgen erklären.
a) Die Angaben der Klägerin zum sexuellen Missbrauch sind nicht konstant. Dabei ist nicht maßgeblich, dass die Schilderungen erst zu einem späten Zeitpunkt konkret geworden sind, sondern, dass die Klägerin voneinander abweichende Angaben gemacht hat. So hat die Klägerin Ende Juli 1996 entsprechend einem Bericht der Beratungsstelle W. einen möglichen sexuellen Missbrauch durch den Großvater angegeben. Im Befundbericht vom 25.02.2002 der A. Klinik O-Stadt, Fachklinik für Psychosomatik und Psychotherapie hat die Klägerin dagegen von sexuellem Missbrauch über sieben Jahre durch verschiedene Täter berichtet. Erst später hat die Klägerin dann wieder von einem sexuellen Missbrauch durch ihren Großvater gesprochen.
b) Die Angaben der Klägerin zum sexuellen Missbrauch sind nach Auffassung des Senats auch deshalb nicht glaubhaft, da die Möglichkeit, dass es sich lediglich um Scheinerinnerungen handelt, nicht weniger wahrscheinlich ist, als die Möglichkeit, dass sich die geschilderten Taten tatsächlich ereignet haben. So finden sich entsprechend den plausiblen und fundierten Darlegungen des Beklagten vorliegend für Scheinerinnerungen begünstigende Faktoren, die nach der aussagepsychologischen Fachliteratur anerkannt sind (vgl. z. B. Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 1. Aufl., S. 117 ff.). Diese Faktoren wirken begünstigend für die Übernahme induzierter Erinnerungen. Der Senat teilt vorliegend die Auffassung des Beklagten, dass diese Erinnerungen nicht in erster Linie im Rahmen einer medizinischen Therapie induziert worden sind, sondern im Rahmen der Aufarbeitung des vermuteten Missbrauchs mit der eigenen Mutter, der Zeugin D. (s. im Einzelnen den Schriftsatz des Beklagten vom 22.04.2015, S. 14 ff.). Im vorliegenden Fall sind zahlreiche typische Kennzeichen für Scheinerinnerungen gegeben. So war im relevanten Umfeld der Klägerin bereits im Jahr 1996 die Annahme gegeben, ein bisher nicht aufgedeckter sexueller Missbrauch zulasten der Klägerin liege vor. U. a. durch Vorzeigen von Fotos aus der fraglichen Zeit wurden zudem ausdrückliche Bemühungen unternommen, damit sich die Klägerin an den Missbrauch erinnern und diesen genau datieren könne. Zudem sind bei der Klägerin wohl infolge dieser Bemühungen Erinnerungen entstanden; mit Blick auf den oben genannten Bericht der Beratungsstelle W. waren diese Erinnerungen bei der Klägerin zunächst noch nicht vorhanden. Wie sich aus dem Akteninhalt und den einzelnen Ausführungen der Klägerin hinsichtlich der Missbrauchserlebnisse klar ergibt, hat im Laufe der Zeit die Zahl der Erinnerungen bzw. der geschilderten Vorfälle eindeutig zugenommen (insoweit kann auf die näheren Darlegungen im oben genannten Schriftsatz des Beklagten, dort S. 17, Bezug genommen werden). Weiter kann als Indiz für Scheinerinnerungen auch die Angabe der Klägerin im Schreiben vom 21.07.2014 gewertet werden, noch zu wissen, dass sie bereits seit ca. 1980 oder 1981 autoaggressives Verhalten gezeigt habe, da die Klägerin insoweit Verhaltensweisen aus frühester Kindheit geschildert hat. Der Senat hält es im Übrigen aufgrund der Zeugenaussage der Tante der Klägerin, F., zudem für erwiesen, dass die Klägerin autoaggressives Verhalten erst als Schulkind, etwa zehn Jahre später, gezeigt hat. Weiter sind auch die bizarren und extremen Erfahrungen in den Schilderungen der Klägerin, soweit sie den Inhalt der mit dem Großvater angeblich angeschauten Filme betreffen, ein typisches Kennzeichen für das Vorliegen von Scheinerinnerungen. Vor allem kommt hinzu, dass die Schilderungen der Klägerin in mehrfacher Hinsicht nicht konstant sind. Dies spricht aus Sicht des Senats nicht nur gegen die Glaubwürdigkeit der klägerischen Angaben (s. oben Ziff. a), sondern ist ebenfalls ein eigenständiges Kennzeichen von Scheinerinnerungen. Wie der Beklagte auch insoweit zutreffend dargelegt hat, ist die fehlende Konstanz der klägerischen Aussagen auf drei Ebenen feststellbar. Zum einen gilt dies hinsichtlich der Ausführungen, inwieweit Erinnerungen an die geschilderten Ereignisse durchgängig vorhanden waren bzw. zurückgewonnen wurden (ab welchem Lebensalter diese Erinnerungen vorhanden sind, s. oben). Zudem gilt dies - wie bereits dargelegt - hinsichtlich der Zahl der Täter. Schließlich fehlt es an Konstanz auch bezüglich der einzelnen Tathandlungen. So finden sich manche Tathandlungen aus der Berufungsbegründung (26.04.2010) in der detaillierten Beschreibung vom 21.07.2014 nicht mehr (wie das Anfassen des Täters an den Genitalien und die Nötigung zur Einnahme von unbekannten Medikamenten). Andererseits sind im zuletzt genannten Schreiben Einzelheiten erstmalig erwähnt worden (in erster Linie der Umstand, dass die Leichen in den Filmen zerstückelt worden seien, jedoch auch die zentrale Behauptung der Misshandlung über Jahre). Auch die ungefähre Tathandlung ist entsprechend der nachvollziehbaren Ansicht des Beklagten aber „Bestandteil des Kerngeschehens, hinsichtlich dessen auch bei Beschreibungen zu verschiedenen Zeitpunkten Konstanz zu erwarten ist, wenn es sich um ein real erlebtes Geschehen handelt“ (Schriftsatz vom 22.04.2015, S. 18 ff.).
3. Eine Glaubhaftmachung des behaupteten sexuellen Missbrauchs der Klägerin ergibt sich auch nicht aus der Tatsache, dass in der Familie der Klägerin u. U. (andere) sexuelle Missbrauchstaten gegen weitere Familienmitglieder verübt worden sein könnten. Zu betrachten ist nämlich der konkrete Einzelfall der Klägerin. Ein Rückschluss von anderen Taten im Familienkreis auf einen Missbrauch der Klägerin ergibt sich daraus per se nicht. Es kann daher offen bleiben, ob weitere Missbrauchstaten geschehen sind.
4. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. z. B.
Nach alldem ist zwar nicht völlig ausgeschlossen, dass die Klägerin in ihrer Kindheit von dem genannten Täter sexuell missbraucht worden sein könnte. Aufgrund der zahlreichen Anhaltspunkte dafür, dass die klägerischen Angaben nicht der Realität entsprechen könnten, sieht sich der Senat aber nicht in der Lage, davon auszugehen, dass der sexuelle Missbrauch überwiegend wahrscheinlich wäre. Angesichts der massiven Zweifel besteht nicht die „gute Möglichkeit“, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wie von der Klägerin geschildert (s. oben, BSG
Im Übrigen wäre auch ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang zwischen einem sexuellen Missbrauch und den geltend gemachten Gesundheitsschäden nicht als wahrscheinlich nachgewiesen.
Im Hinblick auf die weiteren Mitverursachungsbeiträge, die u. a. aus dem Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W. vom 04.04.2001 hervorgehen, würde die Klage mit Blick auf die Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 16.12.2014, Az.: B 9 V 6/13
Auf die Frage des Zusammenhangs kommt es aber letztlich nicht mehr an. Medizinische Ermittlungen, die insoweit im Raum stehen, sind somit nicht erforderlich.
Auch zu sonstigen Ermittlungen besteht keine Veranlassung und erst recht keine verfahrensrechtliche Pflicht.
1. Es gibt keinen Grund, eine psychotraumatologische Befragung oder Ähnliches, wie anfangs noch von der Klägerin beantragt, durchführen zu lassen, um - vereinfacht ausgedrückt - der Klägerin zu ermöglichen, sich an einzelne, konkrete Missbrauchserlebnisse (erstmals) wieder zu erinnern. Dies ergibt sich zunächst bereits daraus, dass für das Gericht keine Veranlassung und Verpflichtung besteht, Ermittlungen „ins Blaue hinein“ durchzuführen (vgl. BSG, Beschluss vom 05.02.2009, Az.: B 13 RS 85/08 B; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/ders., a. a. O., § 103, Rdnr. 8a). Der Antrag bezüglich einer traumatologischen Befragung, der von der Klägerin dann auch nicht mehr aufrechterhalten worden ist, zielte auf die Erschließung von Erkenntnisquellen, die es - zumindest aus Sicht der Klägerin - erst ermöglichen sollen, bestimmte Tatsachen zu behaupten und sodann unter Beweis zu stellen (vgl. BSG, a. a. O., zum bloßen Beweisermittlungsantrag). Nach dem vorliegenden Sachverhalt stellte sich der pauschale Vortrag der Klägerin, sexuell missbraucht worden zu sein, ähnlich wie sog. „Behauptungen aufs Geratewohl“ dar (vgl. Greger, in: Zöller, ZPO, 31. Aufl., Vorb. zu § 284, Rdnr. 8c). Vor allem aber kann bei nicht erwiesenen Sachverhalten ein psychotraumatologisches Gutachten zur Klärung grundsätzlich auch nichts beitragen (vgl. Högenauer, Neue Aspekte in der Beurteilung psychoreaktiver und neuropsychologischer Störungen als Leistungsgrund - aus der Sicht der Gutachter des Versorgungsärztlichen Dienstes, MedSach 2006, S. 67 <69>); der Senat hat auch starke Bedenken, dass bei psychotraumatologischen Befragungen etc. suggestive Einflüsse besondere Bedeutung erlangen könnten (vgl. zur gesamten Problematik der Abgrenzung zwischen wiederentdeckten und Pseudoerinnerungen z. B. Volbert, a. a. O., S. 122 ff.). Seine Überzeugung könnte der Senat daher nicht auf ein solches Gutachten stützen.
2. Schließlich ist auch kein aussagepsychologisches Gutachten (hinsichtlich der von der Klägerin bereits vorgetragenen Angaben zum sexuellen Missbrauch) einzuholen.
Gegen ein solches Gutachten sprechen zum einen grundsätzliche Erwägungen der Rechtsprechung (s. hierzu unter a.). Hinzu kommt, dass im vorliegenden Fall wegen der Besonderheiten in der Person der Klägerin und der bestehenden Problemkonstellationen ein aussagepsychologisches Gutachten nach Überzeugung des Senats, die dieser aufgrund der plausiblen sachverständigen Darlegungen und der Auswertungen medizinischer Erfahrungssätze gewonnen hat, nicht geeignet ist, einen sexuellen Missbrauch der Klägerin nachzuweisen oder (im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG) glaubhaft zu machen. Durch ein aussagepsychologisches Gutachten ist vorliegend keine rechtssichere Beantwortung der Frage möglich, ob die Angaben der Klägerin erlebnisfundiert und glaubhaft sind (s. hierzu unter b.-d.).
a. Zum einen gehört die Würdigung von Aussagen nicht nur Erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut (st. Rspr. des Senats, vgl. Urteile vom 05.02.2013, a. a. O., 21.04.2015, a. a. O., 18.05.2015, a. a. O., und 20.10.2015, a. a. O.). Wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Beschluss vom 16.12.2002 (Az.: 2 BvR 2099/01) festgestellt hat, stellen die bei der Beweiswürdigung als einem Teil der Rechtsanwendung sich ergebenden aussagepsychologischen Fragen keine abgelegene, sondern eine für Richter ebenso wie für Anwälte zentrale, in der juristischen Fachliteratur ausführlich abgehandelte Materie dar, so dass die Auffassung nachvollziehbar ist, zur Würdigung der Zeugenaussagen sei, mangels besonderer zusätzliche psychologische Kenntnisse erfordernder Umstände, eine Inanspruchnahme sachverständiger Hilfe nicht erforderlich. Eine aussagepsychologische Begutachtung (Glaubhaftigkeitsgutachten) kommt (vgl. die Urteile des Senats, a. a. O., sowie das Urteil des LSG Baden-Württemberg
Ein Sonderfall ist hier nicht gegeben. Vielmehr handelt es sich vorliegend um die klassische Problemkonstellation.
b. Zudem hat der Senat ebenfalls bereits entschieden (st. Rspr., vgl. z. B. Urteile
c. Hinzu kommt, dass, worauf der Beklagte zutreffend hingewiesen hat (Schriftsatz vom 22.04.2015, S. 24), eine aussagepsychologische Begutachtung ausscheiden muss, wenn eine Rekonstruktion der Aussageentstehung und Aussageentwicklung mangels Masse an verwertbaren vorangegangenen Aussagen der Aussageperson auf enge Grenzen stößt, wie es vorliegend der Fall ist.
d. Schließlich steht die Tatsache, dass im Falle wiederentdeckter Erinnerungen, wie sie vorliegend jedenfalls zum Teil gegeben sind, eine hohe Wahrscheinlichkeit für Scheinerinnerungen besteht, der Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens von vornherein entgegen.
Wie dem Senat aus zahlreichen ähnlich gelagerten Verfahren aufgrund sachverständiger Äußerungen der vergangenen Jahre bekannt ist, sind Scheinerinnerungen normalpsychologische Gedächtnisvorgänge, die nicht mit Halluzinationen oder Wahnvorstellungen von psychotisch erkrankten Personen zu verwechseln sind. Sie setzen keine Psychopathologie auf Seiten der betroffenen Person voraus, ihre Entstehung wird aber durch psychische Labilisierungen erleichtert. Der Sachverständige Prof. Dr. S. (Fachpsychologe für Rechtspsychologie und Facharzt für forensische Psychiatrie, Institut für Forensische Psychiatrie, Charité Universitätsmedizin Berlin) hat in einem für das vor dem Senat vormals anhängige Berufungsverfahren (Az.: L 15 VG 40/14) relevanten Gutachten vom 25.07.2012 zur Überzeugung des Senats dargelegt, dass die Annahme, es seien nach Ablauf von vielen Jahren nach Verdrängung ausschließlich zutreffende Vorstellungen (also tatsächliche Erinnerungen) aufgetaucht, wissenschaftliche Erkenntnisse über die Vulnerabilität des menschlichen Gedächtnisses vernachlässigt. Die Scheinerinnerungshypothese kann, so der (damalige) Sachverständige, durch eine aussagepsychologische Analyse aber nicht widerlegt werden. Dies ist dadurch begründet, dass Aussagen, die auf Scheinerinnerungen beruhen, eine vergleichbar hohe Qualität haben können wie Aussagen, die auf tatsächliches Erleben zurückgehen. Eine inhaltsanalytische positive „Beweisführung“ ist also nach einer Vorgeschichte mit potenziellen suggestiven Faktoren nicht mehr möglich. Die Aussagekraft der inhaltsanalytischen Methodik wird auch weiter eingeschränkt bzw. ganz aufgehoben, wenn psychotherapeutische Behandlung bzw. Beratung erfolgt wie vorliegend im Fall der Klägerin.
Gegen aussagepsychologische Begutachtungen in den Fällen, in denen mit therapeutischer Unterstützung explizite Erinnerungsbemühungen unternommen wurden, und auch in Fällen, in denen diese Erinnerungen nicht primär im Rahmen einer Therapie induziert wurden, sondern im Rahmen der Aufarbeitung eines vermuteten Missbrauchs in der eigenen Familie wie hier mit der eigenen Mutter, bestehen nach Überzeugung des Senats gravierende Bedenken. So ist dem Senat aus zahlreichen vergleichbaren Fällen bekannt, dass nach herrschender wissenschaftlicher Ansicht bereits problematisch ist, wenn ein vermeintlicher Übergriff sehr lange zurückliegt. Wie der Sachverständige Prof. Dr. N. im Rahmen der vormals beim Senat anhängigen Berufungsverfahren Aktenzeichen L 15 VG 23/11 und L 15 VG 25/09 plausibel dargelegt hat, ist es regelmäßig unwahrscheinlich, dass zu einem Zeitpunkt Jahre oder sogar Jahrzehnte nach den in Frage stehenden Sachverhalten noch hinreichend zuverlässige Informationen erlangt werden könnten. Es ist eine gesicherte Erkenntnis der aussagepsychologischen Forschung, insbesondere der Suggestionsforschung, dass psychotherapeutische Gespräche über mutmaßliche Erlebnisse die diesbezüglichen Gedächtnisinhalte beeinflussen, verändern und überlagern können, ohne dass im Nachhinein mit den verfügbaren diagnostischen Methoden noch festgestellt werden kann, was in einem zeitlich später gegebenen Bericht eigene ursprüngliche Erinnerungen sind und was durch die therapeutischen Gespräche nachträglich verändert oder hinzugefügt worden ist. Gerade in den Fällen wie dem vorliegenden (vgl. die Darlegung der hier als besonders problematisch zu bezeichnenden Faktoren durch den Beklagten im Schriftsatz vom 22.04.2015, dort S. 15 ff.) erscheint der Weg über ein aussagepsychologisches Gutachten als nicht gangbar. Kommen ernstere psychiatrische Erkrankungen der Aussageperson hinzu, sind auch die personalen Voraussetzungen für ein solches Gutachten nicht mehr gegeben (s. o. Ziff. 2b, vgl. Högenauer, a. a. O.).
3. Im Übrigen besteht kein Anlass, weitere Zeugen einzuvernehmen. Es sind keinerlei Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass z. B. weitere Familienangehörige sachdienliche Hinweise geben könnten. Insbesondere spricht nichts dafür, die Ehefrau des beschuldigten Täters, die Großmutter der Klägerin, vorzuladen und persönlich einzuvernehmen.
Die Berufung kann somit keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).
Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.
Tenor
-
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 2011 aufgehoben, soweit es einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter betrifft.
-
In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
-
Im Übrigen wird die Revision der Klägerin zurückgewiesen.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
- 2
-
Die 1962 geborene Klägerin beantragte am 16.9.1999 beim damals zuständigen Versorgungsamt B. Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Sie gab an, ihre Gesundheitsstörungen seien Folge von Gewalttaten und sexuellem Missbrauch im Elternhaus sowie von sexuellem Missbrauch durch einen Fremden. Die Taten hätten sich zwischen ihrem Geburtsjahr 1962 mit abnehmender Tendenz bis 1980 zugetragen.
- 3
-
Nachdem das Versorgungsamt die Klägerin angehört, eine Vielzahl von Arztberichten, insbesondere über psychiatrische Behandlungen der Klägerin, sowie eine schriftliche Aussage ihrer Tante eingeholt hatte, stellte die Ärztin für Neurologie und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin Dr. W. mit Gutachten vom 26.9.2001 für das Versorgungsamt zusammenfassend fest, die Untersuchung der Klägerin habe nur in Ansätzen detaillierte Angaben zu den geltend gemachten Misshandlungen und dem sexuellen Missbrauch erbracht. Diagnostisch sei von einer Persönlichkeitsstörung auszugehen. Aufgrund der Symptomatik sei nicht zu entscheiden, ob die psychische Störung der Klägerin ein Milieuschaden im weitesten Sinne sei oder mindestens gleichwertig auf Gewalttaten im Sinne des OEG zurückzuführen sei. Das Versorgungsamt lehnte daraufhin den Antrag der Klägerin auf Beschädigtenversorgung mit der Begründung ab: Die psychische Störung könne nicht als Folge tätlicher Gewalt anerkannt werden. Zwar seien einzelne körperliche Misshandlungen, Schläge und sexueller Missbrauch geschildert worden, insbesondere aber insgesamt zerrüttete Familienverhältnisse. Vor allem diese frühere, allgemeine familiäre Situation sei für die psychischen Probleme verantwortlich (Bescheid vom 15.10.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.5.2002).
- 4
-
Das Sozialgericht (SG) Detmold hat die - zunächst gegen das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) und ab 1.1.2008 gegen den jetzt beklagten Landschaftsverband gerichtete - Klage nach Anhörung der Klägerin, Vernehmung mehrerer Zeugen und Einholung eines Sachverständigengutachtens der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapeutische Medizin und Sozialmedizin Dr. S. vom 23.6.2005 sowie eines Zusatzgutachtens der Diplom-Psychologin H. vom 5.4.2005 auf aussagepsychologischem Gebiet durch Urteil vom 29.8.2008 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) NRW hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 16.12.2011), nachdem es ua zur Frage der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin ein auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG erstattetes Sachverständigengutachten des Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie Sp. vom 25.9.2009 sowie eine ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen Dr. S. vom 20.4.2011 beigezogen hatte. Seine Entscheidung hat es im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
- 5
-
Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Gewährung von Versorgung nach § 1 OEG iVm § 31 BVG, weil sich vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe auf die Klägerin, die zur Verursachung der bei ihr bestehenden Gesundheitsschäden geeignet wären, nicht hätten feststellen lassen. Unter Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens sei es nicht in einem die volle richterliche Überzeugung begründenden Maß wahrscheinlich, dass die Klägerin in ihrer Kindheit und Jugend Opfer der von ihr behaupteten körperlichen und sexuellen Misshandlungen und damit von Angriffen iS von § 1 Abs 1 S 1 OEG geworden sei. Keiner der durch das SG vernommenen Zeugen habe die von der Klägerin behaupteten anhaltenden und wiederholten Gewalttätigkeiten durch ihren Vater und ihre Mutter und erst recht nicht den von ihrem Vater angeblich verübten sexuellen Missbrauch bestätigt. Das LSG folge der Beweiswürdigung des SG, das keine generellen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugen dargelegt habe. Es habe daher das ihm eingeräumte Ermessen dahingehend ausgeübt, die Zeugen nicht erneut zu vernehmen. Angesichts des langen Zeitablaufs seit der Zeugenvernehmung durch das SG und mangels neuer Erkenntnisse zu den angeschuldigten Ereignissen, die noch wesentlich länger zurücklägen, gehe das LSG davon aus, dass eine erneute Zeugenvernehmung nicht ergiebig gewesen wäre und lediglich die Aussagen aus der ersten Instanz bestätigt hätte. Zudem hätten die Mutter der Klägerin sowie einer ihrer Brüder gegenüber dem LSG schriftlich angekündigt, im Fall einer Vernehmung erneut das Zeugnis aus persönlichen Gründen zu verweigern. Das LSG habe deswegen auf ihre erneute Ladung zur Vernehmung verzichtet.
- 6
-
Ebenso wenig habe sich das LSG allein auf der Grundlage der Angaben der Klägerin die volle richterliche Überzeugung vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 Abs 1 S 1 OEG bilden können, da es ihre Angaben in wesentlichen Teilen nicht als glaubhaft betrachte. Denn sie widersprächen im Kern den Aussagen ihres Vaters und ihres anderen Bruders. Die dadurch begründeten ernstlichen Zweifel am Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen habe die aussagepsychologische Begutachtung der Klägerin durch die vom SG beauftragte Sachverständige H. nicht ausgeräumt, sondern sogar bestärkt. Die vom Sachverständigen Sp. geäußerte Kritik an der aussagepsychologischen Begutachtung überzeuge das LSG nicht. Denn theoretischer Ansatz und methodische Vorgehensweise des vom SG eingeholten aussagepsychologischen Gutachtens entsprächen dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft. Das Gutachten stütze sich insoweit zu Recht ausdrücklich auf die in der Leitentscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH) in Strafsachen (Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellten Grundsätze der aussagepsychologischen Begutachtung für Glaubhaftigkeitsgutachten, wie sie die Strafgerichte seitdem in ständiger Rechtsprechung anwendeten. Diese aussagepsychologischen Grundsätze seien auf den Sozialgerichtsprozess übertragbar. Dabei könne dahinstehen, ob im Strafprozess grundsätzlich andere Beweismaßstäbe gälten als im Sozialgerichtsprozess. Denn die genannten wissenschaftlichen Prinzipien der Glaubhaftigkeitsbegutachtung beanspruchten Allgemeingültigkeit und entsprächen dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft. Ihre Anwendung sei der anschließenden Beweiswürdigung, die etwaigen Besonderheiten des jeweiligen Prozessrechts Rechnung tragen könne, vorgelagert und lasse sich davon trennen.
- 7
-
Die nach diesen aussagepsychologischen Grundsätzen von der Sachverständigen H. gebildete Alternativhypothese, dass es sich bei den Schilderungen der Klägerin um irrtümliche, dh auf Gedächtnisfehlern beruhende Falschangaben handele, lasse sich nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen nicht widerlegen, sondern gut mit den vorliegenden Daten vereinbaren. Hierfür sprächen die großen Erinnerungslücken der Klägerin hinsichtlich ihrer frühen Kindheit, wobei in der aussagepsychologischen Forschung ohnehin umstritten sei, ob es überhaupt aktuell nicht abrufbare, aber trotzdem zuverlässig gespeicherte Erinnerungen an lange zurückliegende Ereignisse gebe. Es könne dahingestellt bleiben, ob sich das Gericht bei der Beurteilung "wiedergefundener" Erinnerungen sachverständiger Hilfe nicht nur bedienen könne, sondern sogar bedienen müsse, obwohl die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen sowie Beteiligten und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen grundsätzlich richterliche Aufgabe sei. Die Entscheidung des SG für eine aussagepsychologische Begutachtung sei angesichts der Besonderheiten der Aussageentstehung bei der Klägerin jedenfalls ermessensgerecht. Auf der Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstands habe die Sachverständige H. darauf hingewiesen, dass die ursprüngliche Wahrnehmung durch die jahrelange psychotherapeutisch unterstützte mentale Auseinandersetzung der Klägerin mit den fraglichen Gewalterlebnissen durch nachträgliche Bewertungen überlagert und damit unzugänglich geworden sein könne. Daher hätten die Angaben der Klägerin, um als erlebnisbegründet angesehen zu werden, wegen der Gefahr einer möglichen Verwechslung von Gedächtnisquellen besonders handlungs- und wahrnehmungsnahe, raum-zeitlich vernetzte Situationsschilderungen enthalten müssen, die konsistent in die berichtete Gesamtdynamik eingebettet und konstant wiedergegeben würden. Diese Qualitätsanforderungen erfüllten die Schilderungen der Klägerin nicht, da sie nicht das erforderliche Maß an Detailreichtum, Konkretheit und Konstanz aufwiesen und nicht ausreichend situativ eingebettet seien.
- 8
-
Das Gutachten des Sachverständigen Sp. habe das Ergebnis der aussagepsychologischen Begutachtung nicht entkräften können. Da er weder eine hypothesengeleitete Analyse der Angaben der Klägerin nach den genannten wissenschaftlichen Grundsätzen vorgenommen noch ein Wortprotokoll seiner Exploration habe zur Verfügung stellen können, sei die objektive Überprüfbarkeit seiner Untersuchungsergebnisse stark eingeschränkt. Er habe eingeräumt, als Psychiater die aussagepsychologische Begutachtung nicht überprüfen und bewerten zu können und seinerseits durch seinen klinisch-psychiatrischen Zugang nicht zur Wahrheitsfindung in der Lage zu sein. Schließlich sei der von ihm vorgenommene Rückschluss von psychiatrischen Krankheitsanzeichen der Klägerin, konkret dem Vorliegen einer von ihm festgestellten posttraumatischen Belastungsstörung, auf konkrete schädigende Ereignisse iS des § 1 OEG in der Kindheit der Klägerin wegen der Vielzahl möglicher Ursachen einer Traumatisierung methodisch nicht haltbar.
- 9
-
Der abgesenkte Beweismaßstab des § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) komme der Klägerin nicht zugute. Zwar sei diese Regelung analog anzuwenden, wenn andere Beweismittel, wie zB Zeugen, nicht vorhanden seien. Lägen dagegen - wie hier - Beweismittel vor und stützten diese das Begehren des Anspruchstellers nicht, könne die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG nicht angewendet werden, weil diese Norm gerade das Fehlen von Beweismitteln voraussetze. Selbst bei Anwendung des Beweismaßstabs der Glaubhaftigkeit bliebe allerdings die Berufung der Klägerin ohne Erfolg. Denn aufgrund des methodisch einwandfreien und inhaltlich überzeugenden aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen H. stehe für das LSG fest, dass die Angaben der Klägerin nicht als ausreichend glaubhaft angesehen werden könnten, weil zu viele Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Erinnerungen verblieben.
- 10
-
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 15 S 1 KOVVfG, des § 128 Abs 1 S 1 SGG sowie des § 1 Abs 1 OEG. Hierzu führt sie im Wesentlichen aus: Das LSG habe seiner Entscheidung nicht die Regelung des § 15 S 1 KOVVfG zugrunde gelegt und damit den anzulegenden Beweismaßstab verkannt. Richtigerweise hätte es hinsichtlich des von ihr behaupteten sexuellen Missbrauchs der Erbringung des Vollbeweises nicht bedurft; vielmehr wäre insoweit eine Glaubhaftmachung allein aufgrund ihrer Angaben ausreichend gewesen. Denn bezüglich dieses Vorbringens seien - bis auf ihren Vater als möglichen Täter - keine Zeugen vorhanden. Die Möglichkeit, dass sich die von ihr beschriebenen Vorgänge tatsächlich so zugetragen hätten, sei nicht auszuschließen; das Verbleiben gewisser Zweifel schließe die Glaubhaftmachung nicht aus. Dem stehe auch nicht entgegen, dass sie sich erst durch Therapien im Laufe des Verwaltungsverfahrens an die Geschehnisse habe erinnern können.
- 11
-
Das LSG habe ferner gegen § 128 Abs 1 S 1 SGG verstoßen, da es ein aussagepsychologisches Gutachten berücksichtigt habe. Ein solches Gutachten habe nicht eingeholt und berücksichtigt werden dürfen, da aussagepsychologische Gutachten in sozialgerichtlichen Entschädigungsprozessen keine geeigneten Mittel der Sachverhaltsfeststellung darstellten. Die Arbeitsweise bei aussagepsychologischen Gutachten lasse sich entgegen der Auffassung des LSG nicht ohne Weiteres auf sozialrechtliche Entschädigungsprozesse übertragen, da diese nicht mit Strafverfahren vergleichbar seien. Denn in Strafverfahren sei die richterliche Überzeugung vom Vorliegen bestimmter Tatsachen in der Weise gefordert, dass ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit bestehe, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht laut werden dürften. Das OEG hingegen sehe gemäß § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 S 1 KOVVfG einen herabgesetzten Beweismaßstab vor. Ein weiterer Grund, weshalb aussagepsychologische Gutachten in sozialgerichtlichen Entschädigungsprozessen nicht eingeholt werden dürften, sei die darin erfolgende Zugrundelegung der sog Nullhypothese. Diese entspreche im Strafverfahren dem Grundsatz "in dubio pro reo", sodass als Arbeitshypothese von der Unschuld des Angeklagten auszugehen sei; mit sozialgerichtlichen Verfahren sei dies jedoch nicht in Einklang zu bringen. Zudem unterscheide sich die Art der Gutachtenerstattung in den beiden Verfahrensordnungen; in sozialgerichtlichen Verfahren erstatte der Sachverständige das Gutachten aufgrund der Aktenlage und einer Untersuchung der Person, wohingegen der Sachverständige im Strafprozess während der gesamten mündlichen Verhandlung anwesend sei und dadurch weitere Eindrücke von dem Angeklagten gewinne. Schließlich könne eine aussagepsychologische Untersuchung der Aussage eines erwachsenen Zeugen zu kindlichen Traumatisierungen auf keinerlei empirisch gesicherte Datenbasis hinsichtlich der Unterscheidung zwischen auto- oder fremdsuggerierten und erlebnisbasierten Erinnerungen zurückgreifen und sei daher wissenschaftlich nicht sinnvoll.
- 12
-
Ein weiterer Verstoß gegen § 128 Abs 1 S 1 SGG liege in einer widersprüchlichen, mitunter nicht nachvollziehbaren und teilweise einseitigen Beweiswürdigung des LSG begründet, womit es die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten habe. Das LSG habe den Aussagen ihres Bruders sowie ihres Vaters ein höheres Gewicht als ihren eigenen Angaben beigemessen und sich nicht kritisch mit den Zeugenaussagen auseinandergesetzt. Es sei einerseits von einer unberechenbaren Aggressivität des Vaters, einer aggressiven Atmosphäre und emotionalen Vernachlässigung in der Familie sowie einigen nachgewiesenen körperlichen Misshandlungen ausgegangen, halte andererseits jedoch ihre Angaben zu den Misshandlungen nicht für glaubhaft. Kaum berücksichtigt habe es zudem die Aussage ihrer Tante. Das LSG habe ferner ihre teilweise fehlenden, ungenauen oder verspäteten Erinnerungen nur einseitig zu ihrem Nachteil gewürdigt und dabei nicht in Erwägung gezogen, dass diese Erinnerungsfehler Folgen ihres Alters zum Zeitpunkt der Vorfälle, der großen Zeitspanne zwischen den Taten und dem durchgeführten Verfahren sowie ihrer Krankheit sein könnten. Im Rahmen des OEG könnten auch bruchstückhafte, lückenhafte oder voneinander abweichende Erinnerungen als Grundlage für eine Überzeugungsbildung ausreichen. Nicht umfassend gewürdigt habe das LSG schließlich das aussagepsychologische Gutachten, das selbst Anlass zur Kritik biete. Auch dieses habe nicht berücksichtigt, dass die Erinnerungslücken und Abweichungen in den Angaben eine Erscheinungsform ihrer Krankheit sein könnten. Dieses Gutachten entspreche daher nicht den erforderlichen wissenschaftlichen Standards und könne auch aus diesem Grunde nicht berücksichtigt werden. Zudem hätte das Gutachten von einem auf Traumatisierung spezialisierten Psychologen erstattet werden müssen.
- 13
-
Das LSG habe darüber hinaus verkannt, dass die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 OEG bereits durch ihre grobe Vernachlässigung als Schutzbefohlenen erfüllt seien. Das Verhalten ihrer Eltern sei nicht durch ein Züchtigungsrecht gedeckt gewesen. Die familiäre Atmosphäre sei - wie von den Vorinstanzen festgestellt - von elterlicher Aggression, gestörten Beziehungen und emotionaler Vernachlässigung geprägt gewesen. Zudem habe das LSG einige Schläge als erwiesen erachtet. Auch die fachärztlichen Gutachten hätten ergeben, dass ihre psychische Störung jedenfalls durch die aggressive Familienatmosphäre verursacht worden sei.
- 14
-
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 2011 sowie des Sozialgerichts Detmold vom 29. August 2008 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 15. Oktober 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2002 zu verurteilen, ihr wegen der Folgen von sexuellem Missbrauch sowie körperlichen und seelischen Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.
- 15
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
- 16
-
Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend.
- 17
-
Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland auf deren Antrag hin beigeladen (Beschluss vom 29.1.2013). Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
- 18
-
Die Revision der Klägerin ist zulässig.
- 19
-
Sie ist vom LSG zugelassen worden und damit statthaft (§ 160 Abs 1 SGG). Die Klägerin hat bei der Einlegung und Begründung der Revision Formen und Fristen eingehalten (§ 164 Abs 1 und 2 SGG). Die Revisionsbegründung genügt den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Entschädigungsanspruch nach dem OEG auf eine Vielzahl von schädigenden Vorgängen stützt. Demnach ist der Streitgegenstand derart teilbar, dass die Zulässigkeit und Begründetheit der Revision für jeden durch einen abgrenzbaren Sachverhalt bestimmten Teil gesondert zu prüfen ist (vgl BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9a V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3). Dabei bietet es sich hier an, die verschiedenen Vorgänge in drei Gruppen zusammenzufassen: seelische Misshandlungen (Vernachlässigung, beeinträchtigende Familienatmosphäre), körperliche Misshandlungen und sexueller Missbrauch.
- 20
-
Soweit die Klägerin Entschädigung wegen der Folgen seelischer Misshandlungen durch ihre Eltern geltend macht, hat sie einen Verstoß gegen materielles Recht hinreichend dargetan. Sie ist der Ansicht, die betreffenden Vorgänge würden von § 1 OEG erfasst. Soweit das LSG umfangreichere körperliche Misshandlungen der Klägerin im Elternhaus sowie sexuellen Missbrauch durch ihren Vater bzw einen Fremden verneint hat, rügt die Klägerin zunächst substantiiert eine Verletzung von § 15 S 1 KOVVfG, also eine unzutreffende Verneinung der Anwendbarkeit einer besonderen Beweiserleichterung(vgl dazu BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 124 f = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass insbesondere dafür, ob sie Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sei, Beweismittel vorhanden seien. Im Hinblick darauf, dass die Vorinstanz hilfsweise auf § 15 S 1 KOVVfG abgestellt hat, bedarf es auch dazu einer ausreichenden Revisionsbegründung. Diese sieht der Senat vornehmlich in der Rüge der Klägerin, das LSG habe, indem es in diesem Zusammenhang auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 Bezug genommen habe, ein ungeeignetes Beweismittel verwertet (vgl allgemein dazu zB BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527; BGH Beschluss vom 15.3.2007 - 4 StR 66/07 - NStZ 2007, 476) und damit seiner Entscheidung zugleich einen falschen Beweismaßstab zugrunde gelegt. Dazu trägt die Klägerin ua vor, dass die Sachverständige H. ihr Glaubhaftigkeitsgutachen nach anderen Kriterien erstellt habe, als im Rahmen einer Glaubhaftmachung nach § 15 S 1 KOVVfG maßgebend seien.
- 21
-
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), soweit das Berufungsurteil einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter betrifft. Im Übrigen - also hinsichtlich Folgen seelischer Misshandlungen - ist die Revision unbegründet.
- 22
-
1. Einer Sachentscheidung entgegenstehende, von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrenshindernisse bestehen nicht.
- 23
-
Zutreffend sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass bereits während des Klageverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes stattgefunden hat und seit dem 1.1.2008 der beklagte Landschaftsverband passiv legitimiert ist (vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 20 mwN). Denn § 4 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung(= Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW 482) hat die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung mit Wirkung zum 1.1.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung sowie der Opferentschädigung auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG verstößt (vgl hierzu Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21, und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann, sodass sich die von der Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGG)ab 1.1.2008 gemäß § 6 Abs 1 OEG gegen den für die Klägerin örtlich zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe zu richten hat. Darüber hinaus hat die Klägerin in der mündlichen Revisionsverhandlung klargestellt, dass sie im vorliegenden Verfahren ausschließlich einen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenrente verfolgt (vgl dazu BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 12).
- 24
-
2. Für einen Anspruch der Klägerin auf eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend:
- 25
-
a) Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs 1 S 1 OEG gegeben sind(vgl hierzu BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.
- 26
-
In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
- 27
-
b) Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Dabei hat der erkennende Senat je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben. Leitlinie des erkennenden Senats ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat daher aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist er in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger bzw rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (stRspr; vgl nur BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 36 mwN).
- 28
-
In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von § 176 StGB hat der Senat den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Für den Senat ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat war (vgl BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 28 mwN). Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG sein(BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 - BSGE 77, 7, 8 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 23 f, und - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 28 f). Diese erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten. Eine Erstreckung dieses Begriffsverständnisses auf andere Fallgruppen hat das Bundessozialgericht (BSG) bislang abgelehnt (vgl BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 RdNr 12).
- 29
-
Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung iS des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs 1 S 1 OEG vor. Nach § 1631 Abs 2 BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG RdNr 51). Auch insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind.
