Verwaltungsgericht München Urteil, 23. Dez. 2015 - M 16 K 14.50534
Tenor
I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ... September 2014 wird in Ziffern 2 und 3 aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger ist eigenen Angaben zufolge syrischer Staatsangehörigkeit und reiste am 30. April 2014 in das Bundesgebiet ein. Bei einer Anhörung am 1. Mai 2014 erklärte er, sich zuvor in Griechenland und anschließend in Ungarn aufgehalten zu haben. In Ungarn habe er am 23. April 2014 einen Asylantrag gestellt.
Laut einer Eurodac-Treffermeldung liegt in Ungarn ein Asylantrag des Klägers vom 23. April 2014 vor. Die zuständige ungarische Stelle stimmte einem Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Schreiben vom 19. Mai 2014 zu.
Mit Bescheid vom ... Mai 2014 ordnete das Bundesamt die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an. Am 15. Juli 2014 beantragte der Kläger seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Mit Bescheid vom ... September 2014, dem Kläger am 4. September 2014 zugestellt, hob das Bundesamt seinen Bescheid vom ... Mai 2014 auf (Ziff. 1 des Bescheides). Weiter wurden der Asylantrag des Klägers für unzulässig erklärt (Ziff. 2) und seine Abschiebung nach Ungarn angeordnet (Ziff. 3).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27 a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrages gemäß Art. 3 Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrages zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
Am 4. September 2014 erhob der Kläger Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom ... September 2014. Weiter stellte er einen Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO (Az. M 16 S 14.50535). Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, der Kläger habe in Ungarn kein Asylverfahren durchgeführt bzw. beantragt. Er sei dort von Polizisten geschlagen und erkennungsdienstlich behandelt worden. Aufgrund dessen und der unzureichenden Unterbringung habe er die Flucht ergriffen. Aufgrund erheblich gestiegener Flüchtlingszahlen sei von einer Überstellung nach Ungarn abzusehen. Die systemischen Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber würden ernsthafte Gründe für die Annahme der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta darstellen. Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes vom ... September 2014 zu verpflichten, die Anordnung der Abschiebung nach Ungarn zurückzunehmen.
Das Bundesamt legte mit Schreiben vom 8. September 2014 die Behördenakte vor. Ein Antrag wurde nicht gestellt.
Mit Beschluss des Gerichts vom 31. Oktober 2014 wurde die aufschiebende Wirkung der Klage des Klägers gegen den Bescheid des Bundesamtes vom ... September 2014 angeordnet (Az. M 16 S 14.50535).
Der Kläger hat mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 9. März 2015 auf mündliche Verhandlung verzichtet. Mit Schreiben vom 9. Juni 2015 verzichtete auch das Bundesamt auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
Der Rechtsstreit wurde mit Beschluss vom 22. Dezember 2015 gemäß § 76 Abs. 1 AsylG zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren und im Verfahren M 16 S 14.50535 sowie auf die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
Gründe
Über die Klage konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Der Klageantrag ist dahin auszulegen (§ 88 VwGO), dass der Kläger die Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides in den Ziffern 2 und 3 begehrt. Durch die Aufhebung des vorangegangenen Bescheids vom ... Mai 2014 durch Ziffer 1 des Bescheides vom ... September 2014 wird der Kläger nicht beschwert.
Die zulässige Klage ist begründet.
Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts vom ... September 2014 ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) in seinen Ziffern 2 und 3 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Unrecht gemäß § 27a AsylG als unzulässig abgelehnt.
Gemäß § 27a AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG kann das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat anordnen, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Zwar wäre hier grundsätzlich von einer Zuständigkeit Ungarns gemäß Art. 13 i. V. m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 - sog. Dublin III-VO - auszugehen. Im Fall des Klägers hat sich Ungarn als zuständig angesehen und daher seiner Wiederaufnahme gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin-III-VO zugestimmt. Allerdings ist hier ausnahmsweise die Zuständigkeit der Beklagten für die Prüfung des Asylantrags des Klägers gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO gegeben. Voraussetzung hierfür ist, dass es sich als unmöglich erweist, einen Kläger an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. In diesem Fall setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der Zuständigkeitskriterien nach Kapitel 3 der Dublin III-VO fort, um ggf. die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates festzustellen. Kann keine solche anderweitige Zuständigkeit festgestellt werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darf ein Asylbewerber nur dann nicht an den europarechtlich zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat aufgrund systemischer Mängel, d. h. regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber auch im konkret zu entscheidenden Einzelfall dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (B. v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris).
Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger einen Rechtsanspruch darauf, dass sein Asylantrag gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO von der Beklagten geprüft wird, da er ansonsten wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn mit beachtlicher, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt würde.
Die Frage, ob in Ungarn „systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorliegen und ob eine Überstellung nach Ungarn einen Verstoß gegen Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK darstellt, wurde bis zu den jüngsten Änderungen der ungarischen Asylgesetze in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte unterschiedlich beantwortet (vgl. u. a. OVG Lüneburg, B. v. 15.5.2015 - 8 LA 85/15; ablehnend VG München, U. v. 1.7.2015 - M 12 K 15. 50491, VG Augsburg, U. v. 20.7.2015 - Au 5 K 15.50316, VG Düsseldorf, U. v. 26.6.2015 - 13 K 787/14.A; bejahend VG Köln, U. v. 15.7.2015 - 3 K 2005/15.A; VG Münster, B. v. 7.7.15 - 2 L 858/15.A; VG Bremen, B. v. 1.4.15 - 3 V 145/15
Insbesondere aufgrund der zum 1. August 2015 in Kraft getretenen - und damit bei der gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigenden - Änderung des ungarischen Asylrechts gibt es nach Überzeugung des erkennenden Gerichts wesentliche Gründe für die Annahme, dass in Ungarn systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 EU-GR-Charta mit sich bringen, vorliegen. Es folgt insoweit der soweit erkennbar überwiegenden Meinung in der Rechtsprechung (vgl. VG München, U. v. 11.9.2015 - M 23 K 15.50045 - juris; VG Augsburg, U. v. 18.8.2015 - Au 6 K 15.50155 - juris; VG Düsseldorf, U. v. 28.9.2015 - 8 K 4999/15.A; VG Köln, U. v. 8.9.2015 - 18 K 4584/15.A - juris; VG Freiburg (Breisgau), U. v. 13.10.2015 - A 5 K 2328/13 - juris; vgl. auch VG München, U. v. 26.8.2015 - M 24 K 15.50507; in Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes u. a. VG Düsseldorf, B. v. 20.8.2015 - 15 L 2556715.A - juris; VG Saarland, B. v. 12.8.2015 - 3 L 816/15 - juris; VG Kassel, B. v. 7.8.2015 - 3 L 1303/15.KS.A - juris; a. A. VG Ansbach, B. v. 20.10.2015 - juris; VG Stade, B. v. 4.11.2015 - 1 B 1749/15 - juris; VG Dresden, B. v. 9.9.2015 - 2 L 719/15. A - juris). Obergerichtliche Rechtsprechung zu der seit 1. August 2015 geänderten ungarischen Rechtslage existiert hierzu - soweit ersichtlich - noch nicht.
Nach den vorliegenden aktuellen Erkenntnissen sind mit dieser Gesetzesänderung die Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit nach der Dublin-III-Verordnung und zur Prüfung eines Asylgesuchs in Zuständigkeit des ungarischen Staates vor den ungarischen Behörden und vor den ungarischen Gerichten - etwa durch die Verkürzung von Fristen und die an Fristversäumnisse anknüpfenden Sanktionen sowie neu gefasste Beweislastregeln - in einer Weise verändert worden, die die Einhaltung der Mindestanforderungen nicht mehr gewährleistet (vgl. VG Düsseldorf, B. v. 20.8.2015 - juris Rn. 27).
Das Hungarian Helsinki Committee bemängelt in seiner Stellungnahme vom 7. August 2015 (abrufbar unter: http://helsinki.hu/wp-content/uploads/HHC-HU-asylum-law-amendment-2015-August-info-note.pdf) u. a., dass in den meisten Fällen ein beschleunigtes Verfahren zulässig werde, in dem innerhalb von 15 Tagen eine Entscheidung erfolgen solle. Es bestehe ein hohes Risiko, dass dieses Verfahren aufgrund der benannten Voraussetzungen zum Regelfall würde. Die 15-Tage-Frist sei ein Verstoß gegen EU-Recht, da sie keinen effektiven Zugang zu Asylverfahren mehr gewähre. Auch der gerichtliche Schutz für diese bis zu 99% aller Asylverfahren betreffenden beschleunigten Verfahren sei - insbesondere auch durch die nicht mehr zwingend vorgesehene persönliche Anhörung - unzureichend und verstoße gegen EU-Recht. Darüber hinaus bestehen in Ungarn massive Kapazitätsprobleme aufgrund der enormen Zunahme von Flüchtlingszahlen. Während in Ungarn im Jahr 2012 lediglich 2.157 Asylanträge gestellt wurden, stieg die Anzahl der Asylbewerber im Jahr 2013 auf 18.900 an und verdoppelte sich im Jahr 2014 auf 42.777. Vom 1. Januar 2015 bis zum 1. März 2015 registrierten die ungarischen Behörden bereits eine Anzahl von 28.535 Personen (vgl. Hungarian Helsinki Committee, Bericht vom 4. März 2015, abrufbar unter http://helsinki.hu/wp-content/uploads/Asylum-2015-Hungary-press-info-4March2015. pdf.). Bis zu 72.000 Flüchtlinge sollen bereits in diesem Jahr nach Angaben der ungarischen Regierung in das Land gelangt sein. Demgegenüber stehen in ganz Ungarn weniger als 2.500 Aufnahmeplätze in staatlichen Unterbringungseinrichtungen zu Verfügung. Hinzu kommt die ablehnende Haltung der ungarischen Regierung gegenüber dem Dublin-System (vgl. hierzu VG Münster, B. v. 7.7.2015 - 2 L 858/15.A - juris), so dass auch mit einer entsprechend zügigen Erweiterung der Aufnahmekapazitäten mit zumutbarer Ausstattung nicht zu rechnen ist. Auch kann das Gericht keine Anhaltspunkte dafür erkennen, dass die ungarische behördliche und gerichtliche Praxis die verschärften gesetzlichen Vorgaben nicht befolgen wird (vgl. VG München, U. v. 11.9.2015 - M 23 K 15.50045 - juris Rn. 31ff.).
Das Gericht macht sich ergänzend die Einschätzungen des Verwaltungsgerichts Düsseldorf (B. v. 20.8.2015 - 15 L 2556/15.A - juris), des Verwaltungsgerichts Saarland (B. v. 12.8.2015 - 3 L 816/15 - juris) sowie des Verwaltungsgerichts Kassel (B. v. 7.8.2015 - 3 L 1303/15.KS.A - juris) zu Eigen. Demnach bestehen (zumindest) bei der Zusammenschau der in jüngerer Zeit entstandenen Kapazitätsprobleme einerseits und der gegenüber der bisherigen Rechtslage zulasten der Asylbewerber im Asylverfahrensablauf sowie bei den Inhaftierungsmöglichkeiten vorgenommenen Verschlechterungen derzeit systemische Schwachstellen des ungarischen Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S.v. Art. 4 EU-GR-Charta bergen (vgl. VG München, U. v. 11.9.2015 - M 23 K 15.50045 - juris Rn. 33).
Da somit aufgrund derzeit bestehender systemischer Mängel im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin-III-VO eine Überstellung des Klägers an Ungarn nicht möglich ist, liegen die Voraussetzungen nach § 27a AsylG, wonach ein in Deutschland gestellter Asylantrag als unzulässig abzulehnen ist, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, nicht vor. Die auf dieser Feststellung beruhende Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG war somit ebenfalls aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
ra.de-Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht München Urteil, 23. Dez. 2015 - M 16 K 14.50534
Urteilsbesprechung schreiben0 Urteilsbesprechungen zu Verwaltungsgericht München Urteil, 23. Dez. 2015 - M 16 K 14.50534
Referenzen - Gesetze
Referenzen - Urteile
Urteil einreichenVerwaltungsgericht München Urteil, 23. Dez. 2015 - M 16 K 14.50534 zitiert oder wird zitiert von 12 Urteil(en).
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
Tenor
I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom ... September 2014 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller ist eigenen Angaben zufolge syrischer Staatsangehörigkeit und reiste am
Laut einer Eurodac-Treffermeldung liegt in Ungarn ein Asylantrag des Antragstellers vom
Mit Bescheid vom ... Mai 2014 ordnete das Bundesamt die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn an. Am
Mit Bescheid vom ... September 2014, dem Antragsteller am
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27 a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrages gemäß Art. 3 Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrages zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
Am
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Das Bundesamt legte mit Schreiben vom
Zu den weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte im vorliegenden Verfahren und im Verfahren M 16 K 14.50534 sowie auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist begründet.
Eine Abwägung des Interesses des Antragstellers an einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage mit dem öffentlichen Interesse an einem Sofortvollzug der Abschiebungsanordnung ergibt, dass die privaten Interessen des Antragstellers derzeit überwiegen.
Die Prüfung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf der Grundlage der aktuell vorliegenden Erkenntnismittel ergibt, dass die Erfolgsaussichten der Klage jedenfalls offen sind. Nach derzeitigem Sach- und Streitstand sprechen hinreichend gewichtige Gründe dafür, dass der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes vom ... September 2014 rechtswidrig und der Antragsteller in seinen Rechten verletzt sein könnte (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Möglicherweise ist der Asylantrag des Antragstellers nicht deshalb gemäß § 27 a AsylVfG unzulässig, weil ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig wäre. Sollte vielmehr die Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Prüfung des Asylantrags gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO gegeben sein, so wäre der Erlass der Abschiebungsanordnung nach § 34 a i. V. m. § 27 a AsylVfG bereits aus diesem Grund rechtswidrig.
1. Zwar wäre hier grundsätzlich von einer Zuständigkeit Ungarns gemäß Art. 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl.
2. Die Frage, ob in Ungarn „systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber“ im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorliegen und ob eine Überstellung nach Ungarn einen Verstoß gegen Art. 4 der EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK darstellt, wird in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte unterschiedlich beantwortet (vgl. in diesem Sinne z. B. aus jüngerer Zeit insbesondere VG München, U. v. 29.8.2014 - M 24 K 13.31294; VG Stuttgart, U. v. 26.6.2014 - A 11 K 387/14 - juris; a. A. z. B. VG Würzburg, B. v. 25.8.2014 - W 6 S 14.50100 - juris; VG Stade, B. v. 14.7.2014 - 1 B 862/14 - juris). In der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes wird diese Frage vor dem Hintergrund der neueren Erkenntnismittel auch vielfach als zumindest offen angesehen (vgl. z. B. VG Gelsenkirchen, B. v. 2.10.2014 - 10a L 1415/14.A; VG Oldenburg, B. v. 18.6.2014 - 12 B 1238/14 - juris; VG Sigmaringen, B. v. 22.4.2014 - A 5 K 972/14 - juris; VG Freiburg, B. v. 7.3.2014 - A 5 K 93/14 - juris). Auch das Sächsische Oberverwaltungsgericht hat jüngst im Hinblick auf die divergierende erstinstanzliche Rechtsprechung in einem Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO dem Antrag im Rahmen einer zugelassenen Berufung stattgegeben (vgl.
Weitere obergerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage liegt bislang, soweit ersichtlich, nur mit den Beschlüssen des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt
Sowohl UNHCR als auch der Europäische Flüchtlingsrat sowie das ungarische Helsinki Komitee warnen, dass die Rechtsgrundlagen für eine Inhaftierung von Personen, die internationalen Schutz suchen, zu weit seien und daher ein erhebliches Risiko einer umfassenden Inhaftierung von Asylbewerbern bestehe (vgl. UNHCR, UNHCR Comments and Recommendations on the Draft Modification of certain migration-related Legislative Acts for the Purpose of Legal Harmonisation, 12.4.2013, S. 7 f, S. 10; European Council on Refugees and Exiles - ECRE Weekly Bulletin, 14.6.2013, S. 3; Hungarian Helsinki Committee, Brief Information Note on the Main Asylum-Relates Legal Changes in Hungary as of 1 July 2013, S. 2 unter www.helsinki.hu). Die Gesetzesänderung sieht - neben anderen Gründen - als Grund für die Inhaftierung von Asylbewerbern die Feststellung ihrer Identität oder Nationalität vor, und wenn ernstliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Asylsuchende das Asylverfahren verzögert oder vereitelt oder Fluchtgefahr bei ihm besteht (vgl. Hungarian Helsinki Committee, a. a. O., S. 2). UNHCR äußert dabei in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf die Vermutung, dass Hauptziel dieser (zeitlich vorgezogenen) Gesetzesänderung eine Senkung der Zahl der Asylanträge sei. Inhaftierung würde als Instrument zur Kontrolle von Migration eingesetzt, um illegale Einreise zu pönalisieren und unrechtmäßige Weiterwanderung zu verhindern (vgl. UNHCR, a. a. O., S. 7 f). Weiterhin berichtet das ungarische Helsinki Komitee davon, dass im Hinblick auf die steigende Zahl der Asylsuchenden in Ungarn (mehr als 10.000 Asylbewerber seien im Zeitraum von Januar bis Juni 2013 registriert worden) die Hauptaufnahmeeinrichtung in Debrecen deutlich überbelegt sei (über 1.300 Asylsuchende Mitte Juni), was zu ernsthaften Problemen geführt habe, insbesondere zu einer eklatanten Verschlechterung der hygienischen Bedingungen. Auch der aktuelle Bericht der Arbeitsgruppe über willkürliche Inhaftierungen des „United Nations Human Rights Office of the High Commissioner“ über einen Besuch in Ungarn vom 23. September bis 2. Oktober 2013 kritisiert die Inhaftierungspraxis in Ungarn, insbesondere auch die fehlenden effektiven Rechtsschutzmöglichkeiten und mahnt solide Verbesserungen an (vgl. United Nations Human Rights Office of the High Commissioner - Working Group on Arbitrary Detention, Statement upon conclusion of its visit to Hungary - 23 September - 2 October 2013 - S. 4, unter http://www.ohchr.org). Ebenso kommt der aktualisierte und ergänzte Bericht von Pro Asyl „Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit“, zu dem Ergebnis, dass in Ungarn derzeit von „systematischen Mängeln“ in den Aufnahmeeinrichtungen auszugehen sei. Es sei aufgrund des massiven Anstiegs von Asylanträgen davon auszugehen, dass die „systemischen Mängel“ noch weiter zunehmen würden. Sollte der Großteil der Asylantragsteller, die sich derzeit in anderen EU-Staaten aufhielten, zurück nach Ungarn überstellt werden, so wären die vorhandenen Aufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende keinesfalls in der Lage, eine menschenwürdige Unterbringung zu gewährleisten (vgl. Pro Asyl, Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit“, Stand Oktober 2013 (http://bordermonitoring.eu/files/2013/10/Ungarn_Update_Oktober_2013. pdf, S. 35f). Auch der aktualisierte Bericht des ungarischen Helsinki Komitees (Hungarian Helsinki Committee, „Information Note On Asylum-Seekers In Detention And In Dublin Procedures In Hungary”, Stand: Mai 2014, http://helsinki.hu/wp-content/uploads/HHC-Hungary-info-update-May-2014.pdf), der aida Länderbericht (aida, Asylum Information Database, National Country Report Hungary, Stand: 30. April 2014, abrufbar unter http://www.asylumineurope.org/files/report-download/aida_-_hungary_second_update_final_uploaded_0.pdf) sowie die Stellungnahme des UNHCR vom 9. Mai 2014 an das Verwaltungsgericht Düsseldorf (vgl.
