Bayerisches Landessozialgericht Beschluss, 28. Sept. 2017 - L 20 KR 536/17 B

published on 28/09/2017 00:00
Bayerisches Landessozialgericht Beschluss, 28. Sept. 2017 - L 20 KR 536/17 B
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Sozialgericht Bayreuth, S 6 KR 322/17, 15/08/2017

Gericht

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Tenor

Der Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth vom 15. August 2017 wird aufgehoben.

Gründe

I.

Die Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (im Folgenden: Beschwerdeführer) richtet sich gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Bayreuth vom 15.08.2017, mit dem das SG das Klageverfahren ausgesetzt hat.

In der Hauptsache begehrt der Beschwerdeführer die Versorgung mit einer elektrischen Treppensteighilfe.

Mit Bescheid vom 07.04.2017 lehnte die Beklagte und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Beschwerdegegnerin) die Versorgung mit der vom Beschwerdeführer begehrten Treppensteighilfe ab. Mit Eingang bei der Beschwerdegegnerin am 10.04.2017 legte der Beschwerdeführer Widerspruch ein und begründete diesen mit Schreiben vom 24.04.2017.

Ohne den Erlass eines Widerspruchsbescheids abzuwarten, hat der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 01.08.2017 Klage zum SG Bayreuth erhoben. Die Beschwerdegegnerin hat mit Schreiben vom 10.08.2017 mitgeteilt, dass die Prozessvoraussetzungen nicht erfüllt seien, weil der Klage nicht das Vorverfahren gemäß §§ 78 ff. Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorausgegangen sei; sie habe das Widerspruchsverfahren nachzuholen.

Mit Beschluss vom 15.08.2017 hat das SG das anhängige Klageverfahren ausgesetzt und diese Entscheidung wie folgt begründet:

„Der Aussetzungsbeschluss ergeht analog § 114 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zur Durchführung des Widerspruchsverfahrens.“

Gegen diesen Beschluss hat der Beschwerdeführer mit Eingang beim Bayer. Landessozialgericht (LSG) am 23.08.2017 Beschwerde eingelegt und diese mit Schreiben vom 24.08.2017 wie folgt begründet: Die Beschwerdegegnerin habe ihm gegenüber eine Verschleppungstaktik betrieben. Sie habe sämtliche von ihm gesetzte Fristen zur Erwirkung eines Widerspruchsbescheids verstreichen lassen. Stattdessen fordere die Beschwerdegegnerin unsinnigerweise weitere ärztliche Gutachten. Das SG hätte das Verfahren nicht vertagen dürfen, da der Ausgang des Widerspruchsverfahrens von vornherein klar sei. Noch nie habe die Beschwerdegegnerin einem Widerspruch in seinen Angelegenheiten stattgegeben. Das SG hätte der Beschwerdegegnerin eine mit Bußgeld bewehrte Frist für einen Widerspruchsbescheid auferlegen müssen. Eine Vertagung bringe keinerlei Fortschritt und ermuntere die Beklagte nur in ihrem bisherigen Vorgehen. Er beantrage eine Fristsetzung durch das LSG.

Ergänzend wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde gegen den Aussetzungsbeschluss des SG ist zulässig, insbesondere ist sie gemäß § 172 Abs. 1 SGG statthaft. § 172 Abs. 2 SGG ist nicht einschlägig, da es sich bei einem Aussetzungsbeschluss nicht nur um eine prozessleitende Verfügung handelt (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 114, Rdnr. 9; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/ders./Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 172, Rdnr. 3 - jeweils m.w.N.).

Die Beschwerde ist auch begründet.

Die Aussetzung eines Klageverfahrens ist analog § 114 Abs. 2 SGG möglich, wenn die Klage vor Abschluss des Widerspruchsverfahrens erhoben worden ist (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 24.10.2013, B 13 R 31/12 R, und Beschluss vom 01.07.2014, B 1 KR 99/13 B).

Für eine Aussetzung ist ein Antrag eines Beteiligten Voraussetzung (vgl. Bayer. LSG, Beschluss vom 05.05.2014, L 11 AS 325/14 B). Sofern Keller (vgl. a.a.O., § 114, Rdnr. 5) ohne irgendeine Begründung davon ausgeht, dass es bei der Aussetzung zur Nachholung des Widerspruchsverfahrens eines Antrags eines Beteiligten nicht bedürfe, kann der Senat dem nicht folgen. Bei der analogen Anwendung des § 114 Abs. 2 SGG ist dessen Satz 2 zugrunde zu legen, der ausdrücklich einen Antrag eines Beteiligten voraussetzt. Denn die Aussetzung zur Nachholung des Widerspruchsverfahrens ähnelt ganz stark der Aussetzung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern, sodass für die Aussetzung wegen Nachholung des Widerspruchsverfahrens § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG entsprechend heranzuziehen ist, nicht aber die Regelung des § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG, die eine Aussetzung antragsunabhängig zulässt.