- 30
-
Zum "Mobbing" als einem sich über längere Zeit hinziehenden Konflikt zwischen dem Opfer und Personen seines gesellschaftlichen Umfeldes hat der erkennende Senat entschieden, dass bei einzelnen "Mobbing"-Aktivitäten die Schwelle zur strafbaren Handlung und somit zum kriminellen Unrecht überschritten sein kann; tätliche Angriffe liegen allerdings nur vor, wenn auf den Körper des Opfers gezielt eingewirkt wird, wie zB durch einen Fußtritt (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 278 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 72).
- 31
-
Auch in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, in denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, ist maßgeblich auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib und Leben des Opfers abzustellen. Die Grenze der Wortlautinterpretation hinsichtlich des Begriffs des tätlichen Angriffs sieht der Senat jedenfalls dann erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 44 mwN). So ist beim "Stalking" die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem StGB - erst überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen das Opfer begangen und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 69 mwN).
- 32
-
c) Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrundezulegen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
- 33
-
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN).
- 34
-
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.
- 35
-
Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).
- 36
-
3. Ausgehend von diesen rechtlichen Vorgaben hat die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenrente wegen der Folgen seelischer Misshandlungen durch ihre Eltern.
- 37
-
Entgegen der Ansicht der Klägerin stellen die von den Vorinstanzen angenommenen allgemeinen Verhältnisse in der Familie der Klägerin keinen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG dar. Das SG hat hierzu festgestellt, die bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen seien mehr auf ein Zusammenwirken atmosphärisch ungünstiger Entwicklungsbedingungen (ablehnende Haltung der Mutter gegenüber der Klägerin, unberechenbare Aggressivität sowie grenzüberschreitende weinerliche Anhänglichkeit des Vaters) zurückzuführen (S 23 des Urteils). Darauf hat das LSG Bezug genommen. Die Verhaltensweise der Eltern hat danach zwar seelische Misshandlungen der Klägerin umfasst, es fehlt insoweit jedoch an dem Merkmal der Gewaltanwendung im Sinne einer gegen den Körper der Klägerin gerichteten Tätlichkeit.
- 38
-
4. Soweit die Klägerin Beschädigtenrente nach dem OEG wegen der Folgen körperlicher Misshandlungen und sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter beansprucht, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung unmöglich. Derartige schädigende Vorgänge werden zwar von § 1 Abs 1 S 1 OEG erfasst, soweit sie nicht von dem seinerzeit noch anerkannten elterlichen Züchtigungsrecht(vgl BGH Beschluss vom 25.11.1986 - 4 StR 605/86 - JZ 1988, 617) gedeckt waren. Es fehlen jedoch hinreichende verwertbare Tatsachenfeststellungen.
- 39
-
a) Das LSG hat unterstellt, dass als vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe einzelne Schläge durch die Eltern (ein heftiger Schlag durch den Vater sowie zwei "Ohrfeigen" durch die Mutter) nachgewiesen seien. Diese hätten jedoch nicht genügt, um die gravierenden seelischen Erkrankungen der Klägerin zu verursachen. Das LSG verweist hierbei auf das Gutachten der Sachverständigen Dr. S. sowie auf die Ausführungen des SG, wonach diese Taten keine posttraumatische Belastungsstörung hätten auslösen können. Die hierauf gründende tatrichterliche Wertung des LSG ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Weder lässt sich feststellen, dass die Vorinstanz insoweit von unrichtigen Rechtsbegriffen ausgegangen ist, noch hat die Klägerin die betreffenden Tatsachenfeststellungen mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen.
- 40
-
b) Den überwiegenden Teil der von der Klägerin angegebenen körperlichen Misshandlungen durch deren Eltern sowie den behaupteten sexuellen Missbrauch durch deren Vater und einen Fremden hat das LSG nicht als nachgewiesen erachtet. Diese Beurteilung vermag der Senat nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu bestätigen. Denn sie beruht auf einer Auslegung des § 15 S 1 KOVVfG, die der Senat nicht teilt.
- 41
-
Nach § 15 S 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6).
- 42
-
Diesen Kriterien hat das LSG nicht hinreichend Rechnung getragen, indem es eine Anwendbarkeit des § 15 S 1 KOVVfG mit der pauschalen Begründung verneint hat, es lägen Beweismittel vor. Zwar hat sich das LSG hinsichtlich der Verneinung umfangreicher körperlicher Misshandlungen der Klägerin durch ihre Eltern, insbesondere durch den Vater, auch auf die Zeugenaussage des Bruders T. der Klägerin gestützt. Es hätte insoweit jedoch näher prüfen müssen, inwiefern die Klägerin Misshandlungen behauptet hat, die dieser Zeuge (insbesondere wegen Abwesenheit) nicht wahrgenommen haben kann. Soweit es den angegebenen sexuellen Missbrauch betrifft, ist nicht ersichtlich, dass diesen eine als Zeuge in Betracht kommende Person wahrgenommen haben kann.
- 43
-
c) Soweit das LSG den § 15 S 1 KOVVfG hilfsweise herangezogen hat, lassen seine Ausführungen nicht hinreichend deutlich erkennen, dass es dabei den von dieser Vorschrift eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde gelegt hat. Aus der einschränkungslosen Bezugnahme auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 lässt sich eher der Schluss ziehen, dass das LSG insoweit einen unzutreffenden, nämlich zu strengen Beweismaßstab angewendet hat. Diese Sachlage gibt dem Senat Veranlassung, grundsätzlich auf die Verwendung von sog Glaubhaftigkeitsgutachten in Verfahren betreffend Ansprüche nach dem OEG einzugehen.
- 44
-
aa) Die Einholung und Berücksichtigung psychologischer Glaubhaftigkeitsgutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten zulässig.
- 45
-
Grundsätzlich steht das Ausmaß von Ermittlungen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Einen Sachverständigen bestellt das Gericht, wenn es selbst nicht über ausreichende Sachkunde verfügt (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 118 RdNr 11b). Dies gilt auch für die Einholung eines sogenannten Glaubhaftigkeitsgutachtens. Dabei handelt es sich um eine aussagepsychologische Begutachtung, deren Gegenstand die Beurteilung ist, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Da eine solche Beurteilung an sich zu den Aufgaben eines Tatrichters gehört, kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BGH aaO, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22). Ob eine derartige Beweiserhebung erforderlich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen kann insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9
= Juris RdNr 22) . Die Entscheidung, ob eine solche Fallgestaltung vorliegt und ob daher ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen ist, beurteilt und trifft das Tatsachengericht im Rahmen der Amtsermittlung nach § 103 SGG. Fußt seine Entscheidung auf einem hinreichenden Grund, so ist deren Überprüfung dem Revisionsgericht entzogen (vgl BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9= Juris RdNr 20, 23) .
- 46
-
Von Seiten des Gerichts muss im Zusammenhang mit der Einholung, vor allem aber mit der anschließenden Würdigung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens stets beachtet werden, dass sich die psychologische Begutachtung von Aussagen nicht darauf beziehen kann, Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts zu machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben. Darüber hinaus besteht die Kompetenz und damit auch die Aufgabe des Sachverständigen darin abzuklären, ob sich dieser Erlebnishintergrund in der sog Wachwirklichkeit befindet, anstatt auf Träumen, Halluzinationen oder Vorstellungen zu beruhen. Ausschließlich auf diesen Aspekt des Wirklichkeitsbezuges einer Aussage kann sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beziehen (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49). In einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung trifft der Sachverständige erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt. Durch das Gutachten vermittelt er dem Gericht daher auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f). Die umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliegt sodann dem Gericht.
- 47
-
Entgegen der Auffassung der Klägerin ergeben sich aus den Ausführungen in dem Urteil des LSG NRW vom 28.11.2007 - L 10 VG 13/06 - (Juris RdNr 25) keine Hinweise auf die Unzulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialrechtlichen Verfahren. Vielmehr hat das LSG NRW hierbei lediglich die Amtsermittlung des erstinstanzlichen Gerichts gerügt, das anstelle der Vernehmung der durch die dortige Klägerin benannten Zeugen ein Sachverständigengutachten eingeholt hatte (ua mit der Beweisfrage "Steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - dh es darf kein begründbarer Zweifel bestehen - fest, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs - in welchem Zeitraum, in welcher Weise - geworden ist?"; Juris RdNr 9). Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn das LSG NRW zum einen die Vernehmung der Zeugen gefordert und zum anderen festgestellt hat, dass die an die Sachverständigen gestellte Frage keinem Beweis durch ein medizinisches oder aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zugänglich sei, sondern dass das Gericht diese Tatsache selbst aufzuklären habe. Ausdrücklich zu aussagepsychologischen Gutachten hat das LSG NRW ferner zutreffend festgestellt, auch bei diesen dürfe dem Sachverständigen nicht die Entscheidung überlassen werden, ob eine behauptete Tat stattgefunden habe oder nicht. Vielmehr dürfe dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprächen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhten (LSG NRW, aaO, Juris RdNr 25). Aus diesen Ausführungen lässt sich nicht der Schluss ziehen, das LSG NRW gehe grundsätzlich davon aus, dass in sozialrechtlichen Verfahren keine Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt und berücksichtigt werden könnten.
- 48
-
bb) Für die Erstattung von Glaubhaftigkeitsgutachten gelten auch im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts zunächst die Grundsätze, die der BGH in der Entscheidung vom 30.7.1999 (1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellt hat. Mit dieser Entscheidung hat der BGH die wissenschaftlichen Standards und Methoden für die psychologische Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zusammengefasst. Nicht das jeweilige Prozessrecht schafft diese Anforderungen (zum Straf- und Strafprozessrecht vgl Fabian/Greuel/Stadler, StV 1996, 347 f), vielmehr handelt es sich hierbei um wissenschaftliche Erkenntnisse der Aussagepsychologie (vgl Vogl, NJ 1999, 603), die Glaubhaftigkeitsgutachten allgemein zu beachten haben, damit diese überhaupt belastbar sind und verwertet werden können (so auch BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f; vgl grundlegend hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 48 ff; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 16 ff). Die grundsätzlichen wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten stellen sich wie folgt dar (vgl zum Folgenden BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167 ff mwN; basierend ua auf dem Gutachten von Steller/Volbert, wiedergegeben in Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46 ff):
Bei der psychologischen Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen besteht das methodische Grundprinzip darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit einer bestimmten Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der wissenschaftlich ausgebildete psychologische Sachverständige arbeitet (gedanklich) also zunächst mit der Unwahrannahme als sog Nullhypothese (Steller/Volbert, Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46, 61; den Begriff der Nullhypothese sowie das Ausgehen von dieser kritisierend Stanislawski/Blumer, Streit 2000, 65, 67 f). Der Sachverständige bildet dazu neben der "Wirklichkeitshypothese" (die Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert) die Gegenhypothese, die Aussage sei unwahr. Bestehen mehrere Möglichkeiten, aus welchen Gründen eine Aussage keinen Erlebnishintergrund haben könnte, hat der Sachverständige bezogen auf den konkreten Einzelfall passende Null- bzw Alternativhypothesen zu bilden (vgl beispielhaft hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 52 f; ebenso, zudem mit den jeweiligen diagnostischen Bezügen Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 61 ff). Die Bildung relevanter, also auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmter Hypothesen ist von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. Im weiteren Verlauf hat der Sachverständige jede einzelne Alternativhypothese darauf zu untersuchen, ob diese mit den erhobenen Fakten in Übereinstimmung stehen kann; wird dies für sämtliche Null- bzw Alternativhypothesen verneint, gilt die Wirklichkeitshypothese, wonach es sich um eine wahre Aussage handelt.
- 49
-
Die zentralen psychologischen Konstrukte, die den Begriff der Glaubhaftigkeit - aus psychologischer Sicht - ausfüllen und somit die Grundstruktur der psychodiagnostischen Informationsaufnahme und -verarbeitung vorgeben, sind Aussagetüchtigkeit (verfügt die Person über die notwendigen kognitiven Grundvoraussetzungen zur Erstattung einer verwertbaren Aussage?), Aussagequalität (weist die Aussage Merkmale auf, die in erlebnisfundierten Schilderungen zu erwarten sind?) sowie Aussagevalidität (liegen potentielle Störfaktoren vor, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage begründen können?). Erst wenn die Aussagetüchtigkeit bejaht wird, kann der mögliche Erlebnisbezug der Aussage unter Berücksichtigung ihrer Qualität und Validität untersucht werden (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49; zur eventuell erforderlichen Hinzuziehung eines Psychiaters zur Bewertung der Aussagetüchtigkeit Schumacher, StV 2003, 641 ff). Das abschließende gutachterliche Urteil über die Glaubhaftigkeit einer Aussage kann niemals allein auf einer einzigen Konstruktebene (zB der Ebene der Aussagequalität) erfolgen, sondern erfordert immer eine integrative Betrachtung der Befunde in Bezug auf sämtliche Ebenen (Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 62).
- 50
-
Die wesentlichen methodischen Mittel, die der Sachverständige zur Überprüfung der gebildeten Hypothesen anzuwenden hat, sind die - die Aussagequalität überprüfende - Aussageanalyse (Inhalts- und Konstanzanalyse) und die - die Aussagevalidität betreffende - Fehlerquellen-, Motivations- sowie Kompetenzanalyse. Welche dieser Analyseschritte mit welcher Gewichtung durchzuführen sind, ergibt sich aus den zuvor gebildeten Null- bzw Alternativhypothesen; bei der Abgrenzung einer wahren Darstellung von einer absichtlichen Falschaussage sind andere Analysen erforderlich als bei deren Abgrenzung von einer subjektiv wahren, aber objektiv nicht zutreffenden, auf Scheinerinnerungen basierenden Darstellung (vgl hierzu Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 17 ff).
- 51
-
Diese Prüfungsschritte müssen nicht in einer bestimmten Prüfungsstrategie angewendet werden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau. Die einzelnen Elemente der Begutachtung müssen auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden (vgl BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f). Es ist vielmehr ausreichend, wenn sich aus einer Gesamtbetrachtung des Gutachtens ergibt, dass der Sachverständige das dargestellte methodische Grundprinzip angewandt hat. Vor allem muss überprüfbar sein, auf welchem Weg er zu seinen Ergebnissen gelangt ist.
- 52
-
cc) Die aufgrund der dargestellten methodischen Vorgehensweise, insbesondere aufgrund des Ausgehens von der sog Nullhypothese, vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialgerichtlichen Verfahren (vgl hierzu SG Fulda Urteil vom 30.6.2008 - S 6 VG 16/06 - Juris RdNr 33 aE; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.7.2010 - L 13 VG 25/07 - Juris RdNr 36; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.6.2012 - L 4 VG 13/09 - Juris RdNr 44 ff; offenlassend, aber Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese äußernd LSG Baden-Württemberg Urteil vom 15.12.2011 - L 6 VG 584/11 - ZFSH/SGB 2012, 203, 206) überzeugen nicht.
- 53
-
Nach derzeitigen Erkenntnissen gibt es für einen psychologischen Sachverständigen keine Alternative zu dem beschriebenen Vorgehen. Der Erlebnisbezug einer Aussage ist nicht anders als durch systematischen Ausschluss von Alternativhypothesen zur Wahrannahme zu belegen (Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 20, 22). Nach dem gegenwärtigen psychologischen Kenntnisstand kann die Wirklichkeitshypothese selbst nicht überprüft werden, da eine erlebnisbasierte Aussage eine hohe, aber auch eine niedrige Aussagequalität haben kann. Die Prüfung hat daher an der Unwahrhypothese bzw ihren möglichen Alternativen anzusetzen. Erst wenn sämtliche Unwahrhypothesen ausgeschlossen werden können, ist die Wahrannahme belegt (vgl Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 22). Zudem hat diese Vorgehensweise zur Folge, dass sämtliche Unwahrhypothesen geprüft werden, womit ein ausgewogenes Analyseergebnis erzielt werden kann (Schoreit, StV 2004, 284, 286).
- 54
-
Es ist zutreffend, dass dieses methodische Vorgehen ein recht strenges Verfahren der Aussageprüfung darstellt (so auch Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 205), denn die Tatsache, dass eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, bedeutet nicht zwingend, dass diese Hypothese tatsächlich zutrifft. Gleichwohl würde das Gutachten in einem solchen Fall zu dem Ergebnis gelangen, dass eine wahre Aussage nicht belegt werden kann. Insoweit korrespondieren das methodische Grundprinzip der Aussagepsychologie und die rechtlichen Anforderungen in Strafverfahren besonders gut miteinander (vgl dazu Volbert, aaO S 20). Denn auch die Unschuldsvermutung hat zugunsten des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten. Durch beide Prinzipien soll auf jeden Fall vermieden werden, dass eine tatsächlich nicht zutreffende Aussage als glaubhaft klassifiziert wird. Zwar soll möglichst auch der andere Fehler unterbleiben, dass also eine wahre Aussage als nicht zutreffend bewertet wird. In Zweifelsfällen gilt aber eine klare Entscheidungspriorität (vgl Volbert, aaO): Bestehen noch Zweifel hinsichtlich einer Unwahrhypothese, kann diese also nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, so gilt der Erlebnisbezug der Aussage als nicht bewiesen und die Aussage als nicht glaubhaft.
- 55
-
Diese Konsequenz führt nicht dazu, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialrechtlichen Entschädigungsverfahren nach dem OEG als Beweismittel schlichtweg ungeeignet sind. Soweit der Vollbeweis gilt, ist damit die Anwendung dieser methodischen Prinzipien der Aussagepsychologie ohne Weiteres zu vereinbaren. Denn dabei gilt eine Tatsache erst dann als bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Bestehen in einem solchen Verfahren noch Zweifel daran, dass eine Aussage erlebnisfundiert ist, weil eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, geht dies zu Lasten des Klägers bzw der Klägerin (von der Zulässigkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten ausgehend LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 9.9.2008 - L 11 VG 33/08 - Juris RdNr 24 ff; LSG NRW Urteil vom 29.9.2010 - L 6 (7) VG 16/05 - Juris RdNr 24; ebenso, jedoch bei Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG Bayerisches LSG Urteil vom 30.6.2005 - L 15 VG 13/02 - Juris RdNr 40; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05 - Juris RdNr 34 sowie Urteil vom 16.9.2011 - L 10 VG 26/07 - Juris RdNr 38 ff).
- 56
-
Die grundsätzliche Bejahung der Beweiseignung von Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialen Entschädigungsrecht wird auch dadurch gestützt, dass nach der dargestellten hypothesengeleiteten Methodik - unter Einschluss der sog Nullhypothese - erstattete Gutachten nicht nur in Strafverfahren Anwendung finden, sondern auch in Zivilverfahren (vgl BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527, 2528 f; Saarländisches OLG Urteil vom 13.7.2011 - 1 U 32/08 - Juris RdNr 50 ff) und in arbeitsrechtlichen Verfahren (vgl LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 20.7.2011 - 26 Sa 1269/10 - Juris RdNr 64 ff). In diesen Verfahren ist der Vollbeweis der anspruchsbegründenden Tatsachen bzw der Voraussetzungen für einen Kündigungsgrund (zumeist eine erhebliche Pflichtverletzung) ebenfalls erforderlich.
- 57
-
dd) Soweit allerdings nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG eine Glaubhaftmachung ausreicht, ist ein nach der dargestellten Methodik erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht ohne Weiteres geeignet, zur Entscheidungsfindung des Gerichts beizutragen. Das folgt schon daraus, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, während ein aussagepsychologischer Sachverständiger diese Angaben erst dann als glaubhaft ansieht, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen kann. Da ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten den Vollbeweis ermöglichen soll, muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines solchen Gutachtens nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können.
- 58
-
Will sich ein Gericht auch bei Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG eines aussagepsychologischen Gutachtens bedienen, so hat es den Sachverständigen mithin auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten kann. Dabei sind auch die Beweisfragen entsprechend zu fassen. Im Falle von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen lautet die übergeordnete psychologische Untersuchungsfragestellung: "Können die Angaben aus aussagepsychologischer Sicht als mit (sehr) hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert klassifiziert werden?" (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49). Demgegenüber sollte dann, wenn eine Glaubhaftmachung ausreicht, darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können.
- 59
-
Damit das Gericht den rechtlichen Begriff der Glaubhaftmachung in eigener Beweiswürdigung ausfüllen kann und nicht durch die Feststellung einer Glaubhaftigkeit seitens des Sachverständigen festgelegt ist, könnte es insoweit hilfreich sein, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergibt (für eine solche Vorgehensweise im Asylverfahren vgl Lösel/Bender, Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Bd 7, 2001, S 175, 184). Denn dem Tatsachengericht ist am ehesten gedient, wenn der psychologische Sachverständige im Rahmen des Möglichen die Wahrscheinlichkeiten bzw Wahrscheinlichkeitsgrade für die unterschiedlichen Hypothesen darstellt.
- 60
-
Diesen Maßgaben wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG ohne Weiteres auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 gestützt. Dieses Glaubhaftigkeitsgutachten ist vom SG zu den Fragen eingeholt worden:
Sind die Angaben der Klägerin zu den Misshandlungen durch die Eltern und zum sexuellen Missbrauch durch den Vater (…) unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlich-aussagepsychologischen Kenntnisstandes insgesamt oder in Teilen glaubhaft? Sind die Angaben insbesondere inhaltlich konsistent und konstant und sind aussagerelevante Besonderheiten der Persönlichkeitsentwicklung der Klägerin zu berücksichtigen? Welche Gründe sprechen insgesamt für und gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben?
- 61
-
Ein Hinweis auf den im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab der Glaubhaftmachung ist dabei nach Aktenlage nicht erfolgt. Dementsprechend lässt das Gutachten der Sachverständigen H. nicht erkennen, dass sich diese der daraus folgenden Besonderheiten bewusst gewesen ist. Vielmehr hat die Sachverständige in der Einleitung zu ihrem Gutachten ("Formaler Rahmen der Begutachtung") erklärt, dass sich das Vorgehen bei der Begutachtung und die Darstellung der Ergebnisse nach den Standards wissenschaftlich fundierter Glaubhaftigkeitsbegutachtung richte, wie sie im Grundsatzurteil des BGH vom 30.7.1999 (BGHSt 45, 164 = NJW 1999, 2746) dargelegt seien (S 1 des Gutachtens).
- 62
-
Da das Berufungsurteil mithin - soweit es die Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG betrifft - offenbar auf einer Tatsachenwürdigung beruht, der ein unzutreffender Beweismaßstab zugrunde liegt, vermag der erkennende Senat die Beurteilung des LSG auch zu diesem Punkt nicht zu bestätigen.
- 63
-
5. Der erkennende Senat sieht sich zu einer Aufhebung des Berufungsurteils und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG veranlasst (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), weil die jetzt nach zutreffenden Beweismaßstäben vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können (§ 163 SGG).
- 64
-
6. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.
(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.
(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten.
Tenor
-
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 2011 aufgehoben, soweit es einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter betrifft.
-
In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
-
Im Übrigen wird die Revision der Klägerin zurückgewiesen.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
- 2
-
Die 1962 geborene Klägerin beantragte am 16.9.1999 beim damals zuständigen Versorgungsamt B. Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Sie gab an, ihre Gesundheitsstörungen seien Folge von Gewalttaten und sexuellem Missbrauch im Elternhaus sowie von sexuellem Missbrauch durch einen Fremden. Die Taten hätten sich zwischen ihrem Geburtsjahr 1962 mit abnehmender Tendenz bis 1980 zugetragen.
- 3
-
Nachdem das Versorgungsamt die Klägerin angehört, eine Vielzahl von Arztberichten, insbesondere über psychiatrische Behandlungen der Klägerin, sowie eine schriftliche Aussage ihrer Tante eingeholt hatte, stellte die Ärztin für Neurologie und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin Dr. W. mit Gutachten vom 26.9.2001 für das Versorgungsamt zusammenfassend fest, die Untersuchung der Klägerin habe nur in Ansätzen detaillierte Angaben zu den geltend gemachten Misshandlungen und dem sexuellen Missbrauch erbracht. Diagnostisch sei von einer Persönlichkeitsstörung auszugehen. Aufgrund der Symptomatik sei nicht zu entscheiden, ob die psychische Störung der Klägerin ein Milieuschaden im weitesten Sinne sei oder mindestens gleichwertig auf Gewalttaten im Sinne des OEG zurückzuführen sei. Das Versorgungsamt lehnte daraufhin den Antrag der Klägerin auf Beschädigtenversorgung mit der Begründung ab: Die psychische Störung könne nicht als Folge tätlicher Gewalt anerkannt werden. Zwar seien einzelne körperliche Misshandlungen, Schläge und sexueller Missbrauch geschildert worden, insbesondere aber insgesamt zerrüttete Familienverhältnisse. Vor allem diese frühere, allgemeine familiäre Situation sei für die psychischen Probleme verantwortlich (Bescheid vom 15.10.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.5.2002).
- 4
-
Das Sozialgericht (SG) Detmold hat die - zunächst gegen das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) und ab 1.1.2008 gegen den jetzt beklagten Landschaftsverband gerichtete - Klage nach Anhörung der Klägerin, Vernehmung mehrerer Zeugen und Einholung eines Sachverständigengutachtens der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapeutische Medizin und Sozialmedizin Dr. S. vom 23.6.2005 sowie eines Zusatzgutachtens der Diplom-Psychologin H. vom 5.4.2005 auf aussagepsychologischem Gebiet durch Urteil vom 29.8.2008 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) NRW hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 16.12.2011), nachdem es ua zur Frage der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin ein auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG erstattetes Sachverständigengutachten des Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie Sp. vom 25.9.2009 sowie eine ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen Dr. S. vom 20.4.2011 beigezogen hatte. Seine Entscheidung hat es im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
- 5
-
Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Gewährung von Versorgung nach § 1 OEG iVm § 31 BVG, weil sich vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe auf die Klägerin, die zur Verursachung der bei ihr bestehenden Gesundheitsschäden geeignet wären, nicht hätten feststellen lassen. Unter Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens sei es nicht in einem die volle richterliche Überzeugung begründenden Maß wahrscheinlich, dass die Klägerin in ihrer Kindheit und Jugend Opfer der von ihr behaupteten körperlichen und sexuellen Misshandlungen und damit von Angriffen iS von § 1 Abs 1 S 1 OEG geworden sei. Keiner der durch das SG vernommenen Zeugen habe die von der Klägerin behaupteten anhaltenden und wiederholten Gewalttätigkeiten durch ihren Vater und ihre Mutter und erst recht nicht den von ihrem Vater angeblich verübten sexuellen Missbrauch bestätigt. Das LSG folge der Beweiswürdigung des SG, das keine generellen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugen dargelegt habe. Es habe daher das ihm eingeräumte Ermessen dahingehend ausgeübt, die Zeugen nicht erneut zu vernehmen. Angesichts des langen Zeitablaufs seit der Zeugenvernehmung durch das SG und mangels neuer Erkenntnisse zu den angeschuldigten Ereignissen, die noch wesentlich länger zurücklägen, gehe das LSG davon aus, dass eine erneute Zeugenvernehmung nicht ergiebig gewesen wäre und lediglich die Aussagen aus der ersten Instanz bestätigt hätte. Zudem hätten die Mutter der Klägerin sowie einer ihrer Brüder gegenüber dem LSG schriftlich angekündigt, im Fall einer Vernehmung erneut das Zeugnis aus persönlichen Gründen zu verweigern. Das LSG habe deswegen auf ihre erneute Ladung zur Vernehmung verzichtet.
- 6
-
Ebenso wenig habe sich das LSG allein auf der Grundlage der Angaben der Klägerin die volle richterliche Überzeugung vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 Abs 1 S 1 OEG bilden können, da es ihre Angaben in wesentlichen Teilen nicht als glaubhaft betrachte. Denn sie widersprächen im Kern den Aussagen ihres Vaters und ihres anderen Bruders. Die dadurch begründeten ernstlichen Zweifel am Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen habe die aussagepsychologische Begutachtung der Klägerin durch die vom SG beauftragte Sachverständige H. nicht ausgeräumt, sondern sogar bestärkt. Die vom Sachverständigen Sp. geäußerte Kritik an der aussagepsychologischen Begutachtung überzeuge das LSG nicht. Denn theoretischer Ansatz und methodische Vorgehensweise des vom SG eingeholten aussagepsychologischen Gutachtens entsprächen dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft. Das Gutachten stütze sich insoweit zu Recht ausdrücklich auf die in der Leitentscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH) in Strafsachen (Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellten Grundsätze der aussagepsychologischen Begutachtung für Glaubhaftigkeitsgutachten, wie sie die Strafgerichte seitdem in ständiger Rechtsprechung anwendeten. Diese aussagepsychologischen Grundsätze seien auf den Sozialgerichtsprozess übertragbar. Dabei könne dahinstehen, ob im Strafprozess grundsätzlich andere Beweismaßstäbe gälten als im Sozialgerichtsprozess. Denn die genannten wissenschaftlichen Prinzipien der Glaubhaftigkeitsbegutachtung beanspruchten Allgemeingültigkeit und entsprächen dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft. Ihre Anwendung sei der anschließenden Beweiswürdigung, die etwaigen Besonderheiten des jeweiligen Prozessrechts Rechnung tragen könne, vorgelagert und lasse sich davon trennen.
- 7
-
Die nach diesen aussagepsychologischen Grundsätzen von der Sachverständigen H. gebildete Alternativhypothese, dass es sich bei den Schilderungen der Klägerin um irrtümliche, dh auf Gedächtnisfehlern beruhende Falschangaben handele, lasse sich nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen nicht widerlegen, sondern gut mit den vorliegenden Daten vereinbaren. Hierfür sprächen die großen Erinnerungslücken der Klägerin hinsichtlich ihrer frühen Kindheit, wobei in der aussagepsychologischen Forschung ohnehin umstritten sei, ob es überhaupt aktuell nicht abrufbare, aber trotzdem zuverlässig gespeicherte Erinnerungen an lange zurückliegende Ereignisse gebe. Es könne dahingestellt bleiben, ob sich das Gericht bei der Beurteilung "wiedergefundener" Erinnerungen sachverständiger Hilfe nicht nur bedienen könne, sondern sogar bedienen müsse, obwohl die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen sowie Beteiligten und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen grundsätzlich richterliche Aufgabe sei. Die Entscheidung des SG für eine aussagepsychologische Begutachtung sei angesichts der Besonderheiten der Aussageentstehung bei der Klägerin jedenfalls ermessensgerecht. Auf der Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstands habe die Sachverständige H. darauf hingewiesen, dass die ursprüngliche Wahrnehmung durch die jahrelange psychotherapeutisch unterstützte mentale Auseinandersetzung der Klägerin mit den fraglichen Gewalterlebnissen durch nachträgliche Bewertungen überlagert und damit unzugänglich geworden sein könne. Daher hätten die Angaben der Klägerin, um als erlebnisbegründet angesehen zu werden, wegen der Gefahr einer möglichen Verwechslung von Gedächtnisquellen besonders handlungs- und wahrnehmungsnahe, raum-zeitlich vernetzte Situationsschilderungen enthalten müssen, die konsistent in die berichtete Gesamtdynamik eingebettet und konstant wiedergegeben würden. Diese Qualitätsanforderungen erfüllten die Schilderungen der Klägerin nicht, da sie nicht das erforderliche Maß an Detailreichtum, Konkretheit und Konstanz aufwiesen und nicht ausreichend situativ eingebettet seien.
- 8
-
Das Gutachten des Sachverständigen Sp. habe das Ergebnis der aussagepsychologischen Begutachtung nicht entkräften können. Da er weder eine hypothesengeleitete Analyse der Angaben der Klägerin nach den genannten wissenschaftlichen Grundsätzen vorgenommen noch ein Wortprotokoll seiner Exploration habe zur Verfügung stellen können, sei die objektive Überprüfbarkeit seiner Untersuchungsergebnisse stark eingeschränkt. Er habe eingeräumt, als Psychiater die aussagepsychologische Begutachtung nicht überprüfen und bewerten zu können und seinerseits durch seinen klinisch-psychiatrischen Zugang nicht zur Wahrheitsfindung in der Lage zu sein. Schließlich sei der von ihm vorgenommene Rückschluss von psychiatrischen Krankheitsanzeichen der Klägerin, konkret dem Vorliegen einer von ihm festgestellten posttraumatischen Belastungsstörung, auf konkrete schädigende Ereignisse iS des § 1 OEG in der Kindheit der Klägerin wegen der Vielzahl möglicher Ursachen einer Traumatisierung methodisch nicht haltbar.
- 9
-
Der abgesenkte Beweismaßstab des § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) komme der Klägerin nicht zugute. Zwar sei diese Regelung analog anzuwenden, wenn andere Beweismittel, wie zB Zeugen, nicht vorhanden seien. Lägen dagegen - wie hier - Beweismittel vor und stützten diese das Begehren des Anspruchstellers nicht, könne die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG nicht angewendet werden, weil diese Norm gerade das Fehlen von Beweismitteln voraussetze. Selbst bei Anwendung des Beweismaßstabs der Glaubhaftigkeit bliebe allerdings die Berufung der Klägerin ohne Erfolg. Denn aufgrund des methodisch einwandfreien und inhaltlich überzeugenden aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen H. stehe für das LSG fest, dass die Angaben der Klägerin nicht als ausreichend glaubhaft angesehen werden könnten, weil zu viele Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Erinnerungen verblieben.
- 10
-
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 15 S 1 KOVVfG, des § 128 Abs 1 S 1 SGG sowie des § 1 Abs 1 OEG. Hierzu führt sie im Wesentlichen aus: Das LSG habe seiner Entscheidung nicht die Regelung des § 15 S 1 KOVVfG zugrunde gelegt und damit den anzulegenden Beweismaßstab verkannt. Richtigerweise hätte es hinsichtlich des von ihr behaupteten sexuellen Missbrauchs der Erbringung des Vollbeweises nicht bedurft; vielmehr wäre insoweit eine Glaubhaftmachung allein aufgrund ihrer Angaben ausreichend gewesen. Denn bezüglich dieses Vorbringens seien - bis auf ihren Vater als möglichen Täter - keine Zeugen vorhanden. Die Möglichkeit, dass sich die von ihr beschriebenen Vorgänge tatsächlich so zugetragen hätten, sei nicht auszuschließen; das Verbleiben gewisser Zweifel schließe die Glaubhaftmachung nicht aus. Dem stehe auch nicht entgegen, dass sie sich erst durch Therapien im Laufe des Verwaltungsverfahrens an die Geschehnisse habe erinnern können.
- 11
-
Das LSG habe ferner gegen § 128 Abs 1 S 1 SGG verstoßen, da es ein aussagepsychologisches Gutachten berücksichtigt habe. Ein solches Gutachten habe nicht eingeholt und berücksichtigt werden dürfen, da aussagepsychologische Gutachten in sozialgerichtlichen Entschädigungsprozessen keine geeigneten Mittel der Sachverhaltsfeststellung darstellten. Die Arbeitsweise bei aussagepsychologischen Gutachten lasse sich entgegen der Auffassung des LSG nicht ohne Weiteres auf sozialrechtliche Entschädigungsprozesse übertragen, da diese nicht mit Strafverfahren vergleichbar seien. Denn in Strafverfahren sei die richterliche Überzeugung vom Vorliegen bestimmter Tatsachen in der Weise gefordert, dass ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit bestehe, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht laut werden dürften. Das OEG hingegen sehe gemäß § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 S 1 KOVVfG einen herabgesetzten Beweismaßstab vor. Ein weiterer Grund, weshalb aussagepsychologische Gutachten in sozialgerichtlichen Entschädigungsprozessen nicht eingeholt werden dürften, sei die darin erfolgende Zugrundelegung der sog Nullhypothese. Diese entspreche im Strafverfahren dem Grundsatz "in dubio pro reo", sodass als Arbeitshypothese von der Unschuld des Angeklagten auszugehen sei; mit sozialgerichtlichen Verfahren sei dies jedoch nicht in Einklang zu bringen. Zudem unterscheide sich die Art der Gutachtenerstattung in den beiden Verfahrensordnungen; in sozialgerichtlichen Verfahren erstatte der Sachverständige das Gutachten aufgrund der Aktenlage und einer Untersuchung der Person, wohingegen der Sachverständige im Strafprozess während der gesamten mündlichen Verhandlung anwesend sei und dadurch weitere Eindrücke von dem Angeklagten gewinne. Schließlich könne eine aussagepsychologische Untersuchung der Aussage eines erwachsenen Zeugen zu kindlichen Traumatisierungen auf keinerlei empirisch gesicherte Datenbasis hinsichtlich der Unterscheidung zwischen auto- oder fremdsuggerierten und erlebnisbasierten Erinnerungen zurückgreifen und sei daher wissenschaftlich nicht sinnvoll.
- 12
-
Ein weiterer Verstoß gegen § 128 Abs 1 S 1 SGG liege in einer widersprüchlichen, mitunter nicht nachvollziehbaren und teilweise einseitigen Beweiswürdigung des LSG begründet, womit es die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten habe. Das LSG habe den Aussagen ihres Bruders sowie ihres Vaters ein höheres Gewicht als ihren eigenen Angaben beigemessen und sich nicht kritisch mit den Zeugenaussagen auseinandergesetzt. Es sei einerseits von einer unberechenbaren Aggressivität des Vaters, einer aggressiven Atmosphäre und emotionalen Vernachlässigung in der Familie sowie einigen nachgewiesenen körperlichen Misshandlungen ausgegangen, halte andererseits jedoch ihre Angaben zu den Misshandlungen nicht für glaubhaft. Kaum berücksichtigt habe es zudem die Aussage ihrer Tante. Das LSG habe ferner ihre teilweise fehlenden, ungenauen oder verspäteten Erinnerungen nur einseitig zu ihrem Nachteil gewürdigt und dabei nicht in Erwägung gezogen, dass diese Erinnerungsfehler Folgen ihres Alters zum Zeitpunkt der Vorfälle, der großen Zeitspanne zwischen den Taten und dem durchgeführten Verfahren sowie ihrer Krankheit sein könnten. Im Rahmen des OEG könnten auch bruchstückhafte, lückenhafte oder voneinander abweichende Erinnerungen als Grundlage für eine Überzeugungsbildung ausreichen. Nicht umfassend gewürdigt habe das LSG schließlich das aussagepsychologische Gutachten, das selbst Anlass zur Kritik biete. Auch dieses habe nicht berücksichtigt, dass die Erinnerungslücken und Abweichungen in den Angaben eine Erscheinungsform ihrer Krankheit sein könnten. Dieses Gutachten entspreche daher nicht den erforderlichen wissenschaftlichen Standards und könne auch aus diesem Grunde nicht berücksichtigt werden. Zudem hätte das Gutachten von einem auf Traumatisierung spezialisierten Psychologen erstattet werden müssen.
- 13
-
Das LSG habe darüber hinaus verkannt, dass die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 OEG bereits durch ihre grobe Vernachlässigung als Schutzbefohlenen erfüllt seien. Das Verhalten ihrer Eltern sei nicht durch ein Züchtigungsrecht gedeckt gewesen. Die familiäre Atmosphäre sei - wie von den Vorinstanzen festgestellt - von elterlicher Aggression, gestörten Beziehungen und emotionaler Vernachlässigung geprägt gewesen. Zudem habe das LSG einige Schläge als erwiesen erachtet. Auch die fachärztlichen Gutachten hätten ergeben, dass ihre psychische Störung jedenfalls durch die aggressive Familienatmosphäre verursacht worden sei.
- 14
-
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 2011 sowie des Sozialgerichts Detmold vom 29. August 2008 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 15. Oktober 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2002 zu verurteilen, ihr wegen der Folgen von sexuellem Missbrauch sowie körperlichen und seelischen Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.
- 15
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
- 16
-
Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend.
- 17
-
Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland auf deren Antrag hin beigeladen (Beschluss vom 29.1.2013). Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
- 18
-
Die Revision der Klägerin ist zulässig.