Insbesondere im Hinblick auf diese neueren Erkenntnisquellen sind die Erfolgsaussichten der Klage nach summarischer Prüfung derzeit als offen anzusehen. Eine eingehendere Prüfung muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Im Eilrechtsschutzverfahren ist jedenfalls bei der Abwägung das Interesse des Antragstellers, bis zur Entscheidung über seine Klage nicht zwangsweise nach Ungarn rücküberstellt zu werden, angesichts der ihm nicht ausschließbar drohenden Gefahr einer menschenunwürdigen Behandlung höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer möglichst umgehenden Rückführung des Antragstellers aufgrund der Dublin-III-Verordnung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
(1) Die Kammer soll in der Regel in Streitigkeiten nach diesem Gesetz den Rechtsstreit einem ihrer Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, wenn nicht die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist oder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
(2) Der Rechtsstreit darf dem Einzelrichter nicht übertragen werden, wenn bereits vor der Kammer mündlich verhandelt worden ist, es sei denn, dass inzwischen ein Vorbehalts-, Teil- oder Zwischenurteil ergangen ist.
(3) Der Einzelrichter kann nach Anhörung der Beteiligten den Rechtsstreit auf die Kammer zurückübertragen, wenn sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage ergibt, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Eine erneute Übertragung auf den Einzelrichter ist ausgeschlossen.
(4) In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entscheidet ein Mitglied der Kammer als Einzelrichter. Der Einzelrichter überträgt den Rechtsstreit auf die Kammer, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder wenn er von der Rechtsprechung der Kammer abweichen will.
(5) Ein Richter auf Probe darf in den ersten sechs Monaten nach seiner Ernennung nicht Einzelrichter sein.
(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden.
(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.
Das Gericht darf über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden.
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
(1) Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Kann eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 oder 2 nicht ergehen, droht das Bundesamt die Abschiebung in den jeweiligen Staat an.
(2) Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt nach § 11 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung bleibt hiervon unberührt.
Tenor
I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Gründe
Tenor
Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes vom 29. Januar 2014 wird aufgehoben. Im ÜÜbrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, tragen der Kläger und die Beklagte zu je 50 %.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsglääubiger durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 Prozent des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
Tatbestand:
2Der Kläger ist guineischer Staatsangehöriger und beantragte am 4. Juli 2013 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) seine Anerkennung als Asylberechtigter.
3In der Befragung beim Bundesamt vom 4. Juli 2013 gab er unter anderem an, er habe im Jahr 2011 sein Heimatland verlassen. Er sei mit dem LKW über Mauretanien bis nach Syrien gefahren. Von Syrien sei er zu Fuß in die Türkei gelaufen, von wo er ebenfalls zu Fuß nach Griechenland gelangt sei. Über Mazedonien und Serbien und Ungarn sei er in die Bundesrepublik Deutschland gereist.
4Nach der Ermittlung eines Eurodac-Treffers am 11. Juli 2013 stellte das Bundesamt unter dem 11. Dezember 2013 ein Übernahmeersuchen nach der Dublin II-VO an Ungarn. Die ungarischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 19. Dezember 2013 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags gemäß Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe e Dublin II-VO.
5Mit Bescheid vom 29. Januar 2014, dem Kläger zugestellt am 31. Januar 2014, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers gemäß § 27a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an.
6Am 7. Februar 2014 hat der Kläger Klage erhoben und einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Absatz 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gestellt (13 L 286/14.A).
7Er ist der Ansicht Deutschland sei zuständig, da Flüchtlingen in Ungarn eine derart unmenschliche und erniedrigende Behandlung drohe, dass sie nicht dorthin zurück geschickt werden dürften. Er sei mit zahlreichen anderen Flüchtlingen auf einem Fußballplatz in einem Zelt untergebracht gewesen. Mittags habe es Suppe - ohne Fleischeinlage - und ein wenig Brot, abends habe es nichts mehr zu essen gegeben. Toiletten habe man suchen müssen. Bargeld sei nicht ausgeteilt worden.
8Der Kläger beantragt,
9den Bescheid des Bundesamtes vom 29. Januar 2014 aufzuheben.
10Die Beklagte beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Zur Begründung bezieht sie sich auf ihr bisheriges Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren.
13Das Gericht hat mit Beschluss vom 28. Mai und 23. Juni 2014 Beweis erhoben durch Einholung von Auskünften des Auswärtigen Amtes, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, des UNHCR und von Pro Asyl zu den in den Beweisbeschlüssen genannten Fragen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe teilte dem Gericht mit Schreiben vom 6. Juni 2014 mit, dass sie aus Kapazitätsgründen keine Anfragen zu den sog. „Dublin-Ländern“ bearbeite. Auf den Inhalt der erstatteten Gutachten vom 30. September 2014 (UNHCR), 31. Oktober 2014 (Pro Asyl) und 19. November 2014 (Auswärtiges Amt) wird Bezug genommen.
14Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten ergänzend Bezug genommen.
15Entscheidungsgründe:
16Über die Klage entscheidet die Einzelrichterin, nachdem ihr die Sache durch Beschluss der Kammer vom 14. April 2015 übertragen worden ist (§ 76 Absatz 1 AsylVfG).
17Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten ordnungsgemäß geladen worden sind und in den Ladungen vom 2. Juni 2015 zudem gemäß § 102 Absatz 2 VwGO darauf hingewiesen worden sind, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.
18Die zulässige Anfechtungsklage,
19vgl. hierzu VG Düsseldorf, Urteil vom 27. Juni 2014 – 13 K 654/14.A –, juris, Rn. 20 ff. m.w.N.,
20ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 29. Januar 2014 ist nur hinsichtlich der in Ziffer 2 geregelten Abschiebungsanordnung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Absatz 1 Satz 1 VwGO). Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides begegnet hingegen keinen rechtlichen Bedenken.
21Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Beklagte den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34a Absatz 1 Satz 1 AsylVfG).
22Die Beklagte ist zutreffend davon ausgegangen, dass Ungarn grundsätzlich der für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständige Mitgliedstaat ist (1.). Indes steht nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Überstellung des Klägers nach Ungarn durchgeführt werden kann (2.).
231. Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin II-VO). Diese findet auf den Asylantrag des Klägers Anwendung, obwohl gemäß § 77 Absatz 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. bei Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung – wie hier – auf den Zeitpunkt der Entscheidung abzustellen ist und die Nachfolgevorschrift der Dublin II-VO, die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), bereits am 19. Juli 2013 in Kraft getreten ist. Denn gemäß Artikel 49 Unterabsatz 2 Satz 2 Dublin III-VO bleibt die Dublin II-VO anwendbar für Asylanträge, die vor dem 1. Januar 2014 gestellt werden. Anderes gilt allenfalls im Falle von Gesuchen um Aufnahme oder Wiederaufnahme, die ab dem 1. Januar 2014 gestellt werden (Artikel 49 Unterabsatz 2 Satz 1 Dublin III-VO), was hier jedoch nicht der Fall ist,
24vgl. bereits Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteil vom 27. Juni 2014 – 13 K 654/14.A –, juris, Rn. 55; Beschlüsse vom 12. Februar 2014 – 13 L 2428/13.A –, juris, Rn. 13 und 8. Mai 2014 ‑ 13 L 126/14.A ‑, juris, Rn. 11.
25Nach den Vorschriften der Dublin II-VO ist Ungarn der zuständige Staat für die Prüfung des durch den Kläger gestellten Asylantrags.
26Der Kläger hat ausweislich der Abfrage des Bundesamtes in der Eurodac-Datenbank vom 11. Juli 2013 bereits am 27. Mai 2013 in Ungarn einen Asylantrag gestellt. Ungarn hat auf das am 11. Dezember 2013 vom Bundesamt gestellte Ersuchen um Wiederaufnahme des Klägers nach Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe e) Dublin II-VO bereits am 19. Dezember 2013, und damit innerhalb der nach Artikel 20 Absatz 1 Satz 1 Buchstabe c) Dublin II-VO im Falle eines Eurodac-Treffers maßgeblichen Frist von 2 Wochen nach Stellung des Wiederaufnahmeersuchens, seine Zuständigkeit für den Asylantrag des Klägers erklärt. Ungarn ist daher gemäß Artikel 20 Absatz 1 Satz 1 Buchstabe d) Dublin II-VO grundsätzlich verpflichtet, den Kläger innerhalb einer Frist von sechs Monaten, nachdem es die Wiederaufnahme akzeptiert hat, bzw. innerhalb von sechs Monaten nach der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat, wieder aufzunehmen. Diese Frist ist noch nicht abgelaufen, da das Gericht mit Beschluss vom 28. Mai 2014 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat.
27Zum fehlenden subjektiven Recht des Ausländers sich auf den Ablauf der Überstellungsfrist zu berufen siehe VG Düsseldorf, Kammerurteil vom 12. September 2014 – 13 K 8286/13.A –, juris.
28Der Überstellung des Klägers nach Ungarn steht auch nicht entgegen, dass zwischen der Antragstellung am 4. Juli 2013 und der Stellung des Übernahmeersuchens an Ungarn am 11. Dezember 2013 etwas mehr als 5 Monate vergangen sind. Fristvorgaben enthält die Dublin-II-VO insoweit allein für Aufnahmeersuchen (Artikel 17 Absatz 1 Dublin II-VO), also Ersuchen, die darauf gerichtet sind, dass der erstmalige Asylantrag von einem anderen Mitgliedstaat geprüft werde. Wird wie hier nach der Stellung eines Asylantrags in einem anderen Mitgliedstaat (Ungarn) ein weiterer Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland gestellt und ersucht die Beklagte daraufhin den Staat der ersten Asylantragstellung um Übernahme des Asylbewerbers, handelt es sich um ein Wiederaufnahmeersuchen nach Artikel 20 Dublin II-VO, das nicht der Fristregelung des Artikel 17 Dublin II-VO unterfällt,
29vgl. Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 6. Februar 2014 – 17 L 150/13.A –, juris Rn. 40; Verwaltungsgericht Regensburg, Beschluss vom 5. Juli 2013 – RN 5 S 13.30273 –, juris Rn. 24; Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 7. Oktober 2013 – 33 L 403.13 A –, juris Rn. 8.
30Es liegt auch kein Fall vor, in dem es zum Schutz der Grundrechte des Klägers aufgrund einer unangemessen langen Verfahrensdauer der Beklagten verwehrt ist, sich auf die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates zu berufen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hat der an sich nach der Dublin II-VO unzuständige Mitgliedstaat darauf zu achten, dass eine Situation, in der die Grundrechte des Asylbewerbers verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates verschlimmert wird. Erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Artikel 3 Absatz 2 Dublin II-VO selbst prüfen,
31vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. –, juris Rn. 108.
32Dahingestellt bleiben kann, ob diese Vorgabe des EuGH auch bei Wiederaufnahmeersuchen nach Artikel 20 Dublin II-VO, noch dazu in Fällen, in denen sich der Asylbewerber – wie vorliegend der Kläger – während der Überprüfung seines Asylbegehrens durch den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat begibt, zu beachten ist. Denn jedenfalls lag keine unangemessen lange Verfahrensdauer vor.
33Anhaltspunkte, ab wann von einer unangemessen langen Verfahrensdauer auszugehen ist, hat der Europäische Gerichtshof nicht gegeben. Nach Auffassung des Gerichts ist insoweit aber zunächst zu berücksichtigen, dass schon die Regelung des Artikel 17 Absatz 2 Dublin II-VO für Aufnahmeersuchen und nunmehr auch Artikel 23 Absatz 2 Dublin III-VO für Wiederaufnahmeersuchen eine regelmäßige Frist von zwei bzw. drei Monaten vorsieht. Deren Überschreiten kann dabei nicht gleichgesetzt werden mit der vom Europäischen Gerichtshof angesprochenen, die Grundrechte des Asylbewerbers beeinträchtigenden unangemessen langen Verfahrensdauer. Der gesetzlichen Wertung des § 24 Absatz 4 AsylVfG folgend geht das Gericht davon aus, dass frühestens nach dem Verstreichen eines Zeitraums, der der regelmäßigen Frist des Artikel 17 Dublin II-VO von drei Monaten zuzüglich der durch Artikel 24 Absatz 4 AsylVfG für die innerstaatlich für die Entscheidung über den Asylantrag im Regelfall vorgesehenen Frist von sechs Monaten, also insgesamt von neun Monaten, entspricht, von einer unangemessen langen Verfahrensdauer ausgegangen werden kann,
34vgl. Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteile vom 9. Dezember 2014 – 13 K 399/14.A –, S. 5 f. des Urteilsabdrucks, 27. August 2013 – 17 K 4737/12.A –, S. 8 des Urteilsabdrucks, n.v; Beschlüsse vom 26. Februar 2013 – 13 L 396/14.A. – und vom 31. März 2014 – 13 L 119/14.A – beide juris.
35Hier sind seit der Asylantragstellung am 13. Mai 2013 bis zur Stellung des Übernahmeersuchens am 22. November 2013 erst etwas mehr als 5 Monate verstrichen, so dass unter keinen Umständen von einer unangemessen langen Frist auszugehen ist.
362. Indes steht nicht fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Zwar leidet das ungarische Asylsystem nicht an systemischen Mängeln (a). Indes fehlt es an der erforderlichen Übernahmebereitschaft Ungarns (b).
37a) Es liegen keine Gründe vor, die trotz der genannten Zuständigkeit Ungarns eine Verpflichtung der Beklagten begründen könnten, vom Selbsteintrittsrecht nach Artikel 3 Absatz 2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen oder es ausschließen würden, den Kläger nach Ungarn abzuschieben.
38Ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Artikel 3 Absatz 2 Dublin II-VO durch die Bundesrepublik Deutschland besteht ohnehin nicht. Die Dublin‑Verordnungen sehen ein nach objektiven Kriterien ausgerichtetes Verfahren der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten vor. Sie sind im Grundsatz nicht darauf ausgerichtet, Ansprüche von Asylbewerbern gegen einen Mitgliedstaat auf Durchführung eines Asylverfahrens durch ihn zu begründen. Ausnahmen bestehen allenfalls bei einzelnen, eindeutig subjektiv-rechtlich ausgestalteten Zuständigkeitstatbeständen (vgl. etwa Artikel 8 Dublin II-VO zugunsten von Familienangehörigen). Die Zuständigkeitsvorschriften der Dublin II-VO begründen – wie die der Dublin III‑VO – zum Zwecke der sachgerechten Verteilung der Asylbewerber vor allem subjektive Rechte der Mitgliedstaaten untereinander. Die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an einen bestimmten Staat hindert daher nur die Überstellung dorthin; sie begründet kein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Beklagten,
39vgl. Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 –, juris, Rn. 60, 62 und Urteil vom 14. November 2013 – C 4/11 –, juris, Rn. 37; Schlussanträge des GA Jääskinnen vom 18. April 2013 – C 4/11 –, juris, Rn. 57 f.; Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss 19. März 2014 – 10 B 6.14 –, juris, Rn. 7.
40Die Beklagte ist aber auch nicht – unabhängig von der Frage der Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Artikel 3 Absatz 2 Dublin II-VO zugunsten des Klägers – gehindert, diesen nach Ungarn zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) mit sich bringen. Die Voraussetzungen, unter denen das nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Europäischen Gerichtshofs,
41EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. –, juris, Rn. 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 –, NVwZ 2011, S. 413,
42der Fall wäre, liegen nicht vor. Systemische Mängel in diesem Sinne können erst angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Artikel 4 EU-GR-Charta bzw. Artikel 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) entsprechenden Gravität nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können,
43EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. –, juris, Rn. 94.
44Die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend achtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Artikel 4 EU-GR-Charta implizieren,
45EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. –, juris, Rn. 86.
46Eine Widerlegung der Vermutung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Das Gericht muss sich vielmehr die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
47Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014 – 10 B 6.14 –, juris, Rn. 6 m.w.N.
48Bei der Bewertung der in Ungarn anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind dabei vorliegend diejenigen Umstände heranzuziehen, die auf die Situation des Klägers zutreffen. Abzustellen ist demnach auf die Situation von Flüchtlingen in einer vergleichbaren rechtlichen oder tatsächlichen Lage, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Umständen keine unmittelbare Rolle spielt. Sie kann allenfalls ergänzend herangezogen werden, sofern sich diese Umstände auch auf die Situation des Klägers auswirken (können),
49vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12 –, juris, Rn. 130.
50Damit ist vorliegend in erster Linie die Situation von Dublin-Rückkehren zu betrachten, die wie der Kläger vor der Ausreise aus Ungarn dort bereits einen ersten Asylantrag gestellt haben, dessen Antrag aber abgelehnt wurde.
51Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage in dem zuständigen Mitgliedstaat sind nach der Rechtsprechung des EuGH im Übrigen die regelmäßigen und übereinstimmenden Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen, Berichte der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems und Berichte des UNHCR zur Lage von Flüchtlingen und Migranten vor Ort,
52vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C 411/10 et. al. –, juris, Rn. 90 ff.
53Letzteren Informationen kommt bei der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems in dem nach der Dublin II-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat besondere Relevanz zu. Dies entspricht der Rolle, die dem Amt des UNHCR durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden ist, wobei letztere bei der Auslegung der unionsrechtlichen Asylvorschriften zu beachten ist,
54vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013 – C 528/11 –, juris, Rn. 44.