Weiter bedarf es nach dem klaren Wortlaut des § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG („kann … aussetzen“) für die Aussetzung einer Ermessensentscheidung dahingehend, ob eine Aussetzung angezeigt ist oder die Nachholung des Widerspruchsverfahrens ohne Aussetzung abzuwarten ist. Dabei kann nicht grundsätzlich von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgegangen werden. Sofern das BSG im Beschluss vom 01.07.2014, B 1 KR 99/13 B, formuliert hat

„a) Fehlt es - wie hier - an einem Vorverfahren als Sachurteilsvoraussetzung, hat das LSG das gerichtliche Verfahren auszusetzen (§ 114 Abs. 2 SGG analog), um dem Kläger die Möglichkeit zu geben, das gebotene Vorverfahren (§ 78 SGG) nachzuholen“, beruht die Formulierung „hat“, die als Hinweis auf eine grundsätzliche Ermessensreduzierung auf Null in derartigen Konstellationen interpretiert werden könnte, ersichtlich auf einer Formulierungsungenauigkeit. So hat das BSG in anderen Entscheidungen ausdrücklich auf das Erfordernis einer Ermessenentscheidung hingewiesen, so z.B. im Urteil vom 02.08.1977, 9 RV 102/76:

„Dies liefe - wie Bettermann, DVBL 1959, 314, im einzelnen dargetan hat - auf eine Aussetzung des Verfahrens bis zur Widerspruchsentscheidung analog § 114 Abs. 2 SGG (§ 148 Zivilprozeßordnung) hinaus. Die Aussetzung liegt zwar im Ermessen des Gerichts, erweist sich aber bei der gegebenen Situation im allgemeinen als zweckmäßig und angezeigt.“

Von der Erforderlichkeit einer Ermessensausübung des Gerichts geht auch die Literatur aus. Bei der Ermessensentscheidung hat das Gericht darüber zu befinden, ob eine Aussetzung zweckmäßig ist oder ob ein einfaches Abwarten angezeigt ist, weil mit einem schnellen Abschluss des nachzuholenden Vorverfahrens gerechnet werden kann (vgl. Breitkreuz, in: ders./Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 78, Rdnr. 8; Binder, in: Lüdtke, SGG, 5. Aufl. 2017, § 78, Rdnr. 8).

Im vorliegenden Verfahren hat keiner der Beteiligten einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens gestellt, sodass der Beschluss vom 15.08.2017 schon aus diesem Grund aufzuheben ist. Die Beklagte hat lediglich mitgeteilt, dass das Widerspruchsverfahren nachgeholt werde, ohne damit einen Antrag auf Aussetzung zu verbinden.

Zudem mangelt es an einer Ermessensentscheidung des SG. Der Beschluss vom 15.08.2017 ist daher auch wegen Ermessensnichtgebrauchs des SG aufzuheben. Sofern das SG die Aussetzung (einzig und allein) mit der „Durchführung des Widerspruchsverfahrens“ begründet hat, kann darin keine Ausübung von Ermessen liegen. Denn gemäß § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG ist das Vorliegen eines Verfahrensfehlers - hier also die fehlende Durchführung des Widerspruchsverfahrens - Tatbestandsvoraussetzung; eine vom Gesetzgeber vorgegebene Tatbestandsvoraussetzung kann aber nicht gleichzeitig ein Ermessensgesichtspunkt sein. Im Rahmen der Ermessenserwägungen hätte sich das SG vielmehr damit auseinandersetzen müssen, ob und aus welchen Gründen eine Aussetzung und nicht ein bloßes Abwarten angezeigt gewesen ist. Derartige Erwägungen sind den Gründen des angegriffenen Bescheids vom 15.08.2017 nicht zu entnehmen.

Der Beschluss des SG vom 15.08.2017 war daher aufzuheben.

Einer Kostenentscheidung bedurfte es nach dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung nicht, denn bei dem vorliegenden Verfahren der Beschwerde gegen einen Aussetzungsbeschluss des SG handelt es sich nur um einen unselbstständigen Verfahrensabschnitt in einem noch anhängigen Rechtsstreit (vgl. Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.12.2005, II ZB 30/04; Beschluss des Senats vom 26.06.2017, L 20 KR 9/17 B - m.w.N.).