- 19
-
Sie ist vom LSG zugelassen worden und damit statthaft (§ 160 Abs 1 SGG). Die Klägerin hat bei der Einlegung und Begründung der Revision Formen und Fristen eingehalten (§ 164 Abs 1 und 2 SGG). Die Revisionsbegründung genügt den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Entschädigungsanspruch nach dem OEG auf eine Vielzahl von schädigenden Vorgängen stützt. Demnach ist der Streitgegenstand derart teilbar, dass die Zulässigkeit und Begründetheit der Revision für jeden durch einen abgrenzbaren Sachverhalt bestimmten Teil gesondert zu prüfen ist (vgl BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9a V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3). Dabei bietet es sich hier an, die verschiedenen Vorgänge in drei Gruppen zusammenzufassen: seelische Misshandlungen (Vernachlässigung, beeinträchtigende Familienatmosphäre), körperliche Misshandlungen und sexueller Missbrauch.
- 20
-
Soweit die Klägerin Entschädigung wegen der Folgen seelischer Misshandlungen durch ihre Eltern geltend macht, hat sie einen Verstoß gegen materielles Recht hinreichend dargetan. Sie ist der Ansicht, die betreffenden Vorgänge würden von § 1 OEG erfasst. Soweit das LSG umfangreichere körperliche Misshandlungen der Klägerin im Elternhaus sowie sexuellen Missbrauch durch ihren Vater bzw einen Fremden verneint hat, rügt die Klägerin zunächst substantiiert eine Verletzung von § 15 S 1 KOVVfG, also eine unzutreffende Verneinung der Anwendbarkeit einer besonderen Beweiserleichterung(vgl dazu BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 124 f = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass insbesondere dafür, ob sie Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sei, Beweismittel vorhanden seien. Im Hinblick darauf, dass die Vorinstanz hilfsweise auf § 15 S 1 KOVVfG abgestellt hat, bedarf es auch dazu einer ausreichenden Revisionsbegründung. Diese sieht der Senat vornehmlich in der Rüge der Klägerin, das LSG habe, indem es in diesem Zusammenhang auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 Bezug genommen habe, ein ungeeignetes Beweismittel verwertet (vgl allgemein dazu zB BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527; BGH Beschluss vom 15.3.2007 - 4 StR 66/07 - NStZ 2007, 476) und damit seiner Entscheidung zugleich einen falschen Beweismaßstab zugrunde gelegt. Dazu trägt die Klägerin ua vor, dass die Sachverständige H. ihr Glaubhaftigkeitsgutachen nach anderen Kriterien erstellt habe, als im Rahmen einer Glaubhaftmachung nach § 15 S 1 KOVVfG maßgebend seien.
- 21
-
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), soweit das Berufungsurteil einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter betrifft. Im Übrigen - also hinsichtlich Folgen seelischer Misshandlungen - ist die Revision unbegründet.
- 22
-
1. Einer Sachentscheidung entgegenstehende, von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrenshindernisse bestehen nicht.
- 23
-
Zutreffend sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass bereits während des Klageverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes stattgefunden hat und seit dem 1.1.2008 der beklagte Landschaftsverband passiv legitimiert ist (vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 20 mwN). Denn § 4 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung(= Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW 482) hat die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung mit Wirkung zum 1.1.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung sowie der Opferentschädigung auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG verstößt (vgl hierzu Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21, und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann, sodass sich die von der Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGG)ab 1.1.2008 gemäß § 6 Abs 1 OEG gegen den für die Klägerin örtlich zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe zu richten hat. Darüber hinaus hat die Klägerin in der mündlichen Revisionsverhandlung klargestellt, dass sie im vorliegenden Verfahren ausschließlich einen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenrente verfolgt (vgl dazu BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 12).
- 24
-
2. Für einen Anspruch der Klägerin auf eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend:
- 25
-
a) Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs 1 S 1 OEG gegeben sind(vgl hierzu BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.
- 26
-
In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
- 27
-
b) Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Dabei hat der erkennende Senat je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben. Leitlinie des erkennenden Senats ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat daher aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist er in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger bzw rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (stRspr; vgl nur BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 36 mwN).
- 28
-
In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von § 176 StGB hat der Senat den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Für den Senat ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat war (vgl BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 28 mwN). Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG sein(BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 - BSGE 77, 7, 8 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 23 f, und - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 28 f). Diese erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten. Eine Erstreckung dieses Begriffsverständnisses auf andere Fallgruppen hat das Bundessozialgericht (BSG) bislang abgelehnt (vgl BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 RdNr 12).
- 29
-
Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung iS des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs 1 S 1 OEG vor. Nach § 1631 Abs 2 BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG RdNr 51). Auch insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind.
- 30
-
Zum "Mobbing" als einem sich über längere Zeit hinziehenden Konflikt zwischen dem Opfer und Personen seines gesellschaftlichen Umfeldes hat der erkennende Senat entschieden, dass bei einzelnen "Mobbing"-Aktivitäten die Schwelle zur strafbaren Handlung und somit zum kriminellen Unrecht überschritten sein kann; tätliche Angriffe liegen allerdings nur vor, wenn auf den Körper des Opfers gezielt eingewirkt wird, wie zB durch einen Fußtritt (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 278 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 72).
- 31
-
Auch in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, in denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, ist maßgeblich auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib und Leben des Opfers abzustellen. Die Grenze der Wortlautinterpretation hinsichtlich des Begriffs des tätlichen Angriffs sieht der Senat jedenfalls dann erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 44 mwN). So ist beim "Stalking" die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem StGB - erst überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen das Opfer begangen und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 69 mwN).
- 32
-
c) Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrundezulegen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
- 33
-
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN).
- 34
-
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.
- 35
-
Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).
- 36
-
3. Ausgehend von diesen rechtlichen Vorgaben hat die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenrente wegen der Folgen seelischer Misshandlungen durch ihre Eltern.
- 37
-
Entgegen der Ansicht der Klägerin stellen die von den Vorinstanzen angenommenen allgemeinen Verhältnisse in der Familie der Klägerin keinen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG dar. Das SG hat hierzu festgestellt, die bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen seien mehr auf ein Zusammenwirken atmosphärisch ungünstiger Entwicklungsbedingungen (ablehnende Haltung der Mutter gegenüber der Klägerin, unberechenbare Aggressivität sowie grenzüberschreitende weinerliche Anhänglichkeit des Vaters) zurückzuführen (S 23 des Urteils). Darauf hat das LSG Bezug genommen. Die Verhaltensweise der Eltern hat danach zwar seelische Misshandlungen der Klägerin umfasst, es fehlt insoweit jedoch an dem Merkmal der Gewaltanwendung im Sinne einer gegen den Körper der Klägerin gerichteten Tätlichkeit.
- 38
-
4. Soweit die Klägerin Beschädigtenrente nach dem OEG wegen der Folgen körperlicher Misshandlungen und sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter beansprucht, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung unmöglich. Derartige schädigende Vorgänge werden zwar von § 1 Abs 1 S 1 OEG erfasst, soweit sie nicht von dem seinerzeit noch anerkannten elterlichen Züchtigungsrecht(vgl BGH Beschluss vom 25.11.1986 - 4 StR 605/86 - JZ 1988, 617) gedeckt waren. Es fehlen jedoch hinreichende verwertbare Tatsachenfeststellungen.
- 39
-
a) Das LSG hat unterstellt, dass als vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe einzelne Schläge durch die Eltern (ein heftiger Schlag durch den Vater sowie zwei "Ohrfeigen" durch die Mutter) nachgewiesen seien. Diese hätten jedoch nicht genügt, um die gravierenden seelischen Erkrankungen der Klägerin zu verursachen. Das LSG verweist hierbei auf das Gutachten der Sachverständigen Dr. S. sowie auf die Ausführungen des SG, wonach diese Taten keine posttraumatische Belastungsstörung hätten auslösen können. Die hierauf gründende tatrichterliche Wertung des LSG ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Weder lässt sich feststellen, dass die Vorinstanz insoweit von unrichtigen Rechtsbegriffen ausgegangen ist, noch hat die Klägerin die betreffenden Tatsachenfeststellungen mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen.
- 40
-
b) Den überwiegenden Teil der von der Klägerin angegebenen körperlichen Misshandlungen durch deren Eltern sowie den behaupteten sexuellen Missbrauch durch deren Vater und einen Fremden hat das LSG nicht als nachgewiesen erachtet. Diese Beurteilung vermag der Senat nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu bestätigen. Denn sie beruht auf einer Auslegung des § 15 S 1 KOVVfG, die der Senat nicht teilt.
- 41
-
Nach § 15 S 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6).
- 42
-
Diesen Kriterien hat das LSG nicht hinreichend Rechnung getragen, indem es eine Anwendbarkeit des § 15 S 1 KOVVfG mit der pauschalen Begründung verneint hat, es lägen Beweismittel vor. Zwar hat sich das LSG hinsichtlich der Verneinung umfangreicher körperlicher Misshandlungen der Klägerin durch ihre Eltern, insbesondere durch den Vater, auch auf die Zeugenaussage des Bruders T. der Klägerin gestützt. Es hätte insoweit jedoch näher prüfen müssen, inwiefern die Klägerin Misshandlungen behauptet hat, die dieser Zeuge (insbesondere wegen Abwesenheit) nicht wahrgenommen haben kann. Soweit es den angegebenen sexuellen Missbrauch betrifft, ist nicht ersichtlich, dass diesen eine als Zeuge in Betracht kommende Person wahrgenommen haben kann.
- 43
-
c) Soweit das LSG den § 15 S 1 KOVVfG hilfsweise herangezogen hat, lassen seine Ausführungen nicht hinreichend deutlich erkennen, dass es dabei den von dieser Vorschrift eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde gelegt hat. Aus der einschränkungslosen Bezugnahme auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 lässt sich eher der Schluss ziehen, dass das LSG insoweit einen unzutreffenden, nämlich zu strengen Beweismaßstab angewendet hat. Diese Sachlage gibt dem Senat Veranlassung, grundsätzlich auf die Verwendung von sog Glaubhaftigkeitsgutachten in Verfahren betreffend Ansprüche nach dem OEG einzugehen.
- 44
-
aa) Die Einholung und Berücksichtigung psychologischer Glaubhaftigkeitsgutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten zulässig.
- 45
-
Grundsätzlich steht das Ausmaß von Ermittlungen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Einen Sachverständigen bestellt das Gericht, wenn es selbst nicht über ausreichende Sachkunde verfügt (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 118 RdNr 11b). Dies gilt auch für die Einholung eines sogenannten Glaubhaftigkeitsgutachtens. Dabei handelt es sich um eine aussagepsychologische Begutachtung, deren Gegenstand die Beurteilung ist, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Da eine solche Beurteilung an sich zu den Aufgaben eines Tatrichters gehört, kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BGH aaO, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22). Ob eine derartige Beweiserhebung erforderlich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen kann insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9
= Juris RdNr 22) . Die Entscheidung, ob eine solche Fallgestaltung vorliegt und ob daher ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen ist, beurteilt und trifft das Tatsachengericht im Rahmen der Amtsermittlung nach § 103 SGG. Fußt seine Entscheidung auf einem hinreichenden Grund, so ist deren Überprüfung dem Revisionsgericht entzogen (vgl BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9= Juris RdNr 20, 23) .
- 46
-
Von Seiten des Gerichts muss im Zusammenhang mit der Einholung, vor allem aber mit der anschließenden Würdigung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens stets beachtet werden, dass sich die psychologische Begutachtung von Aussagen nicht darauf beziehen kann, Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts zu machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben. Darüber hinaus besteht die Kompetenz und damit auch die Aufgabe des Sachverständigen darin abzuklären, ob sich dieser Erlebnishintergrund in der sog Wachwirklichkeit befindet, anstatt auf Träumen, Halluzinationen oder Vorstellungen zu beruhen. Ausschließlich auf diesen Aspekt des Wirklichkeitsbezuges einer Aussage kann sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beziehen (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49). In einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung trifft der Sachverständige erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt. Durch das Gutachten vermittelt er dem Gericht daher auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f). Die umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliegt sodann dem Gericht.
- 47
-
Entgegen der Auffassung der Klägerin ergeben sich aus den Ausführungen in dem Urteil des LSG NRW vom 28.11.2007 - L 10 VG 13/06 - (Juris RdNr 25) keine Hinweise auf die Unzulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialrechtlichen Verfahren. Vielmehr hat das LSG NRW hierbei lediglich die Amtsermittlung des erstinstanzlichen Gerichts gerügt, das anstelle der Vernehmung der durch die dortige Klägerin benannten Zeugen ein Sachverständigengutachten eingeholt hatte (ua mit der Beweisfrage "Steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - dh es darf kein begründbarer Zweifel bestehen - fest, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs - in welchem Zeitraum, in welcher Weise - geworden ist?"; Juris RdNr 9). Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn das LSG NRW zum einen die Vernehmung der Zeugen gefordert und zum anderen festgestellt hat, dass die an die Sachverständigen gestellte Frage keinem Beweis durch ein medizinisches oder aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zugänglich sei, sondern dass das Gericht diese Tatsache selbst aufzuklären habe. Ausdrücklich zu aussagepsychologischen Gutachten hat das LSG NRW ferner zutreffend festgestellt, auch bei diesen dürfe dem Sachverständigen nicht die Entscheidung überlassen werden, ob eine behauptete Tat stattgefunden habe oder nicht. Vielmehr dürfe dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprächen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhten (LSG NRW, aaO, Juris RdNr 25). Aus diesen Ausführungen lässt sich nicht der Schluss ziehen, das LSG NRW gehe grundsätzlich davon aus, dass in sozialrechtlichen Verfahren keine Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt und berücksichtigt werden könnten.
- 48
-
bb) Für die Erstattung von Glaubhaftigkeitsgutachten gelten auch im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts zunächst die Grundsätze, die der BGH in der Entscheidung vom 30.7.1999 (1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellt hat. Mit dieser Entscheidung hat der BGH die wissenschaftlichen Standards und Methoden für die psychologische Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zusammengefasst. Nicht das jeweilige Prozessrecht schafft diese Anforderungen (zum Straf- und Strafprozessrecht vgl Fabian/Greuel/Stadler, StV 1996, 347 f), vielmehr handelt es sich hierbei um wissenschaftliche Erkenntnisse der Aussagepsychologie (vgl Vogl, NJ 1999, 603), die Glaubhaftigkeitsgutachten allgemein zu beachten haben, damit diese überhaupt belastbar sind und verwertet werden können (so auch BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f; vgl grundlegend hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 48 ff; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 16 ff). Die grundsätzlichen wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten stellen sich wie folgt dar (vgl zum Folgenden BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167 ff mwN; basierend ua auf dem Gutachten von Steller/Volbert, wiedergegeben in Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46 ff):
Bei der psychologischen Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen besteht das methodische Grundprinzip darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit einer bestimmten Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der wissenschaftlich ausgebildete psychologische Sachverständige arbeitet (gedanklich) also zunächst mit der Unwahrannahme als sog Nullhypothese (Steller/Volbert, Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46, 61; den Begriff der Nullhypothese sowie das Ausgehen von dieser kritisierend Stanislawski/Blumer, Streit 2000, 65, 67 f). Der Sachverständige bildet dazu neben der "Wirklichkeitshypothese" (die Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert) die Gegenhypothese, die Aussage sei unwahr. Bestehen mehrere Möglichkeiten, aus welchen Gründen eine Aussage keinen Erlebnishintergrund haben könnte, hat der Sachverständige bezogen auf den konkreten Einzelfall passende Null- bzw Alternativhypothesen zu bilden (vgl beispielhaft hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 52 f; ebenso, zudem mit den jeweiligen diagnostischen Bezügen Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 61 ff). Die Bildung relevanter, also auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmter Hypothesen ist von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. Im weiteren Verlauf hat der Sachverständige jede einzelne Alternativhypothese darauf zu untersuchen, ob diese mit den erhobenen Fakten in Übereinstimmung stehen kann; wird dies für sämtliche Null- bzw Alternativhypothesen verneint, gilt die Wirklichkeitshypothese, wonach es sich um eine wahre Aussage handelt.
- 49
-
Die zentralen psychologischen Konstrukte, die den Begriff der Glaubhaftigkeit - aus psychologischer Sicht - ausfüllen und somit die Grundstruktur der psychodiagnostischen Informationsaufnahme und -verarbeitung vorgeben, sind Aussagetüchtigkeit (verfügt die Person über die notwendigen kognitiven Grundvoraussetzungen zur Erstattung einer verwertbaren Aussage?), Aussagequalität (weist die Aussage Merkmale auf, die in erlebnisfundierten Schilderungen zu erwarten sind?) sowie Aussagevalidität (liegen potentielle Störfaktoren vor, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage begründen können?). Erst wenn die Aussagetüchtigkeit bejaht wird, kann der mögliche Erlebnisbezug der Aussage unter Berücksichtigung ihrer Qualität und Validität untersucht werden (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49; zur eventuell erforderlichen Hinzuziehung eines Psychiaters zur Bewertung der Aussagetüchtigkeit Schumacher, StV 2003, 641 ff). Das abschließende gutachterliche Urteil über die Glaubhaftigkeit einer Aussage kann niemals allein auf einer einzigen Konstruktebene (zB der Ebene der Aussagequalität) erfolgen, sondern erfordert immer eine integrative Betrachtung der Befunde in Bezug auf sämtliche Ebenen (Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 62).
- 50
-
Die wesentlichen methodischen Mittel, die der Sachverständige zur Überprüfung der gebildeten Hypothesen anzuwenden hat, sind die - die Aussagequalität überprüfende - Aussageanalyse (Inhalts- und Konstanzanalyse) und die - die Aussagevalidität betreffende - Fehlerquellen-, Motivations- sowie Kompetenzanalyse. Welche dieser Analyseschritte mit welcher Gewichtung durchzuführen sind, ergibt sich aus den zuvor gebildeten Null- bzw Alternativhypothesen; bei der Abgrenzung einer wahren Darstellung von einer absichtlichen Falschaussage sind andere Analysen erforderlich als bei deren Abgrenzung von einer subjektiv wahren, aber objektiv nicht zutreffenden, auf Scheinerinnerungen basierenden Darstellung (vgl hierzu Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 17 ff).
- 51
-
Diese Prüfungsschritte müssen nicht in einer bestimmten Prüfungsstrategie angewendet werden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau. Die einzelnen Elemente der Begutachtung müssen auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden (vgl BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f). Es ist vielmehr ausreichend, wenn sich aus einer Gesamtbetrachtung des Gutachtens ergibt, dass der Sachverständige das dargestellte methodische Grundprinzip angewandt hat. Vor allem muss überprüfbar sein, auf welchem Weg er zu seinen Ergebnissen gelangt ist.
- 52
-
cc) Die aufgrund der dargestellten methodischen Vorgehensweise, insbesondere aufgrund des Ausgehens von der sog Nullhypothese, vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialgerichtlichen Verfahren (vgl hierzu SG Fulda Urteil vom 30.6.2008 - S 6 VG 16/06 - Juris RdNr 33 aE; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.7.2010 - L 13 VG 25/07 - Juris RdNr 36; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.6.2012 - L 4 VG 13/09 - Juris RdNr 44 ff; offenlassend, aber Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese äußernd LSG Baden-Württemberg Urteil vom 15.12.2011 - L 6 VG 584/11 - ZFSH/SGB 2012, 203, 206) überzeugen nicht.
- 53
-
Nach derzeitigen Erkenntnissen gibt es für einen psychologischen Sachverständigen keine Alternative zu dem beschriebenen Vorgehen. Der Erlebnisbezug einer Aussage ist nicht anders als durch systematischen Ausschluss von Alternativhypothesen zur Wahrannahme zu belegen (Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 20, 22). Nach dem gegenwärtigen psychologischen Kenntnisstand kann die Wirklichkeitshypothese selbst nicht überprüft werden, da eine erlebnisbasierte Aussage eine hohe, aber auch eine niedrige Aussagequalität haben kann. Die Prüfung hat daher an der Unwahrhypothese bzw ihren möglichen Alternativen anzusetzen. Erst wenn sämtliche Unwahrhypothesen ausgeschlossen werden können, ist die Wahrannahme belegt (vgl Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 22). Zudem hat diese Vorgehensweise zur Folge, dass sämtliche Unwahrhypothesen geprüft werden, womit ein ausgewogenes Analyseergebnis erzielt werden kann (Schoreit, StV 2004, 284, 286).
- 54
-
Es ist zutreffend, dass dieses methodische Vorgehen ein recht strenges Verfahren der Aussageprüfung darstellt (so auch Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 205), denn die Tatsache, dass eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, bedeutet nicht zwingend, dass diese Hypothese tatsächlich zutrifft. Gleichwohl würde das Gutachten in einem solchen Fall zu dem Ergebnis gelangen, dass eine wahre Aussage nicht belegt werden kann. Insoweit korrespondieren das methodische Grundprinzip der Aussagepsychologie und die rechtlichen Anforderungen in Strafverfahren besonders gut miteinander (vgl dazu Volbert, aaO S 20). Denn auch die Unschuldsvermutung hat zugunsten des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten. Durch beide Prinzipien soll auf jeden Fall vermieden werden, dass eine tatsächlich nicht zutreffende Aussage als glaubhaft klassifiziert wird. Zwar soll möglichst auch der andere Fehler unterbleiben, dass also eine wahre Aussage als nicht zutreffend bewertet wird. In Zweifelsfällen gilt aber eine klare Entscheidungspriorität (vgl Volbert, aaO): Bestehen noch Zweifel hinsichtlich einer Unwahrhypothese, kann diese also nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, so gilt der Erlebnisbezug der Aussage als nicht bewiesen und die Aussage als nicht glaubhaft.
- 55
-
Diese Konsequenz führt nicht dazu, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialrechtlichen Entschädigungsverfahren nach dem OEG als Beweismittel schlichtweg ungeeignet sind. Soweit der Vollbeweis gilt, ist damit die Anwendung dieser methodischen Prinzipien der Aussagepsychologie ohne Weiteres zu vereinbaren. Denn dabei gilt eine Tatsache erst dann als bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Bestehen in einem solchen Verfahren noch Zweifel daran, dass eine Aussage erlebnisfundiert ist, weil eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, geht dies zu Lasten des Klägers bzw der Klägerin (von der Zulässigkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten ausgehend LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 9.9.2008 - L 11 VG 33/08 - Juris RdNr 24 ff; LSG NRW Urteil vom 29.9.2010 - L 6 (7) VG 16/05 - Juris RdNr 24; ebenso, jedoch bei Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG Bayerisches LSG Urteil vom 30.6.2005 - L 15 VG 13/02 - Juris RdNr 40; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05 - Juris RdNr 34 sowie Urteil vom 16.9.2011 - L 10 VG 26/07 - Juris RdNr 38 ff).
- 56
-
Die grundsätzliche Bejahung der Beweiseignung von Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialen Entschädigungsrecht wird auch dadurch gestützt, dass nach der dargestellten hypothesengeleiteten Methodik - unter Einschluss der sog Nullhypothese - erstattete Gutachten nicht nur in Strafverfahren Anwendung finden, sondern auch in Zivilverfahren (vgl BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527, 2528 f; Saarländisches OLG Urteil vom 13.7.2011 - 1 U 32/08 - Juris RdNr 50 ff) und in arbeitsrechtlichen Verfahren (vgl LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 20.7.2011 - 26 Sa 1269/10 - Juris RdNr 64 ff). In diesen Verfahren ist der Vollbeweis der anspruchsbegründenden Tatsachen bzw der Voraussetzungen für einen Kündigungsgrund (zumeist eine erhebliche Pflichtverletzung) ebenfalls erforderlich.
- 57
-
dd) Soweit allerdings nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG eine Glaubhaftmachung ausreicht, ist ein nach der dargestellten Methodik erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht ohne Weiteres geeignet, zur Entscheidungsfindung des Gerichts beizutragen. Das folgt schon daraus, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, während ein aussagepsychologischer Sachverständiger diese Angaben erst dann als glaubhaft ansieht, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen kann. Da ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten den Vollbeweis ermöglichen soll, muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines solchen Gutachtens nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können.
- 58
-
Will sich ein Gericht auch bei Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG eines aussagepsychologischen Gutachtens bedienen, so hat es den Sachverständigen mithin auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten kann. Dabei sind auch die Beweisfragen entsprechend zu fassen. Im Falle von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen lautet die übergeordnete psychologische Untersuchungsfragestellung: "Können die Angaben aus aussagepsychologischer Sicht als mit (sehr) hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert klassifiziert werden?" (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49). Demgegenüber sollte dann, wenn eine Glaubhaftmachung ausreicht, darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können.
- 59
-
Damit das Gericht den rechtlichen Begriff der Glaubhaftmachung in eigener Beweiswürdigung ausfüllen kann und nicht durch die Feststellung einer Glaubhaftigkeit seitens des Sachverständigen festgelegt ist, könnte es insoweit hilfreich sein, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergibt (für eine solche Vorgehensweise im Asylverfahren vgl Lösel/Bender, Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Bd 7, 2001, S 175, 184). Denn dem Tatsachengericht ist am ehesten gedient, wenn der psychologische Sachverständige im Rahmen des Möglichen die Wahrscheinlichkeiten bzw Wahrscheinlichkeitsgrade für die unterschiedlichen Hypothesen darstellt.
- 60
-
Diesen Maßgaben wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG ohne Weiteres auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 gestützt. Dieses Glaubhaftigkeitsgutachten ist vom SG zu den Fragen eingeholt worden:
Sind die Angaben der Klägerin zu den Misshandlungen durch die Eltern und zum sexuellen Missbrauch durch den Vater (…) unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlich-aussagepsychologischen Kenntnisstandes insgesamt oder in Teilen glaubhaft? Sind die Angaben insbesondere inhaltlich konsistent und konstant und sind aussagerelevante Besonderheiten der Persönlichkeitsentwicklung der Klägerin zu berücksichtigen? Welche Gründe sprechen insgesamt für und gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben?
- 61
-
Ein Hinweis auf den im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab der Glaubhaftmachung ist dabei nach Aktenlage nicht erfolgt. Dementsprechend lässt das Gutachten der Sachverständigen H. nicht erkennen, dass sich diese der daraus folgenden Besonderheiten bewusst gewesen ist. Vielmehr hat die Sachverständige in der Einleitung zu ihrem Gutachten ("Formaler Rahmen der Begutachtung") erklärt, dass sich das Vorgehen bei der Begutachtung und die Darstellung der Ergebnisse nach den Standards wissenschaftlich fundierter Glaubhaftigkeitsbegutachtung richte, wie sie im Grundsatzurteil des BGH vom 30.7.1999 (BGHSt 45, 164 = NJW 1999, 2746) dargelegt seien (S 1 des Gutachtens).
- 62
-
Da das Berufungsurteil mithin - soweit es die Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG betrifft - offenbar auf einer Tatsachenwürdigung beruht, der ein unzutreffender Beweismaßstab zugrunde liegt, vermag der erkennende Senat die Beurteilung des LSG auch zu diesem Punkt nicht zu bestätigen.
- 63
-
5. Der erkennende Senat sieht sich zu einer Aufhebung des Berufungsurteils und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG veranlasst (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), weil die jetzt nach zutreffenden Beweismaßstäben vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können (§ 163 SGG).
- 64
-
6. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 22. März 2013 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
|
Entscheidungsgründe
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
|
Gründe
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
|
Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.
(1) Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds gehandelt hat.
(2) Einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 stehen gleich
- 1.
die vorsätzliche Beibringung von Gift, - 2.
die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen.
(3) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind; Buchstabe e gilt auch für einen Unfall, den der Geschädigte bei der unverzüglichen Erstattung der Strafanzeige erleidet.
(4) Ausländerinnen und Ausländer haben dieselben Ansprüche wie Deutsche.
(5) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt.
(6) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die ein Berechtigter oder Leistungsempfänger nach Absatz 1 oder 5 in Verbindung mit § 10 Abs. 4 oder 5 des Bundesversorgungsgesetzes, eine Pflegeperson oder eine Begleitperson bei einer notwendigen Begleitung des Geschädigten durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes erleidet.
(7) Einer gesundheitlichen Schädigung im Sinne des Absatzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz gleich.
(8) Wird ein tätlicher Angriff im Sinne des Absatzes 1 durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers verübt, werden Leistungen nach diesem Gesetz erbracht.
(9) § 1 Abs. 3, die §§ 64 bis 64d, 64f sowie 89 des Bundesversorgungsgesetzes sind mit der Maßgabe anzuwenden, daß an die Stelle der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde tritt, sofern ein Land Kostenträger ist (§ 4). Dabei sind die für deutsche Staatsangehörige geltenden Vorschriften auch für von diesem Gesetz erfaßte Ausländer anzuwenden.
(10) § 20 des Bundesversorgungsgesetzes ist mit den Maßgaben anzuwenden, daß an die Stelle der in Absatz 1 Satz 3 genannten Zahl die Zahl der rentenberechtigten Beschädigten und Hinterbliebenen nach diesem Gesetz im Vergleich zur Zahl des Vorjahres tritt, daß in Absatz 1 Satz 4 an die Stelle der dort genannten Ausgaben der Krankenkassen je Mitglied und Rentner einschließlich Familienangehörige die bundesweiten Ausgaben je Mitglied treten, daß Absatz 2 Satz 1 für die oberste Landesbehörde, die für die Kriegsopferversorgung zuständig ist, oder die von ihr bestimmte Stelle gilt und daß in Absatz 3 an die Stelle der in Satz 1 genannten Zahl die Zahl 1,3 tritt und die Sätze 2 bis 4 nicht gelten.
(11) Im Rahmen der Heilbehandlung sind auch heilpädagogische Behandlung, heilgymnastische und bewegungstherapeutische Übungen zu gewähren, wenn diese bei der Heilbehandlung notwendig sind.
Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.
Tenor
-
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. Februar 2014 wird zurückgewiesen.
-
Der Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Revisionsverfahren.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten über eine Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) iVm dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG).
- 2
-
Die 1956 geborene Klägerin wuchs im heutigen Land Brandenburg auf. Im Alter von 20 Jahren wurde sie von ihrem Vater schwanger. Das Kind starb vier Wochen nach der Geburt. 1989 verzog die Klägerin in die "alten Bundesländer". Im Oktober 1994 wurde sie in G. von einem Unbekannten vergewaltigt. Am 29.12.2000 beantragte sie beim Amt für Versorgung und Familienförderung (AVF) München II eine Versorgung nach dem OEG, zunächst allein wegen der im Jahre 1994 erlittenen Vergewaltigung, im Laufe des Verfahrens auch wegen des sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater in der Zeit von 1960 bis 1979 in Brandenburg. Das AVF München II leitete den Antrag auch dem Amt für Soziales und Versorgung Cottbus zu und anerkannte nach Einholung eines versorgungsärztlichen Gutachtens mit Vorbehaltsbescheid vom 9.1.2002 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 unter Gewährung einer entsprechenden Versorgungsrente ab dem 1.12.2000. Als Schädigungsfolge stellte es "Posttraumatische Belastungsstörung, seelische Störung" im Sinne einer Verschlimmerung fest.
- 3
-
Das Amt für Soziales und Versorgung Cottbus lehnte dagegen den Antrag der Klägerin ab. Zwar sei nach den glaubhaften Angaben der Klägerin davon auszugehen, dass sie im Zeitraum von 1960 bis 1979 Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe geworden ist. Die bei der Klägerin zur Anwendung kommende Härtefallregelung des § 10a OEG setze jedoch Gesundheitsstörung mit einer Schädigungsfolge voraus, die mit einer MdE von wenigstens 50 zu bewerten sei; hieran fehle es (Bescheid vom 10.1.2002). Das hiergegen geführte Widerspruchsverfahren blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 25.9.2002). Das SG hat die Klage ebenfalls mit der Begründung abgelehnt, dass die Voraussetzungen des § 10a OEG nicht erfüllt seien(Urteil vom 27.9.2005).
- 4
-
Im Berufungsverfahrens hat das Bayerische LSG ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt. Danach hat es keine Anhaltspunkte für ein halluzinatorisches Erleben des sexuellen Missbrauchs in der Zeit von 1960 bis 1979 gegeben; die MdE habe seit Ende 1994 80 betragen (zusammengesetzt aus einem Teil-MdE von 70 für die Basis-Traumatisierung
in Brandenburg und von 30 für die Retraumatisierung ). Auch sei eine besondere berufliche Betroffenheit festzustellen. In der mündlichen Verhandlung hat das beklagte Land Brandenburg erstmals Zweifel geäußert, ob die Klägerin in Brandenburg einen sexuellen Missbrauch erlitten habe.
- 5
-
Das LSG hat das Urteil des SG aufgehoben und den Beklagten unter Aufhebung der streitgegenständlichen Bescheide verurteilt, der Klägerin Versorgung nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 80 zu gewähren. Der Klägerin stehe ein Anspruch gegen den Beklagten entsprechend dem brandenburgischen Anteil am Gesamtschadensbild zu (Urteil vom 18.2.2014).
- 6
-
Mit seiner Revision rügt das beklagte Land Brandenburg die Verletzung materiellen Rechts. Der Beklagte sei bereits nicht passivlegitimiert. Weder sei er Schuldner des Versorgungsanspruchs noch zuständiger Versorgungsträger. Aufgrund des Wortlauts sei zu fordern, dass die Schädigung ausschließliche Alleinursache für die vorliegenden Gesundheitsschäden sei. Ferner müsse die Anwendung des § 30 Abs 2 BVG auf das Recht der Kriegsopferversorgung beschränkt bleiben.
- 7
-
Daneben rügt das beklagte Land Brandenburg die Verletzung der §§ 128 Abs 1 und 103 SGG. Die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung seien überschritten. Allein anhand der Beweismittel der gutachterlichen Stellungnahmen sei kein Vollbeweis dahingehend zu führen, dass die Klägerin zwischen 1960 und 1979 sexuell missbraucht worden sei. Entsprechend den Beweisanträgen in der mündlichen Verhandlung hätte das LSG die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin aufgrund der Variabilität ihrer Aussagen und gutachterlich festgestellter, lang andauernder Amnesie in der Vergangenheit überprüfen müssen.
- 8
-
Das beklagte Land beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18.2.2014 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 27.9.2005 zurückzuweisen.
- 9
-
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
- 10
-
Der beigeladene Freistaat Bayern hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
- 11
-
Die zulässige Revision ist unbegründet (§ 170 Abs 1 S 1 SGG).
- 12
-
1. Gegenstand des Rechtsstreits ist die Aufhebung des Ausgangs- und Widerspruchsbescheids sowie die Anerkennung von Schädigungsfolgen und die Gewährung einer Beschädigtenversorgung. Da sich die Klage nicht nur auf eine isolierte Feststellung (Anerkennung) von Schädigungsfolgen richtet, scheidet eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage iS des § 54 Abs 1 S 1 SGG als statthafte Klageart aus(zur Anfechtungs- und Verpflichtungsklage im Rahmen der Opferentschädigung siehe BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17). Bei einer Klage auf Erlass eines zuvor abgelehnten und sich nicht auf den Erlass als solchen erschöpfenden Verwaltungsakts ist statthafte Klage eine der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage subsidiäre kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage iS des § 54 Abs 1 S 1, Abs 4 SGG(zur Anfechtungs- und Leistungsklage im Rahmen der Opferentschädigung siehe BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20).
- 13
-
Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat nach der Härtefallregelung des § 10a iVm § 1 OEG Anspruch auf Opferentschädigung(dazu 2.). Die tatbestandlichen Voraussetzungen hierfür liegen vor; die Angriffe des beklagten Landes gegen die insoweit vom LSG getroffenen Feststellungen greifen nicht durch (dazu 3.). Die durch den sexuellen Missbrauch in Brandenburg zu Zeiten der ehemaligen DDR verursachte MdE (bzw GdS) der Klägerin beläuft sich auf 70 und ist aufgrund einer besonderen beruflichen Betroffenheit um 10 zu erhöhen. Die Versorgung beginnt mit der Antragstellung (dazu 4.). Der Anspruch richtet sich in dem Umfang gegen das beklagte Land Brandenburg, als das Gesamtschadensbild seine Ursache in den in Brandenburg erfolgten Schädigungen hat (dazu 5.).
- 14
-
2. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch aus einer auf dem Gebiet der ehemaligen DDR vor dem 3.10.1990 begangenen rechtswidrigen Tat ist § 1 iVm § 10a OEG.
- 15
-
a) Nach § 1 OEG erhält Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Dem OEG liegt die Erwägung zugrunde, dass den Staat eine besondere Verantwortung für Personen trifft, die durch einen solchen Angriff geschädigt werden (BT-Drucks 7/2506 S 7). Denn Aufgabe des Staates ist es, seine Bürger vor Gewalttätern zu schützen. Kann er diese Pflicht nicht erfüllen, muss er sich für die Entschädigung des Opfers verantwortlich fühlen. Die Geschädigten müssen von der Allgemeinheit in einem solchen Umfang schadlos gehalten werden, dass ein soziales Absinken der Betroffenen selbst, ihrer Familien und ihrer Hinterbliebenen vermieden wird (vgl BT-Drucks 7/2506 S 7).
- 16
-
Das OEG trat am 16.5.1976 in Kraft. Es galt zeitlich zunächst nur für Gewalttaten, die sich ab Inkrafttreten des Gesetzes ereigneten, also für Taten ab 16.5.1976 (zur Verfassungskonformität der Stichtagsregelung siehe BVerfG Beschluss vom 3.10.1984 - 1 BvR 270/84 - SozR 3800 § 10 Nr 2). Räumlich galt es dort, wo der deutsche Staat Staatsgewalt ausüben und daher für die Verhinderung von Gewalttaten verantwortlich gemacht werden konnte, dh im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin.
- 17
-
b) 1984 wurde das OEG geändert und zeitlich auch auf Gewalttaten erstreckt, die sich seit Inkrafttreten des GG am 23.5.1949 ereignet hatten (Gesetz vom 20.12.1984, BGBl I 1723); allerdings wurde bei dieser rückwirkenden Erstreckung Entschädigung lediglich nach Maßgabe der Härtefallregelung des § 10a OEG geleistet. Diese sieht Opferentschädigung nur vor, wenn drei Voraussetzungen vorliegen: 1. Die verletzte Person muss "allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt" sein; sie muss 2. bedürftig sein und muss 3. ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des OEG haben.
- 18
-
c) Seit dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland gilt das OEG auch in den neuen Bundesländern und kommt Versorgung bei Gewalttaten, die im Gebiet der ehemaligen DDR vor dem 3.10.1990 begangen worden sind, ebenfalls nach der Härtefallregelung des § 10a OEG in Betracht. Mit dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) trat das OEG auch in den neuen Bundesländern ua mit der Maßgabe in Kraft, dass § 10a OEG in diesen Gebieten für eine Schädigung in der Zeit vom 7.10.1949 (Gründung der DDR) bis 31.12.1990 gilt (Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt III Nr 18 Buchst c und d). Mit dem Gesetz zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften vom 20.6.2011 (BGBl I 1114) wurde diese Übergangsregelung sodann in das OEG übernommen (vgl § 10 S 5 OEG). Dies bedeutet: Entschädigung wird für im Gebiet der ehemaligen DDR vor dem 3.10.1990 erlittene Schädigungen aufgrund rechtswidriger tätlicher Angriffe nur dann gewährt, wenn die verletzte Person "allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt" und bedürftig ist sowie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des OEG hat. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
- 19
-
3. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 1, 10a OEG sind erfüllt. Die Feststellungen des LSG halten einer revisionsrichterlichen Überprüfung Stand. Die vom beklagten Land Brandenburg gerügte Sachverhaltsaufklärung und Beweiswürdigung sind - soweit revisionsrichterlich überprüfbar - nicht zu beanstanden.