55Für die Frage, ob in Ungarn „systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber“ im Sinne der zitierten Rechtsprechung vorliegen, kommen dabei allerdings vorliegend von vorne herein nur solche Auskünfte und Berichte der genannten Organisationen in Betracht, die sich mit der Sach- und Rechtslage in Ungarn seit dem 1. Juli 2013 befassen. Für den Zeitraum bis zum 30. Juni 2013, insbesondere ab dem 1. Januar 2013, ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte davon auszugehen, dass die in den Jahren bis 2012 festgestellten Mängel des ungarischen Asylsystems und der Aufnahmebedingungen durch zwischenzeitliche weitreichende tatsächliche und rechtliche Verbesserungen, insbesondere die vorübergehende Abschaffung der Inhaftierungsmöglichkeiten für Asylbewerber mit Wirkung zum 1. Januar 2013, entfallen sind,
56vgl. EGMR, Urteil vom 6. Juni 2013 – 2283/12 –, juris, Rn. 105, Mohammed gegen Österreich, in Auszügen veröffentlicht unter asyl.net.
57Zum 1. Juli 2013 wurde das Asylsystem Ungarns allerdings erneut verändert. Insbesondere wurden erneut umfassende Gründe für die Inhaftierung von Asylbewerbern, sog. asylum detention – eine durch die für das Asylverfahren zuständige Behörde angeordnete Verwaltungshaft – in das Asylrecht aufgenommen.
58Der EGMR, dessen Rechtsprechung auf der Ebene des (nationalen) Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dienen kann,
59vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04 –, juris, Rn. 32,
60hat mit Urteil vom 3. Juli 2014 das Vorliegen systemischer Mängel in Ungarn unter Berücksichtigung der veränderten Rechtslage verneint. Zur Begründung führte er aus:
61„The country reports showed that there is still a practice of detaining asylum-seekers, and that so-called asylum detention is also applicable to Dublin returnees. The grounds for detention are vaguely formulated, and there is no legal remedy against asylum detention. However, the reports also showed that there is no systematic detention of asylum-seekers anymore, and that alternatives to detention are now provided for by law. The maximum period of detention has been limited to six months. Turning to the conditions of detention, it is noted that while there are still reports of shortcomings in the detention system, from an overall view there seem to have been improvements.
62Moreover, the Court notes that the UNHCR never issued a position paper requesting EU member States to refrain from transferring asylum‑seekers to Hungary under the Dublin II or Dublin III Regulation (compare the situation relating to Greece discussed in M.S.S. v. Belgium and Greece, cited above, § 195, and the UNHCR recommendation of 2 January 2013 to halt transfers to Bulgaria).
63Under those circumstances and as regards the possible detention of the applicant and the related complaints, the Court concludes that in view of the recent reports cited above, the applicant would currently not be at a real and individual risk of being subjected to treatment in violation of Article 3 of the Convention upon a transfer to Hungary under the Dublin Regulation.”
64EGMR, Urteil vom 3. Juli 2014 – 71932/12 –, Mohammadi gegen Österreich, Rn. 68 bis 70.
65Auch das erkennende Gericht vermag nach Auswertung der im vorliegenden Verfahren eingeholten aktuellen Auskünfte des UNHCR, des Auswärtigen Amtes und von Pro Asyl – welche dem EGMR bei seiner Entscheidung noch nicht zu Grunde lagen – nicht festzustellen, dass der Kläger Gefahr liefe, nach seiner Rücküberstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Artikel 4 EU-GR-Charta bzw. im Sinne von Artikel 3 EMRK zu unterfallen. Dies ergibt sich aus folgenden rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen:
66Artikel 4 EU-GR-Charta bzw. Artikel 3 EMRK normieren das Verbot der Folter und unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung. Eine Behandlung ist „unmenschlich”, wenn sie vorsätzlich und ohne Unterbrechung über Stunden zugefügt wurde und entweder körperliche Verletzungen oder intensives physisches oder psychisches Leid verursacht hat. „Erniedrigend” ist eine Behandlung, wenn sie eine Person demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt oder sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt, geeignet, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen. Es kann ausreichen, dass ein Opfer in seinen Augen erniedrigt ist, auch wenn andere das nicht so sehen. Ob Zweck der Behandlung war, das Opfer zu erniedrigen oder zu demütigen, ist zu berücksichtigen, aber auch wenn das nicht gewollt war, schließt das die Feststellung einer Verletzung von Artikel 3 EMRK nicht zwingend aus.
67EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 –, NVwZ 2011, 413, Rn. 220 m.w.N.
68Eine Behandlung in diesem Sinne kann nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme zumindest nicht positiv festgestellt werden.
69Vgl. Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteil vom 20. März 2015 – 13 K 501/14.A –, juris; a.A. unter Bezugnahme auf Artikel 6 EU-GR-Charta VG Berlin, Beschluss vom 23. Januar 2015 – 23 L 717.14 A –, juris, Rn. 11 ff.
70Zwar hat sich nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen bestätigt, dass Dublin-Rückkehrer flächendeckend – so der UNHCR – bzw. regelmäßig – so Pro Asyl – inhaftiert werden.
71Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 3, Seite 2; Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 3 b), Seite.
72Indes begründet die Tatsache, dass das ungarische Asylrecht seit der erneuten Rechtsänderung zum 1. Juli 2013 – wieder – Inhaftierungsgründe für Asylbewerber enthält und Ungarn auf dieser Grundlage praktische alle Dublin-Rückkehr – so der UNHCR – bzw. regelmäßig, allerdings nicht sämtliche Dublin-Rückkehrer – so Pro Asyl – inhaftiert, für sich genommen – entgegen der Ansicht des Klägers – noch keinen begründeten Anhaltspunkt für das Vorliegen systemischer Mängel des Asylsystems. Vielmehr verpflichtet Artikel 3 EMRK die Mitgliedstaaten, sich zu vergewissern, dass die Bedingungen der Haft mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigt, und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Haft angemessen sichergestellt sind.
73Vgl. EGMR, Urteile vom 21. Januar 2011 – 30696/09 –, juris, Rn. 221, und 15. Juli 2002 – 47095/99 –, Rn. 95;
74Die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (AufnahmeRL), enthält für die Inhaftierung von Asylbewerbern Mindeststandards. Anhaltspunkte dafür, dass diese Mindeststandards ihrerseits nicht genügen, um die Asylbewerber vor einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zu schützen, liegen dem Gericht nicht vor. Danach darf Haft nicht allein deswegen angeordnet werden, weil der Betroffene einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes gestellt hat, sondern nur in Ausnahmefällen, insbesondere zur Überprüfung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit, im Falle notwendiger Beweissicherung, insbesondere bei Fluchtgefahr, zur Prüfung des Einreiserechts, zur Durch- oder Fortführung eines Abschiebeverfahrens, wenn die Gefahr der Verzögerung oder der Vereitelung durch den Betroffenen besteht und bei Gefahr für die nationale Sicherheit und Ordnung (Artikel 8 Absatz 1 und 3 AufnahmeRL). Die Inhaftierung darf nur für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange, wie die Gründe gemäß Artikel 8 Absatz 3 bestehen, angeordnet werden (Artikel 9 Absatz 1 Satz 1 AufnahmeRL). Die Haftanordnung ist zu begründen (Artikel 9 Absatz 2 AufnahmeRL); bei einer Anordnung durch eine Verwaltungsbehörde ist eine zügige Überprüfung durch ein Gericht herbeizuführen (Artikel 9 Absatz 3 AufnahmeRL). In diesem Fall soll dem Betroffenen unentgeltlicher Rechtsbeistand zur Verfügung stehen (Artikel 9 Absatz 6 AufnahmeRL). Auch im Übrigen ist eine turnusmäßige Haftüberprüfung von Amts wegen vorzusehen (Artikel 9 Absatz 5 AufnahmeRL). Die Schutzsuchenden sind in speziellen Hafteinrichtungen unterzubringen, auf jeden Fall aber getrennt von gewöhnlichen Strafgefangenen (Artikel 10 Absatz 1 AufnahmeRL). Die Inhaftierung von besonders schutzbedürftigen Personen ist nur im Ausnahmefall und unter weiteren sehr eingeschränkten Bedingungen zulässig (Artikel 11 AufnahmeRL).
75Dahingestellt bleiben kann, wann ein Verstoß gegen diese Mindeststandards die Annahme systemischer Mängel indiziert, da die gesetzlichen Regelungen Ungarns zur Inhaftierung von Asylbewerbern (Act LXXX of 2007 on Asylum, im Folgenden: Asylum Act Hungary) den vorstehend genannten Vorgaben im Wesentlichen gerecht werden:
76Gemäß § 31/B Absatz 1 Asylum Act Hungary darf eine Inhaftierung nicht alleine deswegen erfolgen, weil die Antragsteller einen Asylantrag gestellt haben. Die in § 31/A Absatz 1 Asylum Act Hungary genannten Haftgründe entsprechen ganz überwiegend denen des Artikel 8 Absatz 3 der AufnahmeRL; insbesondere wird auch die Fluchtgefahr als ein Haftgrund genannt (Buchstabe c). Dabei darf entsprechend den Vorgaben der AufnahmeRL nach § 31/A Absatz 3 des ungarischen Gesetzes eine Inhaftierung nur aufgrund einer individuellen Ermessensentscheidung erfolgen und nur, wenn nicht durch andere Maßnahmen sichergestellt werden kann, dass der Asylbewerber sich dem Asylverfahren nicht entzieht. Unbegleitete Minderjährige dürfen gemäß § 31/B Absatz 2 Asylum Act Hungary nicht inhaftiert werden; Familien mit Minderjährigen dürfen nur ultima ratio inhaftiert werden, wobei das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist. Gemäß § 31/A Absatz 10 Asylum Act Hungary soll Asylhaft nur in speziellen Einrichtungen vollzogen werden. Dabei soll die Inhaftierung von Männern und Frauen sowie Familien mit Minderjährigen jeweils getrennt erfolgen (§ 31/F Absatz 1 Asylum Act Hungary). Die zulässige Höchstdauer von Asylhaft regelt § 31/A Absatz 7 Asylum Act Hungary. Danach soll die Haft maximal 6 Monate dauern; bei Familien mit Kindern nicht länger als 30 Tage. Gemäß § 31/A Absatz 6 Asylum Act Hungary kann die Flüchtlingsbehörde innerhalb von 24 Stunden seit der Haftanordnung die Verlängerung der Inhaftierung auf mehr als 72 Stunden bei dem örtlich zuständigen Amtsgericht beantragen. Das Gericht kann die Haftdauer sodann auf höchstens 60 Tage verlängern. Eine Verlängerung auf weitere 60 Tage ist nach einem erneuten Antrag der Flüchtlingsbehörde durch das zuständige Amtsgericht möglich. Hieraus folgt, dass eine Überprüfung der Inhaftierung von Amts wegen nach 72 Stunden und anschließend nach 60 Tagen erfolgt. Darüber hinaus besteht gemäß § 31/C Absatz 3 Asylum Act Hungary die Möglichkeit gegen die Inhaftierung Einspruch einzulegen. Gemäß § 31/E Absatz 1 Asylum Act Hungary sollen inhaftierte Asylbewerber über ihre Rechte und Pflichten in ihrer Muttersprache oder einer anderen Sprache, die sie verstehen können, informiert werden. Gemäß § 31/D Absatz 4 Asylum Act Hungary soll das Gericht einen Vormund bestellen, wenn der Asylbewerber kein ungarisch spricht und nicht in der Lage ist seine Vertretung durch einen Bevollmächtigten sicherzustellen. § 31/A Absatz 8 Asylum Act Hungary zählt schließlich auf, in welchen Fällen die Inhaftierung unverzüglich zu beenden ist. Danach endet die Haft unter anderem, wenn der Haftgrund entfallen ist.
77Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass die ungarischen Behörden diese Vorgaben bei ihrer Entscheidung über die Inhaftierung von Asylbewerbern – speziell Dublin-Rückkehrern – nicht nur in Einzelfällen, sondern systemisch nicht beachten und sich hieraus eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im oben genannten Sinne ergibt, liegen nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht vor.
78Das Gericht hat im Rahmen der Beweisaufnahme unter anderem danach gefragt, auf welche konkreten Haftgründe die Inhaftierungen seit dem 1. Juli 2013 gestützt werden (Frage 4).
79Pro Asyl gab an, dass laut dem Hungarian Helsinki Committee (HHC) in der Praxis vor allem der Haftgrund „risk of absconding“ (c) bzw. der Haftgrund „risk of absconding“ in Verbindung mit „esablishment of identiy“ (a) Anwendung finde. Weiterhin würden Inhaftierungen auf dem Haftgrund „previous absconding“ (b) basieren.
80Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 4, Seite 3.
81Hierbei handelt es sich um Haftgründe, die den in Artikel 8 Absatz 3 AufnahmeRL entsprechen. Allerdings hat Pro Asyl im Rahmen der Beantwortung von Frage 9 unter Bezugnahme auf die Ausführungen des HHC angegeben, dass in der Mehrheit der Haftanordnungen weiterhin auf Gründe verwiesen werde, die nicht unter die im „Asylum Act“ definierten Haftgründe fallen würden. Das HHC führt diesbezüglich auf Seite 6 der „INFORMATION NOTE ON ASYLUM-SEEKERS IN DETENTION AND IN DUBLIN PROCEDURES IN HUNGARY“ von May 2014 aus, dass viele Entscheidungen verschiedene Umstände und Gründe benennen würden, die oftmals über die zulässigen Haftgründe nach dem Asylum Act Hungary hinausgingen. Beispielsweise genannt werden der unrechtmäßige Aufenthalt, die Einreise auf irreguläre Weise, das Fehlen ausreichender finanzieller Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts und das Fehlen von Verbindungen nach Ungarn. Dahingestellt bleiben kann, inwieweit die vorstehend genannten Beispiele unter einen der in Artikel 8 Absatz 3 AufnahmeRL bzw. § 31/A Absatz 1 Asylum Act Hungary genannten Haftgründe subsumiert werden können. Zum einen liegen dem Gericht keine Erkenntnisse vor, wonach diese Haftgründe auch bei Dublin-Rückkehrern angewandt werden. Zum anderen lässt sich jedenfalls nicht allein aus einer etwaigen europarechtswidrigen Annahme eines Haftgrundes ohne weiteres auf das Vorliegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Artikel 3 EMRK bzw. Artikel 4 EU-GR-Charta schließen. Entscheidend ist vielmehr, dass das ungarische Recht den Asylbewerbern in solchen Fällen ermöglicht, sich gegen eine unrechtmäßige Inhaftierung zu wehren.
82Zwar gibt es gemäß § 31/C Absatz 2 Asylum Act Hungary keine individuellen Rechtsmittel, sondern gemäß Absatz 3 nur die Möglichkeit eines Einspruchs („objection“), gegen die Haftanordnung.
83Vgl auch Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 11, Seite 9 und Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 11, Seite 7.
84Dahingestellt bleiben kann, inwieweit dieser Rechtsbehelf hinreichenden Rechtschutz zu gewähren vermag. Denn die Asylbewerber haben jedenfalls die Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit ihrer Inhaftierung im Rahmen der von Amts wegen erfolgenden Überprüfung nach 72 Stunden bzw. 60 Tagen geltend zu machen. Anhaltspunkte dafür, dass diese Fristregelungen gegen Artikel 9 Absatz 3 AufnahmeRL – der seinerseits keine konkreten Fristvorgaben enthält – verstoßen und/oder diese Vorgaben in der Praxis nicht umgesetzt werden, sind nicht ersichtlich. Ebenso wenig steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die vorgeschriebenen gerichtlichen Haftüberprüfungen nicht geeignet sind, den Asylbewerbern effektiven Rechtschutz zu gewähren. Zwar kritisieren Pro Asyl und der UNHCR, dass es in der Praxis so gut wie nie zu einer Entlassung komme.
85Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 11, Seite 10 und Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 11, Seite 7.
86Zum einen konnte keiner der drei befragten Organisationen verlässliche Auskünfte zu der Frage, wie viele der nach dem 1. Juli 2013 erlassenen Anordnungen von Asylhaft aufgrund der bestehenden Rechtschutzmöglichkeiten tatsächlich aufgehoben worden sind, geben.
87Vgl. die Antworten des Auswärtigen Amtes, UNHCR und von Pro Asyl zu Frage 12 des Beweisbeschlusses.
88Zum anderen ließe sich allein aus einer geringen Erfolgsquote der Rechtsbehelfe auch nicht ohne weiteres darauf schließen, dass die ungarischen Gerichte keinen effektiven Rechtschutz gewährleisten. Dass derartige Haftprüfungsanträge durch die Gerichte angeblich mit schematisierten Entscheidungen abgelehnt werden und die Verhandlungen nur wenige Minuten dauern, muss nicht bedeuten, dass diese Rechtsbehelfe nicht individuell geprüft würden. Vielmehr kann in Haftsachen, die Massenverfahren darstellen, aus Gründen der Vereinfachung auch eine individuelle richterliche Überprüfung zu einer schematisierten Begründung führen, wenn das Gericht keine besonders begründungsbedürftigen Umstände des Einzelfalles angenommen hat, ohne dass grundlegende rechtsstaatliche Garantien verletzt wären; zumal die Annahme von (fortbestehender) Fluchtgefahr bei Personen, die sich dem Asylverfahren bereits in der Vergangenheit entzogen haben, dem erkennenden Gericht zumindest nicht unvertretbar erscheint.
89Vgl. Verwaltungsgericht Würzburg, Urteil vom 23. September 2014 – W 1 K 14.50050 –, juris, Rn. 37.
90Gleichfalls steht nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern in der Praxis entgegen den Vorgaben des Artikel 8 Absatz 2 AufnahmeRL und § 31/A Absatz 2 Asylum Act Hungary erfolgt; die Annahme eines Haftgrundes durch die zuständigen ungarischen Behörden also nicht auf einer individuellen Einzelfallentscheidung beruht und eine Prüfung, ob nicht weniger einschneidende Maßnahmen in Betracht kommen, unterbleibt.
91Zwar spricht vieles dafür, dass die Haftanordnung regelmäßig schematisch erfolgt und eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Argumentation unter Abwägung der Rechts- bzw. Verhältnismäßigkeit in der Regel nicht stattfindet.
92Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 9, Seite 8.
93Indes lässt sich daraus bereits nicht ableiten, dass eine Einzelfallprüfung auch tatsächlich nicht stattgefunden hat. Vielmehr erscheint es dem Gericht nachvollziehbar, dass die Haftanordnungen größtenteils inhaltlich identisch aussehen und von einer individuellen Begründung absehen, da die Haftanordnung bei Dublin Rückkehrern regelmäßig auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt wird. Vor dem Hintergrund, dass die Dublin-Rückkehr bereits einmal aus Ungarn geflohen sind, erscheint diese Annahme auch nicht willkürlich (s.o.).