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

Lediglich zur Information für den Beschwerdeführer weist der Senat abschließend darauf hin, dass eine „Fristsetzung durch das LSG“ gegenüber dem SG nicht erfolgen kann, da die Verfahrensführung (unter zeitlichen Gesichtspunkten) allein Sache des SG ist und einer Überprüfung durch das LSG entzogen ist.

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Entscheidungen des Landessozialgerichts, seines Vorsitzenden oder des Berichterstatters können vorbehaltlich des § 160a Abs. 1 dieses Gesetzes und des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialger
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Annotations

(1) Gegen die Entscheidungen der Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden dieser Gerichte findet die Beschwerde an das Landessozialgericht statt, soweit nicht in diesem Gesetz anderes bestimmt ist.

(2) Prozeßleitende Verfügungen, Aufklärungsanordnungen, Vertagungsbeschlüsse, Fristbestimmungen, Beweisbeschlüsse, Beschlüsse über Ablehnung von Beweisanträgen, über Verbindung und Trennung von Verfahren und Ansprüchen und über die Ablehnung von Gerichtspersonen und Sachverständigen können nicht mit der Beschwerde angefochten werden.

(3) Die Beschwerde ist ausgeschlossen

1.
in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, wenn in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte,
2.
gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe, wenn
a)
das Gericht die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Prozesskostenhilfe verneint,
b)
in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte oder
c)
das Gericht in der Sache durch Beschluss entscheidet, gegen den die Beschwerde ausgeschlossen ist,
3.
gegen Kostengrundentscheidungen nach § 193,
4.
gegen Entscheidungen nach § 192 Abs. 4, wenn in der Hauptsache kein Rechtsmittel gegeben ist und der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro nicht übersteigt.

(1) Hängt die Entscheidung eines Rechtsstreits von einem familien- oder erbrechtlichen Verhältnis ab, so kann das Gericht das Verfahren solange aussetzen, bis dieses Verhältnis im Zivilprozeß festgestellt worden ist.

(2) Hängt die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist, so kann das Gericht anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen sei. Auf Antrag kann das Gericht die Verhandlung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern aussetzen, soweit dies im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdienlich ist.

(2a) Hängt die Entscheidung des Rechtsstreits ab von der Gültigkeit einer Satzung oder einer anderen im Rang unter einem Landesgesetz stehenden Vorschrift, die nach § 22a Absatz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und dem dazu ergangenen Landesgesetz erlassen worden ist, so kann das Gericht anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des Antragsverfahrens nach § 55a auszusetzen ist.

(3) Das Gericht kann, wenn sich im Laufe eines Rechtsstreits der Verdacht einer Straftat ergibt, deren Ermittlung auf die Entscheidung von Einfluß ist, die Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Strafverfahrens anordnen.

(1) Vor Erhebung der Anfechtungsklage sind Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Eines Vorverfahrens bedarf es nicht, wenn

1.
ein Gesetz dies für besondere Fälle bestimmt oder
2.
der Verwaltungsakt von einer obersten Bundesbehörde, einer obersten Landesbehörde oder von dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit erlassen worden ist, außer wenn ein Gesetz die Nachprüfung vorschreibt, oder
3.
ein Land, ein Versicherungsträger oder einer seiner Verbände klagen will.

(2) (weggefallen)

(3) Für die Verpflichtungsklage gilt Absatz 1 entsprechend, wenn der Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts abgelehnt worden ist.

(1) Hängt die Entscheidung eines Rechtsstreits von einem familien- oder erbrechtlichen Verhältnis ab, so kann das Gericht das Verfahren solange aussetzen, bis dieses Verhältnis im Zivilprozeß festgestellt worden ist.

(2) Hängt die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist, so kann das Gericht anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen sei. Auf Antrag kann das Gericht die Verhandlung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern aussetzen, soweit dies im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdienlich ist.

(2a) Hängt die Entscheidung des Rechtsstreits ab von der Gültigkeit einer Satzung oder einer anderen im Rang unter einem Landesgesetz stehenden Vorschrift, die nach § 22a Absatz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und dem dazu ergangenen Landesgesetz erlassen worden ist, so kann das Gericht anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des Antragsverfahrens nach § 55a auszusetzen ist.

(3) Das Gericht kann, wenn sich im Laufe eines Rechtsstreits der Verdacht einer Straftat ergibt, deren Ermittlung auf die Entscheidung von Einfluß ist, die Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Strafverfahrens anordnen.

Entscheidungen des Landessozialgerichts, seines Vorsitzenden oder des Berichterstatters können vorbehaltlich des § 160a Abs. 1 dieses Gesetzes und des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.