- 20
-
a) Nach § 1 Abs 1 S 1 OEG erhält eine natürliche Person, die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Die Klägerin ist im Zeitraum von 1960 bis 1979 in Brandenburg Opfer von vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffen geworden. Das LSG ist vom Vorliegen der insoweit erforderlichen Tatsachen überzeugt, sodass dahingestellt bleiben kann, ob die Voraussetzungen von § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (Herabsetzung des Beweismaßes auf Glaubhaftmachung) vorliegen, und eine Glaubhaftmachung insoweit ausreichend gewesen wäre.
- 21
-
Das LSG hat seiner Überzeugungsbildung ein zutreffendes Begriffsverständnis vom Angriff in Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern zugrunde gelegt (vgl hierzu zuletzt BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20; BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 V 3/12 R - abrufbar unter Juris, jeweils mwN). Der Annahme einer Schädigung iS des § 1 OEG steht angesichts der missbrauchsbedingten Schwangerschaft hier nicht entgegen, dass die einzelnen Missbrauchshandlungen, die der Vater der Klägerin an dieser vorgenommen hat, im Übrigen zeitlich nicht mehr genau fixierbar waren und der Tathergang nicht mehr bis ins Detail rekonstruiert werden konnte.
- 22
-
Einschränkungen auf der Rechtsfolgenseite ergeben sich durch diese Ausnahme nicht. An die Feststellung eines detaillierten Geschehensablaufs sind versorgungsrechtlich keine Rechtsfolgen geknüpft. Der GdS bemisst sich nicht anhand des tätlichen Angriffs und dessen konkreter Ausgestaltung, sondern anhand der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung.
- 23
-
Das beklagte Land Brandenburg hat gegen die Feststellung des LSG, dass die Klägerin von ihrem Vater missbraucht worden ist, keine durchgreifenden Revisionsrügen vorgebracht. Das Tatsachengericht entscheidet gemäß § 128 Abs 1 S 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; es ist in seiner Beweiswürdigung frei und lediglich an die Regeln der Logik und der Erfahrung gebunden. Das dem Gericht insofern eingeräumte Ermessen kann das Revisionsgericht nur begrenzt überprüfen. Die Grenzen der freien Beweiswürdigung sind erst überschritten, wenn das Tatsachengericht gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstößt, aber auch, wenn es das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt (stRspr vgl zuletzt BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 1/14 R - mwN). Solche Mängel liegen hier nicht vor.
- 24
-
Das beklagte Land stützt seine Rüge einer Überschreitung der Grenzen freier Beweiswürdigung ausschließlich darauf, anhand der gutachterlichen Stellungnahmen sei kein Vollbeweis dahingehend zu führen, dass die Klägerin zwischen 1960 und 1979 sexuell missbraucht worden sei, insbesondere mit Blick darauf, dass diese Hypothese weder gemäß Gutachtensauftrag hinterfragt werden sollte, noch ernstlich durch die Gutachter hinterfragt und verifiziert worden sei. Damit zeigt das beklagte Land Brandenburg nicht auf, zu welchem Ergebnis die Beweiswürdigung des LSG hätte führen müssen. Auch hat es weder eine Verletzung von allgemeinen Erfahrungssätzen oder Denkgesetzen dargelegt noch ausgeführt, aus welchen Gründen das LSG das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt haben soll. Das LSG hat sich eingehend mit dem Sachverhalt, den Ergebnissen der eingeholten Sachverständigengutachten und den Aussagen der Gutachter in der mündlichen Verhandlung auseinandergesetzt. Es hat sich frei von Denkfehlern davon überzeugt, dass die Klägerin Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe iS des § 1 OEG geworden ist. Dabei hat es den angewandten Beweismaßstab des Vollbeweises unter Zugrundelegung der von ihm dargelegten Definition rechtlich zutreffend erkannt.
- 25
-
Die weiterhin erhobene Rüge des beklagten Landes Brandenburg, das LSG habe seine Pflicht zur Amtsermittlung (§ 103 SGG) verletzt, ist zulässig, aber unbegründet. Zwar bezeichnet das beklagte Land Brandenburg Tatsachen, die den Mangel einer unterlassenen Aufklärung ergeben können; es benennt konkrete Beweismittel und legt zumindest ansatzweise dar, zu welchem Ergebnis nach seiner Auffassung die für erforderlich gehaltenen Ermittlungen geführt hätten (§ 164 Abs 2 S 3 SGG). Eine Verletzung des § 103 SGG liegt jedoch nur vor, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, obwohl es sich ausgehend von seiner Rechtsauffassung zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen(stRspr vgl BSG Urteil vom 10.6.1975 - 9 RV 124/74 - BSGE 40, 49 = SozR 3100 § 30 Nr 7; BSG Beschluss vom 14.11.2013 - B 9 V 33/13 B - abrufbar unter Juris mwN). Daran fehlt es hier. Seit der Antragstellung im Dezember 2000 ist die Klägerin von insgesamt vier Sachverständigen begutachtet worden. Keiner der Gutachter hegte Zweifel an den von der Klägerin vorgetragenen Ereignissen in Brandenburg und Bayern. Hinsichtlich dieser Tatsachen stimmen alle Gutachter überein. Allein schon aus diesem Grunde und wegen der Tatsache, dass die Klägerin von ihrem Vater ein Kind bekommen hat, musste sich das LSG ausgehend von seiner Rechtsauffassung nicht zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen.
- 26
-
Das beklagte Land hat überdies seine Zweifel an den streitbefangenen Vergewaltigungen und den daran anknüpfenden Beweisantrag auch nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums vorgebracht. Die Beteiligten haben ihre Prozessführung entsprechend der Prozesslage an der Förderung des Verfahrens auszurichten. Diesem Gedanken trägt § 411 Abs 4 S 1 ZPO(iVm § 202 SGG) Rechnung, indem er den Beteiligten auch im sozialgerichtlichen Verfahren vorgibt, Einwendungen, Anträge und Fragen an Sachverständige rechtzeitig anzubringen (BT-Drucks 11/3621 S 41). Dies gilt unabhängig davon, ob das Gericht hierfür eine Frist gesetzt hat (§ 411 Abs 4 S 2 ZPO). Dementsprechend sind auch bei fehlender Fristsetzung rechtsmissbräuchlich gestellte Anträge auf Befragung bereits beauftragter Sachverständiger unerheblich (BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 2). Nicht anders verhält es sich in Bezug auf weitere Sachverständigengutachten. Das beklagte Land kam seiner Verpflichtung, Beweisanträge innerhalb angemessener Zeit zu stellen, nicht nach; erst nach mehr als zwölfjähriger Verfahrensdauer und mehrmaliger Erörterung und Verhandlung hegte es erstmals in der letzten mündlichen Verhandlung am 18.2.2014 Zweifel am gesamten Geschehensablauf. Es setzte sich durch dieses späte Vorbringen auch in Widerspruch zu seinem bisherigen Verhalten. Denn sowohl im Ablehnungsbescheid als auch im Widerspruchsbescheid hat das beklagte Land selbst zum Ausdruck gebracht, es sei glaubhaft, dass die Klägerin im Zeitraum von 1960 bis 1979 Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe iS des § 1 OEG geworden ist. Diese Tatsachen sind "unstreitig" gestellt worden. Zwar gilt auch im sozialgerichtlichen Verfahren der Amtsermittlungsgrundsatz. Die Pflicht zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen besteht jedoch nicht unbegrenzt. Tragen die Beteiligten übereinstimmend Tatsachen vor, die plausibel sind, müssen diese nicht zwingend vom Gericht angezweifelt und überprüft werden, wenn hierfür keine Anhaltspunkte bestehen. Ohne diese Beschränkung des Amtsermittlungsgrundsatzes wäre eine rationelle Erledigung des Verfahrens nicht möglich (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 103 RdNr 7a). Demnach kann das Vorbringen der Beteiligten sogar allein Entscheidungsgrundlage sein, etwa dann, wenn eine von einem Beteiligten mehrfach vorgetragene Tatsache vom anderen während des Verfahrens nicht bestritten wird (vgl BSG Urteil vom 3.6.2004 - B 11 AL 71/03 R -; Leitherer, aaO, § 103 RdNr 7a; siehe hierzu ebenfalls BSG Beschluss vom 15.8.1960 - 4 RJ 291/59 - SozR Nr 56 zu § 128 SGG).
- 27
-
Vor diesem Hintergrund hält auch die Vorgehensweise des LSG, kein psychologisches Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen, einer revisionsrichterlichen Überprüfung Stand. Hinsichtlich der vom LSG festgestellten und in der Sitzungsniederschrift vom 18.2.2014 im Einzelnen aufgeführten Schädigungen und Schädigungsfolgen (das LSG spricht auch von Gesundheitsstörungen) sind zulässige und begründete Verfahrensrügen nicht erhoben worden. Der erforderliche Zurechnungszusammenhang zwischen den schädigenden Ereignissen in Brandenburg und den gesundheitlichen Schädigungen (haftungsbegründende Kausalität) und den daraus resultierenden Schädigungsfolgen bzw Gesundheitsstörungen (haftungsausfüllende Kausalität) liegt nach den Feststellungen des LSG ebenfalls vor. Das LSG hat die haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität über den Bedingungszusammenhang im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne hinaus zutreffend an der Theorie der wesentlichen Bedingung (siehe hierzu BSG Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 6/13 R - SozR 4-7945 § 3 Nr 1) orientiert. Die in diesem Zusammenhang erhobene Rüge des beklagten Landes Brandenburg, das LSG habe seine Pflicht zur Amtsermittlung (§ 103 SGG) dadurch verletzt, dass es Alternativursachen für die psychischen Leiden der Klägerin nicht in Erwägung gezogen und entsprechend geprüft habe, greift nicht durch. Denn auch diesbezüglich musste sich das LSG nicht zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen.
- 28
-
b) Ebenso liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Härtefallregelung des § 10a Abs 1 OEG vor. Danach erhalten Personen, die in der Zeit vom 7.10.1949 bis 2.10.1990 in den neuen Bundesländern geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt, (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Dies ist hier der Fall.
- 29
-
Die Klägerin ist, wie das LSG bindend festgestellt hat, bedürftig iS des § 10a Abs 1 S 1 Nr 2 OEG. Sie hatte ihren Wohnsitz bzw gewöhnlichen Aufenthalt iS des § 10a Abs 1 S 1 Nr 3 OEG im Geltungsbereich dieses Gesetzes. Auch ist sie allein aufgrund des im Gebiet der ehemaligen DDR ihr gegenüber verübten Angriffs schwerbeschädigt.
- 30
-
Das Tatbestandsmerkmal "allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt" ist erfüllt, wenn sich die zu einer Schwerbeschädigung führende Schädigung im zeitlichen und räumlichen Erstreckungsbereich des OEG auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in der Zeit vom 7.10.1949 bis zum 2.10.1990 ereignet hat und diese schädigenden Ereignisse für sich betrachtet einen Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 50 und damit die "Schwerbeschädigteneigenschaft" (§ 1 Abs 1 S 1 OEG iVm § 31 Abs 2 BVG) erreichen.
- 31
-
Der Rechtsansicht des beklagten Landes Brandenburg, wonach die Schädigung ausschließliche Ursache für die vorliegenden Gesundheitsschäden sein müsse, ist nicht zu folgen. Denn Folge dieses engen Begriffsverständnisses wäre, dass an sich der Härtefallregelung unterfallende Schädigungen in Nachhinein wieder ausgeschlossen wären, die durch weitere Schädigungen nach dem Stichtag überlagert und beeinflusst werden (hier die in Bayern erlittene Vergewaltigung). Eine derart restriktive Auslegung ist mit dem Sinn und Zweck der Härtefallregelung des § 10a OEG nicht vereinbar. Ausweislich der Gesetzesbegründung liegt der Härtefallregelung des § 10a OEG die Erwägung zugrunde, dass bei Schwerbeschädigten in Anbetracht der Schwere ihrer Gesundheitsstörungen der Ausschluss von der Versorgung, wie es eine strikte Anwendung der Stichtagsregelung des § 10 S 1 OEG zur Folge hätte, unbillig erscheint(BT-Drucks 10/2103 S 5). Diesem Gesetzeszweck liefe es zuwider, wenn Schwerbeschädigte, deren Schädigungen durch weitere Schädigungen nach dem Stichtag überlagert und beeinflusst werden, allein aus diesem Grunde wieder aus der Härtefallregelung des § 10a OEG und damit aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes herauszunehmen wären. Ist schon nach dem Willen des Gesetzgebers die mit der Stichtagsregelung des § 10 S 1 OEG verbundene Herausnahme von Schwerbeschädigten aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes an sich unbillig, so gilt dies erst recht, wenn zu den bereits vorhandenen Schädigungen des Schwerbeschädigten noch weitere Schädigungen hinzutreten, gleichgültig ob diese nun zu einer Überlagerung der bereits vorhandenen Schädigungen führen oder nicht. Die Rechtsansicht des beklagten Landes Brandenburg würde demgegenüber zu einer nicht zu rechtfertigenden Schlechterstellung dieses Personenkreises führen.
- 32
-
4. Die Klägerin hat Anspruch auf Versorgung nach einem GdS von 80. Nach der Feststellung des LSG beläuft sich der durch den sexuellen Missbrauch in Brandenburg verursachte GdS der Klägerin unmittelbar vor der Vergewaltigung in Bayern bereits auf 70. Damit ist die Klägerin schwerbeschädigt iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG iVm § 31 Abs 2 BVG. Diese Feststellung ist für den Senat bindend (§ 163 SGG). Zulässige und begründete Verfahrensrügen sind gegen sie nicht erhoben worden.
- 33
-
Dass das LSG im Rahmen dieser Feststellung aus Vereinfachungsgründen ausschließlich den Begriff GdS verwendet, ist unerheblich. Durch das Gesetz zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13.12.2007 führte der Gesetzgeber ua in dem hier maßgeblichen § 30 Abs 1 BVG den Begriff GdS ein und ersetzte damit die traditionelle Beschreibung MdE zum 21.12.2007 (BGBl I 2904). Hätte das LSG demnach in zutreffender Weise bis zum 20.12.2007 den Begriff MdE verwendet, wäre das Urteil inhaltlich nicht anders ausgefallen.
- 34
-
Darüber hinaus liegt bei der Klägerin eine besondere berufliche Betroffenheit iS des § 30 Abs 2 BVG vor, dessen Ausmaß mit einem GdS von 10 zu bewerten ist. Diese Norm ist im Opferentschädigungsrecht entsprechend anwendbar.
- 35
-
Auf der Rechtsfolgenseite bestimmt § 1 Abs 1 S 1 OEG, dass wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG zu leisten ist. Dieser Verweis umfasst auch eine Erhöhung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nach § 30 Abs 2 BVG; eine Ausklammerung der Norm aus diesem Verweis bringt das Gesetz an keiner Stelle zum Ausdruck (dies als gegeben vorausgesetzt BSG Urteil vom 24.7.2002 - B 9 VG 5/01 R - abrufbar unter Juris; BSG Urteil vom 12.6.2003 - B 9 VG 1/02 R - BSGE 91, 107 = SozR 4-3800 § 1 Nr 3; noch Bedenken hegend BSG Urteil vom 18.10.1995 - 9 RV 18/94 - SozR 3-3100 § 30 Nr 14; sich ebenso für eine Anwendbarkeit der Norm aussprechend Gelhausen/Weiner, OEG, 6. Aufl 2015, § 10a RdNr 2; Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl 2012, § 10a OEG RdNr 5; Heinz, OEG, 2007, § 10a RdNr 9). Soweit nach Ansicht des beklagten Landes Brandenburg die Vorschrift des § 30 Abs 2 BVG bereits an sich auf das Recht der Kriegsopferversorgung beschränkt bleiben müsse, findet diese einschränkende Auslegung im geltenden Recht keine Stütze. Eine Erhöhung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nach § 30 Abs 2 BVG ist auch im Rahmen des OEG möglich.
- 36
-
Eine andere Ansicht lässt sich - entgegen der Auffassung des beklagten Landes - auch nicht aus der Gesetzesbegründung zur Härtefallregelung des § 10a OEG ableiten. Das Gegenteil ist der Fall. Denn ausweislich der Gesetzesbegründung ist die Härtefallregelung des § 10a OEG "auf Schwerbeschädigte (§ 30 Abs. 1 und 2 BVG) und Hinterbliebene beschränkt"(BT-Drucks 10/2103 S 5). Für die Bestimmung eines Schwerbeschädigten im Rahmen des § 10a OEG, einer Regelung aus dem OEG, nimmt der Gesetzgeber im Klammertext selbst auf § 30 Abs 2 BVG Bezug. Konsequenterweise ist die besondere berufliche Betroffenheit iS des § 30 Abs 2 BVG dann auch nicht in den Ausnahmetatbestand des § 10a Abs 5 OEG mit aufgenommen worden, obgleich der Gesetzgeber inzwischen mehrfach die Gelegenheit hierzu hatte.
- 37
-
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Versorgung ab dem 1.12.2000. Dies folgt aus § 60 Abs 1 S 1 BVG, der entsprechend über § 1 Abs 1 S 1 OEG anwendbar ist. Demnach beginnt die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind (also am Ersten dieses Monats), frühestens mit dem Antragsmonat.
- 38
-
Aus der Antragstellung beim beigeladenen Freistaat Bayern am 29.12.2000 folgt ein Versorgungsbeginn ab dem 1.12.2000. Da die Klägerin keine rückwirkende Leistungsgewährung begehrt, kann eine weitere Prüfung des § 60 Abs 1 S 2 und S 3 OEG dahinstehen. Soweit im Tenor des angefochtenen Urteils eine Beschädigtenversorgung bereits ab Oktober 2000 ausgesprochen ist, ist diese Rechtsfolge materiell-rechtlich zwar nicht von § 60 Abs 1 S 1 BVG gedeckt; aufgrund einer von der Klägerin abgegebenen Verzichtserklärung für die Monate Oktober und November 2000 ist sie jedoch obsolet.
- 39
-
5. Das beklagte Land Brandenburg ist gemäß § 4 Abs 1 S 1 OEG Schuldner des Versorgungsanspruchs und damit als materiell-rechtlich Verpflichteter passivlegitimiert. Dabei ist das beklagte Land Brandenburg für die Anerkennung und Feststellung der Schädigungsfolgen aus den Ereignissen in Brandenburg im Außenverhältnis zuständig und im Innenverhältnis Kostenträger (dazu a). Der erkennende Senat weist ergänzend darauf hin, dass der beigeladene Freistaat Bayern im Anschluss an diesen Rechtsstreit unter Berücksichtigung der Ereignisse in Bayern eine einheitliche Rente festzusetzen und dabei den für den Erstschaden in Brandenburg festgestellten GdS ohne erneute Prüfung seiner Beurteilung zugrunde zu legen hat (dazu b).
- 40
-
a) Nach § 4 Abs 1 S 1 OEG ist zur Gewährung der Versorgung das Land verpflichtet, in dem die Schädigung eingetreten ist. Der Regelungsinhalt des § 4 OEG ist ein Doppelter. Zum einen enthält die Norm entsprechend ihrer gesetzlichen Überschrift "Kostenträger" eine Regelung hinsichtlich der Kostenträgerschaft im Innenverhältnis als Aufteilung von finanziellen Lasten. Zum anderen enthält sie eine Regelung hinsichtlich der Zuständigkeit für die Gewährung von Leistungen (BT-Drucks 7/2506 S 16), also eine das Außenverhältnis betreffende Regelung der Verbandszuständigkeit. Das beklagte Land, in dem die Schädigung eingetreten ist, soll den Anspruch dem Grunde wie der Höhe nach verwaltungsmäßig feststellen und den Berechtigten in den Genuss der festgestellten Leistungen bringen, und zwar zu eigenen Lasten (BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1). Damit ist das beklagte Land Brandenburg zur Gewährung der vorliegend im Streit stehenden Versorgung verpflichtet.
- 41
-
b) Für die Anerkennung und Feststellung der aus der ersten Schädigung resultierenden Schädigungsfolgen ist das Land im Außenverhältnis zuständig und im Innenverhältnis Kostenträger, in dem die Erstschädigung eingetreten ist, hier das beklagte Land Brandenburg. Zuständig für die Festsetzung einer einheitlichen Rente ist das Land, das über die letzte Schädigung entscheidet, hier also der beigeladene Freistaat Bayern. Dieses Land hat den für den Erstschaden festgestellten GdS ohne erneute Prüfung seiner Beurteilung zugrunde zu legen. Dies folgt aus einer analogen Anwendung von § 4 Abs 4 OEG iVm § 3 Abs 1, § 4 Abs 1 S 1 OEG.
- 42
-
Für den Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen nach dem OEG aus verschiedenen Ländern kann eine Zuständigkeit nicht schon aus der unmittelbaren, wohl aber aus einer analogen Anwendung des § 4 Abs 4 OEG iVm § 3 Abs 1, § 4 Abs 1 S 1 OEG abgeleitet werden.
- 43
-
Nach § 4 Abs 4 OEG sind in den Fällen des § 3 Abs 1 OEG die Kosten, die durch das Hinzutreten der weiteren Schädigung verursacht werden, von dem Leistungsträger zu übernehmen, der für die Versorgung wegen der weiteren Schädigung zuständig ist. Dessen Zuständigkeit folgt aus den vorhergehenden Absätzen, also grundsätzlich aus § 4 Abs 1 S 1 OEG, womit das Land verpflichtet ist, in dem die Schädigung eingetreten ist. Diese Zuständigkeitsregelung muss dann in Zusammenschau mit § 3 Abs 1 OEG gelesen werden. Damit hat das für die weitere Schädigung zuständige Land im Ergebnis eine einheitliche Rente festzusetzen, die Kosten hierfür aber wegen § 4 Abs 4 OEG nur anteilig zu tragen.
- 44
-
Die in der Literatur vertretene abweichende Ansicht, aus § 4 Abs 4 OEG ergebe sich, dass das Land, in dem die weitere Schädigung eingetreten ist, nur über die Anerkennung und Feststellung der Schädigungsfolgen der weiteren Schädigung entscheide, dagegen für die Festsetzung der einheitlichen Rente das bisher zuständige Land zuständig bleibe(Sailer in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl 1992, § 4 OEG RdNr 3), ist abzulehnen. Dagegen spricht schon der Wortlaut des § 4 Abs 4 OEG, wonach die Kosten, die durch das Hinzutreten der weiteren Schädigung verursacht werden, von dem Leistungsträger zu übernehmen sind, der für die Versorgung wegen der weiteren Schädigung zuständig "ist". Zudem widerspricht diese Aufteilung der Zuständigkeiten dem Sinn und Zweck des § 3 Abs 1 OEG. Danach dient die Bildung einer einheitlichen Rente dem Ziel, eine sachgemäße, auf den Einzelfall zugeschnittene Ausgestaltung der Versorgungsleistungen zu erreichen. Diese individuelle Ausgestaltung lässt sich am besten erreichen, wenn das Land, in dem die weitere Schädigung eingetreten ist, auch für die Festsetzung der einheitlichen Rente zuständig ist. Hierfür spricht zum einen dessen Sachnähe und zum anderen die Tatsache, dass hinsichtlich der ersten Schädigung regelmäßig bereits eine Beschädigtenversorgung durch das zuständige Land rechtskräftig festgestellt wurde. Damit ist nur eine (Gesamt-)Entscheidung zu treffen, die die Anerkennung und Feststellung der Schädigungsfolgen der weiteren Schädigung beinhaltet. Soweit - wie im vorliegenden Fall - hinsichtlich der Erstschädigung ausnahmsweise noch keine Beschädigtenversorgung festgestellt wurde, rechtfertigt dies keine Durchbrechung der Zuständigkeiten im Einzelfall.
- 45
-
Für den Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen nach dem OEG kann § 4 Abs 4 OEG allerdings nicht direkt angewendet werden. Die Norm bezieht sich nur auf den in § 3 Abs 1 OEG unmittelbar geregelten Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen aus unterschiedlichen Gesetzen. Entsprechend seines eindeutigen und einer anderweitigen Auslegung nicht zugänglichen Wortlauts regelt § 3 Abs 1 OEG unmittelbar nur das Zusammentreffen von Ansprüchen aus unterschiedlichen Gesetzen. Für den Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen nach dem OEG aufgrund von mehreren Schädigungen in verschiedenen Bundesländern ist § 3 Abs 1 OEG jedoch analog anzuwenden. Es besteht eine planwidrige Gesetzeslücke und vergleichbare Interessenlage mit dem Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen aus unterschiedlichen Gesetzen. Die im Rahmen des § 3 Abs 1 OEG insoweit bestehende planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts führt zu einer solchen im Rahmen des sich hieran anknüpfenden § 4 Abs 4 OEG. Damit zieht die analoge Anwendung des § 3 Abs 1 OEG konsequenterweise eine analoge Anwendung des § 4 Abs 4 OEG nach sich(vgl hierzu insgesamt Rademacker, aaO, § 3 OEG RdNr 4; offenbar auch Schoreit/Düsseldorf, OEG, 1977, § 3 RdNr 2).
(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.
(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten.
Tenor
-
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 29. Januar 2015 wird zurückgewiesen.
-
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten über eine Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
- 2
-
Die 1949 geborene Klägerin wuchs im heutigen Land Sachsen auf. Im März 1991 und im Jahr 1992 berichtete sie gegenüber Ärzten von Misshandlungen im Stasigewahrsam. Im Oktober 1997 erstattete die Klägerin Strafanzeige wegen sexueller Nötigung in der Zeit vom 9.1989 durch ihren damaligen Vorgesetzten. Die zuständige Staatsanwaltschaft Dresden stellte das Ermittlungsverfahren gemäß § 170 Abs 2 Strafprozessordnung ein, die hiergegen gerichtete Beschwerde blieb erfolglos.
- 3
-
Im Juni 1999 beantragte die Klägerin beim Versorgungsamt B. eine Versorgung nach dem OEG wegen "Folter, Misshandlung und Vergewaltigung" im K.-Gefängnis in K. während eines Aufenthaltes in der Zeit vom 9.1989 durch ihren damaligen Vorgesetzten und andere unbekannte Täter. An Schädigungsfolgen seien ua psychosomatische Folgen und Zahnverlust eingetreten. Das Versorgungsamt B. lehnte Ansprüche nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) ab; das zuständige Versorgungsamt C. lehnte sodann den OEG-Antrag der Klägerin ab (Bescheid vom 22.4.2003; Widerspruchsbescheid vom 12.1.2004).
- 4
-
Im anschließenden Klageverfahren hat das SG ua eine Begutachtung der Klägerin durch die Psychiaterin und Neurologin Dr. S. veranlasst. Die Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass die Erlebnisse, welche die Klägerin in der Haft habe erleben müssen, so schwerwiegend gewesen seien, dass sie bei den vorliegenden Vorbelastungen (angegebener sexueller Missbrauch in der Kindheit durch einen Großonkel) die andauernde Persönlichkeitsveränderung der Klägerin mit verursacht oder sogar allein ausgelöst hätten (Gutachten vom 12.12.2007). Das SG hat ferner Beweis erhoben durch Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens (sog Glaubhaftigkeitsgutachten)der psychologischen Psychotherapeutin Dipl.-Psych. Sch. Diese erklärte, dass die behauptete Aussage der Klägerin mit Hilfe der aussagepsychologischen Methodik nicht verifiziert werden könne. Es zeigten sich Mängel im Hinblick auf die Konstanz der Aussage der Klägerin und Hinweise auf fremd- und autosuggestive Einflüsse. Weder die Täuschungs- noch die Suggestionshypothese könne zurückgewiesen werden (Gutachten vom 12.5.2010). Auf Antrag der Klägerin hat das SG schließlich eine Begutachtung der Klägerin durch den Psychiater und Neurologen Dr. St. veranlasst. Dieser erklärte im Wesentlichen, dass eine suggestive Beeinflussung der Erinnerungen der Klägerin nicht ausgeschlossen werden könne, sondern angesichts der Persönlichkeit der Klägerin und der Befragungsumstände als sehr wahrscheinlich anzunehmen sei. Die Klägerin könne die Angaben über die Stasihaft und die dort erlittenen Vergewaltigungen und Misshandlungen - wie auch die Angaben zum sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit - in dieser Form auch ohne einen Erlebnisbezug berichten (Gutachten vom 31.12.2012).
- 5
-
Das SG hat die seit 1.8.2008 gegen den beklagten Sozialverband als Funktionsnachfolger gerichtete Klage abgewiesen, weil es der Klägerin nicht gelungen sei, glaubhaft zu machen, dass sie Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 OEG geworden sei. Aus den Gutachten der Sachverständigen Sch. und Dr. St. ergebe sich, dass die Angaben der Klägerin nicht geeignet seien, eine Glaubhaftmachung iS des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) zu begründen(Urteil vom 19.4.2013).
- 6
-
Im Berufungsverfahren hat das LSG zwei aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. G. vom 14.8.2014 und 14.10.2014 aus den Verfahren vor dem LSG zu den Az L 10 VE 34/13 ZVW und L 10 VE 28/11 in den Rechtsstreit eingeführt und die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die von der Klägerin behauptete Folter sowie der sexuelle Missbrauch im K.-Gefängnis in K. seien nicht nachgewiesen, unmittelbare Tatzeugen nicht vorhanden. Das Vorliegen der Taten lasse sich auch nicht unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung der Glaubhaftmachung annehmen. Die Angaben der Klägerin könnten nicht positiv durch aussagepsychologische Begutachtung verifiziert werden. Anlass zur Einholung eines weiteren Glaubhaftigkeitsgutachtens, welches unter Abfassung entsprechender Beweisfragen dem besonderen Beweismaßstab der Glaubhaftmachung Rechnung tragen solle, bestehe nicht. Denn das LSG habe in den Rechtsstreiten L 10 VE 34/13 ZVW und L 10 VE 28/11 Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. G. unter besonderer Berücksichtigung von § 15 KOVVfG eingeholt und in den vorliegenden Rechtsstreit eingeführt. Danach könne die vom BSG in seiner Rechtsprechung vom 17.4.2013 erhobene Forderung der besonderen Berücksichtigung des § 15 KOVVfG von aussagepsychologischen Gutachten nicht eingelöst werden(Urteil vom 29.1.2015).
- 7
-
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Das LSG habe seine Entscheidung unter Bezugnahme auf zwei Gutachten getroffen, die den Anforderungen, welche das BSG bisher an sog Glaubhaftigkeitsgutachten in OEG-Verfahren gestellt habe, nicht entsprächen. Unter Vorlage einer ergänzenden schriftlichen Stellungnahme, Benennung eines weiteren Zeugen und Vorlage einer Urkunde rügt die Klägerin darüber hinaus, das LSG habe den Sachverhalt unzureichend aufgeklärt und sie nicht zu vermeintlichen Widersprüchen (schriftlich) angehört. Es habe sie trotz fehlender finanzieller Mittel auch nicht persönlich zur mündlichen Verhandlung geladen.
- 8
-
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 29. Januar 2015 und das Urteil des SG Hildesheim vom 19. April 2013 sowie den Bescheid des Beklagten vom 22. April 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2004 aufzuheben und
den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG zu gewähren.
- 9
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
- 10
-
Er verweist auf die Ausführungen des LSG, die er für zutreffend hält.
Entscheidungsgründe
- 11
-
Die Revision der Klägerin ist zulässig, aber unbegründet (§ 170 Abs 1 S 1 SGG).
- 12
-
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 22.4.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.1.2004 und der Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente nach den Vorschriften des OEG iVm dem BVG. Diesen verfolgt die Klägerin zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4, § 56 SGG; vgl BSG Urteil vom 18.11.2015 - B 9 V 1/14 R - BSGE
, SozR 4, Juris RdNr 12; BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20) , gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils iS des § 130 Abs 1 SGG.
- 13
-
Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Klägerin ihre ursprüngliche kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage vor dem LSG auf eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage umgestellt hat. Hierin liegt mangels einer Änderung des Klagegrundes eine nach § 99 Abs 3 SGG uneingeschränkt zulässige Antragsänderung(vgl BSG Urteil vom 7.6.1979 - 12 RK 13/78 - BSGE 48, 195, 196 = SozR 2200 § 394 Nr 1 S 1 zum Übergang von der Leistungs- zur Feststellungsklage; BSG Urteil vom 12.8.2010 - B 3 KR 9/09 R - SozR 4-2500 § 125 Nr 6 zum Übergang von der Feststellungs- zur Leistungsklage).
- 14
-
Der beklagte Kommunalverband ist passiv legitimiert. Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass bereits während des Klageverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes im Sinne einer Funktionsnachfolge stattgefunden hat. Denn durch das Sächsische Verwaltungsneuordnungsgesetz (SächsVwNG) vom 29.1.2008 (SächsGVBl Nr 3/2008, S 137 ff) und das Gesetz zur Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes und weiterer sozialer Entschädigungsgesetze (SächsDGBVG) vom selben Tag ging die Zuständigkeit für die Gewährung der Leistungen nach dem OEG iVm dem BVG seit dem 1.8.2008 auf den Kommunalen Sozialverband S. über. Diese Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Opferentschädigung verstößt nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG (vgl - zur ähnlichen Übertragung im Rahmen einer Funktionsnachfolge auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW - BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 23 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 23, jeweils unter Hinweis auf Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21 und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 99 RdNr 6a mwN). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann.
- 15
-
2. Die Revision der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg. Das LSG hat auf der Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen, weil die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Beschädigtenrente nicht erfüllt (3.). Die tatsächlichen Feststellungen des LSG sind für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG), denn sie halten einer revisionsrichterlichen Überprüfung stand. Die von der Klägerin gerügte Beweiswürdigung (4.) und Sachaufklärung (5.) sind - soweit revisionsrichterlich überprüfbar - nicht zu beanstanden, auch soweit die Klägerin im Revisionsverfahren ergänzend zu ihrem beruflichen Werdegang vorträgt, einen weiteren Zeugen benennt und zu Beweiszwecken eine Urkunde vorlegt.
- 16
-
3. Die Klägerin hat nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG.
- 17
-
a. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch aus einer auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vor dem 3.10.1990 begangenen rechtswidrigen Tat ist § 1 iVm § 10a OEG. Nach § 1 Abs 1 S 1 OEG erhält Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat(zu den allgemeinen Tatbestandsmerkmalen s auch BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN).
- 18
-
In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind und im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
- 19
-
Seit dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland gilt das OEG auch in den neuen Bundesländern. Bei Gewalttaten, die im Gebiet der ehemaligen DDR vor dem 3.10.1990 begangen worden sind, richtet sich der Anspruch auf Versorgung nach der Härtefallregelung des § 10a OEG. Danach erhalten auch Personen, die in dem in Art 3 des Vertrages zwischen der BRD und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) genannten Gebiet (den sog neuen Bundesländern) ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben oder zum Zeitpunkt der Schädigung hatten, Versorgung nach Maßgabe des § 10a Abs 1 S 1 OEG, wenn die Schädigung in der Zeit vom 7.10.1949 bis zum 2.10.1990 in dem vorgenannten Gebiet eingetreten ist (§ 10 S 2 OEG).
- 20
-
b. Nach den Feststellungen des LSG liegen jedoch die Voraussetzungen für eine Versorgung nach dem OEG nicht vor, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 1 Abs 1 S 1 OEG nicht erfüllt sind.
- 21
-
Gemäß § 1 Abs 1 S 1 OEG(idF vom 11.5.1976, BGBl I 1181) erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Die erlittene Schädigung muss keine physische Beeinträchtigung sein. Vielmehr sind auch psychische Gesundheitsschäden geeignet, einen Anspruch nach dem OEG zu begründen, jedoch müssen sie auf einen "tätlichen Angriff" zurückzuführen sein. Insoweit ist entscheidend, ob der Primärschaden und eventuelle Folgeschäden gerade die zurechenbare Folge einer körperlichen Gewaltanwendung gegen eine Person sind (BSG Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R - BSGE 118, 63 = SozR 4-3800 § 1 Nr 21).
- 22
-
Die Klage ist unbegründet, weil ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff nicht nachgewiesen ist.
- 23
-
c. Der Senat hat für den Begriff "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich auf eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung abgestellt (BSG Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R - aaO; Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN; Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 14 mwN). Dabei ist zwar einerseits die Rechtsfeindlichkeit entscheidend, die vor allem als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz verstanden wird; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit mit Rücksicht auf den das OEG prägenden Gedanken des lückenlosen Opferschutzes weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 27 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 28, jeweils unter Hinweis auf BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Andererseits genügt es nicht, dass die Tat gegen eine Norm des Strafgesetzes verstößt, denn die Verletzungshandlung im OEG ist nach dem Willen des Gesetzgebers eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das StGB geregelt (vgl BT-Drucks 7/2506 S 10). Die Auslegung des Begriffs des "tätlichen Angriffs" orientiert sich jedoch an der im Strafrecht zu den §§ 113, 121 StGB gewonnenen Bedeutung(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - aaO, RdNr 32 mwN). Wesentlich ist die grundlegende gesetzgeberische Entscheidung, dass durch die Verwendung des Begriffs des tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG der allgemeine Gewaltbegriff im strafrechtlichen Sinn begrenzt und grundsätzlich eine Kraftentfaltung gegen eine Person erforderlich sein soll(vgl BT-Drucks 7/2506 S 10).
- 24
-
Die von der Klägerin behaupteten Ereignisse im K.-Gefängnis in K. in der Zeit vom 9.1989 wären zwar grundsätzlich geeignet einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG darzustellen. Diese sind jedoch zur Überzeugung des LSG nicht glaubhaft.
- 25
-
d. Der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG besteht aus drei Merkmalen (vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff - sog schädigender Vorgang -, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang (Kausalität) miteinander verbunden sind. Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt die Wahrscheinlichkeit (§ 1 Abs 1 S 1 OEG iVm § 1 Abs 3 BVG). Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind der Entscheidung hinsichtlich des schädigenden Vorgangs die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind und wenn die Angaben des Antragstellers nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
- 26
-
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr 3b mwN). Das bedeutet, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können und verbleibende Restzweifel bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 33 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 34 ; BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21 ). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4; BSG Urteil vom 5.5.2009 - B 13 R 55/08 R - BSGE 103, 99, 104).
- 27
-
Eine Wahrscheinlichkeit iS des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt (BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 34 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 35; aA Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr 3c).
- 28
-
Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 35 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 36 ), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 35 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 36 ), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss eine den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG ; vgl BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 35 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 36; BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).
- 29
-
e. Die von der Klägerin behaupteten körperlichen Misshandlungen im K.-Gefängnis sind nicht nachgewiesen im Sinne einer Glaubhaftmachung. Das LSG ist auf Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen zu dem Ergebnis gekommen, dass unmittelbare Tatzeugen für die von der Klägerin behaupteten Ereignisse im K.-Gefängnis in der Zeit vom 9.1989 nicht vorhanden sind. Der von der Klägerin in erster Linie beschuldigte Vorgesetzte hat die Vorwürfe bestritten. Weitere Täter hat die Klägerin nicht namentlich benannt und konnten auch nicht ermittelt werden. Auch sind keine sonstigen Beweismittel (zB Urkundsbeweise, Zeugen) vorhanden, die das Vorbringen der Klägerin entweder stützen oder widerlegen könnten.
- 30
-
Auf Grundlage dieser Feststellungen durfte das LSG zu Recht die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG für anwendbar halten. Denn die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46; zuletzt BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 41 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 39 ). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO ) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl bereits BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6; BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 41 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 39 ).