94Ungeachtet dessen widerlegt die Tatsache, dass es auch Fälle gibt, in denen die Haftanordnung auch individuelle Einzelheiten berücksichtigt,
95vgl. HHC “INFORMATION NOTE ON ASYLUM-SEEKERS IN DETENTION AND IN DUBLIN PROCEDURES IN HUNGARY“, Seite 6,
96die Annahme der fehlenden individuellen Einzelfallprüfung. Auch spricht für die Durchführung einer Einzelfallprüfung, dass Familien und besonders schutzbedürftige Personen in der Regel nicht inhaftiert werden, obwohl die Inhaftierung dieser Personengruppen ebenfalls rechtlich möglich wäre.
97Vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 6, Seite 6.
98Zudem wird zumindest auch in vereinzelten Fällen von den im ungarischen Recht vorgesehenen Haftalternativen Gebrauch gemacht. Laut dem HHC sei in 13 der 107 untersuchten Haftentscheidungen begründet worden, warum nicht auf Haftalternativen zurückgegriffen worden sei. Im Zeitraum vom 1. Juli 2013 bis zum 17. April 2014 sei in 32 Fällen eine Kaution angeordnet worden. Die Betroffenen seien vorab gefragt worden, ob sie Geld besäßen bzw. jemand Geld schicken könne.
99Vgl. Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 10, Seite 9; dem UNHCR liegen hierzu keine Informationen vor.
100Daraus geht hervor, dass die gesetzlich vorgesehenen Haftalternativen in der Praxis ‑ wenn auch nur in Ausnahmefällen – tatsächlich angewendet werden. Dass die Anzahl von Fällen, in denen eine Kaution angeordnet wurde gering ausfällt überrascht das Gericht nicht, da Flüchtlinge in der Regel nicht über entsprechende finanzielle Mittel verfügen werden, um eine Kaution bezahlen zu können. Bedenken bestehen auch nicht gegen die Höhe der geforderten Kaution, welche zwischen 962 und 2.000 Euro liege.
101Vgl. Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 10, Seite 9.
102Unter Berücksichtigung der Funktion einer Kaution als eine Sicherheitsleistung, welche nur bei einer gewissen – für den Betroffenen spürbaren – Höhe erfüllt werden kann, bestehen keine Bedenken gegen die geforderte Höhe. Auch spricht der Umstand, dass die Höhe der geforderten Kaution variiert, dafür, dass die Höhe der Kaution im jeweiligen Einzelfall entsprechend der wirtschaftlichen Verhältnisse des Inhaftierten festgesetzt wird.
103Aus den vorstehenden Ausführungen folgt überdies, dass die Haftanordnung in Übereinstimmung mit Artikel 9 Absatz 2 AufnahmeRL schriftlich unter Angabe der sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft, die letztlich eine Überprüfbarkeit gewährleisten, ergeht. Diese werden den Asylsuchenden auch verbal übersetzt.
104Vgl. Auskunft Pro Asyl an das Verwaltungsgericht München vom 30. Oktober 2014 zu Frage 1.
105Damit wird dem durch Artikel 5 Absatz 2 EMRK gewährleisteten Recht eines jeden Festgenommenen auf Unterrichtung hinreichend entsprochen. Eine mündliche Unterrichtung genügt insoweit.
106Vgl. Dörr, in: Grote/Marahun, EMRK/GG, S. 574, Rn. 36.
107Auch aus den Erkenntnissen des Gerichts zur Haftdauer lässt sich keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von Dublin-Rückkehrern ableiten. Vielmehr steht die Rechtslage und tatsächlich gelebte Praxis in Ungarn auch insoweit in Einklang mit den europarechtlichen Vorgaben. Laut Auskunft von Pro Asyl beobachtete das HHC in der Vergangenheit, dass die maximale Haftdauer von sechs Monaten in vielen Fällen ausgeschöpft worden sei. Seit Kurzem würden inhaftierte Asylsuchende aus der Asylhaft entlassen, sobald das OIN im „in-merit procedure“ über das Asylgesuch entschieden hat und zwar auch dann, wenn diese Entscheidung negativ ausgefallen sei und der Betroffene Rechtmitte eingelegt habe. Demgegenüber ist nicht ersichtlich, dass die Höchstgrenze der zulässigen Haftdauer überschritten wird.
108vgl. Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 2 Buchstabe, Seite 2.
109Es erscheint zumindest nicht unvertretbar, bei Dublin-Rückkehrern anzunehmen, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr – bis zu einer Entscheidung über das Asylbegehren bzw. unter Umständen auch nach einer ablehnenden Entscheidung – fortlaufend gegeben ist.
110Vgl. Verwaltungsgericht Stade, Beschluss vom 14. Juli 2014 – 1 B 862/14 –, juris, Rn. 15.
111Hinzu kommt, dass die Inhaftierung von Amts wegen alle 60 Tage überprüft wird (s.o.), die Asylbewerber mithin die Möglichkeit haben, ihre Inhaftierung auf die fortbestehende Rechtmäßigkeit hin überprüfen zu lassen.
112Schließlich kann das Gericht den aktuellen Auskünften nicht entnehmen, dass die konkreten Haftbedingungen in Ungarn systemisch eine unmenschliche, erniedrigende Behandlung der Dublin-Rückkehrer darstellen.
113Hinsichtlich der Haftbedingungen in den Asylhaftanstalten liegen dem Gericht im Wesentlichen die folgenden Erkenntnisse vor:
114Die Asylhafteinrichtungen seien nicht überbelegt. Die gesetzliche Mindestvorgabe von 5 m² pro Person werde in allen Einrichtungen gewahrt. Asylbewerber könnten sich innerhalb der Hafteinrichtungen zwischen 6 und 23 Uhr frei bewegen. Außerhalb der Einrichtungen, auf dem Weg zum Krankenhaus oder zum Gericht, würden die Asylbewerber hingegen an einer Leine geführt. Zur Freizeitgestaltung gebe es in den Hafteinrichtungen Computerräume mit Internetzugang, Fitnessräume und Gemeinschaftsräume, in denen ein Fernseher stehe. Bezüglich der hygienischen Verhältnisse in den Asylhafteinrichtungen lägen Mängel vor. In C. hätten einige der Toiletten keine Türen gehabt und einige Wasserhähne würden nicht funktionieren, weshalb der Zugang zu warmen Wasser nicht immer gewährleistet sei. In O. habe eine unzureichende Versorgung mit Putzutensilien und Reinigungsmitteln zur Reinigung der Toiletten und Duschen stattgefunden. Der Waschraum im ersten Stock sei permanent dreckig gewesen und würde stinken. Auch sei das Wasser von mangelhafter Qualität gewesen, was zu Hautausschlägen geführt habe. In E. seien Duschen im zweiten Stock häufig verstopft und daher unbenutzbar gewesen. Eine Versorgung mit Lebensmitteln erfolge entsprechend einer Verordnung des Innenministeriums. Religiöse und medizinische Besonderheiten würden in der Regel berücksichtigt. Kritisiert werde aber die schlechte Qualität des Essens. Eine medizinische Grundversorgung werde gewährleistet, auch wenn diese oft als unzureichend empfunden werde. Sanitäter bzw. Krankenschwestern seien permanent anwesend; Allgemeinmediziner würden die Einrichtungen zweitweise besuchen. In schwerwiegenden Fällen könne eine Zuweisung zu den Allgemein- oder Spezialeinrichtungen des Gesundheitssystems erfolgen. Die Kosten der Behandlung trage der ungarische Staat bzw. seine Gesundheitseinrichtung. In der Aufnahmeeinrichtung C. werde zudem psychologische Betreuung durch Spezialisten und Psychologen der D. Stiftung gewährt.
115Vgl. Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 5 b) bis f), Seite 3 ff.; Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 5 b) bis f), Seite 3 f.; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 19. November 2014 zu Frage 5 b) bis f), Seite 3 f.; HHC “INFORMATION NOTE ON ASYLUM-SEEKERS IN DETENTION AND IN DUBLIN PROCEDURES IN HUNGARY“, S. 15 ff.
116Obschon das Gericht nicht verkennt, dass Defizite in den Haftbedingungen bestehen, erreichen diese jedenfalls nicht das erforderliche Mindestmaß an Schwere, um von systemischen Mängeln ausgehen zu können. Die Beurteilung dieses Mindestmaßes ist relativ und hängt von allen Umständen des Einzelfalls ab, wie die Dauer der Behandlung und ihre physischen und psychischen Wirkungen und manchmal das Geschlecht, das Alter und der Gesundheitszustand des Opfers.
117Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – M.S. S./Belgien u. Griechenland, Rn. 219.
118Die vorstehend genannten hygienischen, medizinischen und sonstigen Mängeln in den Asylhaftanstalten, insbesondere auch die Vorfälle, in denen Asylbewerber von „armed security guards“ misshandelt worden sind, sind zwar nicht zu vernachlässigen. Indes lässt sich daraus nicht ableiten, dass die inhaftierten Asylbewerber in Ungarn nicht nur vereinzelt sondern gerade systematisch einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterliegen. Vielmehr zeigt ein Vergleich mit der früheren Lage in Ungarn, dass zwischenzeitlich weitreichende tatsächliche und rechtliche Verbesserungen eingetreten sind.
119So auch EGMR, Urteil vom 3. Juli 2014 – 71932/12 – Mohammadi gegen Österreich, Rn. 68.
120Soweit die Bedingungen in einzelnen Aufnahmeeinrichtungen noch verbesserungswürdig sind, ist darauf hinzuweisen, dass einzelne Missstände, die in bestimmten Aufnahmeeinrichtungen auftreten, das Asyl- und Aufnahmesystem nicht insgesamt tangieren. Auch der Umstand, dass sich die Situation in Ungarn deutlich schlechter darstellen mag als in der Bundesrepublik Deutschland, begründet für sich keinen systemischen Mangel.
121Vgl. EGMR, Urteil vom 3. Juli 2014 – 71932/12 – Mohammadi gegen Österreich, Rn. 69; Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 30. Januar 2015 – 13 L 58/15.A –, juris, Rn. 43 m.w.N.
122Ungeachtet dessen ist vorliegend zudem zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Kläger um einen erwachsenen und gesunden Mann handelt, der nicht besonders schutzbedürftig ist. Mit anderen Worten ist von vornherein nicht ersichtlich, inwieweit er von etwaigen medizinischen Versorgungsmängeln, bei einer Inhaftierung besonderen Gefahren ausgesetzt würde.
123Lediglich ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass der UNHCR – auch nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der Inhaftierungspraxis Ungarns infolge der durch das Gericht veranlassten Beweisaufnahme – keine systemischen Mängel des Asylverfahrens oder Aufnahmebedingungen in Ungarn explizit festgestellt und keine generelle Empfehlung ausgesprochen hat, im Rahmen des Dublin-Verfahrens Asylbewerber nicht nach Ungarn zu überstellen. Dem Fehlen einer solchen generellen Empfehlung des UNHCR kommt insoweit besondere Bedeutung zu. Denn die vom Amt des UNHCR herausgegebenen Dokumente sind im Rahmen der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems in einem Mitgliedstaat angesichts der Rolle, die dem UNHCR durch die – bei der Auslegung des unionsrechtlichen Asylverfahrensrechts zu beachtende – Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden ist, besonders relevant.
124So auch Verwaltungsgericht Augsburg, Beschluss vom 26. Januar 2015 – Au 7 S 15.50015 –, juris, Rn. 31.
125Schließlich liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Dublin-Rückkehrer entgegen des Refoulement-Verbots ohne eine Entscheidung über ihren Asyl(folge)antrag in ihr Herkunftsland abgeschoben werden. In den Fällen, in denen – wie vorliegend – ein vorheriges Asylverfahren in der Sache unanfechtbar negativ abgeschlossen wurde, wird ein neuerliches Asylbegehren als Folgeantrag gewertet und entsprechend den Regelungen für Folgeverfahren behandelt.
126Vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht München vom 2. März 2015 zu Frage 2, Seite 3.
127Steht nach alldem nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass das ungarische Asylverfahren an systemischen Mängeln leidet, geht dieser Umstand – nach den Grundsätzen der materiellen Beweislast – zu Lasten des Klägers. Bereits aus dem eingangs dargestellten Erfordernis, dass sich das Gericht zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen muss, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird (S. 10),
128BVerwG, Beschluss vom 15. April 2014 – 10 B 16.14 –, juris, S. 5,
129folgt, dass es zu Lasten des Asylbewerbers geht, wenn das Gericht – wie vorliegend – nicht zu dieser Überzeugung gelangt. Gleiches ergibt sich auch aus der Diktion des EuGH, wonach ein Asylbewerber seiner Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht (Hervorhebung durch das Gericht), die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.
130Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 –, juris, Rn. 62.
131b) Es fehlt aber an der erforderlichen Übernahmebereitschaft Ungarns. Unter dem 24. Juni 2015 hat Ungarn mitgeteilt, dass es das EU-Abkommen zur Rücknahme von Flüchtlingen einseitig außer Kraft setze und bis auf Weiteres keine Flüchtlinge mehr zurücknehme, die aufgrund der Dublin III-VO abgeschoben werden sollen.
132http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-06/ungarn-ruecknahme-stop-fluechtlinge-eu; http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/ungarn-will-keine-fluechtlinge-mehr-aufnehmen-13664323.html; http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-in-europa-ungarn-schottet-sich-ab-1.2534693.
133Wenngleich Ungarn am Folgetag klargestellt hat, dass man sich nur weigere, Flüchtlinge aufzunehmen, die andere EU-Staaten irrtümlich nach Ungarn abschieben wollten, steht bei Antragstellern wie dem Kläger, die über Griechenland nach Ungarn eingereist sind, nicht zur hinreichenden Überzeugung des Gerichts fest, dass Ungarn zur Übernahme des Klägers noch bereit ist. Denn ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse, werden aus – unzutreffender, da gegen Artikel 3 Absatz 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO verstoßender – Sicht Ungarns, Flüchtlinge, die bei ihrer Flucht als erstes Land Griechenland betreten haben, zu Unrecht nach Ungarn abgeschoben.
134http://www.tagesschau.de/ausland/ungarn-fluechtlinge-119.html; http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/dublin-iii-abkommen-ungarn-nimmt-fluechtlinge-weiter-auf-13665801.html.
135Obschon im Verwaltungsvorgang keine Eurodac-Treffermeldung zu Griechenland vorhanden ist, steht im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Absatz 1 Satz 1 AsylVfG) nicht positiv fest, dass Ungarn noch zur Übernahme des Klägers bereit ist. Denn der Kläger hat beim Bundesamt vorgetragen, über Griechenland nach Ungarn eingereist zu sein. Danach wäre Griechenland gemäß Artikel 10 Absatz 1 Satz 1 Dublin II-VO der für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständige Mitgliedstaat. Ob Ungarn zur Übernahme des Klägers daher noch bereit wäre, steht im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung daher zumindest nicht mehr positiv fest.
136Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Absatz 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 17.3.2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
T a t b e s t a n d :
2Der am 00.00.0000 in Singar, Kreis Mosul geborene Kläger ist irakischer Staatsangehhöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 12.01.2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 23.02.2015 einen Asylantrag. Bei seiner Erstbefragung am 23.02.2015 gab er an, er habe den Irak am 31.12.2014 verlassen. Er sei über Syrien, die Türkei und unbekannte Länder nach Deutschland gereist. Er sei in die Bundesrepublik Deutschland gekommen, weil hier die Menschenrechte gewahrt würden. Er sei körperlich behindert und erhoffe sich in Deutschland bessere Möglichkeiten.
3Die anschließend durchgeführte EURODAC-Anfrage ergab Treffer für Ungarn und Österreich. Daraufhin teilte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) dem Kläger mit Schreiben vom 27.02.2015 mit, dass ein Dublin-Verfahren mit dem Ziel der Rückführung nach Ungarn eingeleitet werde. Unter demselben Datum richtete das Bundesamt ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 b der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) unter Hinweis auf den dort am 10.01.2015 gestellten Asylantrag des Klägers an Ungarn. Am 12.03.2015 stimmte Ungarn der Rückführung des Klägers zu.
4Mit Bescheid vom 17.03.2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab und ordnete seine Abschiebung nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27 a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
5In den Verwaltungsvorgängen des Bundesamtes ist kein Zustellungsnachweis enthalten.
6Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 02.04.2015 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung sein Prozessbevollmächtigter vorgetragen hat: Der Kläger habe bei einem Bombenattentat im Irak ein Bein und ein Auge verloren. Seitdem leide er unter einem Traumata, das ihn nachts nicht schlafen lasse. In Ungarn sei er medizinisch nicht ausreichend behandelt worden. Außerdem habe man ihn mehrere Tage lang in ein Gefängnis gesperrt. Bei einer Rückführung nach Ungarn müsse der Kläger mit erneuter Inhaftierung rechnen. Das ungarische Asylverfahren leide an systemischen Mängeln. Die Durchführung eines fairen Verfahrens sei dort nicht gewährleistet.
7Der Kläger beantragt,
8den Bescheid der Beklagten vom 17.03.2015 aufzuheben.
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
12Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
13Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
14E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
15Die Kammer entscheidet im Einverständnis der Beteiligten über die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
16Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig und auch begründet.
17Der Bescheid der Beklagten vom 17.03.2015 ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylVfG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Unrecht nach § 27 a AsylVfG als unzulässig abgelehnt und auf der Grundlage des § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet.
18Gemäß § 27 a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Beklagte den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
19Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-VO).
20Danach bestand zwar gemäß Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des (erneuten) Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten. Gleichwohl ist nunmehr die Beklagte aufgrund der Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO für die Entscheidung über das Asylbegehren des Klägers zuständig, weil einer Überstellung nach Ungarn systemische Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegenstehen und eine weitere Prüfung nach einem zuständigen Mitgliedstaat nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen keinen Erfolg verspricht.
21Die Dublin III-VO beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (im Folgenden: GrCh) sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GrCh implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden.
22Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – Rs C-411/10 und C-493/10, N.S. und M.E. –, juris; EGMR, Urteil vom 21.01.2011 – 30696/09 – M.S.S. / Belgien und Griechenland – und Urteil vom 04.11.2014 – 29217/12 – Tarakhel / Italien –.
23Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen“ ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
24Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
25Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem – aus welchen Gründen auch immer – faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK kommt.
26Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.03.2014 – 10 B 6.14 – und vom 06.06.2014 – 10 B 35.14 –; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 –, alle: juris.
27Nicht erforderlich ist, dass sich der systemische Mangel bzw. die strukturelle – systemische – Schwachstelle auf eine unüberschaubare Vielzahl, die Mehrheit aller Asylbewerber oder gar auf alle Asylbewerber auswirkt. Ein systemischer Mangel kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn nur eine geringe Anzahl von Asylbewerbern betroffen ist, soweit dies vorhersehbar und regelhaft geschieht.
28Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 18.03.2015 – A 11 S 2042/14 – und vom 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 –, juris; Lübbe, a. a. O..
29Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
30Vgl. Lübbe, a. a. O.
31Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
32Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.05.2013 – C-528/11 –, juris.
33Für die Rechtsfrage einer Verletzung des Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine Orientierungs- und Leitfunktion.
34Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn bereits aufgrund der dort bestehenden Inhaftierungspraxis die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
35Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d. h. Personen, die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR
36vgl. Auskunft vom 30.09.2014 an das VG Bremen
37mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen.
38Diese Inhaftierungspraxis begegnet bereits deshalb Bedenken, weil nach den UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden Asylsuchende grundsätzlich nicht in Haft genommen werden sollten und Haft immer nur das letzte Mittel darstellen darf. Da Asylsuchende meist bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, kann sie nämlich eine Inhaftierung mit besonderer Härte treffen.
39Vgl. UNHCR vom 30.09.2014 an das VG Bremen unter Hinweis auf UNHCR, Detention Guidelines, 2012.
40Diesen Anforderungen wird die in dem seit dem 01.07.2013 geltenden ungarischen Asylgesetz geregelte Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten schon deshalb nicht gerecht, weil die dort genannten Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und auch die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nach der Auskunft des UNHCR nicht mit Gründen versehen wird. Die ungarischen Behörden scheinen dabei bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr anzunehmen,
41vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf.
42Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh.
43Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
44Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
45Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
46Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf
47Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
48So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
49Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
50Vgl. UNHCR vom 30.09.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.
51Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weitgehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird.
52Schließlich entsprechen auch die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe.
53Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.09.2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
54Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR
55vgl. Auskünfte vom 09.05. und 30.09.2014 an das VG Düsseldorf
56an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen“ von Strafgefangenen an einer Leine – zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen – noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen Detention Guidelines (a.a.O.) ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben.
57Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
58So unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung im Ergebnis auch: VG Münster, Beschluss vom 07.07.2015 – 2 L 858/15.A –, VG Bremen, Beschluss vom 01.04.2015 – 3 V 145/15 –, VG München, Beschluss vom 20.02.2015 – M 24 S 15.50091 – und VG Berlin, Beschluss vom 15.01.2015 – 23 L 899.14 A – jeweils m. w. N., alle juris; a. A. u.a. VG Düsseldorf, Urteil vom 20.03.2015 – 13 K 501/14.A – (nicht rechtskräftig), VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.06.2015 – 7a L 1208/15.A –, BayVGH, Beschluss vom 12.06.2015 – 13a ZB 15.50097 – alle juris.
59Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner Stellungnahme vom 30.09.2014 an das VG Bremen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
60So UNHCR vom 30.09.2014 an das VG Bremen.
61Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Urteil vom 03.07.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12) entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen – wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen – nicht erfüllt.
62Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit.
63Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72.000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.07.2015 sollen es bis zu 78.000 Flüchtlinge gewesen sein,
64vgl. Pressemitteilung des ungarischen Minstry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence”
65Andere Quellen sprechen von 61.000 Flüchtlingen.
66So die Pressemitteilung des UNHCR vom 02.07.2015, „UNHCR urges Hungary not to amend its asylum system in a rush, ignoring international standards“.
67Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2.500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlingen im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet sein soll,
68vgl. zu einer ähnlichen Überlegung zu Italien bei einem zahlenmäßig noch deutlich günstigeren Verhältnis von ca. 35.000 Aufnahmeplätzen und 7.900 Flüchtlingen in den ersten zwei Monaten 2015 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.05.2015 – 8 K 1694/15.A – juris Rz. 40 ff.
69Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind.
70Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen,
71vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste.
72Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden.
73Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.06.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.
74Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 2 K 1422/15.A des Antragstellers gegen die in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Mai 2015 enthaltene Abschiebungsanordnung nach Ungarn wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e
2Der Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung seiner Klage 2 K 1422/15.A gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 12. Mai 2015, zugestellt am 18. Juni 2015, anzuordnen,
4ist zulässig und begründet.
5Im Rahmen der in Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotenen Abwägung zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers an einem Verbleib in Deutschland bis zum Abschluss des Klageverfahrens und dem öffentlichen Interesse an einem Vollzug der auf § 34a Abs. 1 AsylVfG gestützten Anordnung der Abschiebung nach Ungarn im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Mai 2015 überwiegt unter Berücksichtigung aller derzeit erkennbaren Umstände das Aussetzungsinteresse. Denn es lässt sich nicht mehr mit der in Verfahren der vorliegenden Art hinreichenden Wahrscheinlichkeit annehmen, dass sich der auf §§ 27a, 34a AsylVfG gestützte Bundesamtsbescheid im Ergebnis als rechtmäßig erweisen wird. Deshalb wäre mit einem sofortigen Vollzug des umstrittenen Bundesamtsbescheides eine unbillige Härte für den Antragsteller verbunden (vgl. zum Prüfungsmaßstab § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO).
6Nach § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
7Zwar ist die Antragsgegnerin zutreffend davon ausgegangen, dass Ungarn grundsätzlich der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Mitgliedsstaat ist. Die ungarischen Behörden haben auf das Wiederaufnahmegesuch der Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 10. April 2015 ihre Zuständigkeit gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin II-VO) für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers erklärt.
8Allerdings kann nach Einschätzung des Gerichts unter Berücksichtigung des vorliegenden neueren Erkenntnismaterials sowie der geänderten Positionierung des ungarischen Staates zur Aufnahmebereitschaft von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Übereinkommens aktuell nicht mehr mit der erforderlichen Gewissheit davon ausgegangen werden, dass in Ungarn systemische Mängel bzw. Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nicht anzunehmen sind. Vielmehr gibt die jüngste Entwicklung in Ungarn Anlass zu der Annahme, dass gravierende Anhaltspunkte für das Bestehen systemischer Mängel vorhanden sind, aufgrund derer der Antragsteller im Falle der Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.
9Ausgangspunkt für diese Bewertung ist das in Ungarn sich in jüngster Zeit massiv zuspitzende Kapazitätsproblem bei der Aufnahme von Asylbewerbern bedingt durch die stetig ansteigende Zahl von Asylbewerbern. Während in Ungarn im Jahre 2012 lediglich 2.157 Asylanträge gestellt wurden, stieg die Anzahl der Asylbewerber im Jahre 2013 auf 18.900 an und verdoppelte sich im Jahre 2014 auf 42.777. Vom 1. Januar 2015 bis zum 1. März 2015 registrierten die ungarischen Behörden bereits eine Anzahl von 28.535 Personen.
10Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015 (abrufbar unter http://helsinki.hu/wp-content/uploads/Asylum-2015-Hungary-press-info-4March2015.pdf.
11Bis zu 72.000 Flüchtlinge sollen bereits in diesem Jahr nach Angaben der ungarischen Regierung in das Land gelangt sein.
12Vgl. spiegelonline: Überlastetes Asylsystem, Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen, Bericht vom 6. Juli 2015, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-verschaerft-gesetzzur-aufnahme-von-flüchtlingen.
13Ungarn gehört damit in der EU zum drittgrößten Zuwanderungsland für Asylbewerber.
14Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015,aaO.
15Hinzu kommt noch, dass Ungarn nach der Dublin-VO verpflichtet ist, alle weitergereisten Personen, die erstmals in Ungarn einen Asylantrag gestellt haben, wiederaufzunehmen. Dieser großen Anzahl von Asylbewerbern steht demgegenüber nur eine geringe Zahl von Aufnahmeplätzen gegenüber. Wie dem jüngsten Bericht des European Asylum Support Office (EOS) vom 18. Mai 2015 zu entnehmen ist, der eine ausführliche aktuelle Berichterstattung über das ungarische Asylsystem enthält,
16http://easo.europa.eu/wp-content/uploads/Description-of-the-Hungarian-asylum-system-18-May-final.pdf;
17gibt es in ganz Ungarn weniger als 2.500 Aufnahmeplätze in staatlichen Unterbringungseinrichtungen. Die Plätze verteilen sich auf vier offene Aufnahmeeinrichtungen (Bicske 439, Debrecen 823, Vamaosszabadi 255, Nagyfa 300 sowie in Balassagyarmat 111) und drei geschlossene Lager (Debrecen 192, Bekescsabe 159, Nyirbator 105).
18Bereits diese Zahlen verdeutlichen das bestehende massive Unterbringungsproblem in Ungarn. Es kann angesichts dieser Größenordnung bei einer Zuwanderung von mehr als 60.000 Flüchtlingen innerhalb eines halben Jahres ersichtlich nicht davon ausgegangen werden, dass die erheblich zu geringe Zahl an staatlichen Unterbringungsplätzen für Asylbewerber auch nur ansatzweise durch von Kirchen und sonstigen nichtstaatlichen caritativen Einrichtungen aufgefangen werden könnte.
19Hinzu kommt, dass sich der ungarische Staat selbst weder willens noch in der Lage sieht, die Unterbringung und Versorgung der stetig ansteigenden Zahl von Asylbewerbern zu gewährleisten. Dass bereits seit einigen Monaten von den ungarischen Behörden die Situation der Flüchtlingsunterbringung als dramatisch eingestuft wird, zeigt der Umstand des bereits Ende Mai 2015 erklärten Aufnahmestopps von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Transfers wegen ausgeschöpfter Aufnahmekapazitäten bis zum 5. August 2015.
20S. E-Mail der Dublinet Hungary vom 29. Mai 2015 an die Europäischen Mitgliedsstaaten betr. INFO Transfer Stop.
21Als erschwerend ist die ablehnende Haltung der ungarischen Regierung gegenüber dem Dublin-Übereinkommen anzusehen, die das gesamte Dublin-Konzept als ein Systemfehler bezeichnet. Seitens der ungarischen Regierung wird unmissverständlich deutlich gemacht, dass man eine nennenswerte Zuwanderung sog. Wirtschaftsflüchtlinge nicht wünsche und Ungarn keine multikulturelle Gesellschaft werden wolle.
22Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015, aaO; Die Welt, Bericht vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat, abrufbar unter: http://www.welt.de/143027058; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, Die ungarische Regierung will Flüchtlinge ab sofort aussperren.
23Die mangelnde Bereitschaft der ungarischen Regierung zur Aufnahme von Dublin-Rückkehrern gipfelte schließlich in der am 23. Juni 2015 erfolgten Ankündigung des Regierungschef Orban, das EU Abkommen zur Aufnahme von Flüchtlingen auszusetzen. Begründet wurde diese Entscheidung mit dem Hinweis, dass die Kapazitäten ausgeschöpft seien („Das Boot ist voll“) und die ungarische Interessen sowie die ungarische Bevölkerung geschützt werden müssten.
24Vgl. Die Welt, Bericht vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat; aa0; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, aa0.
25Wenn auch diese Ankündigung bereits einen Tag später zurückgenommen wurde, so macht sie doch auf der einen Seite die dramatische Unterbringungssituation für die Flüchtlinge in Ungarn deutlich wie auch auf der anderen Seite die fehlende Bereitschaft staatlicher Stellen, die Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen und deren menschwürdige Unterbringung zu garantieren. Vielmehr ist zu konstatieren, dass die ungarische Regierung die Politik der Ausgrenzung weiter forciert. Ungeachtet internationaler Kritik hat Ungarn die Regeln für die Einwanderung verschärft. Am Montag, den 6. Juli 2015 verabschiedete das ungarische Parlament eine Verschärfung der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Der Zeitrahmen für Asylverfahren wird gekürzt werden. Mit der neuen Rechtslage wird ermöglicht, Asylanträge von Flüchtlingen abzulehnen, die über sichere Transitländer nach Ungarn gereist sind - selbst wenn sie aus Bürgerkriegsländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak stammen. Vorgesehen ist überdies, dass Asylbewerber zukünftig selbst für Kost und Unterbringung während der Antragsbearbeitung zahlen sollen.
26Vgl. spiegelonline. Überlastetes Asylsystem, aa0; Die Welt, Bericht vom 6. Juli 2015 Zuwanderung: Ungarn zieht Grenzzaun gegen Flüchtlinge hoch, abrufbar unter: http://www.welt.de/143651657.
27Angesichts dieser jüngeren Entwicklungen bestehen ernst zu nehmende Anhaltspunkte für die Annahme, dass das Asylsystem in Ungarn systemische Schwachstellen aufweist. Daher sieht sich das Gericht veranlasst, im vorläufigen Rechtsschutzverfahren – unter Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung - die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Ungarn nach summarischer Prüfung derzeit als offen zu betrachten. Die nähere Prüfung dieser in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht komplexen Fragestellung ist allerdings dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Im vorliegenden Verfahren überwiegt das Aussetzungsinteresse.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVG.
29Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
30Hemmelgarn
Gründe
Bayerisches Verwaltungsgericht München
M 23 K 15.50045
Im Namen des Volkes
Urteil
vom
23. Kammer
Sachgebiets-Nr. 710
Hauptpunkte:
Dublin-III-Verfahren; Vorrangiges Asylverfahren in Ungarn; Änderung der ungarischen Asylgesetze zum
Rechtsquellen:
In der Verwaltungsstreitsache
..., geb. ...1989 alias ..., geb. ... 1989 Gasthof ...
- Kläger -
bevollmächtigt: ...
gegen
...
vertreten durch:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Außenstelle ...,
- Beklagte -
beteiligt:
Regierung von ..., Vertreter des öffentlichen Interesses B-str. ..., M.
wegen Asylrecht
erlässt das Bayerische Verwaltungsgericht München, 23. Kammer, durch die Richterin am Verwaltungsgericht ... als Einzelrichterin ohne mündliche Verhandlung
am
folgendes Urteil:
I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ... Januar 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Der nach seinen eigenen Angaben am ... 1989 in Aleppo geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er reiste vermutlich am ... Oktober 2014 in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am ... Dezember 2014 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.
Bei dem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens am ... Dezember 2014 gab der Kläger gegenüber dem Bundesamt an, dass ihm in Ungarn Ende September 2014 Fingerabdrücke abgenommen worden seien. Im Rahmen des beschleunigten schriftlichen Verfahrens verzichtete der Kläger auf die Prüfung seines Anspruchs auf Asyl.
Aufgrund eines Eurodac-Treffers der Kategorie I bezüglich des Klägers für Ungarn sandte das Bundesamt am ... Dezember 2014 ein Wiederaufnahmeersuchen an die ungarischen Behörden. Diese teilten am ... Dezember 2014 mit, dass das mit Antrag vom ... Oktober 2014 eingeleitete Asylverfahren wegen des Verschwindens des Klägers beendet worden sei. Weiter erklärten die ungarischen Behörden die Bereitschaft zur Wiederaufnahme des Klägers.
Mit Bescheid vom ... Januar 2015 - zugestellt am ... Januar 2015 - stellte das Bundesamt fest, dass der Asylantrag unzulässig sei (Nr. 1 des Bescheids) und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Nr. 2 des Bescheids). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Asylantrag gem. § 27a AsylVfG unzulässig sei, da Ungarn aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrags gem. Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin-III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Das Bundesamt gehe davon aus, dass in Ungarn keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorlägen. Deutschland sei verpflichtet, die Überstellung nach Ungarn als zuständigem Mitgliedstaat innerhalb der in Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO festgesetzten Fristen durchzuführen. Die Anordnung der Abschiebung nach Ungarn beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.
Mit Schreiben vom 23. Januar 2015 erhoben die Bevollmächtigten des Klägers Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragten:
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ...01.2015, Az. ..., wird aufgehoben.
Weiterhin beantragten sie, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (Az.: M 23 S 15.50047).
Zur Begründung trugen sie unter Verweis auf umfangreiche Rechtsprechung und Stellungnahmen insbesondere vor, dass in Ungarn systemische Mängel vorlägen und dem Kläger in Ungarn die Inhaftierung drohe.
Die Akten des Bundesamts wurden mit Schreiben vom
Mit Beschluss vom 3. Februar 2015
Mit Schreiben vom
Durch Beschluss der Kammer vom
Mit Schreiben vom
Mit Schreiben vom
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte im Verfahren M 23 S 15.50047 sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Über die Klage konnte mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom ... Januar 2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er war daher aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
Die isolierte Anfechtungsklage ist gegen den Bescheid des Bundesamts, mit dem der Asylantrag nach § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung angeordnet wird, die statthafte Klageart (vgl. BayVGH, U.v. 29.1.2015 - 13a B 14.50039 - juris m. w. N.).
Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Unrecht gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt.
Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In diesem Fall kann das Bundesamt gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat anordnen, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Vorliegend hat der Kläger zunächst in Ungarn Asyl beantragt; Ungarn hat auch mit Schreiben vom ... Dezember 2014 der Wiederaufnahme des Antragstellers gemäß § 18 Abs. 1 Ziff. b Dublin-III-VO zugestimmt. Damit wäre grundsätzlich Ungarn für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig.
Allerdings bestimmt Art. 3 Abs. 2 Unterabsätze 2 und 3 Dublin III-VO in Umsetzung des Urteils des EuGH vom 21. Dezember 2011 (EuGH, U.v. 21. Dezember 2011 - C-411/10, C-493/10
Nach der zur Rechtslage unter der Dublin-II-VO ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (U.v. 21.12.2011 - C-411/10
Die Rechtsprechung beurteilte die Frage des Vorliegens systemischer Mängel im oben beschriebenen Sinn im ungarischen Asylsystem bis zur letzten Änderung der ungarischen Asylgesetze unterschiedlich (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 15.5.2015 - 8 LA 85/15; zuletzt ablehnend VG München, U.v. 1.7.2015 - M 12 K 15. 50491, VG Augsburg, U.v. 20.7.2015 - Au 5 K 15.50316, VG Düsseldorf, U.v. 26.6.2015 - 13 K 787/14.A; zuletzt bejahend VG Köln, U.v. 15.7.2015 - 3 K 2005/15.A; VG Münster, B.v. 7.7.15 - 2 L 858/15.A; VG Bremen, B.v. 1.4.15 - 3 V 145/15
Insbesondere aufgrund der zum 1. August 2015 in Kraft getretenen - und damit bei der gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigenden - Änderung des ungarischen Asylrechts gibt es nach Überzeugung des erkennenden Gerichts wesentliche Gründe für die Annahme, dass in Ungarn systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen, vorliegen und folgt insoweit der soweit erkennbar überwiegenden Meinung in der Rechtsprechung (vgl. VG Augsburg, U.v. 18.8.2015 - Au 6 K 15.50155 - bisher unveröffentlicht; VG Düsseldorf, B.v. 20.8.2015 - 15 L 2556715.A; VG Saarland, B.v. 12.8.2015 - 3 L 816/15; VG Kassel, B.v. 7.8.2015 - 3 L 1303/15.KS.A - jeweils juris). Obergerichtliche Rechtsprechung zu der seit 1. August 2015 geänderten ungarischen Rechtslage existiert hierzu soweit ersichtlich nicht.