- 31
-
Hiervon ausgehend hat das LSG jedoch die Angaben der Klägerin über einen körperlichen und sexuellen Missbrauch im K.-Gefängnis im September 1989 als nicht glaubhaft erachtet.
- 32
-
4. Diese Beurteilung hält einer revisionsrichterlichen Überprüfung stand. Die von der Klägerin gerügte Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) und Sachaufklärung (§§ 103, 106 SGG) durch das LSG sind nicht zu beanstanden.
- 33
-
Das Tatsachengericht entscheidet gemäß § 128 Abs 1 S 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; es ist in seiner Beweiswürdigung frei und lediglich an die Regeln der Logik und der Erfahrung gebunden. Das dem Gericht insofern eingeräumte Ermessen kann das Revisionsgericht nur begrenzt überprüfen. Die Grenzen der freien Beweiswürdigung sind erst überschritten, wenn das Tatsachengericht gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstößt, aber auch, wenn es das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt (stRspr; vgl etwa schon BSG Beschluss vom 8.7.1958 - 8 RV 1345/57 - SozR Nr 34 zu § 128 SGG; BSG Beschluss vom 15.8.1960 - 4 RJ 291/59 - SozR Nr 56 zu § 128 SGG; zuletzt auch BSG Urteil vom 18.11.2015 - B 9 V 1/14 R - BSGE
, SozR 4-3800 § 1 Nr 22; BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 1/14 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 21 mwN).
- 34
-
Diese Grenzen hat das LSG eingehalten, es hat sich eingehend mit dem Sachverhalt, den Verfahrens- und den beigezogenen Akten, den Ergebnissen der vom SG eingeholten Sachverständigengutachten und den von ihm in den Rechtsstreit eingeführten Sachverständigengutachten aus anderen OEG-Verfahren auseinandergesetzt. Es hat das Gesamtergebnis des Verfahrens ausreichend und umfassend berücksichtigt und sich frei von Denkfehlern davon überzeugt, dass die Klägerin nicht nachweislich Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 OEG geworden ist. Dabei hat es die von ihm angewandte Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG rechtlich zutreffend erkannt. Die Einwände der Klägerin gegen die Verwertung der vom SG eingeholten Sachverständigengutachten greifen nicht durch.
- 35
-
a. Die Einholung und Berücksichtigung aussagepsychologischer Gutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht zulässig nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten ( BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 44 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 42 ).
- 36
-
Auch spricht grundsätzlich nichts dagegen, dass ein Berufungsgericht nicht selbst ein aussagepsychologisches Gutachten über den Kläger bzw die Klägerin einholt, sondern für seine Entscheidung Glaubhaftigkeitsgutachten verwertet, welche die Vorinstanz - wie hier geschehen (§ 106 Abs 3 Nr 5 und § 109 Abs 1 S 1 SGG) - im Klageverfahren eingeholt hat. Liegen bereits Gutachten von ärztlichen Sachverständigen desselben Fachgebiets als Beweismittel vor, bedarf es unter Berücksichtigung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG)grundsätzlich keiner weiteren Sachaufklärung in dieser Richtung. Anders verhält es sich, wenn die vorliegenden Gutachten schwere Mängel aufweisen, in sich widersprüchlich sind, von unzutreffenden Voraussetzungen ausgehen oder Zweifel an der Sachkunde oder Sachlichkeit des Sachverständigen erwecken (vgl etwa BSG Beschluss vom 24.3.2005 - B 2 U 368/04 B - Juris RdNr 5 ; BSG Beschluss vom 16.2.2012 - B 9 V 17/11 B - Juris RdNr 13 ) oder wenn wesentliche Veränderungen in dem bereits begutachteten Lebenssachverhalt eingetreten sind (zB Verschlimmerung von gesundheitlichen Leiden, vgl BSG Beschluss vom 24.4.2014 - B 13 R 325/13 B - Juris).
- 37
-
Für derartige Mängel oder Veränderungen liegen betreffend die Gutachten der Sachverständigen Sch. und Dr. St. keinerlei Anhaltspunkte vor. Insbesondere geht die Rüge der Klägerin, dass die Gutachten nicht verwertbar seien, weil das SG die Sachverständigen nicht auf den geltenden Beweismaßstab (§ 15 S 1 KOVVfG) hingewiesen und ihnen keine Angaben zur relativen Wahrscheinlichkeit eines Erlebnisbezuges abverlangt hat, ins Leere.
- 38
-
b. Allerdings hat der Senat einen Hinweis auf den nach § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab gegenüber dem Sachverständigen in seinen Entscheidungen vom 17.4.2013 (B 9 V 1/12 R, B 9 V 3/12 R, s unten) für notwendig erachtet.
- 39
-
Aus dem Umstand, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, hat der Senat gefolgert, dass ein Gericht den Sachverständigen eines aussagepsychologischen Gutachtens auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären hat, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten könne. Im Rahmen der Beweisfragen müsse darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden könnten. Der Senat ist insoweit davon ausgegangen, dass es erforderlich ist, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergebe ( BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 57 ff und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 55 ff).
- 40
-
c. An diesem Erfordernis der Berücksichtigung des Beweismaßstabes nach § 15 S 1 KOVVfG bei der Erstellung eines aussagepsychologischen Gutachtens hält der Senat nach nochmaliger Überprüfung nicht mehr fest. In Verfahren über eine Gewaltopferentschädigung bedarf es keines besonderen Hinweises an den Sachverständigen auf den Beweismaßstab der Glaubhaftmachung.
- 41
-
Aussagepsychologische Gutachten können im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens nach dem OEG - gleich wie in anderen Rechtsstreitigkeiten, in denen es wesentlich auf die Aussage eines Beteiligten oder Zeugen ankommt - von Bedeutung sein. Denn Gegenstand eines solchen Gutachtens ist die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Diese Frage stellt sich nicht nur in strafgerichtlichen Verfahren. Eine solche Beurteilung zählt an sich zu den ureigenen Aufgaben eines Tatrichters; sie gehört seit jeher zum Wesen richterlicher Rechtsfindung (BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 16.12.2002 - 2 BvR 2099/01 - Juris RdNr 13). Daher kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 45 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 43, mit Verweis auf BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22 ). Der Richter selbst hat bei der Beweiswürdigung Erfahrungsregeln zu beachten, die ua aus aussagepsychologischen Untersuchungen gewonnen wurden (BVerfG Stattgebender Kammerbeschluss vom 30.4.2003 - 2 BvR 2045/02 - NJW 2003, 2444 - Juris RdNr 37). Allerdings kann die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 45 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 43, mit Verweis auf BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6 ; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9 = Juris RdNr 22).
- 42
-
Damit ein aussagepsychologisches Gutachten im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens nach dem OEG verwertet werden kann, muss es sachgerecht erstellt sein. Dies zu gewährleisten, ist in erster Linie Aufgabe des Tatrichters, beispielsweise durch die Wahl eines geeigneten Sachverständigen, durch die Formulierung der Beweisfragen und durch die Prüfung des erstellten Gutachtens. Soweit der Senat in seinen Entscheidungen vom 17.4.2013 (B 9 V 1/12 R, B 9 V 3/12 R) aber noch angenommen hat, dass es im Rahmen der Beweisanordnung eines gerichtlichen Hinweises an den Sachverständigen auf den Beweismaßstab des § 15 S 1 KOVVfG und der Klärung bedürfe, ob der Sachverständige sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten könne, wird diese Auffassung nicht aufrechterhalten.
- 43
-
Dies ist im Wesentlichen auf die Möglichkeiten und Grenzen einer aussagepsychologischen Begutachtung zurückzuführen. Die zugrunde liegenden Tatsachen können vom Senat als generelle Tatsachen (vgl hierzu zB BSGE 112, 257 - SozR 4-2500 § 137 Nr 2 RdNr 4 mwN; Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 163 RdNr 20, 21) anhand der Darstellungen der Sachverständigen Prof. Dr. G. in den vom LSG in den Rechtsstreit eingeführten Gutachten selbst bewertet werden. Deren Expertise auf dem Gebiet der Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist allgemein anerkannt und wird auch von den Beteiligten nicht in Frage gestellt. Die Glaubhaftigkeitsbegutachtung kann danach keine Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben ( Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49 ; vgl auch BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 46 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 44). Die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist eine Methode zur Substantiierung des Erlebnisgehaltes einer Aussage. Im positiven Fall können aussagepsychologische Gutachten Zweifel an der Erlebnisbasis und Zuverlässigkeit einer konkreten Aussage zurückweisen. Dies geschieht durch die Bildung von Alternativhypothesen, dh Konkurrenzannahmen zur Erlebnishypothese, und deren Zurückweisung als unsubstantiiert. Aufgabe des aussagepsychologischen Sachverständigen ist es, auf den Einzelfall bezogene Alternativhypothesen zur Erlebnishypothese darzustellen und durch deren Prüfung erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt, zu treffen. Dadurch vermittelt er dem Gericht auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung ( BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 46 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 44 mit Verweis auf Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f).
- 44
-
Im Gegensatz dazu obliegt die anschließende umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen dem Gericht (so schon BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 46 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 44). Die Feststellung, ob die Aussage eines Gewaltopfers bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten relativ am wahrscheinlichsten ist, obliegt allein der richterlichen Beweiswürdigung. Insofern unterscheiden sich aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsgutachten nicht von Sachverständigengutachten in anderen, zB medizinischen, Gebieten. Dort, wo dem Gericht eigene Sachkunde fehlt, zB bei der Feststellung einzelner Gesundheitsstörungen, zieht es ärztliches Fachwissen heran. Anschließend ist es grundsätzlich Aufgabe des Tatsachengerichts, ausgehend von einem bestimmten Rechtsstandpunkt eine Beweiswürdigung anhand der feststehenden, zB medizinischen, Tatsachen vorzunehmen (stRspr, vgl BSG Urteil vom 29.1.1956 - 2 RU 121/56 - BSGE 4, 147, 149 f; BSG Urteil vom 9.10.1987 - 9a RVs 5/86 - BSGE 62, 209, 212 ff = SozR 3870 § 3 Nr 26, S 83 f; BSG Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 10; zuletzt BSG Beschluss vom 21.3.2016 - B 9 SB 81/15 B - Juris RdNr 6, RegNr 32076 - BSG-Intern).
- 45
-
Aus diesen Gründen bedarf es keines Hinweises des Gerichts an den aussagepsychologischen Sachverständigen auf den Beweismaßstab des § 15 S 1 KOVVfG. Aussagepsychologische Gutachten sind von ihrer Logik her nicht darauf ausgerichtet, die differentielle Wahrscheinlichkeit von alternativen Hypothesen zu prüfen (G., Gutachten idS L 10 VE 28/11, S 25 = Prozessakte S 948). Von einem aussagepsychologischen Sachverständigen dennoch eine derartige Prüfung zu verlangen, hieße, diesen in seiner Sachkompetenz zu überfordern. Vielmehr darf dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprechen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhen ( BSG Urteile vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, SozR 4-3900 § 15 Nr 1 - Juris RdNr 47 und - B 9 V 3/12 R - Juris RdNr 45 mit Verweis auf LSG NRW Urteil vom 28.11.2007 - L 10 VG 13/06 - Juris RdNr 25 aE). Die Würdigung der eingeholten Sachverständigengutachten - hier der auf den Einzelfall bezogenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Aussagetüchtigkeit der begutachteten Person sowie der Qualität und der Zuverlässigkeit ihrer Aussage - ist hingegen ureigene tatrichterliche Aufgabe (zu medizinischen Tatsachen vgl BSG Beschluss vom 11.3.2016 - B 9 V 3/16 B - Juris RdNr 6, RegNr 32065 - BSG-Intern). Selbst wenn ein Sachverständiger Vorschläge zur rechtlichen Bewertung der von ihm sachkundig festgestellten Tatsachen macht, sind die Gerichte an diese nicht gebunden(zu medizinischen Tatsachen vgl BSG Beschluss vom 21.3.2016 - B 9 SB 81/15 B - Juris RdNr 6, RegNr 32076 - BSG-Intern). Daher ist auch eine entsprechende Fragestellung im Rahmen der Beweisanordnung nicht erforderlich.
- 46
-
Zwar ist es möglich, dass sich im Rahmen der Glaubhaftigkeitsbegutachtung eine oder mehrere Konkurrenzannahmen zur Erlebnishypothese nicht zurückweisen lassen und (mindestens) ebenso wahrscheinlich sind wie ein Erlebnisbezug der Aussage. Weil aber aussagepsychologische Sachverständige keine relative Wahrscheinlichkeit der Aussagen feststellen (können), muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines Glaubhaftigkeitsgutachtens (dh Zweifel am Erlebnisbezug der Aussage können nicht ausgeschlossen werden) nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können. Diesen Unterschied im Rahmen der Beweiswürdigung zu beachten, ist richterliche Aufgabe.
- 47
-
Vor diesem Hintergrund ist es unschädlich, dass das SG die Sachverständigen S. und Dr. St. nicht auf den § 15 S 1 KOVVfG hingewiesen und das LSG kein weiteres aussagepsychologisches Gutachten über die Klägerin eingeholt hat. Dies gilt auch in Ansehung der sinngemäßen Rüge der Klägerin, dass die vom SG beauftragten Sachverständigen keine Angaben dazu gemacht haben, ob ihre Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können, obwohl dies "einem Psychologen aufgrund seiner Qualifikation und seiner Erfahrung möglich sein" müsse. Entgegen dem Revisionsvorbringen ist insoweit - wie oben ausgeführt - zu unterscheiden zwischen der Begutachtung zum Zwecke der Beweiserhebung einerseits und der richterlichen Beweiswürdigung andererseits.
- 48
-
d. Schließlich hat das LSG auch den von § 15 S 1 KOVVfG eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung nicht verkannt. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG zwar auch auf die aussagepsychologischen Gutachten der Sachverständigen Sch. und Dr. St. gestützt. Beiden Gutachten kam der bzw die jeweilige Sachverständige zu dem Ergebnis, dass die Nullhypothese des fehlenden Erlebnisbezuges nicht zurückgewiesen werden konnte, dh dass die Klägerin die Angaben in Bezug auf den vorgetragenen sexuellen Missbrauch im K.-Gefängnis auch ohne einen Erlebnisbezug berichten könne. Jedoch hat das LSG das Ergebnis der aussagepsychologischen Gutachten in seiner Entscheidung nicht unkritisch übernommen und seine eigene Beurteilung der Aussagen der Klägerin im Rahmen der aussagepsychologischen Begutachtungen in der Zusammenschau mit dem übrigen Akteninhalt zum Kern seiner Entscheidung gemacht. Das LSG hat seine Überzeugung, dass die Behauptung der Klägerin, sie sei im September 1989 im K.-Gefängnis sexuell missbraucht und gefoltert worden, nicht glaubhaft sei, auf "seine eigene Überzeugung" gestützt, die es sich "aus den gesamten vorliegenden Unterlagen gebildet hat sowie ergänzend auf die Ausführungen der Sachverständigen Dipl.-Psych. Sch. in ihrem Gutachten vom 12. Mai 2010 und Dr. St. vom 31.12.2012" (s S 18 f des Urteils). Folglich hat das LSG seine Auffassung von der fehlenden Glaubhaftigkeit der Behauptungen der Klägerin nicht allein auf Grundlage der Ergebnisse der beiden aussagepsychologischen Gutachten über die Klägerin gebildet, sondern hat eine freie und umfassende Beweiswürdigung vorgenommen.
- 49
-
5. Soweit die Klägerin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§§ 103, 106 SGG) des LSG darin sieht, dass dieses sie zur Widersprüchlichkeit ihrer Angaben weder schriftlich angehört noch zur mündlichen Verhandlung persönlich geladen habe, dringt sie damit nicht durch. Eine Verletzung der §§ 103, 106 SGG liegt nur vor, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, obwohl es sich ausgehend von seiner Rechtsauffassung zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen(stRspr vgl zB BSG Urteil vom 10.6.1975 - 9 RV 124/74 - BSGE 40, 49 = SozR 3100 § 30 Nr 7). Daran fehlt es hier. Das LSG durfte insbesondere die Feststellungen aus dem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren zum beruflichen Werdegang der Klägerin übernehmen (vgl BSG Urteil vom 22.6.1988 - 9/9a RVg 3/87 - BSGE 63, 270, 273 = SozR 1500 § 128 SGG Nr 34, S 31 ). Selbst wenn diese Wiedergabe ungenau oder in Teilen unzutreffend sein sollte, hat die Klägerin nicht hinreichend dargelegt, inwiefern die Entscheidung des LSG darauf - revisionsrechtlich relevant - beruhen sollte. Das Vorbringen der Klägerin im Zusammenhang mit ihrem beruflichen Werdegang stellt allenfalls ein von den tatsächlichen Feststellungen des LSG abweichendes tatsächliches Vorbringen dar, nicht aber eine durchgreifende Verfahrensrüge. Abweichenden Sachvortrag in der Revisionsinstanz kann der Senat nicht berücksichtigen (BSG Urteil vom 25.4.2002 - B 11 AL 89/01 R - BSGE 89, 250, 252 = SozR 3-4100 § 119 Nr 24; Urteil vom 11.3.1970 - 3 RK 25/67 - BSGE 31, 63, 65 = SozR Nr 17 zu § 3 AVG). Nichts anderes gilt hinsichtlich der dem LSG im Übrigen zahlreich vorliegenden aktenkundigen Aussagen der Klägerin aus den Jahren seit 1997 gegenüber verschiedenen Ärzten, Behörden und Gerichten, die sowohl voneinander als auch von den Inhalten der aktenkundigen Urkunden abweichen. Soweit die Klägerin einen weiteren Zeugen benennt und zu Beweiszwecken eine Urkunde vorlegt, musste der Senat dies auch nicht ausnahmsweise berücksichtigen, etwa zur Vermeidung eines Wiederaufnahmeverfahrens (vgl BSGE 18, 186 = SozR Nr 6 zu § 179 SGG).
- 50
-
Soweit die Klägerin sinngemäß eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör darin sehen sollte, dass das LSG sie zur Widersprüchlichkeit ihrer Angaben weder schriftlich angehört noch zur mündlichen Verhandlung persönlich geladen habe, so dringt sie auch hiermit nicht durch. Der in §§ 62, 128 Abs 2 SGG konkretisierte Anspruch auf rechtliches Gehör(Art 101 Abs 1 GG) soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht haben äußern können (vgl BSG Urteil vom 23.5.1996 - 13 RJ 75/95 - SozR 3-1500 § 62 Nr 12; BVerfG Beschluss vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfG Beschluss vom 19.7.1967 - 2 BvR 639/66 - BVerfGE 22, 267, 274; BVerfG Urteil vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205, 216 f). In diesem Rahmen besteht jedoch keine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage ( BSG Urteil vom 16.3.2016 - B 9 V 6/15 R - vorgesehen für SozR 4). Auch besteht weder eine Pflicht des Gerichts, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage im Rahmen der mündlichen Verhandlung bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen, noch dies bereits vor der mündlichen Verhandlung im Rahmen eines richterlichen Hinweises zu tun. Denn das Gericht kann und darf das Ergebnis der Entscheidung, die in seiner nachfolgenden Beratung erst gefunden werden soll, nicht vorwegnehmen ( BSG Urteil vom 16.3.2016, aaO). Angesichts der bereits lange vorliegenden Gutachten wie auch des Inhalts des Widerspruchsbescheides und des Urteils des SG musste die Klägerin damit rechnen, dass das LSG ihre Aussagen als widersprüchlich bewerten und ihren Anspruch verneinen würde.
Tenor
-
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. Februar 2014 wird zurückgewiesen.
-
Der Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Revisionsverfahren.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten über eine Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) iVm dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG).
- 2
-
Die 1956 geborene Klägerin wuchs im heutigen Land Brandenburg auf. Im Alter von 20 Jahren wurde sie von ihrem Vater schwanger. Das Kind starb vier Wochen nach der Geburt. 1989 verzog die Klägerin in die "alten Bundesländer". Im Oktober 1994 wurde sie in G. von einem Unbekannten vergewaltigt. Am 29.12.2000 beantragte sie beim Amt für Versorgung und Familienförderung (AVF) München II eine Versorgung nach dem OEG, zunächst allein wegen der im Jahre 1994 erlittenen Vergewaltigung, im Laufe des Verfahrens auch wegen des sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater in der Zeit von 1960 bis 1979 in Brandenburg. Das AVF München II leitete den Antrag auch dem Amt für Soziales und Versorgung Cottbus zu und anerkannte nach Einholung eines versorgungsärztlichen Gutachtens mit Vorbehaltsbescheid vom 9.1.2002 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 unter Gewährung einer entsprechenden Versorgungsrente ab dem 1.12.2000. Als Schädigungsfolge stellte es "Posttraumatische Belastungsstörung, seelische Störung" im Sinne einer Verschlimmerung fest.
- 3
-
Das Amt für Soziales und Versorgung Cottbus lehnte dagegen den Antrag der Klägerin ab. Zwar sei nach den glaubhaften Angaben der Klägerin davon auszugehen, dass sie im Zeitraum von 1960 bis 1979 Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe geworden ist. Die bei der Klägerin zur Anwendung kommende Härtefallregelung des § 10a OEG setze jedoch Gesundheitsstörung mit einer Schädigungsfolge voraus, die mit einer MdE von wenigstens 50 zu bewerten sei; hieran fehle es (Bescheid vom 10.1.2002). Das hiergegen geführte Widerspruchsverfahren blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 25.9.2002). Das SG hat die Klage ebenfalls mit der Begründung abgelehnt, dass die Voraussetzungen des § 10a OEG nicht erfüllt seien(Urteil vom 27.9.2005).
- 4
-
Im Berufungsverfahrens hat das Bayerische LSG ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt. Danach hat es keine Anhaltspunkte für ein halluzinatorisches Erleben des sexuellen Missbrauchs in der Zeit von 1960 bis 1979 gegeben; die MdE habe seit Ende 1994 80 betragen (zusammengesetzt aus einem Teil-MdE von 70 für die Basis-Traumatisierung
in Brandenburg und von 30 für die Retraumatisierung ). Auch sei eine besondere berufliche Betroffenheit festzustellen. In der mündlichen Verhandlung hat das beklagte Land Brandenburg erstmals Zweifel geäußert, ob die Klägerin in Brandenburg einen sexuellen Missbrauch erlitten habe.
- 5
-
Das LSG hat das Urteil des SG aufgehoben und den Beklagten unter Aufhebung der streitgegenständlichen Bescheide verurteilt, der Klägerin Versorgung nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 80 zu gewähren. Der Klägerin stehe ein Anspruch gegen den Beklagten entsprechend dem brandenburgischen Anteil am Gesamtschadensbild zu (Urteil vom 18.2.2014).
- 6
-
Mit seiner Revision rügt das beklagte Land Brandenburg die Verletzung materiellen Rechts. Der Beklagte sei bereits nicht passivlegitimiert. Weder sei er Schuldner des Versorgungsanspruchs noch zuständiger Versorgungsträger. Aufgrund des Wortlauts sei zu fordern, dass die Schädigung ausschließliche Alleinursache für die vorliegenden Gesundheitsschäden sei. Ferner müsse die Anwendung des § 30 Abs 2 BVG auf das Recht der Kriegsopferversorgung beschränkt bleiben.
- 7
-
Daneben rügt das beklagte Land Brandenburg die Verletzung der §§ 128 Abs 1 und 103 SGG. Die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung seien überschritten. Allein anhand der Beweismittel der gutachterlichen Stellungnahmen sei kein Vollbeweis dahingehend zu führen, dass die Klägerin zwischen 1960 und 1979 sexuell missbraucht worden sei. Entsprechend den Beweisanträgen in der mündlichen Verhandlung hätte das LSG die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin aufgrund der Variabilität ihrer Aussagen und gutachterlich festgestellter, lang andauernder Amnesie in der Vergangenheit überprüfen müssen.
- 8
-
Das beklagte Land beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18.2.2014 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 27.9.2005 zurückzuweisen.
- 9
-
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
- 10
-
Der beigeladene Freistaat Bayern hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
- 11
-
Die zulässige Revision ist unbegründet (§ 170 Abs 1 S 1 SGG).
- 12
-
1. Gegenstand des Rechtsstreits ist die Aufhebung des Ausgangs- und Widerspruchsbescheids sowie die Anerkennung von Schädigungsfolgen und die Gewährung einer Beschädigtenversorgung. Da sich die Klage nicht nur auf eine isolierte Feststellung (Anerkennung) von Schädigungsfolgen richtet, scheidet eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage iS des § 54 Abs 1 S 1 SGG als statthafte Klageart aus(zur Anfechtungs- und Verpflichtungsklage im Rahmen der Opferentschädigung siehe BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17). Bei einer Klage auf Erlass eines zuvor abgelehnten und sich nicht auf den Erlass als solchen erschöpfenden Verwaltungsakts ist statthafte Klage eine der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage subsidiäre kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage iS des § 54 Abs 1 S 1, Abs 4 SGG(zur Anfechtungs- und Leistungsklage im Rahmen der Opferentschädigung siehe BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20).
- 13
-
Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat nach der Härtefallregelung des § 10a iVm § 1 OEG Anspruch auf Opferentschädigung(dazu 2.). Die tatbestandlichen Voraussetzungen hierfür liegen vor; die Angriffe des beklagten Landes gegen die insoweit vom LSG getroffenen Feststellungen greifen nicht durch (dazu 3.). Die durch den sexuellen Missbrauch in Brandenburg zu Zeiten der ehemaligen DDR verursachte MdE (bzw GdS) der Klägerin beläuft sich auf 70 und ist aufgrund einer besonderen beruflichen Betroffenheit um 10 zu erhöhen. Die Versorgung beginnt mit der Antragstellung (dazu 4.). Der Anspruch richtet sich in dem Umfang gegen das beklagte Land Brandenburg, als das Gesamtschadensbild seine Ursache in den in Brandenburg erfolgten Schädigungen hat (dazu 5.).
- 14
-
2. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch aus einer auf dem Gebiet der ehemaligen DDR vor dem 3.10.1990 begangenen rechtswidrigen Tat ist § 1 iVm § 10a OEG.
- 15
-
a) Nach § 1 OEG erhält Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Dem OEG liegt die Erwägung zugrunde, dass den Staat eine besondere Verantwortung für Personen trifft, die durch einen solchen Angriff geschädigt werden (BT-Drucks 7/2506 S 7). Denn Aufgabe des Staates ist es, seine Bürger vor Gewalttätern zu schützen. Kann er diese Pflicht nicht erfüllen, muss er sich für die Entschädigung des Opfers verantwortlich fühlen. Die Geschädigten müssen von der Allgemeinheit in einem solchen Umfang schadlos gehalten werden, dass ein soziales Absinken der Betroffenen selbst, ihrer Familien und ihrer Hinterbliebenen vermieden wird (vgl BT-Drucks 7/2506 S 7).
- 16
-
Das OEG trat am 16.5.1976 in Kraft. Es galt zeitlich zunächst nur für Gewalttaten, die sich ab Inkrafttreten des Gesetzes ereigneten, also für Taten ab 16.5.1976 (zur Verfassungskonformität der Stichtagsregelung siehe BVerfG Beschluss vom 3.10.1984 - 1 BvR 270/84 - SozR 3800 § 10 Nr 2). Räumlich galt es dort, wo der deutsche Staat Staatsgewalt ausüben und daher für die Verhinderung von Gewalttaten verantwortlich gemacht werden konnte, dh im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin.
- 17
-
b) 1984 wurde das OEG geändert und zeitlich auch auf Gewalttaten erstreckt, die sich seit Inkrafttreten des GG am 23.5.1949 ereignet hatten (Gesetz vom 20.12.1984, BGBl I 1723); allerdings wurde bei dieser rückwirkenden Erstreckung Entschädigung lediglich nach Maßgabe der Härtefallregelung des § 10a OEG geleistet. Diese sieht Opferentschädigung nur vor, wenn drei Voraussetzungen vorliegen: 1. Die verletzte Person muss "allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt" sein; sie muss 2. bedürftig sein und muss 3. ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des OEG haben.
- 18
-
c) Seit dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland gilt das OEG auch in den neuen Bundesländern und kommt Versorgung bei Gewalttaten, die im Gebiet der ehemaligen DDR vor dem 3.10.1990 begangen worden sind, ebenfalls nach der Härtefallregelung des § 10a OEG in Betracht. Mit dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) trat das OEG auch in den neuen Bundesländern ua mit der Maßgabe in Kraft, dass § 10a OEG in diesen Gebieten für eine Schädigung in der Zeit vom 7.10.1949 (Gründung der DDR) bis 31.12.1990 gilt (Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt III Nr 18 Buchst c und d). Mit dem Gesetz zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften vom 20.6.2011 (BGBl I 1114) wurde diese Übergangsregelung sodann in das OEG übernommen (vgl § 10 S 5 OEG). Dies bedeutet: Entschädigung wird für im Gebiet der ehemaligen DDR vor dem 3.10.1990 erlittene Schädigungen aufgrund rechtswidriger tätlicher Angriffe nur dann gewährt, wenn die verletzte Person "allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt" und bedürftig ist sowie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des OEG hat. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
- 19
-
3. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 1, 10a OEG sind erfüllt. Die Feststellungen des LSG halten einer revisionsrichterlichen Überprüfung Stand. Die vom beklagten Land Brandenburg gerügte Sachverhaltsaufklärung und Beweiswürdigung sind - soweit revisionsrichterlich überprüfbar - nicht zu beanstanden.
- 20
-
a) Nach § 1 Abs 1 S 1 OEG erhält eine natürliche Person, die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Die Klägerin ist im Zeitraum von 1960 bis 1979 in Brandenburg Opfer von vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffen geworden. Das LSG ist vom Vorliegen der insoweit erforderlichen Tatsachen überzeugt, sodass dahingestellt bleiben kann, ob die Voraussetzungen von § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (Herabsetzung des Beweismaßes auf Glaubhaftmachung) vorliegen, und eine Glaubhaftmachung insoweit ausreichend gewesen wäre.
- 21
-
Das LSG hat seiner Überzeugungsbildung ein zutreffendes Begriffsverständnis vom Angriff in Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern zugrunde gelegt (vgl hierzu zuletzt BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 V 1/12 R - BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20; BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 V 3/12 R - abrufbar unter Juris, jeweils mwN). Der Annahme einer Schädigung iS des § 1 OEG steht angesichts der missbrauchsbedingten Schwangerschaft hier nicht entgegen, dass die einzelnen Missbrauchshandlungen, die der Vater der Klägerin an dieser vorgenommen hat, im Übrigen zeitlich nicht mehr genau fixierbar waren und der Tathergang nicht mehr bis ins Detail rekonstruiert werden konnte.
- 22
-
Einschränkungen auf der Rechtsfolgenseite ergeben sich durch diese Ausnahme nicht. An die Feststellung eines detaillierten Geschehensablaufs sind versorgungsrechtlich keine Rechtsfolgen geknüpft. Der GdS bemisst sich nicht anhand des tätlichen Angriffs und dessen konkreter Ausgestaltung, sondern anhand der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung.
- 23
-
Das beklagte Land Brandenburg hat gegen die Feststellung des LSG, dass die Klägerin von ihrem Vater missbraucht worden ist, keine durchgreifenden Revisionsrügen vorgebracht. Das Tatsachengericht entscheidet gemäß § 128 Abs 1 S 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; es ist in seiner Beweiswürdigung frei und lediglich an die Regeln der Logik und der Erfahrung gebunden. Das dem Gericht insofern eingeräumte Ermessen kann das Revisionsgericht nur begrenzt überprüfen. Die Grenzen der freien Beweiswürdigung sind erst überschritten, wenn das Tatsachengericht gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstößt, aber auch, wenn es das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt (stRspr vgl zuletzt BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 1/14 R - mwN). Solche Mängel liegen hier nicht vor.
- 24
-
Das beklagte Land stützt seine Rüge einer Überschreitung der Grenzen freier Beweiswürdigung ausschließlich darauf, anhand der gutachterlichen Stellungnahmen sei kein Vollbeweis dahingehend zu führen, dass die Klägerin zwischen 1960 und 1979 sexuell missbraucht worden sei, insbesondere mit Blick darauf, dass diese Hypothese weder gemäß Gutachtensauftrag hinterfragt werden sollte, noch ernstlich durch die Gutachter hinterfragt und verifiziert worden sei. Damit zeigt das beklagte Land Brandenburg nicht auf, zu welchem Ergebnis die Beweiswürdigung des LSG hätte führen müssen. Auch hat es weder eine Verletzung von allgemeinen Erfahrungssätzen oder Denkgesetzen dargelegt noch ausgeführt, aus welchen Gründen das LSG das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt haben soll. Das LSG hat sich eingehend mit dem Sachverhalt, den Ergebnissen der eingeholten Sachverständigengutachten und den Aussagen der Gutachter in der mündlichen Verhandlung auseinandergesetzt. Es hat sich frei von Denkfehlern davon überzeugt, dass die Klägerin Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe iS des § 1 OEG geworden ist. Dabei hat es den angewandten Beweismaßstab des Vollbeweises unter Zugrundelegung der von ihm dargelegten Definition rechtlich zutreffend erkannt.
- 25
-
Die weiterhin erhobene Rüge des beklagten Landes Brandenburg, das LSG habe seine Pflicht zur Amtsermittlung (§ 103 SGG) verletzt, ist zulässig, aber unbegründet. Zwar bezeichnet das beklagte Land Brandenburg Tatsachen, die den Mangel einer unterlassenen Aufklärung ergeben können; es benennt konkrete Beweismittel und legt zumindest ansatzweise dar, zu welchem Ergebnis nach seiner Auffassung die für erforderlich gehaltenen Ermittlungen geführt hätten (§ 164 Abs 2 S 3 SGG). Eine Verletzung des § 103 SGG liegt jedoch nur vor, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, obwohl es sich ausgehend von seiner Rechtsauffassung zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen(stRspr vgl BSG Urteil vom 10.6.1975 - 9 RV 124/74 - BSGE 40, 49 = SozR 3100 § 30 Nr 7; BSG Beschluss vom 14.11.2013 - B 9 V 33/13 B - abrufbar unter Juris mwN). Daran fehlt es hier. Seit der Antragstellung im Dezember 2000 ist die Klägerin von insgesamt vier Sachverständigen begutachtet worden. Keiner der Gutachter hegte Zweifel an den von der Klägerin vorgetragenen Ereignissen in Brandenburg und Bayern. Hinsichtlich dieser Tatsachen stimmen alle Gutachter überein. Allein schon aus diesem Grunde und wegen der Tatsache, dass die Klägerin von ihrem Vater ein Kind bekommen hat, musste sich das LSG ausgehend von seiner Rechtsauffassung nicht zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen.
- 26
-
Das beklagte Land hat überdies seine Zweifel an den streitbefangenen Vergewaltigungen und den daran anknüpfenden Beweisantrag auch nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums vorgebracht. Die Beteiligten haben ihre Prozessführung entsprechend der Prozesslage an der Förderung des Verfahrens auszurichten. Diesem Gedanken trägt § 411 Abs 4 S 1 ZPO(iVm § 202 SGG) Rechnung, indem er den Beteiligten auch im sozialgerichtlichen Verfahren vorgibt, Einwendungen, Anträge und Fragen an Sachverständige rechtzeitig anzubringen (BT-Drucks 11/3621 S 41). Dies gilt unabhängig davon, ob das Gericht hierfür eine Frist gesetzt hat (§ 411 Abs 4 S 2 ZPO). Dementsprechend sind auch bei fehlender Fristsetzung rechtsmissbräuchlich gestellte Anträge auf Befragung bereits beauftragter Sachverständiger unerheblich (BSG SozR 4-1500 § 116 Nr 2). Nicht anders verhält es sich in Bezug auf weitere Sachverständigengutachten. Das beklagte Land kam seiner Verpflichtung, Beweisanträge innerhalb angemessener Zeit zu stellen, nicht nach; erst nach mehr als zwölfjähriger Verfahrensdauer und mehrmaliger Erörterung und Verhandlung hegte es erstmals in der letzten mündlichen Verhandlung am 18.2.2014 Zweifel am gesamten Geschehensablauf. Es setzte sich durch dieses späte Vorbringen auch in Widerspruch zu seinem bisherigen Verhalten. Denn sowohl im Ablehnungsbescheid als auch im Widerspruchsbescheid hat das beklagte Land selbst zum Ausdruck gebracht, es sei glaubhaft, dass die Klägerin im Zeitraum von 1960 bis 1979 Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe iS des § 1 OEG geworden ist. Diese Tatsachen sind "unstreitig" gestellt worden. Zwar gilt auch im sozialgerichtlichen Verfahren der Amtsermittlungsgrundsatz. Die Pflicht zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen besteht jedoch nicht unbegrenzt. Tragen die Beteiligten übereinstimmend Tatsachen vor, die plausibel sind, müssen diese nicht zwingend vom Gericht angezweifelt und überprüft werden, wenn hierfür keine Anhaltspunkte bestehen. Ohne diese Beschränkung des Amtsermittlungsgrundsatzes wäre eine rationelle Erledigung des Verfahrens nicht möglich (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 103 RdNr 7a). Demnach kann das Vorbringen der Beteiligten sogar allein Entscheidungsgrundlage sein, etwa dann, wenn eine von einem Beteiligten mehrfach vorgetragene Tatsache vom anderen während des Verfahrens nicht bestritten wird (vgl BSG Urteil vom 3.6.2004 - B 11 AL 71/03 R -; Leitherer, aaO, § 103 RdNr 7a; siehe hierzu ebenfalls BSG Beschluss vom 15.8.1960 - 4 RJ 291/59 - SozR Nr 56 zu § 128 SGG).
- 27
-
Vor diesem Hintergrund hält auch die Vorgehensweise des LSG, kein psychologisches Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen, einer revisionsrichterlichen Überprüfung Stand. Hinsichtlich der vom LSG festgestellten und in der Sitzungsniederschrift vom 18.2.2014 im Einzelnen aufgeführten Schädigungen und Schädigungsfolgen (das LSG spricht auch von Gesundheitsstörungen) sind zulässige und begründete Verfahrensrügen nicht erhoben worden. Der erforderliche Zurechnungszusammenhang zwischen den schädigenden Ereignissen in Brandenburg und den gesundheitlichen Schädigungen (haftungsbegründende Kausalität) und den daraus resultierenden Schädigungsfolgen bzw Gesundheitsstörungen (haftungsausfüllende Kausalität) liegt nach den Feststellungen des LSG ebenfalls vor. Das LSG hat die haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität über den Bedingungszusammenhang im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne hinaus zutreffend an der Theorie der wesentlichen Bedingung (siehe hierzu BSG Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 6/13 R - SozR 4-7945 § 3 Nr 1) orientiert. Die in diesem Zusammenhang erhobene Rüge des beklagten Landes Brandenburg, das LSG habe seine Pflicht zur Amtsermittlung (§ 103 SGG) dadurch verletzt, dass es Alternativursachen für die psychischen Leiden der Klägerin nicht in Erwägung gezogen und entsprechend geprüft habe, greift nicht durch. Denn auch diesbezüglich musste sich das LSG nicht zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen.
- 28
-
b) Ebenso liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Härtefallregelung des § 10a Abs 1 OEG vor. Danach erhalten Personen, die in der Zeit vom 7.10.1949 bis 2.10.1990 in den neuen Bundesländern geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt, (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Dies ist hier der Fall.
- 29
-
Die Klägerin ist, wie das LSG bindend festgestellt hat, bedürftig iS des § 10a Abs 1 S 1 Nr 2 OEG. Sie hatte ihren Wohnsitz bzw gewöhnlichen Aufenthalt iS des § 10a Abs 1 S 1 Nr 3 OEG im Geltungsbereich dieses Gesetzes. Auch ist sie allein aufgrund des im Gebiet der ehemaligen DDR ihr gegenüber verübten Angriffs schwerbeschädigt.