Nach den vorliegenden aktuellen Erkenntnissen sind mit dieser Gesetzesänderung sowohl die Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit nach der Dublin-III-VO und zur Prüfung eines Asylgesuchs in Zuständigkeit des ungarischen States sowohl vor den ungarischen Behörden wie vor den ungarischen Gerichten etwa durch die Verkürzung von Fristen und die an Fristversäumnisse angeknüpften Sanktionen sowie neu gefasste Beweislastregeln in einer Weise verändert worden, die die Einhaltung der Mindestanforderungen nicht mehr gewährleisten (vgl. VG Düsseldorf, B.v. 20.8.2015 - 15 L 2556/15.A - juris Rn. 27).
Das Verwaltungsgericht Augsburg (U.v. 18.8.2015 - Au 6 K 15.50155 - bisher unveröffentlicht), dem das erkennende Gericht vollumfänglich folgt, führt hierzu aus:
„Sowohl das Hungarian Helsinki Committee als auch der UNHCR erklären sich nach der Änderung der ungarischen Gesetzeslage zum 1. August 2015 und der tatsächlichen Aufnahmebedingungen zu tiefst besorgt („deeply concerned“) über die Entwicklung und Verschärfung des Asylrechts in Ungarn, und fordern Ungarn auf, ihr Asylrecht unter Beachtung der Flüchtlingsrechte, des EU-Rechts und des internationalen Rechts zu handhaben. Das Hungarian Helsinki Committee führt zu der zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderung des ungarischen Asylrechts in seiner Stellungnahme vom 7. August 2015 (abrufbar unter: HYPERLINK http://he...pdf) aus, dass Ungarn eine Liste von sicheren Drittstaaten beschlossen habe, zu denen unter anderem auch Serbien zähle. Diese Einschätzung stehe in Widerspruch zu der aktuell gültigen Position des UNHCR, des Helsinki Committees selbst und Amnesty International. Kein anderes Land in der EU betrachte Serbien für Asylsuchende als sicheres Drittland. Aufgrund dieser Festlegung sei es der ungarischen Immigrationsbehörde (Office of Immigration and Nationality (OIN) möglich, alle Asylsuchenden, die über Serbien nach Ungarn einreisen, das seien ca. 99% der Asylbewerber, ohne Prüfung und Anhörung ihrer Fluchtsituation abzulehnen. Eine Ausnahme bestehe nur, wenn der Asylbewerber beweisen könne, dass es ihm in Serbien nicht möglich gewesen sei, Asyl zu beantragen. Ein Nachweis sei dem Asylbewerber in der Praxis jedoch aus tatsächlichen Gründen nicht möglich, zudem hätten Asylsuchende regelmäßig keinen Zugang zu professioneller Rechtsberatung, die jedoch für die Nachweisführung notwendig sei. Zudem existiere in Serbien in der Realität kein funktionierendes Asylsystem. Weiterhin werde auch Griechenland als sicheres Drittland angesehen, ein Land, in das die EU-Mitgliedstaaten seit 2011 wegen der dort herrschenden Verhältnisse keine Dublin-Überstellungen mehr durchführen. Mit dieser Haltung verstoße Ungarn in der Praxis gegen das Gebot des „non-refoulement“, das in der Flüchtlingskonvention von 1951, in Art. 3 der EMRK und in Art. 18 und 19 der EU-GRcharta verankert sei (HHC, Stellungnahme vom 7.8.2015, a. a. O. S. 2). Gegen eine ablehnende Entscheidung als unzulässig, die z. B. bereits bei einer Einreise über einen sicheren Drittstaat (wie Serbien) erfolge, könne eine gerichtliche Überprüfung nur innerhalb einer Frist von drei Tagen erfolgen, eine Frist, die sowohl gegen EU-Recht, als auch gegen die gefestigte Rechtsprechung des EGMR verstoße, die beide eine Mindestfrist von einer Woche vorsähen (HHC, Stellungnahme vom 7.8.2015, a. a. O. S. 4 m. w. N.). Auch die Möglichkeiten einer Inhaftierung insbesondere in den sog. Dublin-Fällen sei im Verhältnis zur vorherigen Rechtslage wieder verschärft worden. Zudem sollen Flüchtlinge bis zum Ende ihres Asylverfahrens inhaftiert werden dürfen. Die neue Gesetzeslage entspricht somit in weiten Teilen der Rechtlage, die im Jahr 2012 den UNHCR zu seiner Empfehlung veranlasste, nach den Dublin-II-Bestimmungen keine Asylbewerber nach Ungarn zu überstellen.
Auch das UNHCR, dessen Wertungen im Rahmen der Prüfung des Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin-III-VO maßgebliches Gewicht zukommt (vgl. EuGH, U.v. 30.5.2013 - C-528/11, juris Rn. 44), hatte bereits in seiner Stellungnahme vom 3. Juli 2015 im Vorfeld der zwischenzeitlich beschlossenen Gesetzesänderungen Bedenken angemeldet und sich insoweit als „tief besorgt“ (deeply concerned) bezeichnet (abrufbar unter: http://www.u...org/...html). Das Asylsystem Ungarns sei bereits vor der Novelle immer restriktiver geworden und es werde befürchtet, dass die neuen Vorschläge es Flüchtlingen unmöglich machen wird, in diesem Land Sicherheit zu suchen. Rund 80% der Asylsuchenden kämen aus den Konfliktzonen Syrien, Afghanistan, Irak und bedürften internationalen Schutz. Hier ist anzufügen, dass nach österreichischen Angaben von den im Jahr 2013 in Ungarn gestellten 44.000 Asylanfragen nur 550 positiv verbeschieden worden sind (http://www.s...de/p...).“
Ergänzend hierzu führt das Gericht aus, dass das Hungarian Helsinki Committee in seiner Stellungnahme des Weitern bemängelt, dass in den meisten Fällen ein beschleunigtes Verfahren zulässig werde, in dem innerhalb von 15 Tagen eine Entscheidung erfolgen solle. Es bestehe ein hohes Risiko, dass dieses Verfahren aufgrund der benannten Voraussetzungen zum Regelfall würde. Die 15-Tage-Frist sei ein Verstoß gegen EU-Recht, da sie keinen effektiven Zugang zu Asylverfahren mehr gewähre (HHC, Stellungnahme vom 7.8.2015, .a.aO., S. 3f). Auch der gerichtliche Schutz für diese - bis zu 99% aller Asylverfahren betreffenden - beschleunigten Verfahren sei, insbesondere auch durch die nicht mehr zwingend vorgesehene persönliche Anhörung, unzureichend und Verstoße gegen EU-Recht (HHC, Stellungnahme vom 7.8.2015, a. a. O., S. 4).
Darüber hinaus bestehen in Ungarn massive Kapazitätsprobleme aufgrund der enormen Zunahme von Flüchtlingszahlen. Während in Ungarn im Jahre 2012 lediglich 2.157 Asylanträge gestellt wurden, stieg die Anzahl der Asylbewerber im Jahre 2013 auf 18.900 an und verdoppelte sich im Jahre 2014 auf 42.777. Vom 1. Januar 2015 bis zum 1. März 2015 registrierten die ungarischen Behörden bereits eine Anzahl von 28.535 Personen (Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Bericht vom 4. März 2015, abrufbar unter http://h...hu/wp-c...pdf.). Bis zu 72.000 Flüchtlinge sollen bereits in diesem Jahr nach Angaben der ungarischen Regierung in das Land gelangt sein. Demgegenüber stehen in ganz Ungarn weniger als 2.500 Aufnahmeplätze in staatlichen Unterbringungseinrichtungen zu Verfügung. Hinzu kommt die ablehnende Haltung der ungarischen Regierung gegenüber dem Dublin-System (vgl. hierzu VG Münster, B.v. 7.7.2015 - 2 L 858/15.A - juris), so dass auch mit einer entsprechend zügigen Erweiterung der Aufnahmekapazitäten mit zumutbarer Ausstattung nicht zu rechnen ist. Auch kann das Gericht keine Anhaltspunkte dafür erkennen, dass die ungarische behördliche und gerichtliche Praxis die verschärften gesetzlichen Vorgaben nicht befolgen wird.
Das Gericht macht sich ergänzend die Einschätzungen des Verwaltungsgerichts Düsseldorf (B.v. 20.8.2015 - 15 L 2556/15.A - juris), des Verwaltungsgerichts Saarland (B.v. 12.8.2015 - 3 L 816/15 - juris) sowie des Verwaltungsgerichts Kassel (B.v. 7.8.2015 - 3 L 1303/15.KS.A -juris) zu Eigen. Demnach bestehen (zumindest) bei der Zusammenschau der in jüngerer Zeit entstandenen Kapazitätsprobleme einerseits und der gegenüber der bisherigen Rechtslage zulasten der Asylbewerber im Asylverfahrensablauf sowie bei den Inhaftierungsmöglichkeiten vorgenommenen Verschlechterungen derzeit systemische Schwachstellen des ungarischen Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) bergen.
Angesichts der somit wegen Art. 3 Abs. 2 Satz Unterabsatz 2 Dublin-III-VO anzunehmenden Unzuständigkeit Ungarns sind sowohl die in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids ausgesprochene Ablehnung des Asylantrags als unzulässig als auch die Abschiebungsandrohung nach Ungarn in Nr. 2 des Bescheids rechtswidrig und aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen dieses Urteil können die Beteiligten die Zulassung der Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
schriftlich beantragen. Dem Antrag sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Dem Kläger wird für das Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin ... beigeordnet.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (§ 114 ZPO) und Beiordnung der bevollmächtigten Rechtsanwältin des Klägers (§ 121 Abs. 2 ZPO) hat Erfolg.
Gemäß § 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Diese Voraussetzungen sind im Fall der Kläger erfüllt.
Aus der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und den beigefügten Belegen (§ 166 VwGO i. V. m. § 117 Abs. 2 S. 1 ZPO) ergibt sich, dass der Kläger die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann.
Die beabsichtigte Rechtsverfolgung hatte im maßgeblichen Zeitpunkt auch hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne des § 176 VwGO i. V. m. § 114 ZPO. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Erfolgsaussicht ist der Zeitpunkt der Entscheidungsreife der Prozesskostenhilfe-Sache. Im Zeitpunkt der Stellung des Antrages auf Prozesskostenhilfe am 9. Februar 2015 waren die Erfolgsaussichten des Klageantrags zumindest offen. Insoweit wird auf die Ausführungen im Beschluss vom 3. Februar 2015 im Verfahren M 23 S 15.50047 verwiesen.
Dem Kläger war daher die beantragte Prozesskostenhilfe zu bewilligen und die bevollmächtigte Rechtsanwältin beizuordnen.
Die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag ist gerichtsgebührenfrei. Auslagen werden nicht erstattet.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Gründe
VG Augsburg
Au 6 K 15.50155
Urteil
vom
6. Kammer
Tenor
I.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom
II.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Entscheidungsgründe
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.7.2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
T a t b e s t a n d
2Der am 00.0.0000 in Vate im Kosovo geborene Kläger ist kosovarischer Staatsangehöriger albanischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit. Er reiste im Februar 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der ihn am 15.2.2015 aufgreifenden Bundespolizei teilte er mit, Asyl beantragen zu wollen und einen Asylantrag in Ungarn, falls er einen gestellt habe, hiermit zurückziehen zu wollen. Er wolle in Deutschland arbeiten und mit dem verdienten Geld seine Familie im Kosovo unterstützen. Ihm hätten im Kosovo die Mandeln entnommen werden müssen, wozu ihm das Geld gefehlt habe. Gegenüber der Ausländerbehörde der Stadt Köln verneinte er am 17.2.2015, in Deutschland einen Asylantrag stellen zu wollen. Er gab weiter an, am 15.2.2015 aus seinem Heimatland ausgereist und über Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland gereist zu sein, weil er zu Hause aus wirtschaftlichen Gründen keine Lebensperspektive habe.
3Die EURODAC-Anfrage ergab einen Treffer für Ungarn. Daraufhin richtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 27.2.2015 ein Wiederaufnahmegesuch unter Hinweis auf den dort am 8.2.2015 gestellten Asylantrag des Klägers an Ungarn. Am 12.3.2015 stimmte Ungarn der Rückführung des Klägers nach Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) zu.
4Mit Bescheid vom 31.7.2015 ordnete das Bundesamt die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
5Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 12.8.2015 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt, das ungarische Asylverfahren leide an systemischen Mängeln.
6Der Kläger beantragt,
7den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.7.2015 aufzuheben.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
11Auf den gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten Eilantrag des Klägers vom12.8.2015 hin hat der Einzelrichter im Verfahren 18 L 2015/15. A mit Beschluss vom 17.8.2015 die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage angeordnet.
12E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
13Der Einzelrichter entscheidet im Einverständnis der Beteiligten über die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO). Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig,
14vgl. OVG NRW, Urteil vom 7.3.2014 - 1 A 21/12.A -, juris,
15und auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entscheidungserheblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat zu Unrecht auf der Grundlage des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) an, wenn er dorthin abgeschoben werden soll, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
16Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staats ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-VO).
17Danach bestand gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten.
18Insoweit ist es unerheblich, dass der Kläger in Deutschland keinen Asylantrag gestellt hat. In einem solchen Fall ist Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO einschlägig. Danach kann ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich eine Person im Sinne des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO ohne Aufenthaltstitel aufhält und bei dem kein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wieder aufzunehmen, wenn er der Auffassung ist, dass der andere Mitgliedstaat gemäß Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO zuständig ist.
19Die Voraussetzungen des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO sind erfüllt. Denn der Kläger ist ein Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags im zuständigen Mitgliedstaat (hier: in Ungarn) sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: in Deutschland) ohne Aufenthaltstitel aufhält.
20Gemäß Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO müssen die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO (nach Auffassung des ersuchenden Mitgliedstaats, hier: Deutschlands) zusätzlich erfüllt sein, weil diese nach dem deutschen, englischen, französischen und niederländischen Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO („und“/„and“/„et“/„en“) kumulativ und nicht lediglich alternativ aufgeführt sind. Dass diese Formulierung in Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO nicht lediglich sprachlich verunglückt ist, folgt aus dem Gegenschluss der nachfolgenden, die Buchstaben b, c, d des Art. 18 Dublin III-VO betreffenden Formulierung des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO. Nach dem Wortlaut sämtlicher oben genannter Sprachen („oder“/„or“/„ou“/„of“) werden die Buchstaben b, c, d des Art. 18 Dublin III-VO in Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO nämlich eindeutig alternativ aufgeführt. Nach Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO ist der Mitgliedstaat, bei dem der erste Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde (hier: Ungarn), gehalten, einen Antragsteller, der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: in Deutschland) aufhält, nachdem er seinen ersten Antrag noch während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zurückgezogen hat, nach den Bestimmungen der Art. 23, 24 und 29 Dublin III-VO wieder aufzunehmen, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen.
21Hier braucht indes nicht entschieden zu werden, ob die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO erfüllt sind. Wenn die Erklärung des Klägers gegenüber der Bundespolizei in Rosenheim, den Asylantrag zurücknehmen zu wollen, auch gegenüber den ungarischen Behörden gelten sollte, sind die Voraussetzungen auch des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO erfüllt. Das selbe könnte dann gelten, wenn das Verfahren in Ungarn deshalb als zurückgezogen gelten sollte, weil der Kläger Ungarn noch vor einer dortigen Asylentscheidung verlassen hat.
22Hat der Kläger dagegen den in Ungarn gestellten Asylantrag nicht zurückgezogen, gelten Art. 20 Abs. 5 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO über ihren Wortlaut hinaus erst recht. Art. 20 Abs. 5 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO gelten gerade dann, wenn eine Person in einem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat und sodann in einen anderen Mitgliedstaat ausgereist ist, ohne dass er in dem anderen Mitgliedstaat einen weiteren Asylantrag gestellt und ohne dass er den im ersten Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zurückgenommen hat. Denn die Art. 20 Abs. 5, 21, 23 und 24 Dublin III-VO sollen als umfassendes Gesamtsystem sicherstellen, dass der zuständige Mitgliedstaat einen in einen anderen Mitgliedstaat ausgereisten Antragsteller von diesem anderen Mitgliedstaat aufnimmt oder wieder aufnimmt, um das Verfahren des Antragstellers fortzusetzen bzw. zum Abschluss zu bringen.
23Dass das System der Dublin III-VO für jede Fallgestaltung gilt und deshalb grundsätzlich auch in einem Fall wie dem vorliegenden ein Mitgliedstaat die Übernahme eines Asylantragstellers durch einen anderen Mitgliedstaat verlangen kann, wird letztlich aus Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO deutlich. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden kann, etwa weil in allen oder auch nur einem dieser Mitgliedstaaten systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO bestehen. Folgt aus dieser Ausnahmeregelung des Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO, dass nach der Dublin III-VO auf jeden Fall ein Mitgliedstaat für die materielle Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, auch wenn der Antrag ausschließlich in einem anderen Mitgliedstaat gestellt worden ist, wird daran zum einen deutlich, dass innerhalb der Europäischen Union kein Asylantrag unbeschieden bleiben darf, und zum anderen, dass dieser Ausnahmeregelung eine Regel zugrundeliegt, wonach – vorbehaltlich der in Kapitel III Dublin III-VO genannten Kriterien – ein Mitgliedstaat, in dem eine Person zuerst einen Asylantrag gestellt hat, regelmäßig vor einem anderen Mitgliedstaat für die materielle Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist und demzufolge – vorbehaltlich der in Kapitel III Dublin III-VO genannten Kriterien – ein anderer Mitgliedstaat grundsätzlich von dem ersten Mitgliedstaat in jeder Fallgestaltung die Übernahme des Asylantragstellers verlangen kann.
24Nunmehr ist allerdings die Beklagte für die Entscheidung über das (ausschließlich in Ungarn gestellte) Asylbegehren des Klägers zuständig, weil die Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO einschlägig ist. Denn einer Überstellung des Klägers nach Ungarn stehen systemische Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegen, und eine weitere Prüfung, ob ein dritter Mitgliedstaat zuständig ist, verspricht nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen keinen Erfolg.