- 30
-
Das Tatbestandsmerkmal "allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt" ist erfüllt, wenn sich die zu einer Schwerbeschädigung führende Schädigung im zeitlichen und räumlichen Erstreckungsbereich des OEG auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in der Zeit vom 7.10.1949 bis zum 2.10.1990 ereignet hat und diese schädigenden Ereignisse für sich betrachtet einen Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 50 und damit die "Schwerbeschädigteneigenschaft" (§ 1 Abs 1 S 1 OEG iVm § 31 Abs 2 BVG) erreichen.
- 31
-
Der Rechtsansicht des beklagten Landes Brandenburg, wonach die Schädigung ausschließliche Ursache für die vorliegenden Gesundheitsschäden sein müsse, ist nicht zu folgen. Denn Folge dieses engen Begriffsverständnisses wäre, dass an sich der Härtefallregelung unterfallende Schädigungen in Nachhinein wieder ausgeschlossen wären, die durch weitere Schädigungen nach dem Stichtag überlagert und beeinflusst werden (hier die in Bayern erlittene Vergewaltigung). Eine derart restriktive Auslegung ist mit dem Sinn und Zweck der Härtefallregelung des § 10a OEG nicht vereinbar. Ausweislich der Gesetzesbegründung liegt der Härtefallregelung des § 10a OEG die Erwägung zugrunde, dass bei Schwerbeschädigten in Anbetracht der Schwere ihrer Gesundheitsstörungen der Ausschluss von der Versorgung, wie es eine strikte Anwendung der Stichtagsregelung des § 10 S 1 OEG zur Folge hätte, unbillig erscheint(BT-Drucks 10/2103 S 5). Diesem Gesetzeszweck liefe es zuwider, wenn Schwerbeschädigte, deren Schädigungen durch weitere Schädigungen nach dem Stichtag überlagert und beeinflusst werden, allein aus diesem Grunde wieder aus der Härtefallregelung des § 10a OEG und damit aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes herauszunehmen wären. Ist schon nach dem Willen des Gesetzgebers die mit der Stichtagsregelung des § 10 S 1 OEG verbundene Herausnahme von Schwerbeschädigten aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes an sich unbillig, so gilt dies erst recht, wenn zu den bereits vorhandenen Schädigungen des Schwerbeschädigten noch weitere Schädigungen hinzutreten, gleichgültig ob diese nun zu einer Überlagerung der bereits vorhandenen Schädigungen führen oder nicht. Die Rechtsansicht des beklagten Landes Brandenburg würde demgegenüber zu einer nicht zu rechtfertigenden Schlechterstellung dieses Personenkreises führen.
- 32
-
4. Die Klägerin hat Anspruch auf Versorgung nach einem GdS von 80. Nach der Feststellung des LSG beläuft sich der durch den sexuellen Missbrauch in Brandenburg verursachte GdS der Klägerin unmittelbar vor der Vergewaltigung in Bayern bereits auf 70. Damit ist die Klägerin schwerbeschädigt iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG iVm § 31 Abs 2 BVG. Diese Feststellung ist für den Senat bindend (§ 163 SGG). Zulässige und begründete Verfahrensrügen sind gegen sie nicht erhoben worden.
- 33
-
Dass das LSG im Rahmen dieser Feststellung aus Vereinfachungsgründen ausschließlich den Begriff GdS verwendet, ist unerheblich. Durch das Gesetz zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13.12.2007 führte der Gesetzgeber ua in dem hier maßgeblichen § 30 Abs 1 BVG den Begriff GdS ein und ersetzte damit die traditionelle Beschreibung MdE zum 21.12.2007 (BGBl I 2904). Hätte das LSG demnach in zutreffender Weise bis zum 20.12.2007 den Begriff MdE verwendet, wäre das Urteil inhaltlich nicht anders ausgefallen.
- 34
-
Darüber hinaus liegt bei der Klägerin eine besondere berufliche Betroffenheit iS des § 30 Abs 2 BVG vor, dessen Ausmaß mit einem GdS von 10 zu bewerten ist. Diese Norm ist im Opferentschädigungsrecht entsprechend anwendbar.
- 35
-
Auf der Rechtsfolgenseite bestimmt § 1 Abs 1 S 1 OEG, dass wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG zu leisten ist. Dieser Verweis umfasst auch eine Erhöhung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nach § 30 Abs 2 BVG; eine Ausklammerung der Norm aus diesem Verweis bringt das Gesetz an keiner Stelle zum Ausdruck (dies als gegeben vorausgesetzt BSG Urteil vom 24.7.2002 - B 9 VG 5/01 R - abrufbar unter Juris; BSG Urteil vom 12.6.2003 - B 9 VG 1/02 R - BSGE 91, 107 = SozR 4-3800 § 1 Nr 3; noch Bedenken hegend BSG Urteil vom 18.10.1995 - 9 RV 18/94 - SozR 3-3100 § 30 Nr 14; sich ebenso für eine Anwendbarkeit der Norm aussprechend Gelhausen/Weiner, OEG, 6. Aufl 2015, § 10a RdNr 2; Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl 2012, § 10a OEG RdNr 5; Heinz, OEG, 2007, § 10a RdNr 9). Soweit nach Ansicht des beklagten Landes Brandenburg die Vorschrift des § 30 Abs 2 BVG bereits an sich auf das Recht der Kriegsopferversorgung beschränkt bleiben müsse, findet diese einschränkende Auslegung im geltenden Recht keine Stütze. Eine Erhöhung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nach § 30 Abs 2 BVG ist auch im Rahmen des OEG möglich.
- 36
-
Eine andere Ansicht lässt sich - entgegen der Auffassung des beklagten Landes - auch nicht aus der Gesetzesbegründung zur Härtefallregelung des § 10a OEG ableiten. Das Gegenteil ist der Fall. Denn ausweislich der Gesetzesbegründung ist die Härtefallregelung des § 10a OEG "auf Schwerbeschädigte (§ 30 Abs. 1 und 2 BVG) und Hinterbliebene beschränkt"(BT-Drucks 10/2103 S 5). Für die Bestimmung eines Schwerbeschädigten im Rahmen des § 10a OEG, einer Regelung aus dem OEG, nimmt der Gesetzgeber im Klammertext selbst auf § 30 Abs 2 BVG Bezug. Konsequenterweise ist die besondere berufliche Betroffenheit iS des § 30 Abs 2 BVG dann auch nicht in den Ausnahmetatbestand des § 10a Abs 5 OEG mit aufgenommen worden, obgleich der Gesetzgeber inzwischen mehrfach die Gelegenheit hierzu hatte.
- 37
-
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Versorgung ab dem 1.12.2000. Dies folgt aus § 60 Abs 1 S 1 BVG, der entsprechend über § 1 Abs 1 S 1 OEG anwendbar ist. Demnach beginnt die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind (also am Ersten dieses Monats), frühestens mit dem Antragsmonat.
- 38
-
Aus der Antragstellung beim beigeladenen Freistaat Bayern am 29.12.2000 folgt ein Versorgungsbeginn ab dem 1.12.2000. Da die Klägerin keine rückwirkende Leistungsgewährung begehrt, kann eine weitere Prüfung des § 60 Abs 1 S 2 und S 3 OEG dahinstehen. Soweit im Tenor des angefochtenen Urteils eine Beschädigtenversorgung bereits ab Oktober 2000 ausgesprochen ist, ist diese Rechtsfolge materiell-rechtlich zwar nicht von § 60 Abs 1 S 1 BVG gedeckt; aufgrund einer von der Klägerin abgegebenen Verzichtserklärung für die Monate Oktober und November 2000 ist sie jedoch obsolet.
- 39
-
5. Das beklagte Land Brandenburg ist gemäß § 4 Abs 1 S 1 OEG Schuldner des Versorgungsanspruchs und damit als materiell-rechtlich Verpflichteter passivlegitimiert. Dabei ist das beklagte Land Brandenburg für die Anerkennung und Feststellung der Schädigungsfolgen aus den Ereignissen in Brandenburg im Außenverhältnis zuständig und im Innenverhältnis Kostenträger (dazu a). Der erkennende Senat weist ergänzend darauf hin, dass der beigeladene Freistaat Bayern im Anschluss an diesen Rechtsstreit unter Berücksichtigung der Ereignisse in Bayern eine einheitliche Rente festzusetzen und dabei den für den Erstschaden in Brandenburg festgestellten GdS ohne erneute Prüfung seiner Beurteilung zugrunde zu legen hat (dazu b).
- 40
-
a) Nach § 4 Abs 1 S 1 OEG ist zur Gewährung der Versorgung das Land verpflichtet, in dem die Schädigung eingetreten ist. Der Regelungsinhalt des § 4 OEG ist ein Doppelter. Zum einen enthält die Norm entsprechend ihrer gesetzlichen Überschrift "Kostenträger" eine Regelung hinsichtlich der Kostenträgerschaft im Innenverhältnis als Aufteilung von finanziellen Lasten. Zum anderen enthält sie eine Regelung hinsichtlich der Zuständigkeit für die Gewährung von Leistungen (BT-Drucks 7/2506 S 16), also eine das Außenverhältnis betreffende Regelung der Verbandszuständigkeit. Das beklagte Land, in dem die Schädigung eingetreten ist, soll den Anspruch dem Grunde wie der Höhe nach verwaltungsmäßig feststellen und den Berechtigten in den Genuss der festgestellten Leistungen bringen, und zwar zu eigenen Lasten (BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1). Damit ist das beklagte Land Brandenburg zur Gewährung der vorliegend im Streit stehenden Versorgung verpflichtet.
- 41
-
b) Für die Anerkennung und Feststellung der aus der ersten Schädigung resultierenden Schädigungsfolgen ist das Land im Außenverhältnis zuständig und im Innenverhältnis Kostenträger, in dem die Erstschädigung eingetreten ist, hier das beklagte Land Brandenburg. Zuständig für die Festsetzung einer einheitlichen Rente ist das Land, das über die letzte Schädigung entscheidet, hier also der beigeladene Freistaat Bayern. Dieses Land hat den für den Erstschaden festgestellten GdS ohne erneute Prüfung seiner Beurteilung zugrunde zu legen. Dies folgt aus einer analogen Anwendung von § 4 Abs 4 OEG iVm § 3 Abs 1, § 4 Abs 1 S 1 OEG.
- 42
-
Für den Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen nach dem OEG aus verschiedenen Ländern kann eine Zuständigkeit nicht schon aus der unmittelbaren, wohl aber aus einer analogen Anwendung des § 4 Abs 4 OEG iVm § 3 Abs 1, § 4 Abs 1 S 1 OEG abgeleitet werden.
- 43
-
Nach § 4 Abs 4 OEG sind in den Fällen des § 3 Abs 1 OEG die Kosten, die durch das Hinzutreten der weiteren Schädigung verursacht werden, von dem Leistungsträger zu übernehmen, der für die Versorgung wegen der weiteren Schädigung zuständig ist. Dessen Zuständigkeit folgt aus den vorhergehenden Absätzen, also grundsätzlich aus § 4 Abs 1 S 1 OEG, womit das Land verpflichtet ist, in dem die Schädigung eingetreten ist. Diese Zuständigkeitsregelung muss dann in Zusammenschau mit § 3 Abs 1 OEG gelesen werden. Damit hat das für die weitere Schädigung zuständige Land im Ergebnis eine einheitliche Rente festzusetzen, die Kosten hierfür aber wegen § 4 Abs 4 OEG nur anteilig zu tragen.
- 44
-
Die in der Literatur vertretene abweichende Ansicht, aus § 4 Abs 4 OEG ergebe sich, dass das Land, in dem die weitere Schädigung eingetreten ist, nur über die Anerkennung und Feststellung der Schädigungsfolgen der weiteren Schädigung entscheide, dagegen für die Festsetzung der einheitlichen Rente das bisher zuständige Land zuständig bleibe(Sailer in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl 1992, § 4 OEG RdNr 3), ist abzulehnen. Dagegen spricht schon der Wortlaut des § 4 Abs 4 OEG, wonach die Kosten, die durch das Hinzutreten der weiteren Schädigung verursacht werden, von dem Leistungsträger zu übernehmen sind, der für die Versorgung wegen der weiteren Schädigung zuständig "ist". Zudem widerspricht diese Aufteilung der Zuständigkeiten dem Sinn und Zweck des § 3 Abs 1 OEG. Danach dient die Bildung einer einheitlichen Rente dem Ziel, eine sachgemäße, auf den Einzelfall zugeschnittene Ausgestaltung der Versorgungsleistungen zu erreichen. Diese individuelle Ausgestaltung lässt sich am besten erreichen, wenn das Land, in dem die weitere Schädigung eingetreten ist, auch für die Festsetzung der einheitlichen Rente zuständig ist. Hierfür spricht zum einen dessen Sachnähe und zum anderen die Tatsache, dass hinsichtlich der ersten Schädigung regelmäßig bereits eine Beschädigtenversorgung durch das zuständige Land rechtskräftig festgestellt wurde. Damit ist nur eine (Gesamt-)Entscheidung zu treffen, die die Anerkennung und Feststellung der Schädigungsfolgen der weiteren Schädigung beinhaltet. Soweit - wie im vorliegenden Fall - hinsichtlich der Erstschädigung ausnahmsweise noch keine Beschädigtenversorgung festgestellt wurde, rechtfertigt dies keine Durchbrechung der Zuständigkeiten im Einzelfall.
- 45
-
Für den Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen nach dem OEG kann § 4 Abs 4 OEG allerdings nicht direkt angewendet werden. Die Norm bezieht sich nur auf den in § 3 Abs 1 OEG unmittelbar geregelten Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen aus unterschiedlichen Gesetzen. Entsprechend seines eindeutigen und einer anderweitigen Auslegung nicht zugänglichen Wortlauts regelt § 3 Abs 1 OEG unmittelbar nur das Zusammentreffen von Ansprüchen aus unterschiedlichen Gesetzen. Für den Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen nach dem OEG aufgrund von mehreren Schädigungen in verschiedenen Bundesländern ist § 3 Abs 1 OEG jedoch analog anzuwenden. Es besteht eine planwidrige Gesetzeslücke und vergleichbare Interessenlage mit dem Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen aus unterschiedlichen Gesetzen. Die im Rahmen des § 3 Abs 1 OEG insoweit bestehende planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts führt zu einer solchen im Rahmen des sich hieran anknüpfenden § 4 Abs 4 OEG. Damit zieht die analoge Anwendung des § 3 Abs 1 OEG konsequenterweise eine analoge Anwendung des § 4 Abs 4 OEG nach sich(vgl hierzu insgesamt Rademacker, aaO, § 3 OEG RdNr 4; offenbar auch Schoreit/Düsseldorf, OEG, 1977, § 3 RdNr 2).
(1) Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds gehandelt hat.
(2) Einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 stehen gleich
- 1.
die vorsätzliche Beibringung von Gift, - 2.
die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen.
(3) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind; Buchstabe e gilt auch für einen Unfall, den der Geschädigte bei der unverzüglichen Erstattung der Strafanzeige erleidet.
(4) Ausländerinnen und Ausländer haben dieselben Ansprüche wie Deutsche.
(5) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt.
(6) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die ein Berechtigter oder Leistungsempfänger nach Absatz 1 oder 5 in Verbindung mit § 10 Abs. 4 oder 5 des Bundesversorgungsgesetzes, eine Pflegeperson oder eine Begleitperson bei einer notwendigen Begleitung des Geschädigten durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes erleidet.
(7) Einer gesundheitlichen Schädigung im Sinne des Absatzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz gleich.
(8) Wird ein tätlicher Angriff im Sinne des Absatzes 1 durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers verübt, werden Leistungen nach diesem Gesetz erbracht.
(9) § 1 Abs. 3, die §§ 64 bis 64d, 64f sowie 89 des Bundesversorgungsgesetzes sind mit der Maßgabe anzuwenden, daß an die Stelle der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde tritt, sofern ein Land Kostenträger ist (§ 4). Dabei sind die für deutsche Staatsangehörige geltenden Vorschriften auch für von diesem Gesetz erfaßte Ausländer anzuwenden.
(10) § 20 des Bundesversorgungsgesetzes ist mit den Maßgaben anzuwenden, daß an die Stelle der in Absatz 1 Satz 3 genannten Zahl die Zahl der rentenberechtigten Beschädigten und Hinterbliebenen nach diesem Gesetz im Vergleich zur Zahl des Vorjahres tritt, daß in Absatz 1 Satz 4 an die Stelle der dort genannten Ausgaben der Krankenkassen je Mitglied und Rentner einschließlich Familienangehörige die bundesweiten Ausgaben je Mitglied treten, daß Absatz 2 Satz 1 für die oberste Landesbehörde, die für die Kriegsopferversorgung zuständig ist, oder die von ihr bestimmte Stelle gilt und daß in Absatz 3 an die Stelle der in Satz 1 genannten Zahl die Zahl 1,3 tritt und die Sätze 2 bis 4 nicht gelten.
(11) Im Rahmen der Heilbehandlung sind auch heilpädagogische Behandlung, heilgymnastische und bewegungstherapeutische Übungen zu gewähren, wenn diese bei der Heilbehandlung notwendig sind.
Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.
Tenor
-
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 2011 aufgehoben, soweit es einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter betrifft.
-
In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
-
Im Übrigen wird die Revision der Klägerin zurückgewiesen.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
- 2
-
Die 1962 geborene Klägerin beantragte am 16.9.1999 beim damals zuständigen Versorgungsamt B. Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Sie gab an, ihre Gesundheitsstörungen seien Folge von Gewalttaten und sexuellem Missbrauch im Elternhaus sowie von sexuellem Missbrauch durch einen Fremden. Die Taten hätten sich zwischen ihrem Geburtsjahr 1962 mit abnehmender Tendenz bis 1980 zugetragen.
- 3
-
Nachdem das Versorgungsamt die Klägerin angehört, eine Vielzahl von Arztberichten, insbesondere über psychiatrische Behandlungen der Klägerin, sowie eine schriftliche Aussage ihrer Tante eingeholt hatte, stellte die Ärztin für Neurologie und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin Dr. W. mit Gutachten vom 26.9.2001 für das Versorgungsamt zusammenfassend fest, die Untersuchung der Klägerin habe nur in Ansätzen detaillierte Angaben zu den geltend gemachten Misshandlungen und dem sexuellen Missbrauch erbracht. Diagnostisch sei von einer Persönlichkeitsstörung auszugehen. Aufgrund der Symptomatik sei nicht zu entscheiden, ob die psychische Störung der Klägerin ein Milieuschaden im weitesten Sinne sei oder mindestens gleichwertig auf Gewalttaten im Sinne des OEG zurückzuführen sei. Das Versorgungsamt lehnte daraufhin den Antrag der Klägerin auf Beschädigtenversorgung mit der Begründung ab: Die psychische Störung könne nicht als Folge tätlicher Gewalt anerkannt werden. Zwar seien einzelne körperliche Misshandlungen, Schläge und sexueller Missbrauch geschildert worden, insbesondere aber insgesamt zerrüttete Familienverhältnisse. Vor allem diese frühere, allgemeine familiäre Situation sei für die psychischen Probleme verantwortlich (Bescheid vom 15.10.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.5.2002).
- 4
-
Das Sozialgericht (SG) Detmold hat die - zunächst gegen das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) und ab 1.1.2008 gegen den jetzt beklagten Landschaftsverband gerichtete - Klage nach Anhörung der Klägerin, Vernehmung mehrerer Zeugen und Einholung eines Sachverständigengutachtens der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapeutische Medizin und Sozialmedizin Dr. S. vom 23.6.2005 sowie eines Zusatzgutachtens der Diplom-Psychologin H. vom 5.4.2005 auf aussagepsychologischem Gebiet durch Urteil vom 29.8.2008 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) NRW hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 16.12.2011), nachdem es ua zur Frage der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin ein auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG erstattetes Sachverständigengutachten des Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie Sp. vom 25.9.2009 sowie eine ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen Dr. S. vom 20.4.2011 beigezogen hatte. Seine Entscheidung hat es im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
- 5
-
Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Gewährung von Versorgung nach § 1 OEG iVm § 31 BVG, weil sich vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe auf die Klägerin, die zur Verursachung der bei ihr bestehenden Gesundheitsschäden geeignet wären, nicht hätten feststellen lassen. Unter Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens sei es nicht in einem die volle richterliche Überzeugung begründenden Maß wahrscheinlich, dass die Klägerin in ihrer Kindheit und Jugend Opfer der von ihr behaupteten körperlichen und sexuellen Misshandlungen und damit von Angriffen iS von § 1 Abs 1 S 1 OEG geworden sei. Keiner der durch das SG vernommenen Zeugen habe die von der Klägerin behaupteten anhaltenden und wiederholten Gewalttätigkeiten durch ihren Vater und ihre Mutter und erst recht nicht den von ihrem Vater angeblich verübten sexuellen Missbrauch bestätigt. Das LSG folge der Beweiswürdigung des SG, das keine generellen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugen dargelegt habe. Es habe daher das ihm eingeräumte Ermessen dahingehend ausgeübt, die Zeugen nicht erneut zu vernehmen. Angesichts des langen Zeitablaufs seit der Zeugenvernehmung durch das SG und mangels neuer Erkenntnisse zu den angeschuldigten Ereignissen, die noch wesentlich länger zurücklägen, gehe das LSG davon aus, dass eine erneute Zeugenvernehmung nicht ergiebig gewesen wäre und lediglich die Aussagen aus der ersten Instanz bestätigt hätte. Zudem hätten die Mutter der Klägerin sowie einer ihrer Brüder gegenüber dem LSG schriftlich angekündigt, im Fall einer Vernehmung erneut das Zeugnis aus persönlichen Gründen zu verweigern. Das LSG habe deswegen auf ihre erneute Ladung zur Vernehmung verzichtet.
- 6
-
Ebenso wenig habe sich das LSG allein auf der Grundlage der Angaben der Klägerin die volle richterliche Überzeugung vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 Abs 1 S 1 OEG bilden können, da es ihre Angaben in wesentlichen Teilen nicht als glaubhaft betrachte. Denn sie widersprächen im Kern den Aussagen ihres Vaters und ihres anderen Bruders. Die dadurch begründeten ernstlichen Zweifel am Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen habe die aussagepsychologische Begutachtung der Klägerin durch die vom SG beauftragte Sachverständige H. nicht ausgeräumt, sondern sogar bestärkt. Die vom Sachverständigen Sp. geäußerte Kritik an der aussagepsychologischen Begutachtung überzeuge das LSG nicht. Denn theoretischer Ansatz und methodische Vorgehensweise des vom SG eingeholten aussagepsychologischen Gutachtens entsprächen dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft. Das Gutachten stütze sich insoweit zu Recht ausdrücklich auf die in der Leitentscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH) in Strafsachen (Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellten Grundsätze der aussagepsychologischen Begutachtung für Glaubhaftigkeitsgutachten, wie sie die Strafgerichte seitdem in ständiger Rechtsprechung anwendeten. Diese aussagepsychologischen Grundsätze seien auf den Sozialgerichtsprozess übertragbar. Dabei könne dahinstehen, ob im Strafprozess grundsätzlich andere Beweismaßstäbe gälten als im Sozialgerichtsprozess. Denn die genannten wissenschaftlichen Prinzipien der Glaubhaftigkeitsbegutachtung beanspruchten Allgemeingültigkeit und entsprächen dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft. Ihre Anwendung sei der anschließenden Beweiswürdigung, die etwaigen Besonderheiten des jeweiligen Prozessrechts Rechnung tragen könne, vorgelagert und lasse sich davon trennen.
- 7
-
Die nach diesen aussagepsychologischen Grundsätzen von der Sachverständigen H. gebildete Alternativhypothese, dass es sich bei den Schilderungen der Klägerin um irrtümliche, dh auf Gedächtnisfehlern beruhende Falschangaben handele, lasse sich nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen nicht widerlegen, sondern gut mit den vorliegenden Daten vereinbaren. Hierfür sprächen die großen Erinnerungslücken der Klägerin hinsichtlich ihrer frühen Kindheit, wobei in der aussagepsychologischen Forschung ohnehin umstritten sei, ob es überhaupt aktuell nicht abrufbare, aber trotzdem zuverlässig gespeicherte Erinnerungen an lange zurückliegende Ereignisse gebe. Es könne dahingestellt bleiben, ob sich das Gericht bei der Beurteilung "wiedergefundener" Erinnerungen sachverständiger Hilfe nicht nur bedienen könne, sondern sogar bedienen müsse, obwohl die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen sowie Beteiligten und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen grundsätzlich richterliche Aufgabe sei. Die Entscheidung des SG für eine aussagepsychologische Begutachtung sei angesichts der Besonderheiten der Aussageentstehung bei der Klägerin jedenfalls ermessensgerecht. Auf der Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstands habe die Sachverständige H. darauf hingewiesen, dass die ursprüngliche Wahrnehmung durch die jahrelange psychotherapeutisch unterstützte mentale Auseinandersetzung der Klägerin mit den fraglichen Gewalterlebnissen durch nachträgliche Bewertungen überlagert und damit unzugänglich geworden sein könne. Daher hätten die Angaben der Klägerin, um als erlebnisbegründet angesehen zu werden, wegen der Gefahr einer möglichen Verwechslung von Gedächtnisquellen besonders handlungs- und wahrnehmungsnahe, raum-zeitlich vernetzte Situationsschilderungen enthalten müssen, die konsistent in die berichtete Gesamtdynamik eingebettet und konstant wiedergegeben würden. Diese Qualitätsanforderungen erfüllten die Schilderungen der Klägerin nicht, da sie nicht das erforderliche Maß an Detailreichtum, Konkretheit und Konstanz aufwiesen und nicht ausreichend situativ eingebettet seien.
- 8
-
Das Gutachten des Sachverständigen Sp. habe das Ergebnis der aussagepsychologischen Begutachtung nicht entkräften können. Da er weder eine hypothesengeleitete Analyse der Angaben der Klägerin nach den genannten wissenschaftlichen Grundsätzen vorgenommen noch ein Wortprotokoll seiner Exploration habe zur Verfügung stellen können, sei die objektive Überprüfbarkeit seiner Untersuchungsergebnisse stark eingeschränkt. Er habe eingeräumt, als Psychiater die aussagepsychologische Begutachtung nicht überprüfen und bewerten zu können und seinerseits durch seinen klinisch-psychiatrischen Zugang nicht zur Wahrheitsfindung in der Lage zu sein. Schließlich sei der von ihm vorgenommene Rückschluss von psychiatrischen Krankheitsanzeichen der Klägerin, konkret dem Vorliegen einer von ihm festgestellten posttraumatischen Belastungsstörung, auf konkrete schädigende Ereignisse iS des § 1 OEG in der Kindheit der Klägerin wegen der Vielzahl möglicher Ursachen einer Traumatisierung methodisch nicht haltbar.
- 9
-
Der abgesenkte Beweismaßstab des § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) komme der Klägerin nicht zugute. Zwar sei diese Regelung analog anzuwenden, wenn andere Beweismittel, wie zB Zeugen, nicht vorhanden seien. Lägen dagegen - wie hier - Beweismittel vor und stützten diese das Begehren des Anspruchstellers nicht, könne die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG nicht angewendet werden, weil diese Norm gerade das Fehlen von Beweismitteln voraussetze. Selbst bei Anwendung des Beweismaßstabs der Glaubhaftigkeit bliebe allerdings die Berufung der Klägerin ohne Erfolg. Denn aufgrund des methodisch einwandfreien und inhaltlich überzeugenden aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen H. stehe für das LSG fest, dass die Angaben der Klägerin nicht als ausreichend glaubhaft angesehen werden könnten, weil zu viele Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Erinnerungen verblieben.
- 10
-
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 15 S 1 KOVVfG, des § 128 Abs 1 S 1 SGG sowie des § 1 Abs 1 OEG. Hierzu führt sie im Wesentlichen aus: Das LSG habe seiner Entscheidung nicht die Regelung des § 15 S 1 KOVVfG zugrunde gelegt und damit den anzulegenden Beweismaßstab verkannt. Richtigerweise hätte es hinsichtlich des von ihr behaupteten sexuellen Missbrauchs der Erbringung des Vollbeweises nicht bedurft; vielmehr wäre insoweit eine Glaubhaftmachung allein aufgrund ihrer Angaben ausreichend gewesen. Denn bezüglich dieses Vorbringens seien - bis auf ihren Vater als möglichen Täter - keine Zeugen vorhanden. Die Möglichkeit, dass sich die von ihr beschriebenen Vorgänge tatsächlich so zugetragen hätten, sei nicht auszuschließen; das Verbleiben gewisser Zweifel schließe die Glaubhaftmachung nicht aus. Dem stehe auch nicht entgegen, dass sie sich erst durch Therapien im Laufe des Verwaltungsverfahrens an die Geschehnisse habe erinnern können.
- 11
-
Das LSG habe ferner gegen § 128 Abs 1 S 1 SGG verstoßen, da es ein aussagepsychologisches Gutachten berücksichtigt habe. Ein solches Gutachten habe nicht eingeholt und berücksichtigt werden dürfen, da aussagepsychologische Gutachten in sozialgerichtlichen Entschädigungsprozessen keine geeigneten Mittel der Sachverhaltsfeststellung darstellten. Die Arbeitsweise bei aussagepsychologischen Gutachten lasse sich entgegen der Auffassung des LSG nicht ohne Weiteres auf sozialrechtliche Entschädigungsprozesse übertragen, da diese nicht mit Strafverfahren vergleichbar seien. Denn in Strafverfahren sei die richterliche Überzeugung vom Vorliegen bestimmter Tatsachen in der Weise gefordert, dass ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit bestehe, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht laut werden dürften. Das OEG hingegen sehe gemäß § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 S 1 KOVVfG einen herabgesetzten Beweismaßstab vor. Ein weiterer Grund, weshalb aussagepsychologische Gutachten in sozialgerichtlichen Entschädigungsprozessen nicht eingeholt werden dürften, sei die darin erfolgende Zugrundelegung der sog Nullhypothese. Diese entspreche im Strafverfahren dem Grundsatz "in dubio pro reo", sodass als Arbeitshypothese von der Unschuld des Angeklagten auszugehen sei; mit sozialgerichtlichen Verfahren sei dies jedoch nicht in Einklang zu bringen. Zudem unterscheide sich die Art der Gutachtenerstattung in den beiden Verfahrensordnungen; in sozialgerichtlichen Verfahren erstatte der Sachverständige das Gutachten aufgrund der Aktenlage und einer Untersuchung der Person, wohingegen der Sachverständige im Strafprozess während der gesamten mündlichen Verhandlung anwesend sei und dadurch weitere Eindrücke von dem Angeklagten gewinne. Schließlich könne eine aussagepsychologische Untersuchung der Aussage eines erwachsenen Zeugen zu kindlichen Traumatisierungen auf keinerlei empirisch gesicherte Datenbasis hinsichtlich der Unterscheidung zwischen auto- oder fremdsuggerierten und erlebnisbasierten Erinnerungen zurückgreifen und sei daher wissenschaftlich nicht sinnvoll.
- 12
-
Ein weiterer Verstoß gegen § 128 Abs 1 S 1 SGG liege in einer widersprüchlichen, mitunter nicht nachvollziehbaren und teilweise einseitigen Beweiswürdigung des LSG begründet, womit es die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten habe. Das LSG habe den Aussagen ihres Bruders sowie ihres Vaters ein höheres Gewicht als ihren eigenen Angaben beigemessen und sich nicht kritisch mit den Zeugenaussagen auseinandergesetzt. Es sei einerseits von einer unberechenbaren Aggressivität des Vaters, einer aggressiven Atmosphäre und emotionalen Vernachlässigung in der Familie sowie einigen nachgewiesenen körperlichen Misshandlungen ausgegangen, halte andererseits jedoch ihre Angaben zu den Misshandlungen nicht für glaubhaft. Kaum berücksichtigt habe es zudem die Aussage ihrer Tante. Das LSG habe ferner ihre teilweise fehlenden, ungenauen oder verspäteten Erinnerungen nur einseitig zu ihrem Nachteil gewürdigt und dabei nicht in Erwägung gezogen, dass diese Erinnerungsfehler Folgen ihres Alters zum Zeitpunkt der Vorfälle, der großen Zeitspanne zwischen den Taten und dem durchgeführten Verfahren sowie ihrer Krankheit sein könnten. Im Rahmen des OEG könnten auch bruchstückhafte, lückenhafte oder voneinander abweichende Erinnerungen als Grundlage für eine Überzeugungsbildung ausreichen. Nicht umfassend gewürdigt habe das LSG schließlich das aussagepsychologische Gutachten, das selbst Anlass zur Kritik biete. Auch dieses habe nicht berücksichtigt, dass die Erinnerungslücken und Abweichungen in den Angaben eine Erscheinungsform ihrer Krankheit sein könnten. Dieses Gutachten entspreche daher nicht den erforderlichen wissenschaftlichen Standards und könne auch aus diesem Grunde nicht berücksichtigt werden. Zudem hätte das Gutachten von einem auf Traumatisierung spezialisierten Psychologen erstattet werden müssen.
- 13
-
Das LSG habe darüber hinaus verkannt, dass die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 OEG bereits durch ihre grobe Vernachlässigung als Schutzbefohlenen erfüllt seien. Das Verhalten ihrer Eltern sei nicht durch ein Züchtigungsrecht gedeckt gewesen. Die familiäre Atmosphäre sei - wie von den Vorinstanzen festgestellt - von elterlicher Aggression, gestörten Beziehungen und emotionaler Vernachlässigung geprägt gewesen. Zudem habe das LSG einige Schläge als erwiesen erachtet. Auch die fachärztlichen Gutachten hätten ergeben, dass ihre psychische Störung jedenfalls durch die aggressive Familienatmosphäre verursacht worden sei.
- 14
-
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 2011 sowie des Sozialgerichts Detmold vom 29. August 2008 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 15. Oktober 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2002 zu verurteilen, ihr wegen der Folgen von sexuellem Missbrauch sowie körperlichen und seelischen Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.
- 15
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
- 16
-
Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend.
- 17
-
Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland auf deren Antrag hin beigeladen (Beschluss vom 29.1.2013). Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
- 18
-
Die Revision der Klägerin ist zulässig.
- 19
-
Sie ist vom LSG zugelassen worden und damit statthaft (§ 160 Abs 1 SGG). Die Klägerin hat bei der Einlegung und Begründung der Revision Formen und Fristen eingehalten (§ 164 Abs 1 und 2 SGG). Die Revisionsbegründung genügt den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Entschädigungsanspruch nach dem OEG auf eine Vielzahl von schädigenden Vorgängen stützt. Demnach ist der Streitgegenstand derart teilbar, dass die Zulässigkeit und Begründetheit der Revision für jeden durch einen abgrenzbaren Sachverhalt bestimmten Teil gesondert zu prüfen ist (vgl BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9a V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3). Dabei bietet es sich hier an, die verschiedenen Vorgänge in drei Gruppen zusammenzufassen: seelische Misshandlungen (Vernachlässigung, beeinträchtigende Familienatmosphäre), körperliche Misshandlungen und sexueller Missbrauch.
- 20
-
Soweit die Klägerin Entschädigung wegen der Folgen seelischer Misshandlungen durch ihre Eltern geltend macht, hat sie einen Verstoß gegen materielles Recht hinreichend dargetan. Sie ist der Ansicht, die betreffenden Vorgänge würden von § 1 OEG erfasst. Soweit das LSG umfangreichere körperliche Misshandlungen der Klägerin im Elternhaus sowie sexuellen Missbrauch durch ihren Vater bzw einen Fremden verneint hat, rügt die Klägerin zunächst substantiiert eine Verletzung von § 15 S 1 KOVVfG, also eine unzutreffende Verneinung der Anwendbarkeit einer besonderen Beweiserleichterung(vgl dazu BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 124 f = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass insbesondere dafür, ob sie Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sei, Beweismittel vorhanden seien. Im Hinblick darauf, dass die Vorinstanz hilfsweise auf § 15 S 1 KOVVfG abgestellt hat, bedarf es auch dazu einer ausreichenden Revisionsbegründung. Diese sieht der Senat vornehmlich in der Rüge der Klägerin, das LSG habe, indem es in diesem Zusammenhang auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 Bezug genommen habe, ein ungeeignetes Beweismittel verwertet (vgl allgemein dazu zB BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527; BGH Beschluss vom 15.3.2007 - 4 StR 66/07 - NStZ 2007, 476) und damit seiner Entscheidung zugleich einen falschen Beweismaßstab zugrunde gelegt. Dazu trägt die Klägerin ua vor, dass die Sachverständige H. ihr Glaubhaftigkeitsgutachen nach anderen Kriterien erstellt habe, als im Rahmen einer Glaubhaftmachung nach § 15 S 1 KOVVfG maßgebend seien.
- 21
-
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), soweit das Berufungsurteil einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter betrifft. Im Übrigen - also hinsichtlich Folgen seelischer Misshandlungen - ist die Revision unbegründet.
- 22
-
1. Einer Sachentscheidung entgegenstehende, von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrenshindernisse bestehen nicht.
- 23
-
Zutreffend sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass bereits während des Klageverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes stattgefunden hat und seit dem 1.1.2008 der beklagte Landschaftsverband passiv legitimiert ist (vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 20 mwN). Denn § 4 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung(= Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW 482) hat die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung mit Wirkung zum 1.1.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung sowie der Opferentschädigung auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG verstößt (vgl hierzu Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21, und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann, sodass sich die von der Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGG)ab 1.1.2008 gemäß § 6 Abs 1 OEG gegen den für die Klägerin örtlich zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe zu richten hat. Darüber hinaus hat die Klägerin in der mündlichen Revisionsverhandlung klargestellt, dass sie im vorliegenden Verfahren ausschließlich einen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenrente verfolgt (vgl dazu BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 12).
- 24
-
2. Für einen Anspruch der Klägerin auf eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend:
- 25
-
a) Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs 1 S 1 OEG gegeben sind(vgl hierzu BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.
- 26
-
In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
- 27
-
b) Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Dabei hat der erkennende Senat je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben. Leitlinie des erkennenden Senats ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat daher aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist er in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger bzw rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (stRspr; vgl nur BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 36 mwN).
- 28
-
In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von § 176 StGB hat der Senat den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Für den Senat ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat war (vgl BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 28 mwN). Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG sein(BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 - BSGE 77, 7, 8 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 23 f, und - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 28 f). Diese erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten. Eine Erstreckung dieses Begriffsverständnisses auf andere Fallgruppen hat das Bundessozialgericht (BSG) bislang abgelehnt (vgl BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 RdNr 12).
- 29
-
Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung iS des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs 1 S 1 OEG vor. Nach § 1631 Abs 2 BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG RdNr 51). Auch insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind.
- 30
-
Zum "Mobbing" als einem sich über längere Zeit hinziehenden Konflikt zwischen dem Opfer und Personen seines gesellschaftlichen Umfeldes hat der erkennende Senat entschieden, dass bei einzelnen "Mobbing"-Aktivitäten die Schwelle zur strafbaren Handlung und somit zum kriminellen Unrecht überschritten sein kann; tätliche Angriffe liegen allerdings nur vor, wenn auf den Körper des Opfers gezielt eingewirkt wird, wie zB durch einen Fußtritt (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 278 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 72).