25Die Dublin III-VO beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der GFK und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (GrCh) sowie mit der GFK und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GrCh implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat" im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden.
26Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - Rs C-411/10 und C-493/10 -, juris; EGMR, Urteil vom 21.1.2011 - 30696/09 - M.S.S. / Belgien und Griechenland - und Urteil vom 4.11.2014 - 29217/12 - Tarakhel / Italien -.
27Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen" ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der GFK und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
28Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel" in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff.; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
29Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem - aus welchen Gründen auch immer - faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weit gehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK kommt.
30Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.3.2014 - 10 B 6.14 - und vom 6.6.2014 - 10 B 35.14 -, juris.
31Nicht erforderlich ist, dass sich der systemische Mangel bzw. die strukturelle - systemische - Schwachstelle auf eine unüberschaubare Vielzahl, die Mehrheit aller Asylbewerber oder gar auf alle Asylbewerber auswirkt. Ein systemischer Mangel kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn nur eine geringe Anzahl von Asylbewerbern betroffen ist, soweit dies vorhersehbar und regelhaft geschieht.
32Vgl. VGH BW, Urteile vom 18.3.2015 - A 11 S 2042/14 - und vom 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 -; Lübbe, a. a. O.
33Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
34Vgl. Lübbe, a. a. O.
35Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
36Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.5.2013 - C-528/11 -, juris.
37Für die Rechtsfrage einer Verletzung des Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des EGMR eine Orientierungs- und Leitfunktion.
38Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn bereits aufgrund der dort bestehenden Inhaftierungspraxis die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Diesbezüglich schließt sich die Kammer der Rechtsprechung der
393. Kammer des VG Köln, Urteil vom 15.7.2015 - 3 K 2005/15.A -, NRWE,
40an sowie deren Begründung, die nachfolgend wiedergegeben wird.
41Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d. h. Personen, die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR
42vgl. Auskunft vom 30.9.2014 an das VG Bremen,
43mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen. Diese Inhaftierungspraxis begegnet bereits deshalb Bedenken, weil nach den UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden Asylsuchende grundsätzlich nicht in Haft genommen werden sollten und Haft immer nur das letzte Mittel darstellen darf. Da Asylsuchende meist bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, kann sie nämlich eine Inhaftierung mit besonderer Härte treffen.
44Vgl. UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen unter Hinweis auf UNHCR, Detention Guidelines, 2012.
45Diesen Anforderungen wird die in dem seit dem 1.7.2013 geltenden ungarischen Asylgesetz geregelte Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten schon deshalb nicht gerecht, weil die dort genannten Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und auch die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nach der Auskunft des UNHCR nicht mit Gründen versehen wird. Die ungarischen Behörden scheinen dabei bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr anzunehmen.
46UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
47Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh. Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
48UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
49Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
50UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
51Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
52So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
53Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
54UNHCR vom 30.9.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.
55Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weit gehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird.
56Schließlich entsprechen auch die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe.
57UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.9.2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
58Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR
59vgl. Auskünfte vom 9.5. und 30.9.2014 an das VG Düsseldorf,
60an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen" von Strafgefangenen an einer Leine - zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen - noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen
61Detention Guidelines a. a. O.,
62ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben.
63Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
64So unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung im Ergebnis auch: VG Münster, Beschluss vom 7.7.2015 - 2 L 858/15.A -; VG Bremen, Beschluss vom 1.4.2015 - 3 V 145/15 -; VG München, Beschluss vom 20.2.2015 - M 24 S 15.50091 - und VG Berlin, Beschluss vom 15.1.2015 - 23 L 899.14 A - jeweils m. w. N. (alle juris); a. A. u.a. VG Düsseldorf, Urteil vom 20.3.2015 - 13 K 501/14.A; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.6.2015 - 7a L 1208/15.A -; BayVGH, Beschluss vom 12.6.2015 - 13a ZB 15.50097 - (alle juris).
65Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner
66Stellungnahme vom 30.9.2014 an das VG Bremen
67ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
68UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen.
69Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der EGMR mit
70Urteil vom 3.7.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12)
71entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen - wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen - nicht erfüllt.
72Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit. Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.7.2015 sollen es bis zu 78000 Flüchtlinge gewesen sein.
73Vgl. Pressemitteilung des ungarischen Ministry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence".
74Andere Quellen sprechen von 61000 Flüchtlingen.
75So die Pressemitteilung des UNHCR vom 2.7.2015, „UNHCR urges Hungary not to amend its asylum system in a rush, ignoring international standards".
76Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlingen im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet sein soll.
77Vgl. zu einer ähnlichen Überlegung zu Italien bei einem zahlenmäßig noch deutlich günstigeren Verhältnis von ca. 35000 Aufnahmeplätzen und 7900 Flüchtlingen in den ersten zwei Monaten 2015 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.5.2015 - 8 K 1694/15.A -, juris Rz. 40 ff.
78Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind.
79Dass das ungarische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, wird bestätigt durch die hinter den Missständen stehende Absicht der ungarischen Behörden. Deren Einstellung wird nicht nur durch das Fehlen zielgerichteter Maßnahmen zur Beseitigung des derzeit in Ungarn, vor allem an Budapester Bahnhöfen und an anderen ungarischen Orten herrschenden Flüchtlingschaos erkennbar, sondern zusätzlich durch die jüngsten Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán gegenüber Organen der Europäischen Union, wonach bestimmte Flüchtlingsgruppen kein Problem Ungarns darstellten und das Land von vornherein Flüchtlinge gewisser Herkunftsländer wegen deren nichtchristlicher Religionszugehörigkeit nicht aufzunehmen gewillt sei.
80Tagesschau.de vom 4.9.2015: „Zug steht still – Orbán als `Schande´ kritisiert“; DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „Ungarn voller Angst, Europäer voller Angst“; ZEIT ONLINE vom 3.9.2015: „Orbán nennt Flüchtlingskrise `ein deutsches Problem´“.
81Unabhängig von diesen Gründen bestehen nach Auffassung der Kammer auch aus einem weiteren Grund in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Kläger tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden. Diese betreffen sämtliche Asylbewerber, die auf dem Landweg über die so genannte Balkan-Route nach Ungarn gelangen. Das erfolgt ausschließlich über Serbien. Über 99 % aller Asylsuchenden gelangen über die serbisch-ungarische Grenze nach Ungarn.
82FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
83Das war nach seinen Angaben auch beim Kläger der Fall. Seit Jahresbeginn wurden knapp 100000 Migranten registriert, von denen praktisch alle in wohlhabendere Länder der EU weiterreisen wollen.
84FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“.
85Zum 1.8.2015 ist ein ungarisches Gesetz in Kraft getreten, das u.a. Serbien zum sicheren Drittstaat erklärt. Diese Änderung des Asylgesetzes ermöglicht voraussichtlich ab dem 15.9.2015,
86Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“,
87die Ablehnung von Asylanträgen als unzulässig mit der Folge, dass in Ungarn die Anträge solcher Asylsuchender im Normalfall nicht mehr materiell geprüft werden und eine sofortige Abschiebung nach Serbien droht.
88DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „500 Flüchtlinge verweigern Fahrt in ungarisches Aufnahmelager“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritte vom 21.7.2015: „Mit Zelten in die Pampa: Ungarns Umgang mit Flüchtlingen“ und vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“; SPIEGEL ONLINE vom 6.7.2015: „Überlastetes Asylsystem: Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen“; Pester Lloyd, Internetauftritte vom 6.7.2015: „Gesetzesflut im ungarischen Parlament: Quasi-Aufhebung des Rechtes auf Asyl ...“ und vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“; Amnesty International: Europe´s Borderlands – Violations against Refugees and Migrants in Macedonia, Serbia and Hungary, Juli 2015, S. 61; ZEIT ONLINE vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Grenzzaun aufhalten“; n-tv, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Zaun gegen Migranten – Ungarn macht Grenze zu Serbien dicht“; Süddeutsche Zeitung, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Vier-Meter-Zaun abhalten“.
89Von 2010 bis 2012 hatte Ungarn bereits Flüchtlinge völkerrechtswidrig nach Serbien abgeschoben, was zu scharfer Kritik der EU-Kommission geführt hatte.
90PRO ASYL, Internetauftritt vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“.
91Die Republik Serbien hat jedoch angekündigt, sie sei nicht gewillt, zigtausenden Flüchtlingen, die nicht weiterkämen, wochen- oder monatelang Unterkunft zu gewähren, weil das die Ressourcen des Landes nicht hergäben. Man werde auch keine Flüchtlingslager bauen.
92Pester Lloyd, Internetauftritt vom 21.8.2015.
93Serbien hat auch kein funktionierendes Asylsystem.
94Vgl. die Einzelheiten in: Amnesty International a. a. O., S. 35 - 45.
95Menschenrechtsorganisationen haben das Fehlen eines funktionierenden Schutzsystems in Serbien immer wieder kritisiert.
96PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
97Im April 2008 trat Serbiens Asylgesetz in Kraft.
98PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
99Seither ist die Zahl der registrierten Asylsuchenden – also ohne diejenigen Personen, die Serbien lediglich „durchqueren“, ohne registriert zu werden – exponentiell gestiegen. Betrug sie im Jahr 2008 nur 77, im Jahr 2009 erst 275 und im Jahr 2010 noch 522, stieg sie im Jahr 2011 auf 3132 an, sank im Jahr 2012 etwas auf 2723, um im Jahr 2013 auf 5066 und im Jahr 2014 auf 16490 Personen anzuschwellen.
100Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Serbien (Stand: November 2014) vom 15.12.2014 (Lagebericht Serbien), S. 13; Amnesty International a. a. O., S. 36.
101Die Anerkennungsrate von Asylsuchenden als Flüchtlinge in Serbien ist äußerst gering.
102AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
103Bis Ende 2014 wurden lediglich sechs Personen als Flüchtlinge anerkannt, zwölf erhielten einen subsidiären Schutzstatus. Bis Ende Mai 2015 wurde weiteren vier Flüchtlingen Asyl gewährt.
104PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
105Die serbische Anerkennungsquote ist auch unter Herausrechnen der Personen, die letztlich keinen Asylantrag stellen oder ein laufendes Verfahren nicht abwarten und weiterreisen, gering. Denn im Jahr 2011 erhielt keiner der 3134 registrierten Antragsteller Asyl, im Jahr 2012 erhielten von 2723 Antragstellern lediglich drei Personen subsidiären internationalen Schutz, und im Jahr 2013 wurden bei insgesamt 5066 Antragstellern von 193 in den Blick genommenen Anträgen vier bestätigt, 13 verworfen oder abgewiesen und 176 nicht fortgeführt. Obwohl geschätzt wird, dass von den 16490 Personen, die im Jahr 2014 angaben, Asyl beantragen zu wollen, nur die Hälfte auch tatsächlich einen Antrag auf Asyl in Serbien gestellt hat, wurden nur 1350 Asylsuchende tatsächlich registriert, und von 388 eingereichten Anträgen wurden 307 nicht fortgesetzt, weil der jeweilige Antragsteller während des Verfahrens untertauchte. Die Asylbehörde befragte im Jahr 2014 17 von 18 Antragstellern, gab sechs Anträgen statt, wobei einer Person der Flüchtlingsstatus und fünf Personen subsidiärer Schutz gewährt wurde, wohingegen zwölf Anträge abgelehnt wurden und vier Anträge aus dem Jahr 2014 im Jahr 2015 noch in Bearbeitung waren. Obwohl die Flüchtlinge viele Gründe dafür hatten, weiterzureisen, anstatt in Serbien um Asyl nachzusuchen oder ein Asylverfahren abzuwarten, scheinen Unzulänglichkeiten im serbischen Asylsystem eine Rolle für solche Entscheidungen zu spielen.
106Amnesty International a. a. O., S. 36 f.
107Aus dem Kreis der registrierten potentiellen Asylbewerber hat deshalb nur ein kleiner Teil tatsächlich einen Asylantrag gestellt, weil der Prozess dafür in Serbien sehr komplex ist.
108AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
109Asylbewerbern Rechtshilfe leistende Nichtregierungsorganisationen meinen, dass die serbische Politik der sicheren Herkunftsländer in großem Umfang fortgeführt wird. So wurden beispielsweise von 17 von der Asylbehörde im Jahr 2014 entschiedenen Fällen sieben in der Zeit von Januar bis April berücksichtigte Anträge zurückgewiesen, weil der jeweilige Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat nach Serbien gekommen war. Diesen Asylbewerbern wurde weder Asyl noch irgend eine andere Form von Schutz gewährt. Die Mehrheit der Berufungen wird üblicherweise ohne Rücksicht auf ihre Gründe abgewiesen. Das schließt Berufungen gegen erstinstanzliche Entscheidungen ein, die auf dem Konzept der sicheren Drittstaaten beruhen. Eine Begründung für die Zurückweisung der Berufung wird selten gegeben.
110Amnesty International a. a. O., S. 41 f.
111Zahlreichen Schutzsuchenden droht in Serbien die Zurückschiebung nach Mazedonien oder Griechenland.
112PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“.
113Im Jahr 2012 hatte der UNHCR die Republik Serbien beschuldigt, Massenabschiebungen von Flüchtlingen und Migranten nach Mazedonien durchzuführen. Der UNHCR hatte ferner vorgetragen, dass in einigen Fällen Flüchtlinge und Migranten, die von Ungarn nach Serbien abgeschoben worden waren, informell anstatt nach den Regeln des zwischen Serbien und Mazedonien abgeschlossenen Wiederaufnahmeabkommens nach Mazedonien verbracht worden waren. Im Mai 2015 äußerte das Committee against Torture (CAT) Befürchtungen hinsichtlich des erhöhten Risikos eines refoulement für Personen, die durch die serbischen Behörden nach Mazedonien verbracht worden sind.
114Amnesty International a. a. O., S. 33 f.
115Die ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien hat ebenfalls kein effektives Asylsystem, vielmehr besteht dort die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen und eines refoulement durch Abschiebungen nach Griechenland.
116Amnesty International a. a. O., S. 40 f.
117Der ohnehin schwache Rechtsstaat wird derzeit durch die autoritäre Politik der größten Regierungspartei erheblich in Frage gestellt.
118AA: Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien (Stand: August 2015) vom 12.8.2015, S. 4.
119Griechenland weist seinerseits systemische Mängel im Sinne der Rechtsprechung des EuGH auf.
120Abgesehen davon verstößt die Gefahr von Kettenabschiebungen gegen das Prinzip des non-refoulement und damit gegen Art. 18 GrCh in Verbindung mit Art. 33 Abs. 1 GFK, zumal gerade hier die Gefahr besteht, dass der Kläger von Serbien aus in seinen Herkunftsstaat, den Kosovo, abgeschoben wird, ohne dass zuvor sein Schutzgesuch geprüft worden ist. Insoweit ist es dem Gericht rechtlich auch verwehrt, die Erfolgsaussichten des Asylantrags des Klägers auf der Grundlage seiner bisherigen Angaben materiellrechtlich zu prüfen, weil es aus den eingangs dargelegten Gründen auch nicht „durchentscheiden“ darf.
121Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen.
122Vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste.
123Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden.
124Unterbleiben kann ferner die rechtliche Einordnung der beabsichtigten Schaffung der Möglichkeit, die ungarische Armee an der Grenze einzusetzen.
125Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.9.2015: „Ungarn bereitet Militäreinsatz gegen Flüchtlinge vor: Opposition will Orbán vor Internationalen Strafgerichtshof bringen“.
126Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.6.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.
127Dieser letztgenannte Umstand ist jedoch ein weiterer Grund dafür, dass die – hier allein streitbefangene – Anordnung, den Kläger nach Ungarn abzuschieben, rechtswidrig ist. Insoweit liegen die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 AsylVfG nicht (mehr) vor. Nach dieser Norm ordnet das Bundesamt ohne vorherige Anordnung und Fristsetzung die Abschiebung eines Ausländers in den für das Asylverfahren zuständigen Staat an, „sobald feststeht“, dass sie durchgeführt werden kann. Der Gesetzgeber wollte mit § 34a Abs. 1 AsylVfG die Möglichkeit schaffen, für eine in der Regel nur kurzfristig durchgeführte durchführbare Rückführung ein verkürztes Verfahren zu schaffen. Die Abschiebungsanordnung ist deshalb nicht quasi auf Vorrat zulässig, sondern erst dann, wenn das Übernahmeverfahren positiv abgeschlossen ist, weil der andere Staat seine Übernahmebereitschaft auf die vorhergesehene Art und Weise verbindlich erklärt hat und die näheren Umstände der Überstellung wenigstens dem Grundsatz nach geklärt sind, etwa wenn zwischen dem jeweiligen Staat und der Bundesrepublik Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren praktiziert wird, das die zuverlässige Prognose zulässt, die Übernahme werde in naher Zukunft abgeschlossen werden können. Das Bundesamt hat vor Erlass der Abschiebungsanordnung der Frage nachzugehen, ob der ersuchte Mitgliedstaat tatsächlich zur (Wieder-) Aufnahme bereit ist. Zudem ist – solange die Abschiebung eines Ausländers aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist – auch ein Vollzugshindernis im Sinne des § 60a AufenthG gegeben und hindert den Erlass einer Abschiebungsanordnung. Die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist dann anzunehmen, wenn für einen vorausschaubaren Zeitraum die Abschiebung ausgeschlossen ist und erst recht, wenn die Abschiebungsmöglichkeit zeitlich völlig ungewiss ist. Unter Berücksichtigung der Auskünfte des Bundesamts gegenüber dem VG Oldenburg kann derzeit eine hinreichend zuverlässige Prognose, die Übernahme des Klägers durch Ungarn werde in naher Zukunft abgeschlossen sein, nicht erstellt werden. Ob und in welchem Umfang der ungarische Staat Asylsuchende im Rahmen des Überstellungsverfahrens aufnehmen wird, muss als offen angesehen werden. Auch die Zahlen, die das Bundesamt zu den im ersten Quartal 2015 aus Deutschland durchgeführten Überstellungen vorgelegt hat, wecken Bedenken daran, dass zwischen Ungarn und Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren besteht. Zwar hat Ungarn in 2300 Fällen den Übernahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland formal entsprochen, tatsächliche Überstellungen erfolgten jedoch nur in einem Umfang von ca. 1,4 %. Die offensichtlichen Probleme beim Vollzug der in der Dublin III-Verordnung normierten Regelungen zur Aufnahme bzw. Wiederaufnahme von Asylsuchenden und der Überstellung sind keine bloße zeitliche Verzögerung aufgrund administrativer Vorkehrungen für eine an sich bereits dem Grunde nach ins Auge gefasste Abschiebung.