- 31
-
Auch in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, in denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, ist maßgeblich auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib und Leben des Opfers abzustellen. Die Grenze der Wortlautinterpretation hinsichtlich des Begriffs des tätlichen Angriffs sieht der Senat jedenfalls dann erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 44 mwN). So ist beim "Stalking" die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem StGB - erst überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen das Opfer begangen und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 69 mwN).
- 32
-
c) Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrundezulegen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
- 33
-
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN).
- 34
-
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.
- 35
-
Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).
- 36
-
3. Ausgehend von diesen rechtlichen Vorgaben hat die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenrente wegen der Folgen seelischer Misshandlungen durch ihre Eltern.
- 37
-
Entgegen der Ansicht der Klägerin stellen die von den Vorinstanzen angenommenen allgemeinen Verhältnisse in der Familie der Klägerin keinen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG dar. Das SG hat hierzu festgestellt, die bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen seien mehr auf ein Zusammenwirken atmosphärisch ungünstiger Entwicklungsbedingungen (ablehnende Haltung der Mutter gegenüber der Klägerin, unberechenbare Aggressivität sowie grenzüberschreitende weinerliche Anhänglichkeit des Vaters) zurückzuführen (S 23 des Urteils). Darauf hat das LSG Bezug genommen. Die Verhaltensweise der Eltern hat danach zwar seelische Misshandlungen der Klägerin umfasst, es fehlt insoweit jedoch an dem Merkmal der Gewaltanwendung im Sinne einer gegen den Körper der Klägerin gerichteten Tätlichkeit.
- 38
-
4. Soweit die Klägerin Beschädigtenrente nach dem OEG wegen der Folgen körperlicher Misshandlungen und sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter beansprucht, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung unmöglich. Derartige schädigende Vorgänge werden zwar von § 1 Abs 1 S 1 OEG erfasst, soweit sie nicht von dem seinerzeit noch anerkannten elterlichen Züchtigungsrecht(vgl BGH Beschluss vom 25.11.1986 - 4 StR 605/86 - JZ 1988, 617) gedeckt waren. Es fehlen jedoch hinreichende verwertbare Tatsachenfeststellungen.
- 39
-
a) Das LSG hat unterstellt, dass als vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe einzelne Schläge durch die Eltern (ein heftiger Schlag durch den Vater sowie zwei "Ohrfeigen" durch die Mutter) nachgewiesen seien. Diese hätten jedoch nicht genügt, um die gravierenden seelischen Erkrankungen der Klägerin zu verursachen. Das LSG verweist hierbei auf das Gutachten der Sachverständigen Dr. S. sowie auf die Ausführungen des SG, wonach diese Taten keine posttraumatische Belastungsstörung hätten auslösen können. Die hierauf gründende tatrichterliche Wertung des LSG ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Weder lässt sich feststellen, dass die Vorinstanz insoweit von unrichtigen Rechtsbegriffen ausgegangen ist, noch hat die Klägerin die betreffenden Tatsachenfeststellungen mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen.
- 40
-
b) Den überwiegenden Teil der von der Klägerin angegebenen körperlichen Misshandlungen durch deren Eltern sowie den behaupteten sexuellen Missbrauch durch deren Vater und einen Fremden hat das LSG nicht als nachgewiesen erachtet. Diese Beurteilung vermag der Senat nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu bestätigen. Denn sie beruht auf einer Auslegung des § 15 S 1 KOVVfG, die der Senat nicht teilt.
- 41
-
Nach § 15 S 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6).
- 42
-
Diesen Kriterien hat das LSG nicht hinreichend Rechnung getragen, indem es eine Anwendbarkeit des § 15 S 1 KOVVfG mit der pauschalen Begründung verneint hat, es lägen Beweismittel vor. Zwar hat sich das LSG hinsichtlich der Verneinung umfangreicher körperlicher Misshandlungen der Klägerin durch ihre Eltern, insbesondere durch den Vater, auch auf die Zeugenaussage des Bruders T. der Klägerin gestützt. Es hätte insoweit jedoch näher prüfen müssen, inwiefern die Klägerin Misshandlungen behauptet hat, die dieser Zeuge (insbesondere wegen Abwesenheit) nicht wahrgenommen haben kann. Soweit es den angegebenen sexuellen Missbrauch betrifft, ist nicht ersichtlich, dass diesen eine als Zeuge in Betracht kommende Person wahrgenommen haben kann.
- 43
-
c) Soweit das LSG den § 15 S 1 KOVVfG hilfsweise herangezogen hat, lassen seine Ausführungen nicht hinreichend deutlich erkennen, dass es dabei den von dieser Vorschrift eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde gelegt hat. Aus der einschränkungslosen Bezugnahme auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 lässt sich eher der Schluss ziehen, dass das LSG insoweit einen unzutreffenden, nämlich zu strengen Beweismaßstab angewendet hat. Diese Sachlage gibt dem Senat Veranlassung, grundsätzlich auf die Verwendung von sog Glaubhaftigkeitsgutachten in Verfahren betreffend Ansprüche nach dem OEG einzugehen.
- 44
-
aa) Die Einholung und Berücksichtigung psychologischer Glaubhaftigkeitsgutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten zulässig.
- 45
-
Grundsätzlich steht das Ausmaß von Ermittlungen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Einen Sachverständigen bestellt das Gericht, wenn es selbst nicht über ausreichende Sachkunde verfügt (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 118 RdNr 11b). Dies gilt auch für die Einholung eines sogenannten Glaubhaftigkeitsgutachtens. Dabei handelt es sich um eine aussagepsychologische Begutachtung, deren Gegenstand die Beurteilung ist, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Da eine solche Beurteilung an sich zu den Aufgaben eines Tatrichters gehört, kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BGH aaO, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22). Ob eine derartige Beweiserhebung erforderlich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen kann insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9
= Juris RdNr 22) . Die Entscheidung, ob eine solche Fallgestaltung vorliegt und ob daher ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen ist, beurteilt und trifft das Tatsachengericht im Rahmen der Amtsermittlung nach § 103 SGG. Fußt seine Entscheidung auf einem hinreichenden Grund, so ist deren Überprüfung dem Revisionsgericht entzogen (vgl BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9= Juris RdNr 20, 23) .
- 46
-
Von Seiten des Gerichts muss im Zusammenhang mit der Einholung, vor allem aber mit der anschließenden Würdigung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens stets beachtet werden, dass sich die psychologische Begutachtung von Aussagen nicht darauf beziehen kann, Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts zu machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben. Darüber hinaus besteht die Kompetenz und damit auch die Aufgabe des Sachverständigen darin abzuklären, ob sich dieser Erlebnishintergrund in der sog Wachwirklichkeit befindet, anstatt auf Träumen, Halluzinationen oder Vorstellungen zu beruhen. Ausschließlich auf diesen Aspekt des Wirklichkeitsbezuges einer Aussage kann sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beziehen (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49). In einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung trifft der Sachverständige erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt. Durch das Gutachten vermittelt er dem Gericht daher auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f). Die umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliegt sodann dem Gericht.
- 47
-
Entgegen der Auffassung der Klägerin ergeben sich aus den Ausführungen in dem Urteil des LSG NRW vom 28.11.2007 - L 10 VG 13/06 - (Juris RdNr 25) keine Hinweise auf die Unzulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialrechtlichen Verfahren. Vielmehr hat das LSG NRW hierbei lediglich die Amtsermittlung des erstinstanzlichen Gerichts gerügt, das anstelle der Vernehmung der durch die dortige Klägerin benannten Zeugen ein Sachverständigengutachten eingeholt hatte (ua mit der Beweisfrage "Steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - dh es darf kein begründbarer Zweifel bestehen - fest, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs - in welchem Zeitraum, in welcher Weise - geworden ist?"; Juris RdNr 9). Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn das LSG NRW zum einen die Vernehmung der Zeugen gefordert und zum anderen festgestellt hat, dass die an die Sachverständigen gestellte Frage keinem Beweis durch ein medizinisches oder aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zugänglich sei, sondern dass das Gericht diese Tatsache selbst aufzuklären habe. Ausdrücklich zu aussagepsychologischen Gutachten hat das LSG NRW ferner zutreffend festgestellt, auch bei diesen dürfe dem Sachverständigen nicht die Entscheidung überlassen werden, ob eine behauptete Tat stattgefunden habe oder nicht. Vielmehr dürfe dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprächen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhten (LSG NRW, aaO, Juris RdNr 25). Aus diesen Ausführungen lässt sich nicht der Schluss ziehen, das LSG NRW gehe grundsätzlich davon aus, dass in sozialrechtlichen Verfahren keine Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt und berücksichtigt werden könnten.
- 48
-
bb) Für die Erstattung von Glaubhaftigkeitsgutachten gelten auch im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts zunächst die Grundsätze, die der BGH in der Entscheidung vom 30.7.1999 (1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellt hat. Mit dieser Entscheidung hat der BGH die wissenschaftlichen Standards und Methoden für die psychologische Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zusammengefasst. Nicht das jeweilige Prozessrecht schafft diese Anforderungen (zum Straf- und Strafprozessrecht vgl Fabian/Greuel/Stadler, StV 1996, 347 f), vielmehr handelt es sich hierbei um wissenschaftliche Erkenntnisse der Aussagepsychologie (vgl Vogl, NJ 1999, 603), die Glaubhaftigkeitsgutachten allgemein zu beachten haben, damit diese überhaupt belastbar sind und verwertet werden können (so auch BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f; vgl grundlegend hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 48 ff; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 16 ff). Die grundsätzlichen wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten stellen sich wie folgt dar (vgl zum Folgenden BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167 ff mwN; basierend ua auf dem Gutachten von Steller/Volbert, wiedergegeben in Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46 ff):
Bei der psychologischen Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen besteht das methodische Grundprinzip darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit einer bestimmten Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der wissenschaftlich ausgebildete psychologische Sachverständige arbeitet (gedanklich) also zunächst mit der Unwahrannahme als sog Nullhypothese (Steller/Volbert, Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46, 61; den Begriff der Nullhypothese sowie das Ausgehen von dieser kritisierend Stanislawski/Blumer, Streit 2000, 65, 67 f). Der Sachverständige bildet dazu neben der "Wirklichkeitshypothese" (die Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert) die Gegenhypothese, die Aussage sei unwahr. Bestehen mehrere Möglichkeiten, aus welchen Gründen eine Aussage keinen Erlebnishintergrund haben könnte, hat der Sachverständige bezogen auf den konkreten Einzelfall passende Null- bzw Alternativhypothesen zu bilden (vgl beispielhaft hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 52 f; ebenso, zudem mit den jeweiligen diagnostischen Bezügen Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 61 ff). Die Bildung relevanter, also auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmter Hypothesen ist von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. Im weiteren Verlauf hat der Sachverständige jede einzelne Alternativhypothese darauf zu untersuchen, ob diese mit den erhobenen Fakten in Übereinstimmung stehen kann; wird dies für sämtliche Null- bzw Alternativhypothesen verneint, gilt die Wirklichkeitshypothese, wonach es sich um eine wahre Aussage handelt.
- 49
-
Die zentralen psychologischen Konstrukte, die den Begriff der Glaubhaftigkeit - aus psychologischer Sicht - ausfüllen und somit die Grundstruktur der psychodiagnostischen Informationsaufnahme und -verarbeitung vorgeben, sind Aussagetüchtigkeit (verfügt die Person über die notwendigen kognitiven Grundvoraussetzungen zur Erstattung einer verwertbaren Aussage?), Aussagequalität (weist die Aussage Merkmale auf, die in erlebnisfundierten Schilderungen zu erwarten sind?) sowie Aussagevalidität (liegen potentielle Störfaktoren vor, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage begründen können?). Erst wenn die Aussagetüchtigkeit bejaht wird, kann der mögliche Erlebnisbezug der Aussage unter Berücksichtigung ihrer Qualität und Validität untersucht werden (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49; zur eventuell erforderlichen Hinzuziehung eines Psychiaters zur Bewertung der Aussagetüchtigkeit Schumacher, StV 2003, 641 ff). Das abschließende gutachterliche Urteil über die Glaubhaftigkeit einer Aussage kann niemals allein auf einer einzigen Konstruktebene (zB der Ebene der Aussagequalität) erfolgen, sondern erfordert immer eine integrative Betrachtung der Befunde in Bezug auf sämtliche Ebenen (Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 62).
- 50
-
Die wesentlichen methodischen Mittel, die der Sachverständige zur Überprüfung der gebildeten Hypothesen anzuwenden hat, sind die - die Aussagequalität überprüfende - Aussageanalyse (Inhalts- und Konstanzanalyse) und die - die Aussagevalidität betreffende - Fehlerquellen-, Motivations- sowie Kompetenzanalyse. Welche dieser Analyseschritte mit welcher Gewichtung durchzuführen sind, ergibt sich aus den zuvor gebildeten Null- bzw Alternativhypothesen; bei der Abgrenzung einer wahren Darstellung von einer absichtlichen Falschaussage sind andere Analysen erforderlich als bei deren Abgrenzung von einer subjektiv wahren, aber objektiv nicht zutreffenden, auf Scheinerinnerungen basierenden Darstellung (vgl hierzu Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 17 ff).
- 51
-
Diese Prüfungsschritte müssen nicht in einer bestimmten Prüfungsstrategie angewendet werden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau. Die einzelnen Elemente der Begutachtung müssen auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden (vgl BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f). Es ist vielmehr ausreichend, wenn sich aus einer Gesamtbetrachtung des Gutachtens ergibt, dass der Sachverständige das dargestellte methodische Grundprinzip angewandt hat. Vor allem muss überprüfbar sein, auf welchem Weg er zu seinen Ergebnissen gelangt ist.
- 52
-
cc) Die aufgrund der dargestellten methodischen Vorgehensweise, insbesondere aufgrund des Ausgehens von der sog Nullhypothese, vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialgerichtlichen Verfahren (vgl hierzu SG Fulda Urteil vom 30.6.2008 - S 6 VG 16/06 - Juris RdNr 33 aE; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.7.2010 - L 13 VG 25/07 - Juris RdNr 36; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.6.2012 - L 4 VG 13/09 - Juris RdNr 44 ff; offenlassend, aber Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese äußernd LSG Baden-Württemberg Urteil vom 15.12.2011 - L 6 VG 584/11 - ZFSH/SGB 2012, 203, 206) überzeugen nicht.
- 53
-
Nach derzeitigen Erkenntnissen gibt es für einen psychologischen Sachverständigen keine Alternative zu dem beschriebenen Vorgehen. Der Erlebnisbezug einer Aussage ist nicht anders als durch systematischen Ausschluss von Alternativhypothesen zur Wahrannahme zu belegen (Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 20, 22). Nach dem gegenwärtigen psychologischen Kenntnisstand kann die Wirklichkeitshypothese selbst nicht überprüft werden, da eine erlebnisbasierte Aussage eine hohe, aber auch eine niedrige Aussagequalität haben kann. Die Prüfung hat daher an der Unwahrhypothese bzw ihren möglichen Alternativen anzusetzen. Erst wenn sämtliche Unwahrhypothesen ausgeschlossen werden können, ist die Wahrannahme belegt (vgl Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 22). Zudem hat diese Vorgehensweise zur Folge, dass sämtliche Unwahrhypothesen geprüft werden, womit ein ausgewogenes Analyseergebnis erzielt werden kann (Schoreit, StV 2004, 284, 286).
- 54
-
Es ist zutreffend, dass dieses methodische Vorgehen ein recht strenges Verfahren der Aussageprüfung darstellt (so auch Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 205), denn die Tatsache, dass eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, bedeutet nicht zwingend, dass diese Hypothese tatsächlich zutrifft. Gleichwohl würde das Gutachten in einem solchen Fall zu dem Ergebnis gelangen, dass eine wahre Aussage nicht belegt werden kann. Insoweit korrespondieren das methodische Grundprinzip der Aussagepsychologie und die rechtlichen Anforderungen in Strafverfahren besonders gut miteinander (vgl dazu Volbert, aaO S 20). Denn auch die Unschuldsvermutung hat zugunsten des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten. Durch beide Prinzipien soll auf jeden Fall vermieden werden, dass eine tatsächlich nicht zutreffende Aussage als glaubhaft klassifiziert wird. Zwar soll möglichst auch der andere Fehler unterbleiben, dass also eine wahre Aussage als nicht zutreffend bewertet wird. In Zweifelsfällen gilt aber eine klare Entscheidungspriorität (vgl Volbert, aaO): Bestehen noch Zweifel hinsichtlich einer Unwahrhypothese, kann diese also nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, so gilt der Erlebnisbezug der Aussage als nicht bewiesen und die Aussage als nicht glaubhaft.
- 55
-
Diese Konsequenz führt nicht dazu, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialrechtlichen Entschädigungsverfahren nach dem OEG als Beweismittel schlichtweg ungeeignet sind. Soweit der Vollbeweis gilt, ist damit die Anwendung dieser methodischen Prinzipien der Aussagepsychologie ohne Weiteres zu vereinbaren. Denn dabei gilt eine Tatsache erst dann als bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Bestehen in einem solchen Verfahren noch Zweifel daran, dass eine Aussage erlebnisfundiert ist, weil eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, geht dies zu Lasten des Klägers bzw der Klägerin (von der Zulässigkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten ausgehend LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 9.9.2008 - L 11 VG 33/08 - Juris RdNr 24 ff; LSG NRW Urteil vom 29.9.2010 - L 6 (7) VG 16/05 - Juris RdNr 24; ebenso, jedoch bei Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG Bayerisches LSG Urteil vom 30.6.2005 - L 15 VG 13/02 - Juris RdNr 40; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05 - Juris RdNr 34 sowie Urteil vom 16.9.2011 - L 10 VG 26/07 - Juris RdNr 38 ff).
- 56
-
Die grundsätzliche Bejahung der Beweiseignung von Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialen Entschädigungsrecht wird auch dadurch gestützt, dass nach der dargestellten hypothesengeleiteten Methodik - unter Einschluss der sog Nullhypothese - erstattete Gutachten nicht nur in Strafverfahren Anwendung finden, sondern auch in Zivilverfahren (vgl BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527, 2528 f; Saarländisches OLG Urteil vom 13.7.2011 - 1 U 32/08 - Juris RdNr 50 ff) und in arbeitsrechtlichen Verfahren (vgl LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 20.7.2011 - 26 Sa 1269/10 - Juris RdNr 64 ff). In diesen Verfahren ist der Vollbeweis der anspruchsbegründenden Tatsachen bzw der Voraussetzungen für einen Kündigungsgrund (zumeist eine erhebliche Pflichtverletzung) ebenfalls erforderlich.
- 57
-
dd) Soweit allerdings nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG eine Glaubhaftmachung ausreicht, ist ein nach der dargestellten Methodik erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht ohne Weiteres geeignet, zur Entscheidungsfindung des Gerichts beizutragen. Das folgt schon daraus, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, während ein aussagepsychologischer Sachverständiger diese Angaben erst dann als glaubhaft ansieht, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen kann. Da ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten den Vollbeweis ermöglichen soll, muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines solchen Gutachtens nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können.
- 58
-
Will sich ein Gericht auch bei Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG eines aussagepsychologischen Gutachtens bedienen, so hat es den Sachverständigen mithin auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten kann. Dabei sind auch die Beweisfragen entsprechend zu fassen. Im Falle von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen lautet die übergeordnete psychologische Untersuchungsfragestellung: "Können die Angaben aus aussagepsychologischer Sicht als mit (sehr) hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert klassifiziert werden?" (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49). Demgegenüber sollte dann, wenn eine Glaubhaftmachung ausreicht, darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können.
- 59
-
Damit das Gericht den rechtlichen Begriff der Glaubhaftmachung in eigener Beweiswürdigung ausfüllen kann und nicht durch die Feststellung einer Glaubhaftigkeit seitens des Sachverständigen festgelegt ist, könnte es insoweit hilfreich sein, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergibt (für eine solche Vorgehensweise im Asylverfahren vgl Lösel/Bender, Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Bd 7, 2001, S 175, 184). Denn dem Tatsachengericht ist am ehesten gedient, wenn der psychologische Sachverständige im Rahmen des Möglichen die Wahrscheinlichkeiten bzw Wahrscheinlichkeitsgrade für die unterschiedlichen Hypothesen darstellt.
- 60
-
Diesen Maßgaben wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG ohne Weiteres auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 gestützt. Dieses Glaubhaftigkeitsgutachten ist vom SG zu den Fragen eingeholt worden:
Sind die Angaben der Klägerin zu den Misshandlungen durch die Eltern und zum sexuellen Missbrauch durch den Vater (…) unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlich-aussagepsychologischen Kenntnisstandes insgesamt oder in Teilen glaubhaft? Sind die Angaben insbesondere inhaltlich konsistent und konstant und sind aussagerelevante Besonderheiten der Persönlichkeitsentwicklung der Klägerin zu berücksichtigen? Welche Gründe sprechen insgesamt für und gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben?
- 61
-
Ein Hinweis auf den im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab der Glaubhaftmachung ist dabei nach Aktenlage nicht erfolgt. Dementsprechend lässt das Gutachten der Sachverständigen H. nicht erkennen, dass sich diese der daraus folgenden Besonderheiten bewusst gewesen ist. Vielmehr hat die Sachverständige in der Einleitung zu ihrem Gutachten ("Formaler Rahmen der Begutachtung") erklärt, dass sich das Vorgehen bei der Begutachtung und die Darstellung der Ergebnisse nach den Standards wissenschaftlich fundierter Glaubhaftigkeitsbegutachtung richte, wie sie im Grundsatzurteil des BGH vom 30.7.1999 (BGHSt 45, 164 = NJW 1999, 2746) dargelegt seien (S 1 des Gutachtens).
- 62
-
Da das Berufungsurteil mithin - soweit es die Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG betrifft - offenbar auf einer Tatsachenwürdigung beruht, der ein unzutreffender Beweismaßstab zugrunde liegt, vermag der erkennende Senat die Beurteilung des LSG auch zu diesem Punkt nicht zu bestätigen.
- 63
-
5. Der erkennende Senat sieht sich zu einer Aufhebung des Berufungsurteils und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG veranlasst (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), weil die jetzt nach zutreffenden Beweismaßstäben vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können (§ 163 SGG).
- 64
-
6. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
(1) Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds gehandelt hat.
(2) Einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 stehen gleich
- 1.
die vorsätzliche Beibringung von Gift, - 2.
die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen.
(3) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind; Buchstabe e gilt auch für einen Unfall, den der Geschädigte bei der unverzüglichen Erstattung der Strafanzeige erleidet.
(4) Ausländerinnen und Ausländer haben dieselben Ansprüche wie Deutsche.
(5) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt.
(6) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die ein Berechtigter oder Leistungsempfänger nach Absatz 1 oder 5 in Verbindung mit § 10 Abs. 4 oder 5 des Bundesversorgungsgesetzes, eine Pflegeperson oder eine Begleitperson bei einer notwendigen Begleitung des Geschädigten durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes erleidet.
(7) Einer gesundheitlichen Schädigung im Sinne des Absatzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz gleich.
(8) Wird ein tätlicher Angriff im Sinne des Absatzes 1 durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers verübt, werden Leistungen nach diesem Gesetz erbracht.
(9) § 1 Abs. 3, die §§ 64 bis 64d, 64f sowie 89 des Bundesversorgungsgesetzes sind mit der Maßgabe anzuwenden, daß an die Stelle der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde tritt, sofern ein Land Kostenträger ist (§ 4). Dabei sind die für deutsche Staatsangehörige geltenden Vorschriften auch für von diesem Gesetz erfaßte Ausländer anzuwenden.
(10) § 20 des Bundesversorgungsgesetzes ist mit den Maßgaben anzuwenden, daß an die Stelle der in Absatz 1 Satz 3 genannten Zahl die Zahl der rentenberechtigten Beschädigten und Hinterbliebenen nach diesem Gesetz im Vergleich zur Zahl des Vorjahres tritt, daß in Absatz 1 Satz 4 an die Stelle der dort genannten Ausgaben der Krankenkassen je Mitglied und Rentner einschließlich Familienangehörige die bundesweiten Ausgaben je Mitglied treten, daß Absatz 2 Satz 1 für die oberste Landesbehörde, die für die Kriegsopferversorgung zuständig ist, oder die von ihr bestimmte Stelle gilt und daß in Absatz 3 an die Stelle der in Satz 1 genannten Zahl die Zahl 1,3 tritt und die Sätze 2 bis 4 nicht gelten.
(11) Im Rahmen der Heilbehandlung sind auch heilpädagogische Behandlung, heilgymnastische und bewegungstherapeutische Übungen zu gewähren, wenn diese bei der Heilbehandlung notwendig sind.
Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.
(1) Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds gehandelt hat.
(2) Einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 stehen gleich
- 1.
die vorsätzliche Beibringung von Gift, - 2.
die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen.
(3) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind; Buchstabe e gilt auch für einen Unfall, den der Geschädigte bei der unverzüglichen Erstattung der Strafanzeige erleidet.
(4) Ausländerinnen und Ausländer haben dieselben Ansprüche wie Deutsche.
(5) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt.
(6) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die ein Berechtigter oder Leistungsempfänger nach Absatz 1 oder 5 in Verbindung mit § 10 Abs. 4 oder 5 des Bundesversorgungsgesetzes, eine Pflegeperson oder eine Begleitperson bei einer notwendigen Begleitung des Geschädigten durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes erleidet.
(7) Einer gesundheitlichen Schädigung im Sinne des Absatzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz gleich.
(8) Wird ein tätlicher Angriff im Sinne des Absatzes 1 durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers verübt, werden Leistungen nach diesem Gesetz erbracht.
(9) § 1 Abs. 3, die §§ 64 bis 64d, 64f sowie 89 des Bundesversorgungsgesetzes sind mit der Maßgabe anzuwenden, daß an die Stelle der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde tritt, sofern ein Land Kostenträger ist (§ 4). Dabei sind die für deutsche Staatsangehörige geltenden Vorschriften auch für von diesem Gesetz erfaßte Ausländer anzuwenden.
(10) § 20 des Bundesversorgungsgesetzes ist mit den Maßgaben anzuwenden, daß an die Stelle der in Absatz 1 Satz 3 genannten Zahl die Zahl der rentenberechtigten Beschädigten und Hinterbliebenen nach diesem Gesetz im Vergleich zur Zahl des Vorjahres tritt, daß in Absatz 1 Satz 4 an die Stelle der dort genannten Ausgaben der Krankenkassen je Mitglied und Rentner einschließlich Familienangehörige die bundesweiten Ausgaben je Mitglied treten, daß Absatz 2 Satz 1 für die oberste Landesbehörde, die für die Kriegsopferversorgung zuständig ist, oder die von ihr bestimmte Stelle gilt und daß in Absatz 3 an die Stelle der in Satz 1 genannten Zahl die Zahl 1,3 tritt und die Sätze 2 bis 4 nicht gelten.
(11) Im Rahmen der Heilbehandlung sind auch heilpädagogische Behandlung, heilgymnastische und bewegungstherapeutische Übungen zu gewähren, wenn diese bei der Heilbehandlung notwendig sind.
Tenor
-
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 2011 aufgehoben, soweit es einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter betrifft.
-
In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
-
Im Übrigen wird die Revision der Klägerin zurückgewiesen.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
- 2
-
Die 1962 geborene Klägerin beantragte am 16.9.1999 beim damals zuständigen Versorgungsamt B. Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Sie gab an, ihre Gesundheitsstörungen seien Folge von Gewalttaten und sexuellem Missbrauch im Elternhaus sowie von sexuellem Missbrauch durch einen Fremden. Die Taten hätten sich zwischen ihrem Geburtsjahr 1962 mit abnehmender Tendenz bis 1980 zugetragen.
- 3
-
Nachdem das Versorgungsamt die Klägerin angehört, eine Vielzahl von Arztberichten, insbesondere über psychiatrische Behandlungen der Klägerin, sowie eine schriftliche Aussage ihrer Tante eingeholt hatte, stellte die Ärztin für Neurologie und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin Dr. W. mit Gutachten vom 26.9.2001 für das Versorgungsamt zusammenfassend fest, die Untersuchung der Klägerin habe nur in Ansätzen detaillierte Angaben zu den geltend gemachten Misshandlungen und dem sexuellen Missbrauch erbracht. Diagnostisch sei von einer Persönlichkeitsstörung auszugehen. Aufgrund der Symptomatik sei nicht zu entscheiden, ob die psychische Störung der Klägerin ein Milieuschaden im weitesten Sinne sei oder mindestens gleichwertig auf Gewalttaten im Sinne des OEG zurückzuführen sei. Das Versorgungsamt lehnte daraufhin den Antrag der Klägerin auf Beschädigtenversorgung mit der Begründung ab: Die psychische Störung könne nicht als Folge tätlicher Gewalt anerkannt werden. Zwar seien einzelne körperliche Misshandlungen, Schläge und sexueller Missbrauch geschildert worden, insbesondere aber insgesamt zerrüttete Familienverhältnisse. Vor allem diese frühere, allgemeine familiäre Situation sei für die psychischen Probleme verantwortlich (Bescheid vom 15.10.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.5.2002).
- 4
-
Das Sozialgericht (SG) Detmold hat die - zunächst gegen das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) und ab 1.1.2008 gegen den jetzt beklagten Landschaftsverband gerichtete - Klage nach Anhörung der Klägerin, Vernehmung mehrerer Zeugen und Einholung eines Sachverständigengutachtens der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapeutische Medizin und Sozialmedizin Dr. S. vom 23.6.2005 sowie eines Zusatzgutachtens der Diplom-Psychologin H. vom 5.4.2005 auf aussagepsychologischem Gebiet durch Urteil vom 29.8.2008 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) NRW hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 16.12.2011), nachdem es ua zur Frage der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin ein auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG erstattetes Sachverständigengutachten des Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie Sp. vom 25.9.2009 sowie eine ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen Dr. S. vom 20.4.2011 beigezogen hatte. Seine Entscheidung hat es im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
- 5
-
Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Gewährung von Versorgung nach § 1 OEG iVm § 31 BVG, weil sich vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe auf die Klägerin, die zur Verursachung der bei ihr bestehenden Gesundheitsschäden geeignet wären, nicht hätten feststellen lassen. Unter Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens sei es nicht in einem die volle richterliche Überzeugung begründenden Maß wahrscheinlich, dass die Klägerin in ihrer Kindheit und Jugend Opfer der von ihr behaupteten körperlichen und sexuellen Misshandlungen und damit von Angriffen iS von § 1 Abs 1 S 1 OEG geworden sei. Keiner der durch das SG vernommenen Zeugen habe die von der Klägerin behaupteten anhaltenden und wiederholten Gewalttätigkeiten durch ihren Vater und ihre Mutter und erst recht nicht den von ihrem Vater angeblich verübten sexuellen Missbrauch bestätigt. Das LSG folge der Beweiswürdigung des SG, das keine generellen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugen dargelegt habe. Es habe daher das ihm eingeräumte Ermessen dahingehend ausgeübt, die Zeugen nicht erneut zu vernehmen. Angesichts des langen Zeitablaufs seit der Zeugenvernehmung durch das SG und mangels neuer Erkenntnisse zu den angeschuldigten Ereignissen, die noch wesentlich länger zurücklägen, gehe das LSG davon aus, dass eine erneute Zeugenvernehmung nicht ergiebig gewesen wäre und lediglich die Aussagen aus der ersten Instanz bestätigt hätte. Zudem hätten die Mutter der Klägerin sowie einer ihrer Brüder gegenüber dem LSG schriftlich angekündigt, im Fall einer Vernehmung erneut das Zeugnis aus persönlichen Gründen zu verweigern. Das LSG habe deswegen auf ihre erneute Ladung zur Vernehmung verzichtet.
- 6
-
Ebenso wenig habe sich das LSG allein auf der Grundlage der Angaben der Klägerin die volle richterliche Überzeugung vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 Abs 1 S 1 OEG bilden können, da es ihre Angaben in wesentlichen Teilen nicht als glaubhaft betrachte. Denn sie widersprächen im Kern den Aussagen ihres Vaters und ihres anderen Bruders. Die dadurch begründeten ernstlichen Zweifel am Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen habe die aussagepsychologische Begutachtung der Klägerin durch die vom SG beauftragte Sachverständige H. nicht ausgeräumt, sondern sogar bestärkt. Die vom Sachverständigen Sp. geäußerte Kritik an der aussagepsychologischen Begutachtung überzeuge das LSG nicht. Denn theoretischer Ansatz und methodische Vorgehensweise des vom SG eingeholten aussagepsychologischen Gutachtens entsprächen dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft. Das Gutachten stütze sich insoweit zu Recht ausdrücklich auf die in der Leitentscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH) in Strafsachen (Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellten Grundsätze der aussagepsychologischen Begutachtung für Glaubhaftigkeitsgutachten, wie sie die Strafgerichte seitdem in ständiger Rechtsprechung anwendeten. Diese aussagepsychologischen Grundsätze seien auf den Sozialgerichtsprozess übertragbar. Dabei könne dahinstehen, ob im Strafprozess grundsätzlich andere Beweismaßstäbe gälten als im Sozialgerichtsprozess. Denn die genannten wissenschaftlichen Prinzipien der Glaubhaftigkeitsbegutachtung beanspruchten Allgemeingültigkeit und entsprächen dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft. Ihre Anwendung sei der anschließenden Beweiswürdigung, die etwaigen Besonderheiten des jeweiligen Prozessrechts Rechnung tragen könne, vorgelagert und lasse sich davon trennen.
- 7
-
Die nach diesen aussagepsychologischen Grundsätzen von der Sachverständigen H. gebildete Alternativhypothese, dass es sich bei den Schilderungen der Klägerin um irrtümliche, dh auf Gedächtnisfehlern beruhende Falschangaben handele, lasse sich nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen nicht widerlegen, sondern gut mit den vorliegenden Daten vereinbaren. Hierfür sprächen die großen Erinnerungslücken der Klägerin hinsichtlich ihrer frühen Kindheit, wobei in der aussagepsychologischen Forschung ohnehin umstritten sei, ob es überhaupt aktuell nicht abrufbare, aber trotzdem zuverlässig gespeicherte Erinnerungen an lange zurückliegende Ereignisse gebe. Es könne dahingestellt bleiben, ob sich das Gericht bei der Beurteilung "wiedergefundener" Erinnerungen sachverständiger Hilfe nicht nur bedienen könne, sondern sogar bedienen müsse, obwohl die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen sowie Beteiligten und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen grundsätzlich richterliche Aufgabe sei. Die Entscheidung des SG für eine aussagepsychologische Begutachtung sei angesichts der Besonderheiten der Aussageentstehung bei der Klägerin jedenfalls ermessensgerecht. Auf der Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstands habe die Sachverständige H. darauf hingewiesen, dass die ursprüngliche Wahrnehmung durch die jahrelange psychotherapeutisch unterstützte mentale Auseinandersetzung der Klägerin mit den fraglichen Gewalterlebnissen durch nachträgliche Bewertungen überlagert und damit unzugänglich geworden sein könne. Daher hätten die Angaben der Klägerin, um als erlebnisbegründet angesehen zu werden, wegen der Gefahr einer möglichen Verwechslung von Gedächtnisquellen besonders handlungs- und wahrnehmungsnahe, raum-zeitlich vernetzte Situationsschilderungen enthalten müssen, die konsistent in die berichtete Gesamtdynamik eingebettet und konstant wiedergegeben würden. Diese Qualitätsanforderungen erfüllten die Schilderungen der Klägerin nicht, da sie nicht das erforderliche Maß an Detailreichtum, Konkretheit und Konstanz aufwiesen und nicht ausreichend situativ eingebettet seien.
- 8
-
Das Gutachten des Sachverständigen Sp. habe das Ergebnis der aussagepsychologischen Begutachtung nicht entkräften können. Da er weder eine hypothesengeleitete Analyse der Angaben der Klägerin nach den genannten wissenschaftlichen Grundsätzen vorgenommen noch ein Wortprotokoll seiner Exploration habe zur Verfügung stellen können, sei die objektive Überprüfbarkeit seiner Untersuchungsergebnisse stark eingeschränkt. Er habe eingeräumt, als Psychiater die aussagepsychologische Begutachtung nicht überprüfen und bewerten zu können und seinerseits durch seinen klinisch-psychiatrischen Zugang nicht zur Wahrheitsfindung in der Lage zu sein. Schließlich sei der von ihm vorgenommene Rückschluss von psychiatrischen Krankheitsanzeichen der Klägerin, konkret dem Vorliegen einer von ihm festgestellten posttraumatischen Belastungsstörung, auf konkrete schädigende Ereignisse iS des § 1 OEG in der Kindheit der Klägerin wegen der Vielzahl möglicher Ursachen einer Traumatisierung methodisch nicht haltbar.
- 9
-
Der abgesenkte Beweismaßstab des § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) komme der Klägerin nicht zugute. Zwar sei diese Regelung analog anzuwenden, wenn andere Beweismittel, wie zB Zeugen, nicht vorhanden seien. Lägen dagegen - wie hier - Beweismittel vor und stützten diese das Begehren des Anspruchstellers nicht, könne die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG nicht angewendet werden, weil diese Norm gerade das Fehlen von Beweismitteln voraussetze. Selbst bei Anwendung des Beweismaßstabs der Glaubhaftigkeit bliebe allerdings die Berufung der Klägerin ohne Erfolg. Denn aufgrund des methodisch einwandfreien und inhaltlich überzeugenden aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen H. stehe für das LSG fest, dass die Angaben der Klägerin nicht als ausreichend glaubhaft angesehen werden könnten, weil zu viele Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Erinnerungen verblieben.
- 10
-
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 15 S 1 KOVVfG, des § 128 Abs 1 S 1 SGG sowie des § 1 Abs 1 OEG. Hierzu führt sie im Wesentlichen aus: Das LSG habe seiner Entscheidung nicht die Regelung des § 15 S 1 KOVVfG zugrunde gelegt und damit den anzulegenden Beweismaßstab verkannt. Richtigerweise hätte es hinsichtlich des von ihr behaupteten sexuellen Missbrauchs der Erbringung des Vollbeweises nicht bedurft; vielmehr wäre insoweit eine Glaubhaftmachung allein aufgrund ihrer Angaben ausreichend gewesen. Denn bezüglich dieses Vorbringens seien - bis auf ihren Vater als möglichen Täter - keine Zeugen vorhanden. Die Möglichkeit, dass sich die von ihr beschriebenen Vorgänge tatsächlich so zugetragen hätten, sei nicht auszuschließen; das Verbleiben gewisser Zweifel schließe die Glaubhaftmachung nicht aus. Dem stehe auch nicht entgegen, dass sie sich erst durch Therapien im Laufe des Verwaltungsverfahrens an die Geschehnisse habe erinnern können.
- 11
-
Das LSG habe ferner gegen § 128 Abs 1 S 1 SGG verstoßen, da es ein aussagepsychologisches Gutachten berücksichtigt habe. Ein solches Gutachten habe nicht eingeholt und berücksichtigt werden dürfen, da aussagepsychologische Gutachten in sozialgerichtlichen Entschädigungsprozessen keine geeigneten Mittel der Sachverhaltsfeststellung darstellten. Die Arbeitsweise bei aussagepsychologischen Gutachten lasse sich entgegen der Auffassung des LSG nicht ohne Weiteres auf sozialrechtliche Entschädigungsprozesse übertragen, da diese nicht mit Strafverfahren vergleichbar seien. Denn in Strafverfahren sei die richterliche Überzeugung vom Vorliegen bestimmter Tatsachen in der Weise gefordert, dass ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit bestehe, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht laut werden dürften. Das OEG hingegen sehe gemäß § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 S 1 KOVVfG einen herabgesetzten Beweismaßstab vor. Ein weiterer Grund, weshalb aussagepsychologische Gutachten in sozialgerichtlichen Entschädigungsprozessen nicht eingeholt werden dürften, sei die darin erfolgende Zugrundelegung der sog Nullhypothese. Diese entspreche im Strafverfahren dem Grundsatz "in dubio pro reo", sodass als Arbeitshypothese von der Unschuld des Angeklagten auszugehen sei; mit sozialgerichtlichen Verfahren sei dies jedoch nicht in Einklang zu bringen. Zudem unterscheide sich die Art der Gutachtenerstattung in den beiden Verfahrensordnungen; in sozialgerichtlichen Verfahren erstatte der Sachverständige das Gutachten aufgrund der Aktenlage und einer Untersuchung der Person, wohingegen der Sachverständige im Strafprozess während der gesamten mündlichen Verhandlung anwesend sei und dadurch weitere Eindrücke von dem Angeklagten gewinne. Schließlich könne eine aussagepsychologische Untersuchung der Aussage eines erwachsenen Zeugen zu kindlichen Traumatisierungen auf keinerlei empirisch gesicherte Datenbasis hinsichtlich der Unterscheidung zwischen auto- oder fremdsuggerierten und erlebnisbasierten Erinnerungen zurückgreifen und sei daher wissenschaftlich nicht sinnvoll.
- 12
-
Ein weiterer Verstoß gegen § 128 Abs 1 S 1 SGG liege in einer widersprüchlichen, mitunter nicht nachvollziehbaren und teilweise einseitigen Beweiswürdigung des LSG begründet, womit es die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten habe. Das LSG habe den Aussagen ihres Bruders sowie ihres Vaters ein höheres Gewicht als ihren eigenen Angaben beigemessen und sich nicht kritisch mit den Zeugenaussagen auseinandergesetzt. Es sei einerseits von einer unberechenbaren Aggressivität des Vaters, einer aggressiven Atmosphäre und emotionalen Vernachlässigung in der Familie sowie einigen nachgewiesenen körperlichen Misshandlungen ausgegangen, halte andererseits jedoch ihre Angaben zu den Misshandlungen nicht für glaubhaft. Kaum berücksichtigt habe es zudem die Aussage ihrer Tante. Das LSG habe ferner ihre teilweise fehlenden, ungenauen oder verspäteten Erinnerungen nur einseitig zu ihrem Nachteil gewürdigt und dabei nicht in Erwägung gezogen, dass diese Erinnerungsfehler Folgen ihres Alters zum Zeitpunkt der Vorfälle, der großen Zeitspanne zwischen den Taten und dem durchgeführten Verfahren sowie ihrer Krankheit sein könnten. Im Rahmen des OEG könnten auch bruchstückhafte, lückenhafte oder voneinander abweichende Erinnerungen als Grundlage für eine Überzeugungsbildung ausreichen. Nicht umfassend gewürdigt habe das LSG schließlich das aussagepsychologische Gutachten, das selbst Anlass zur Kritik biete. Auch dieses habe nicht berücksichtigt, dass die Erinnerungslücken und Abweichungen in den Angaben eine Erscheinungsform ihrer Krankheit sein könnten. Dieses Gutachten entspreche daher nicht den erforderlichen wissenschaftlichen Standards und könne auch aus diesem Grunde nicht berücksichtigt werden. Zudem hätte das Gutachten von einem auf Traumatisierung spezialisierten Psychologen erstattet werden müssen.
- 13
-
Das LSG habe darüber hinaus verkannt, dass die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 OEG bereits durch ihre grobe Vernachlässigung als Schutzbefohlenen erfüllt seien. Das Verhalten ihrer Eltern sei nicht durch ein Züchtigungsrecht gedeckt gewesen. Die familiäre Atmosphäre sei - wie von den Vorinstanzen festgestellt - von elterlicher Aggression, gestörten Beziehungen und emotionaler Vernachlässigung geprägt gewesen. Zudem habe das LSG einige Schläge als erwiesen erachtet. Auch die fachärztlichen Gutachten hätten ergeben, dass ihre psychische Störung jedenfalls durch die aggressive Familienatmosphäre verursacht worden sei.
- 14
-
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Dezember 2011 sowie des Sozialgerichts Detmold vom 29. August 2008 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 15. Oktober 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2002 zu verurteilen, ihr wegen der Folgen von sexuellem Missbrauch sowie körperlichen und seelischen Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.
- 15
-
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
- 16
-
Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend.
- 17
-
Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland auf deren Antrag hin beigeladen (Beschluss vom 29.1.2013). Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
- 18
-
Die Revision der Klägerin ist zulässig.
- 19
-
Sie ist vom LSG zugelassen worden und damit statthaft (§ 160 Abs 1 SGG). Die Klägerin hat bei der Einlegung und Begründung der Revision Formen und Fristen eingehalten (§ 164 Abs 1 und 2 SGG). Die Revisionsbegründung genügt den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 S 3 SGG. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren Entschädigungsanspruch nach dem OEG auf eine Vielzahl von schädigenden Vorgängen stützt. Demnach ist der Streitgegenstand derart teilbar, dass die Zulässigkeit und Begründetheit der Revision für jeden durch einen abgrenzbaren Sachverhalt bestimmten Teil gesondert zu prüfen ist (vgl BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9a V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3). Dabei bietet es sich hier an, die verschiedenen Vorgänge in drei Gruppen zusammenzufassen: seelische Misshandlungen (Vernachlässigung, beeinträchtigende Familienatmosphäre), körperliche Misshandlungen und sexueller Missbrauch.
- 20
-
Soweit die Klägerin Entschädigung wegen der Folgen seelischer Misshandlungen durch ihre Eltern geltend macht, hat sie einen Verstoß gegen materielles Recht hinreichend dargetan. Sie ist der Ansicht, die betreffenden Vorgänge würden von § 1 OEG erfasst. Soweit das LSG umfangreichere körperliche Misshandlungen der Klägerin im Elternhaus sowie sexuellen Missbrauch durch ihren Vater bzw einen Fremden verneint hat, rügt die Klägerin zunächst substantiiert eine Verletzung von § 15 S 1 KOVVfG, also eine unzutreffende Verneinung der Anwendbarkeit einer besonderen Beweiserleichterung(vgl dazu BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 124 f = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass insbesondere dafür, ob sie Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sei, Beweismittel vorhanden seien. Im Hinblick darauf, dass die Vorinstanz hilfsweise auf § 15 S 1 KOVVfG abgestellt hat, bedarf es auch dazu einer ausreichenden Revisionsbegründung. Diese sieht der Senat vornehmlich in der Rüge der Klägerin, das LSG habe, indem es in diesem Zusammenhang auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 Bezug genommen habe, ein ungeeignetes Beweismittel verwertet (vgl allgemein dazu zB BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527; BGH Beschluss vom 15.3.2007 - 4 StR 66/07 - NStZ 2007, 476) und damit seiner Entscheidung zugleich einen falschen Beweismaßstab zugrunde gelegt. Dazu trägt die Klägerin ua vor, dass die Sachverständige H. ihr Glaubhaftigkeitsgutachen nach anderen Kriterien erstellt habe, als im Rahmen einer Glaubhaftmachung nach § 15 S 1 KOVVfG maßgebend seien.
- 21
-
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), soweit das Berufungsurteil einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente wegen Folgen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlungen im Kindes- und Jugendalter betrifft. Im Übrigen - also hinsichtlich Folgen seelischer Misshandlungen - ist die Revision unbegründet.
- 22
-
1. Einer Sachentscheidung entgegenstehende, von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrenshindernisse bestehen nicht.
- 23
-
Zutreffend sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass bereits während des Klageverfahrens ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes stattgefunden hat und seit dem 1.1.2008 der beklagte Landschaftsverband passiv legitimiert ist (vgl hierzu BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 20 mwN). Denn § 4 Abs 1 Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung(= Art 1 Zweites Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007, GVBl NRW 482) hat die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung mit Wirkung zum 1.1.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Verlagerung der Zuständigkeit für die Aufgaben der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung sowie der Opferentschädigung auf die kommunalen Landschaftsverbände in NRW nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des GG verstößt (vgl hierzu Urteile vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 21, und - B 9 V 3/07 R - Juris RdNr 22; vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 24; vom 30.9.2009 - B 9 VG 3/08 R - BSGE 104, 245 = SozR 4-3100 § 60 Nr 6, RdNr 26). Diese Übertragung hat zur Folge, dass allein der im Laufe des Verfahrens zuständig gewordene Rechtsträger die von der Klägerin beanspruchte Leistung gewähren kann, sodass sich die von der Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGG)ab 1.1.2008 gemäß § 6 Abs 1 OEG gegen den für die Klägerin örtlich zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe zu richten hat. Darüber hinaus hat die Klägerin in der mündlichen Revisionsverhandlung klargestellt, dass sie im vorliegenden Verfahren ausschließlich einen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenrente verfolgt (vgl dazu BSG Urteil vom 2.10.2008 - B 9 VG 2/07 R - Juris RdNr 12).
- 24
-
2. Für einen Anspruch der Klägerin auf eine Beschädigtenrente nach dem OEG iVm dem BVG sind folgende rechtliche Grundsätze maßgebend:
- 25
-
a) Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs 1 S 1 OEG gegeben sind(vgl hierzu BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - Juris RdNr 27 mwN). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs 1 S 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.
- 26
-
In Altfällen - also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) - müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S 2 OEG iVm § 10a Abs 1 S 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
- 27
-
b) Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen (wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht des Täters) hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (stRspr seit 1995; vgl hierzu BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 32 mwN). Dabei hat der erkennende Senat je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben. Leitlinie des erkennenden Senats ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat der Senat daher aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist er in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger bzw rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (stRspr; vgl nur BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 25 mwN). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff iS des § 240 StGB zeichnet sich der tätliche Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 36 mwN).
- 28
-
In Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern iS von § 176 StGB hat der Senat den Begriff des tätlichen Angriffs noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Für den Senat ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also sexuelle Handlungen, eine Straftat war (vgl BSG Urteil vom 29.4.2010 - B 9 VG 1/09 R - BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr 17, RdNr 28 mwN). Auch der "gewaltlose" sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG sein(BSG Urteile vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 - BSGE 77, 7, 8 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 6 S 23 f, und - 9 RVg 7/93 - BSGE 77, 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nr 7 S 28 f). Diese erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten. Eine Erstreckung dieses Begriffsverständnisses auf andere Fallgruppen hat das Bundessozialgericht (BSG) bislang abgelehnt (vgl BSG Urteil vom 12.2.2003 - B 9 VG 2/02 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 1 RdNr 12).
- 29
-
Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung iS des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs 1 S 1 OEG vor. Nach § 1631 Abs 2 BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG RdNr 51). Auch insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind.
- 30
-
Zum "Mobbing" als einem sich über längere Zeit hinziehenden Konflikt zwischen dem Opfer und Personen seines gesellschaftlichen Umfeldes hat der erkennende Senat entschieden, dass bei einzelnen "Mobbing"-Aktivitäten die Schwelle zur strafbaren Handlung und somit zum kriminellen Unrecht überschritten sein kann; tätliche Angriffe liegen allerdings nur vor, wenn auf den Körper des Opfers gezielt eingewirkt wird, wie zB durch einen Fußtritt (BSG Urteil vom 14.2.2001 - B 9 VG 4/00 R - BSGE 87, 276, 278 = SozR 3-3800 § 1 Nr 18 S 72).
- 31
-
Auch in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt, in denen es unter Umständen an einer besonderen Kraftentfaltung gegen den Körper einer anderen Person bzw an einem beabsichtigten Verletzungserfolg gänzlich fehlt, ist maßgeblich auf das Kriterium der objektiven Gefahr für Leib und Leben des Opfers abzustellen. Die Grenze der Wortlautinterpretation hinsichtlich des Begriffs des tätlichen Angriffs sieht der Senat jedenfalls dann erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt (vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 44 mwN). So ist beim "Stalking" die Grenze zum tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG - ungeachtet ggf einschlägiger Straftatbestände nach dem StGB - erst überschritten, wenn die Tat durch Mittel körperlicher Gewalt gegen das Opfer begangen und/oder der rechtswidrig herbeigeführte Zustand mittels Tätlichkeiten aufrechterhalten wird(vgl BSG Urteil vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R - BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18, RdNr 69 mwN).
- 32
-
c) Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrundezulegen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
- 33
-
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24.11.2010 - B 11 AL 35/09 R - Juris RdNr 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3b mwN).
- 34
-
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht(vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.
- 35
-
Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 S 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 14 f mwN). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 S 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15).
- 36
-
3. Ausgehend von diesen rechtlichen Vorgaben hat die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenrente wegen der Folgen seelischer Misshandlungen durch ihre Eltern.
- 37
-
Entgegen der Ansicht der Klägerin stellen die von den Vorinstanzen angenommenen allgemeinen Verhältnisse in der Familie der Klägerin keinen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG dar. Das SG hat hierzu festgestellt, die bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen seien mehr auf ein Zusammenwirken atmosphärisch ungünstiger Entwicklungsbedingungen (ablehnende Haltung der Mutter gegenüber der Klägerin, unberechenbare Aggressivität sowie grenzüberschreitende weinerliche Anhänglichkeit des Vaters) zurückzuführen (S 23 des Urteils). Darauf hat das LSG Bezug genommen. Die Verhaltensweise der Eltern hat danach zwar seelische Misshandlungen der Klägerin umfasst, es fehlt insoweit jedoch an dem Merkmal der Gewaltanwendung im Sinne einer gegen den Körper der Klägerin gerichteten Tätlichkeit.
- 38
-
4. Soweit die Klägerin Beschädigtenrente nach dem OEG wegen der Folgen körperlicher Misshandlungen und sexuellen Missbrauchs im Kindes- und Jugendalter beansprucht, ist dem Senat eine abschließende Entscheidung unmöglich. Derartige schädigende Vorgänge werden zwar von § 1 Abs 1 S 1 OEG erfasst, soweit sie nicht von dem seinerzeit noch anerkannten elterlichen Züchtigungsrecht(vgl BGH Beschluss vom 25.11.1986 - 4 StR 605/86 - JZ 1988, 617) gedeckt waren. Es fehlen jedoch hinreichende verwertbare Tatsachenfeststellungen.
- 39
-
a) Das LSG hat unterstellt, dass als vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe einzelne Schläge durch die Eltern (ein heftiger Schlag durch den Vater sowie zwei "Ohrfeigen" durch die Mutter) nachgewiesen seien. Diese hätten jedoch nicht genügt, um die gravierenden seelischen Erkrankungen der Klägerin zu verursachen. Das LSG verweist hierbei auf das Gutachten der Sachverständigen Dr. S. sowie auf die Ausführungen des SG, wonach diese Taten keine posttraumatische Belastungsstörung hätten auslösen können. Die hierauf gründende tatrichterliche Wertung des LSG ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Weder lässt sich feststellen, dass die Vorinstanz insoweit von unrichtigen Rechtsbegriffen ausgegangen ist, noch hat die Klägerin die betreffenden Tatsachenfeststellungen mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen.
- 40
-
b) Den überwiegenden Teil der von der Klägerin angegebenen körperlichen Misshandlungen durch deren Eltern sowie den behaupteten sexuellen Missbrauch durch deren Vater und einen Fremden hat das LSG nicht als nachgewiesen erachtet. Diese Beurteilung vermag der Senat nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu bestätigen. Denn sie beruht auf einer Auslegung des § 15 S 1 KOVVfG, die der Senat nicht teilt.
- 41
-
Nach § 15 S 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind(vgl grundlegend BSG Urteil vom 31.5.1989 - 9 RVg 3/89 - BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 S 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind(vgl BSG Beschluss vom 28.7.1999 - B 9 VG 6/99 B - Juris RdNr 6).
- 42
-
Diesen Kriterien hat das LSG nicht hinreichend Rechnung getragen, indem es eine Anwendbarkeit des § 15 S 1 KOVVfG mit der pauschalen Begründung verneint hat, es lägen Beweismittel vor. Zwar hat sich das LSG hinsichtlich der Verneinung umfangreicher körperlicher Misshandlungen der Klägerin durch ihre Eltern, insbesondere durch den Vater, auch auf die Zeugenaussage des Bruders T. der Klägerin gestützt. Es hätte insoweit jedoch näher prüfen müssen, inwiefern die Klägerin Misshandlungen behauptet hat, die dieser Zeuge (insbesondere wegen Abwesenheit) nicht wahrgenommen haben kann. Soweit es den angegebenen sexuellen Missbrauch betrifft, ist nicht ersichtlich, dass diesen eine als Zeuge in Betracht kommende Person wahrgenommen haben kann.
- 43
-
c) Soweit das LSG den § 15 S 1 KOVVfG hilfsweise herangezogen hat, lassen seine Ausführungen nicht hinreichend deutlich erkennen, dass es dabei den von dieser Vorschrift eröffneten Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde gelegt hat. Aus der einschränkungslosen Bezugnahme auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 lässt sich eher der Schluss ziehen, dass das LSG insoweit einen unzutreffenden, nämlich zu strengen Beweismaßstab angewendet hat. Diese Sachlage gibt dem Senat Veranlassung, grundsätzlich auf die Verwendung von sog Glaubhaftigkeitsgutachten in Verfahren betreffend Ansprüche nach dem OEG einzugehen.
- 44
-
aa) Die Einholung und Berücksichtigung psychologischer Glaubhaftigkeitsgutachten ist im sozialen Entschädigungsrecht nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze für die Einholung von Sachverständigengutachten zulässig.
- 45
-
Grundsätzlich steht das Ausmaß von Ermittlungen im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Einen Sachverständigen bestellt das Gericht, wenn es selbst nicht über ausreichende Sachkunde verfügt (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 118 RdNr 11b). Dies gilt auch für die Einholung eines sogenannten Glaubhaftigkeitsgutachtens. Dabei handelt es sich um eine aussagepsychologische Begutachtung, deren Gegenstand die Beurteilung ist, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, dh einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl grundlegend BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167). Da eine solche Beurteilung an sich zu den Aufgaben eines Tatrichters gehört, kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht (vgl BGH aaO, 182; BGH Urteil vom 16.5.2002 - 1 StR 40/02 - Juris RdNr 22). Ob eine derartige Beweiserhebung erforderlich ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen kann insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl dazu BSG Beschluss vom 7.4.2011 - B 9 VG 15/10 B - Juris RdNr 6; Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9
= Juris RdNr 22) . Die Entscheidung, ob eine solche Fallgestaltung vorliegt und ob daher ein Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen ist, beurteilt und trifft das Tatsachengericht im Rahmen der Amtsermittlung nach § 103 SGG. Fußt seine Entscheidung auf einem hinreichenden Grund, so ist deren Überprüfung dem Revisionsgericht entzogen (vgl BSG Beschluss vom 24.5.2012 - B 9 V 4/12 B - SozR 4-1500 § 103 Nr 9= Juris RdNr 20, 23) .
- 46
-
Von Seiten des Gerichts muss im Zusammenhang mit der Einholung, vor allem aber mit der anschließenden Würdigung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens stets beachtet werden, dass sich die psychologische Begutachtung von Aussagen nicht darauf beziehen kann, Angaben über die Faktizität eines Sachverhalts zu machen. Möglich ist lediglich herauszufinden, ob sich Aussagen auf Erlebtes beziehen, dh einen Erlebnishintergrund haben. Darüber hinaus besteht die Kompetenz und damit auch die Aufgabe des Sachverständigen darin abzuklären, ob sich dieser Erlebnishintergrund in der sog Wachwirklichkeit befindet, anstatt auf Träumen, Halluzinationen oder Vorstellungen zu beruhen. Ausschließlich auf diesen Aspekt des Wirklichkeitsbezuges einer Aussage kann sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung beziehen (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 27, 49). In einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung trifft der Sachverständige erfahrungswissenschaftlich gestützte Feststellungen zu Erlebnishaltigkeit und Zuverlässigkeit von Sachverhaltskonstruktionen, die ein Zeuge oder ein Beteiligter vorträgt. Durch das Gutachten vermittelt er dem Gericht daher auf den Einzelfall bezogene wissenschaftliche Erkenntnisse und stellt diesem aufgrund von Befundtatsachen wissenschaftlich gestützte Schlussfolgerungen zur Verfügung (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 280 f). Die umfassende rechtliche Würdigung dieser Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliegt sodann dem Gericht.
- 47
-
Entgegen der Auffassung der Klägerin ergeben sich aus den Ausführungen in dem Urteil des LSG NRW vom 28.11.2007 - L 10 VG 13/06 - (Juris RdNr 25) keine Hinweise auf die Unzulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialrechtlichen Verfahren. Vielmehr hat das LSG NRW hierbei lediglich die Amtsermittlung des erstinstanzlichen Gerichts gerügt, das anstelle der Vernehmung der durch die dortige Klägerin benannten Zeugen ein Sachverständigengutachten eingeholt hatte (ua mit der Beweisfrage "Steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - dh es darf kein begründbarer Zweifel bestehen - fest, dass die Klägerin Opfer sexuellen Missbrauchs - in welchem Zeitraum, in welcher Weise - geworden ist?"; Juris RdNr 9). Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn das LSG NRW zum einen die Vernehmung der Zeugen gefordert und zum anderen festgestellt hat, dass die an die Sachverständigen gestellte Frage keinem Beweis durch ein medizinisches oder aussagepsychologisches Sachverständigengutachten zugänglich sei, sondern dass das Gericht diese Tatsache selbst aufzuklären habe. Ausdrücklich zu aussagepsychologischen Gutachten hat das LSG NRW ferner zutreffend festgestellt, auch bei diesen dürfe dem Sachverständigen nicht die Entscheidung überlassen werden, ob eine behauptete Tat stattgefunden habe oder nicht. Vielmehr dürfe dieser nur beurteilen, ob aussagepsychologische Kriterien für oder gegen den Wahrheitsgehalt der Angaben Betroffener sprächen und/oder ob die Aussagen und Erklärungen möglicherweise trotz subjektiv wahrheitsgemäßer Angaben nicht auf eigenen tatsächlichen Erinnerungen der Betroffenen beruhten (LSG NRW, aaO, Juris RdNr 25). Aus diesen Ausführungen lässt sich nicht der Schluss ziehen, das LSG NRW gehe grundsätzlich davon aus, dass in sozialrechtlichen Verfahren keine Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt und berücksichtigt werden könnten.
- 48
-
bb) Für die Erstattung von Glaubhaftigkeitsgutachten gelten auch im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts zunächst die Grundsätze, die der BGH in der Entscheidung vom 30.7.1999 (1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164) dargestellt hat. Mit dieser Entscheidung hat der BGH die wissenschaftlichen Standards und Methoden für die psychologische Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen zusammengefasst. Nicht das jeweilige Prozessrecht schafft diese Anforderungen (zum Straf- und Strafprozessrecht vgl Fabian/Greuel/Stadler, StV 1996, 347 f), vielmehr handelt es sich hierbei um wissenschaftliche Erkenntnisse der Aussagepsychologie (vgl Vogl, NJ 1999, 603), die Glaubhaftigkeitsgutachten allgemein zu beachten haben, damit diese überhaupt belastbar sind und verwertet werden können (so auch BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f; vgl grundlegend hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 48 ff; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 16 ff). Die grundsätzlichen wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten stellen sich wie folgt dar (vgl zum Folgenden BGH Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164, 167 ff mwN; basierend ua auf dem Gutachten von Steller/Volbert, wiedergegeben in Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46 ff):
Bei der psychologischen Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Aussagen besteht das methodische Grundprinzip darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit einer bestimmten Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der wissenschaftlich ausgebildete psychologische Sachverständige arbeitet (gedanklich) also zunächst mit der Unwahrannahme als sog Nullhypothese (Steller/Volbert, Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 46, 61; den Begriff der Nullhypothese sowie das Ausgehen von dieser kritisierend Stanislawski/Blumer, Streit 2000, 65, 67 f). Der Sachverständige bildet dazu neben der "Wirklichkeitshypothese" (die Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert) die Gegenhypothese, die Aussage sei unwahr. Bestehen mehrere Möglichkeiten, aus welchen Gründen eine Aussage keinen Erlebnishintergrund haben könnte, hat der Sachverständige bezogen auf den konkreten Einzelfall passende Null- bzw Alternativhypothesen zu bilden (vgl beispielhaft hierzu Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 52 f; ebenso, zudem mit den jeweiligen diagnostischen Bezügen Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 61 ff). Die Bildung relevanter, also auf den jeweiligen Einzelfall abgestimmter Hypothesen ist von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. Im weiteren Verlauf hat der Sachverständige jede einzelne Alternativhypothese darauf zu untersuchen, ob diese mit den erhobenen Fakten in Übereinstimmung stehen kann; wird dies für sämtliche Null- bzw Alternativhypothesen verneint, gilt die Wirklichkeitshypothese, wonach es sich um eine wahre Aussage handelt.
- 49
-
Die zentralen psychologischen Konstrukte, die den Begriff der Glaubhaftigkeit - aus psychologischer Sicht - ausfüllen und somit die Grundstruktur der psychodiagnostischen Informationsaufnahme und -verarbeitung vorgeben, sind Aussagetüchtigkeit (verfügt die Person über die notwendigen kognitiven Grundvoraussetzungen zur Erstattung einer verwertbaren Aussage?), Aussagequalität (weist die Aussage Merkmale auf, die in erlebnisfundierten Schilderungen zu erwarten sind?) sowie Aussagevalidität (liegen potentielle Störfaktoren vor, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Aussage begründen können?). Erst wenn die Aussagetüchtigkeit bejaht wird, kann der mögliche Erlebnisbezug der Aussage unter Berücksichtigung ihrer Qualität und Validität untersucht werden (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49; zur eventuell erforderlichen Hinzuziehung eines Psychiaters zur Bewertung der Aussagetüchtigkeit Schumacher, StV 2003, 641 ff). Das abschließende gutachterliche Urteil über die Glaubhaftigkeit einer Aussage kann niemals allein auf einer einzigen Konstruktebene (zB der Ebene der Aussagequalität) erfolgen, sondern erfordert immer eine integrative Betrachtung der Befunde in Bezug auf sämtliche Ebenen (Greuel, MschrKrim 2000, S 59, 62).
- 50
-
Die wesentlichen methodischen Mittel, die der Sachverständige zur Überprüfung der gebildeten Hypothesen anzuwenden hat, sind die - die Aussagequalität überprüfende - Aussageanalyse (Inhalts- und Konstanzanalyse) und die - die Aussagevalidität betreffende - Fehlerquellen-, Motivations- sowie Kompetenzanalyse. Welche dieser Analyseschritte mit welcher Gewichtung durchzuführen sind, ergibt sich aus den zuvor gebildeten Null- bzw Alternativhypothesen; bei der Abgrenzung einer wahren Darstellung von einer absichtlichen Falschaussage sind andere Analysen erforderlich als bei deren Abgrenzung von einer subjektiv wahren, aber objektiv nicht zutreffenden, auf Scheinerinnerungen basierenden Darstellung (vgl hierzu Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 17 ff).
- 51
-
Diese Prüfungsschritte müssen nicht in einer bestimmten Prüfungsstrategie angewendet werden und verlangen keinen vom Einzelfall losgelösten, schematischen Gutachtenaufbau. Die einzelnen Elemente der Begutachtung müssen auch nicht nach einer bestimmten Reihenfolge geprüft werden (vgl BGH Beschluss vom 30.5.2000 - 1 StR 582/99 - NStZ 2001, 45 f). Es ist vielmehr ausreichend, wenn sich aus einer Gesamtbetrachtung des Gutachtens ergibt, dass der Sachverständige das dargestellte methodische Grundprinzip angewandt hat. Vor allem muss überprüfbar sein, auf welchem Weg er zu seinen Ergebnissen gelangt ist.
- 52
-
cc) Die aufgrund der dargestellten methodischen Vorgehensweise, insbesondere aufgrund des Ausgehens von der sog Nullhypothese, vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Einholung und Berücksichtigung von Glaubhaftigkeitsgutachten in sozialgerichtlichen Verfahren (vgl hierzu SG Fulda Urteil vom 30.6.2008 - S 6 VG 16/06 - Juris RdNr 33 aE; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 8.7.2010 - L 13 VG 25/07 - Juris RdNr 36; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.6.2012 - L 4 VG 13/09 - Juris RdNr 44 ff; offenlassend, aber Zweifel an der Anwendbarkeit der Nullhypothese äußernd LSG Baden-Württemberg Urteil vom 15.12.2011 - L 6 VG 584/11 - ZFSH/SGB 2012, 203, 206) überzeugen nicht.
- 53
-
Nach derzeitigen Erkenntnissen gibt es für einen psychologischen Sachverständigen keine Alternative zu dem beschriebenen Vorgehen. Der Erlebnisbezug einer Aussage ist nicht anders als durch systematischen Ausschluss von Alternativhypothesen zur Wahrannahme zu belegen (Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 20, 22). Nach dem gegenwärtigen psychologischen Kenntnisstand kann die Wirklichkeitshypothese selbst nicht überprüft werden, da eine erlebnisbasierte Aussage eine hohe, aber auch eine niedrige Aussagequalität haben kann. Die Prüfung hat daher an der Unwahrhypothese bzw ihren möglichen Alternativen anzusetzen. Erst wenn sämtliche Unwahrhypothesen ausgeschlossen werden können, ist die Wahrannahme belegt (vgl Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S 22). Zudem hat diese Vorgehensweise zur Folge, dass sämtliche Unwahrhypothesen geprüft werden, womit ein ausgewogenes Analyseergebnis erzielt werden kann (Schoreit, StV 2004, 284, 286).
- 54
-
Es ist zutreffend, dass dieses methodische Vorgehen ein recht strenges Verfahren der Aussageprüfung darstellt (so auch Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 205), denn die Tatsache, dass eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, bedeutet nicht zwingend, dass diese Hypothese tatsächlich zutrifft. Gleichwohl würde das Gutachten in einem solchen Fall zu dem Ergebnis gelangen, dass eine wahre Aussage nicht belegt werden kann. Insoweit korrespondieren das methodische Grundprinzip der Aussagepsychologie und die rechtlichen Anforderungen in Strafverfahren besonders gut miteinander (vgl dazu Volbert, aaO S 20). Denn auch die Unschuldsvermutung hat zugunsten des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten. Durch beide Prinzipien soll auf jeden Fall vermieden werden, dass eine tatsächlich nicht zutreffende Aussage als glaubhaft klassifiziert wird. Zwar soll möglichst auch der andere Fehler unterbleiben, dass also eine wahre Aussage als nicht zutreffend bewertet wird. In Zweifelsfällen gilt aber eine klare Entscheidungspriorität (vgl Volbert, aaO): Bestehen noch Zweifel hinsichtlich einer Unwahrhypothese, kann diese also nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, so gilt der Erlebnisbezug der Aussage als nicht bewiesen und die Aussage als nicht glaubhaft.
- 55
-
Diese Konsequenz führt nicht dazu, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialrechtlichen Entschädigungsverfahren nach dem OEG als Beweismittel schlichtweg ungeeignet sind. Soweit der Vollbeweis gilt, ist damit die Anwendung dieser methodischen Prinzipien der Aussagepsychologie ohne Weiteres zu vereinbaren. Denn dabei gilt eine Tatsache erst dann als bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Bestehen in einem solchen Verfahren noch Zweifel daran, dass eine Aussage erlebnisfundiert ist, weil eine bestimmte Unwahrhypothese nicht ausgeschlossen werden kann, geht dies zu Lasten des Klägers bzw der Klägerin (von der Zulässigkeit von Glaubhaftigkeitsgutachten ausgehend LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 9.9.2008 - L 11 VG 33/08 - Juris RdNr 24 ff; LSG NRW Urteil vom 29.9.2010 - L 6 (7) VG 16/05 - Juris RdNr 24; ebenso, jedoch bei Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG Bayerisches LSG Urteil vom 30.6.2005 - L 15 VG 13/02 - Juris RdNr 40; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05 - Juris RdNr 34 sowie Urteil vom 16.9.2011 - L 10 VG 26/07 - Juris RdNr 38 ff).
- 56
-
Die grundsätzliche Bejahung der Beweiseignung von Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialen Entschädigungsrecht wird auch dadurch gestützt, dass nach der dargestellten hypothesengeleiteten Methodik - unter Einschluss der sog Nullhypothese - erstattete Gutachten nicht nur in Strafverfahren Anwendung finden, sondern auch in Zivilverfahren (vgl BGH Beschluss vom 24.6.2003 - VI ZR 327/02 - NJW 2003, 2527, 2528 f; Saarländisches OLG Urteil vom 13.7.2011 - 1 U 32/08 - Juris RdNr 50 ff) und in arbeitsrechtlichen Verfahren (vgl LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 20.7.2011 - 26 Sa 1269/10 - Juris RdNr 64 ff). In diesen Verfahren ist der Vollbeweis der anspruchsbegründenden Tatsachen bzw der Voraussetzungen für einen Kündigungsgrund (zumeist eine erhebliche Pflichtverletzung) ebenfalls erforderlich.
- 57
-
dd) Soweit allerdings nach Maßgabe des § 15 S 1 KOVVfG eine Glaubhaftmachung ausreicht, ist ein nach der dargestellten Methodik erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht ohne Weiteres geeignet, zur Entscheidungsfindung des Gerichts beizutragen. Das folgt schon daraus, dass es im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG ausreicht, wenn die Möglichkeit, dass die Angaben des Antragstellers zutreffen, als die wahrscheinlichste angesehen werden kann, während ein aussagepsychologischer Sachverständiger diese Angaben erst dann als glaubhaft ansieht, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen kann. Da ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten den Vollbeweis ermöglichen soll, muss ein für die Auskunftsperson ungünstiges Ergebnis eines solchen Gutachtens nicht bedeuten, dass die betreffenden Angaben nicht iS des § 15 S 1 KOVVfG als glaubhaft erscheinen können.
- 58
-
Will sich ein Gericht auch bei Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG eines aussagepsychologischen Gutachtens bedienen, so hat es den Sachverständigen mithin auf den insoweit geltenden Beweismaßstab hinzuweisen und mit ihm zu klären, ob er sein Gutachten nach den insoweit maßgebenden Kriterien erstatten kann. Dabei sind auch die Beweisfragen entsprechend zu fassen. Im Falle von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen lautet die übergeordnete psychologische Untersuchungsfragestellung: "Können die Angaben aus aussagepsychologischer Sicht als mit (sehr) hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert klassifiziert werden?" (Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S 49). Demgegenüber sollte dann, wenn eine Glaubhaftmachung ausreicht, darauf abgestellt werden, ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können.
- 59
-
Damit das Gericht den rechtlichen Begriff der Glaubhaftmachung in eigener Beweiswürdigung ausfüllen kann und nicht durch die Feststellung einer Glaubhaftigkeit seitens des Sachverständigen festgelegt ist, könnte es insoweit hilfreich sein, dem Sachverständigen aufzugeben, solange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw praktischen Gewissheit ergibt (für eine solche Vorgehensweise im Asylverfahren vgl Lösel/Bender, Schriftenreihe des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Bd 7, 2001, S 175, 184). Denn dem Tatsachengericht ist am ehesten gedient, wenn der psychologische Sachverständige im Rahmen des Möglichen die Wahrscheinlichkeiten bzw Wahrscheinlichkeitsgrade für die unterschiedlichen Hypothesen darstellt.
- 60
-
Diesen Maßgaben wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Das LSG hat sich bei seiner Verneinung einer Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin nach § 15 S 1 KOVVfG ohne Weiteres auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen H. vom 5.4.2005 gestützt. Dieses Glaubhaftigkeitsgutachten ist vom SG zu den Fragen eingeholt worden:
Sind die Angaben der Klägerin zu den Misshandlungen durch die Eltern und zum sexuellen Missbrauch durch den Vater (…) unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlich-aussagepsychologischen Kenntnisstandes insgesamt oder in Teilen glaubhaft? Sind die Angaben insbesondere inhaltlich konsistent und konstant und sind aussagerelevante Besonderheiten der Persönlichkeitsentwicklung der Klägerin zu berücksichtigen? Welche Gründe sprechen insgesamt für und gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben?
- 61
-
Ein Hinweis auf den im Rahmen des § 15 S 1 KOVVfG geltenden Beweismaßstab der Glaubhaftmachung ist dabei nach Aktenlage nicht erfolgt. Dementsprechend lässt das Gutachten der Sachverständigen H. nicht erkennen, dass sich diese der daraus folgenden Besonderheiten bewusst gewesen ist. Vielmehr hat die Sachverständige in der Einleitung zu ihrem Gutachten ("Formaler Rahmen der Begutachtung") erklärt, dass sich das Vorgehen bei der Begutachtung und die Darstellung der Ergebnisse nach den Standards wissenschaftlich fundierter Glaubhaftigkeitsbegutachtung richte, wie sie im Grundsatzurteil des BGH vom 30.7.1999 (BGHSt 45, 164 = NJW 1999, 2746) dargelegt seien (S 1 des Gutachtens).
- 62
-
Da das Berufungsurteil mithin - soweit es die Anwendung des § 15 S 1 KOVVfG betrifft - offenbar auf einer Tatsachenwürdigung beruht, der ein unzutreffender Beweismaßstab zugrunde liegt, vermag der erkennende Senat die Beurteilung des LSG auch zu diesem Punkt nicht zu bestätigen.
- 63
-
5. Der erkennende Senat sieht sich zu einer Aufhebung des Berufungsurteils und einer Zurückverweisung der Sache an das LSG veranlasst (§ 170 Abs 2 S 2 SGG), weil die jetzt nach zutreffenden Beweismaßstäben vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen und Beweiswürdigungen im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden können (§ 163 SGG).
- 64
-
6. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Verwaltungsbehörde kann in besonderen Fällen von dem Antragsteller die eidesstattliche Versicherung verlangen, daß er bei seinen Angaben nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.
(1) Personen, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschädigt worden sind, erhalten auf Antrag Versorgung, solange sie
- 1.
allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind und - 2.
bedürftig sind und - 3.
im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
(2) Bedürftig ist ein Anspruchsteller, wenn sein Einkommen im Sinne des § 33 des Bundesversorgungsgesetzes den Betrag, von dem an die nach der Anrechnungsverordnung (§ 33 Abs. 6 Bundesversorgungsgesetz) zu berechnenden Leistungen nicht mehr zustehen, zuzüglich des Betrages der jeweiligen Grundrente, der Schwerstbeschädigtenzulage sowie der Pflegezulage nicht übersteigt.
(3) Übersteigt das Einkommen den Betrag, von dem an die vom Einkommen beeinflußten Versorgungsleistungen nicht mehr zustehen, so sind die Versorgungsbezüge in der Reihenfolge Grundrente, Schwerstbeschädigtenzulage und Pflegezulage um den übersteigenden Betrag zu mindern. Bei der Berechnung des übersteigenden Betrages sind die Einkünfte aus gegenwärtiger Erwerbstätigkeit vor den übrigen Einkünften zu berücksichtigen. § 33 Abs. 4, § 33a Abs. 2 und § 33b Abs. 6 des Bundesversorgungsgesetzes gelten nicht.
(4) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der §§ 38 bis 52 des Bundesversorgungsgesetzes, solange sie bedürftig sind und im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben. Die Absätze 2 und 3 gelten entsprechend. Unabhängig vom Zeitpunkt des Todes des Beschädigten sind für die Witwenbeihilfe die Anspruchsvoraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1, 5 und 6 des Bundesversorgungsgesetzes in der im Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Fassung maßgebend.
(5) Die Versorgung umfaßt alle nach dem Bundesversorgungsgesetz vorgesehenen Leistungen mit Ausnahme von Berufsschadens- und Schadensausgleich.
(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.
(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.
(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.
(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.