128Vgl. zu diesen Aspekten, Zahlen und weiteren Nachweisen: VG Oldenburg, Urteil vom 19.6.2015 - 13 A 1294/15 -.
129Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14.10.2013 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens.
Tatbestand
| |||
| |||
| |||
| |||
| |||
| |||
| |||
| |||
| |||
| |||
| |||
|
Entscheidungsgründe
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
|
Gründe
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
|
Tenor
I.
Der Bescheid der Beklagten vom ... Mai 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft einen gegenüber dem Kläger (Kl.) verfügten Bescheid der Beklagten (Bekl.), mit dem aufgrund des sogenannten Dublin-Verfahrens ein Asylantrag des Kl. als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung des Kl. nach Ungarn angeordnet wurde.
Der Kl. ist nach eigenen Angaben ein im Jahr 1998 geborener afghanischer Staatsangehöriger (Bl. 35; 51 der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - BAMF - vorgelegten Verwaltungsakte, d. A.), wobei im Verwaltungsverfahren 1996 als Geburtsjahr zugrunde gelegt wurde (Bl. 3; 55 d. A.).
Der Kl. meldete sich am 8. Dezember 2014 als Asylsuchender (Bl. 35 d. A.) und stellte am 20. Januar 2015 einen Asylantrag (Bl. 3 d. A.), woraufhin noch am gleichen Tag ein persönliches Gespräch des BAMF mit dem Kl. zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens stattfand (Bl. 20 d. A.). Dabei teilte der Kl. unter anderem mit, er könne keine Personalpapiere oder andere Dokumente über seiner Person vorlegen (Nr. 3 der Anhörungsniederschrift - AnhN), sei nicht verheiratet (Nr. 4 der AnhN), habe keine Kinder (Nr. 5 der AnhN) und habe ein Aufenthaltsdokument oder Visum für die Bundesrepublik Deutschland oder einen anderen Staat weder gehabt noch derzeit inne (Nr. 6 der AnhN). Er habe sein Herkunftsland vor dreieinhalb Jahren verlassen und sei über den Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien (wo er sich 3 Monate in Haft befunden habe), Ungarn und Österreich nach Deutschland gekommen; er habe seither das Gebiet der Dublin-Mitgliedstaaten verlassen, habe aber keine Dokumente, die die Einreise, den Aufenthalt oder das Verlassen der Dublin-Mitgliedstaaten nachweisen (Nr. 7 der AnhN). Er habe in keinem anderen Staat Asyl beantragt oder zuerkannt bekommen (Nr. 8 der AnhN). In Ungarn seien ihm Fingerabdrücke abgenommen worden (Nr. 9 der AnhN). Er sei nicht auf die Unterstützung von - sich in einem Dublin-Mitgliedstaat aufhaltenden - Kindern, Geschwistern oder Eltern angewiesen (Nr. 10 der AnhN). Kinder, Geschwister oder Eltern, die auf seine Unterstützung angewiesen seien, hielten sich nicht in einem Dublin-Mitgliedstaat auf (Nr. 11 der AnhN). Er sei nicht von Personen, mit denen er verwandt sei, aufgrund eines Krieges oder einer bürgerkriegsähnlichen Situation oder durch die anschließende Flucht getrennt worden (Nr. 12 der AnhN). Im Hinblick auf seine Sicherheit und eine faire Durchführung seines Asylantrages solle dieser in keinem anderen Staat geprüft werden (Nr. 13 der AnhN).
Eine vom BAMF am 2. Februar 2015 durchgeführte Eurodac-Recherche ergab hinsichtlich des Kl. einen Treffer für Ungarn (Bl. 39 d. A.). Daraufhin ersuchte das BAMF am 2. April 2015 Ungarn im Rahmen einer DubliNet-Anfrage um Aufnahme des Kl. (Bl. 43-50 d. A.).
Ungarn gab dem Ersuchen des BAMF mit Schreiben vom 8. Mai 2015 im Hinblick auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) 604/2013 statt und akzeptierte die Verantwortlichkeit für die Wiederaufnahme des Kl. (Bl. 54 d. A.); dabei wurde unter anderem mitgeteilt, der Kl. habe in Ungarn am 9. November 2014 einen Asylantrag gestellt
Daraufhin erließ das BAMF den streitgegenständlichen Bescheid (sgB) vom ... Mai 2015 (Bl. 55 d. A.), mit dem der Asylantrag des Kl. als unzulässig abgelehnt (Nr. 1) und die Abschiebung des Kl. nach Ungarn angeordnet (Nr. 2) wurde. Der sgB wurde mit gesondertem Zustellanschreiben vom 20. Mai 2015 bekannt gegeben (Bl. 63 d. A.) und dem Kl. am 21. Mai 2015 gegen Postzustellungsurkunde zugestellt (Bl. 68-69 d. A.).
Mit Klage- und Antragsschrift vom 27. Mai 2015, bei Gericht per Telefax eingegangen am gleichen Tag, beantragte der Bevollmächtigte des Kl. (nachfolgend: Bev.),
den sgB aufzuheben
und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. In der Begründung wurde unter anderem vorgetragen, das ungarische Asylsystem leide unter systemischen Mängeln.
Die Bekl. legte mit Schreiben vom 28. Mai 2015, bei Gericht eingegangen am 1. Juni 2015, die Verwaltungsakte vor.
Mit Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 9. Juni 2015 verzichtete die Klagepartei auf mündliche Verhandlung.
Mit Schreiben vom 25. Juni 2015 beantragte die Bekl.,
die Klage abzuweisen und den Eilantrag abzulehnen. Gleichzeitig verzichtete die Bekl. auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
Am 1. Juli 2015 ging die Berichterstattung unter anderem für die parallelen Verfahren M 24 K 15.50507 und M 24 S 15.50508 aufgrund einer Änderung der kammerinternen Geschäftsverteilung (Beschluss der 24. Kammer des Verwaltungsgerichts (VG) München vom 16.6.2015) auf den Unterzeichnenden über.
Mit Beschluss vom 17. Juli 2015 hat der Einzelrichter im parallelen Eilverfahren M 24 S 15.50508 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.
Mit Kammerbeschluss vom 17. Juli 2015 wurde auch im vorliegenden Klageverfahren der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
Der Einzelrichter hat mit Schreiben vom 17. Juli 2015 unter anderem die im Beschluss vom 17. Juli 2015 im parallelen Eilverfahren M 24 S 15.50508 genannten Erkenntnismittel zum Gegenstand auch des vorliegenden Klageverfahrens gemacht.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten der parallelen Verfahren M 24 K 15.50507 und M 24 S 15.50508 sowie auf die vom BAMF vorgelegte Verwaltungsakte Bezug genommen.
Gründe
Die Klage ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
1. Das Gericht konnte gemäß § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden, weil alle Beteiligten klar, eindeutig und vorbehaltlos (vgl. BVerwG, B. v. 24.4.2013 - 8 B 91/12 - juris Rn. 3) auf mündliche Verhandlung verzichtet haben. Die Klagepartei hat mit Schriftsatz vom 9. Juni 2015 und die Beklagtenpartei mit Schreiben vom 25. Juni 2015 auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Die Regierung von Oberbayern ist vorliegend zwar gemäß § 63 Nr. 4 VwGO als Vertreter des öffentlichen Interesses (VöI) Verfahrensbeteiligter aufgrund der generellen Beteiligungserklärungen vom 11. Mai 2015 und vom 18. Mai 2015 (vgl. zur Zulässigkeit sog. Generalbeteiligungserklärungen BVerwG, U. v. 27.6.1995 - 9 C 7 /95 - BVerwGE 99, 38, juris Rn. 11). In diesen Erklärungen hat der VöI allerdings darum gebeten, ihm ausschließlich die jeweilige Letzt- und Endentscheidung zu übersenden und damit unter anderem auch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Das Verwaltungsgericht (VG) München ist entscheidungsbefugt, insbesondere örtlich zuständig nach § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO, weil der Kl. im maßgeblichen Zeitpunkt der Klageerhebung (vgl. § 83 VwGO i. V. m. § 17 Abs. 1 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz - GVG) seinen Aufenthalt im Gerichtsbezirk zu nehmen hatte.
Der Einzelrichter ist gemäß § 76 Abs. 1 AsylVfG zur Entscheidung berufen, nachdem die innerhalb des VG München zuständige Kammer den Rechtsstreit mit Beschluss vom 17. Juli 2015 auf den Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen hat.
Maßgeblich ist dabei gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG für das gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung ergehende Urteil die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird.
2. Die Anfechtungsklage gegen den streitgegenständlichen Bescheid ist zulässig, insbesondere innerhalb der 2-Wochen-Frist des § 74 Abs. 1 Halbsatz 1 AsylVfG erhoben worden; § 74 Abs. 1 Halbsatz 2 AsylVfG findet ausweislich des dortigen expliziten Klammerzusatzes ausschließlich in Fällen des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG Anwendung (vgl. VG Lüneburg, B. v. 15.9.2014 - 5 B 47/14 - juris Rn. 4 m. w. N.).
3. Die Klage ist auch begründet - der streitgegenständliche Bescheid erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt als rechtswidrig und verletzt der Kl. in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
Rechtsgrundlage der streitgegenständlichen Ablehnung des Asylantrags als unzulässig ist § 27a AsylVfG; Rechtsgrundlage der streitgegenständlichen Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 AsylVfG.
Ein Asylantrag ist gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, wenn ein anderer Staat gemäß den Zuständigkeitskriterien der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) für die Behandlung des Asylantrags zuständig ist. Insbesondere bei Fällen des § 27a AsylVfG sieht § 34a Abs. 1 AsylVfG eine Befugnis des BAMF zur Abschiebungsanordnung in den jeweils zuständigen Staat vor, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
Einschlägig ist dabei im vorliegenden Fall die Dublin-III-VO und nicht die frühere Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin-II-VO), weil das Gesuch des BAMF nach dem 1. Januar 2014 gestellt wurde. Gemäß Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Alternative 2 Dublin-III-VO ist die Dublin-III-VO ungeachtet des Zeitpunkts der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz ab dem 1. Januar 2014 auf alle Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme von Antragstellern anwendbar.
4. Nachdem Ungarn das Übernahmegesuch des BAMF ausdrücklich akzeptiert hat, und damit wiederaufnahmepflichtig geworden ist (Art. 18 Abs. 1, 23, 25 Dublin-III-VO), kann der Kl. einer Heranziehung dieses Zuständigkeitskriteriums nur damit entgegentreten, dass er systemische Mängel i. S. v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO geltend macht (vgl. EuGH, U. v. 10.12.2013 - C-394/12 - Rn. 60, NVwZ 2014, 208; VG München, U. v. 9.5.2014 - M 21 K 14.30300 - juris Rn. 41 m. w. N.; BVerwG, B. v. 6.6.2014 - 10 B 35/14 - NVwZ 2014, 208 Rn. 6).
Auf die Frage, ob sich im Ausgangspunkt eine Zuständigkeit Ungarns in der Sache aus Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO ergibt, weil eine vorrangige Zuständigkeit Griechenlands aufgrund Art. 13 Dublin-III-VO gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO aufgrund der dort bestehenden systemischen Mängel des Asylsystems nicht in Betracht kommt (vgl. EuGH (Große Kammer), U. v. 14.11.2014 - C-4/11
5. Die somit an sich anzunehmende Zuständigkeit Ungarns scheitert allerdings gleichwohl an Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO, weil das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn an systemischen Mängeln leiden und ernsthafte, durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kl. tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) ausgesetzt zu werden.
Dabei können sich betroffene Asylantragsteller auch persönlich auf den Ausschlussgrund des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO berufen, weil dieser seinerseits auf die grundrechtliche Wertung des Art. 4 GRCh als eines subjektiven Schutzrechts auch gegen die (die unionsrechtliche Dublin-III-VO vollziehende) Bundesrepublik Deutschland zurückgeht (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh; vgl. EuGH (Große Kammer), U. v. 14.11.2013 - C-4/11
Dabei hat das Gericht in erster Linie auf die jeweils (bezogen auf den nach Art. 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt) aktuelle Situation abzustellen, weswegen frühere Gerichtsentscheidungen, die spätere (aktuelle) Erkenntnismittel noch nicht berücksichtigen konnten, bei der gerichtlichen Entscheidungsfindung nicht entscheidend herangezogen werden.
5.1. Das Gericht geht davon aus, dass das ungarische Asylsystem im maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung sowohl im Hinblick auf die Ausgestaltung des Asylverfahrens als auch im Hinblick auf die Unterbringungsbedingungen von Asylbewerbern derzeit an systemischen Schwachstellen i. S. v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO leidet.
Das Gericht legt seiner Einschätzung zum einen die verfügbaren Informationen über die stetig ansteigende Zahl von Asylbewerbern in Ungarn zugrunde. Ungarn hatte im Jahr 2014 einen relativen Anstieg der Asylbewerberzahlen von 126% zu verzeichnen (vgl. EASO-Jahresbericht 2014 über die Asylsituation in der EU, Annual Report on the Situation of Asylum in the European Union 2014 - S. 17 und 16; abrufbar im Internet unter:
https://easo.europa.eu/latest-news/annual-report-2014/).
Das Gericht geht davon aus, dass das ungarische Asylsystem bei der Aufnahme von Asylbewerbern unter erheblichen Kapazitätsproblemen leidet, die auch von der ungarischen Regierung selbst betont worden sind (vgl. beck-aktuell, „Ungarn verschärft Asylrecht“, becklink 2000486, wo unter anderem der ungarische Innenminister mit der Aussage zitiert wird, die ungarischen Flüchtlingsunterkünfte seien zu 130% belegt“).
Gleichzeitig liegen dem Gericht veröffentlichte Meldungen darüber vor, dass das ungarische Parlament am 6. Juli 2015 eine Verschärfung des ungarischen Asylrechts beschlossen hat (vgl. beck-aktuell, „Ungarn verschärft Asylrecht“ vom 7.7.2015, becklink 2000486). Danach soll unter anderem das Asylverfahren annulliert werden, wenn Asylsuchende die ihnen zugewiesenen Aufenthaltsorte länger als 48 Stunden verlassen; gleichzeitig sollen Flüchtlinge bis zum Ende ihres Asylverfahrens inhaftiert werden dürfen.
5.2. Das Gericht macht vor diesem Hintergrund die folgenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Münster einschließlich des dortigen Rückgriffs auf im Internet verfügbare Erkenntnismittel zum Gegenstand der vorliegenden Entscheidung (VG Münster, B. v. 7.7.2015 - 2 L 858/15.A - im Internet abrufbar unter
http://www.justiz.nrw.de/nrwe/ovgs/vg_muenster/j2015/2_L_858_15_A_Beschluss_20150707.html,
dort Rn. 9-27):
„[9] Allerdings kann nach Einschätzung des Gerichts unter Berücksichtigung des vorliegenden neueren Erkenntnismaterials sowie der geänderten Positionierung des ungarischen Staates zur Aufnahmebereitschaft von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Übereinkommens aktuell nicht mehr mit der erforderlichen Gewissheit davon ausgegangen werden, dass in Ungarn systemische Mängel bzw. Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nicht anzunehmen sind. Vielmehr gibt die jüngste Entwicklung in Ungarn Anlass zu der Annahme, dass gravierende Anhaltspunkte für das Bestehen systemischer Mängel vorhanden sind, aufgrund derer der Antragsteller im Falle der Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.
5.3. Das Gericht geht vor diesem Hintergrund mit dem VG Münster beim ungarischen Asylsystem derzeit von einer Kombination sowohl äußerst restriktiver Asylverfahrensregelungen als auch von einer dramatischen Unterbringungssituation aus. Bei der Zusammenschau der in jüngerer Zeit entstandenen Kapazitätsprobleme einerseits und der gegenüber der bisherigen Rechtslage zulasten der Asylbewerber im Asylverfahrensablauf sowie bei den Inhaftierungsmöglichkeiten vorgenommenen Verschlechterungen bestehen nach Ansicht des Gerichts derzeit systemische Schwachstellen des ungarischen Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) bergen.
Dabei ist zu sehen, dass der UNHCR, dessen Wertungen im Kontext der Prüfung des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO maßgebliches Gewicht zukommt (EuGH, U. v. 30.5.2013 - C-528/11 - Rn. 44, NVwZ-RR 2013, 660), bereits im Vorfeld der zwischenzeitlich beschlossenen Gesetzesänderungen Bedenken angemeldet und sich insoweit als „tief besorgt“ (deeply concerned) bezeichnet hatte (vgl. den im Internet veröffentlichten englischsprachigen Kommentar vom 3.7.2015: UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste; abrufbar unter:
http://www.unhcr.org/559641846.html ).
Unter anderem hatte der UNHCR ausgeführt, dass das Asylsystem Ungarns bereits vor der Novelle immer restriktiver geworden war; es werde befürchtet, dass die neuen Vorschläge es Flüchtlingen unmöglich machen wird, in diesem Land Sicherheit zu suchen.
Letzteres ist aus Sicht des Gerichts infolge der zwischenzeitlichen Entwicklung derzeit anzunehmen. Nachdem der UNHCR selbst bemerkt, dass das ungarische Asylsystem vor der aktuellen Novelle zunehmend restriktiver geworden war, sieht das Gericht auch die jüngsten Verschärfungen der Haftbedingungen und insbesondere die neue Regelung zur Annullierung des Asylantrags bei über 48-stündiger Abwesenheit vom zugewiesenen Aufenthaltsort vor dem Hintergrund der vom UNHCR bereits zur früheren Rechtslage und Flüchtlingssituation geäußerten deutlichen Kritik - vgl. insoweit:
- Schreiben des UNHCR vom 9. Mai 2014 an das VG Düsseldorf im Verfahren 13 L 172/14.A (nachfolgend: UNHCR v. 9.5.2014; abrufbar in der öffentlich zugänglichen Datenbank MILO des BAMF);
- Schreiben des UNHCR vom 30. September 2014 an das VG Düsseldorf im Verfahren 13 K 501/14.A (nachfolgend: UNHCR v. 30.9.2014; abrufbar in der öffentlich zugänglichen Datenbank MILO des BAMF).
Daraus ergab sich bereits zur früheren Situation vor dem 6. Juli 2015 unter anderem, dass es Verwaltungsentscheidungen, mit denen die Asylhaft gegenüber Erstantragstellern angeordnet wird, regelmäßig an einer einzelfallbezogenen Begründung fehlte; der UNHCR ging davon aus, dass haftanordnende Entscheidungen weder den konkreten Haftgrund, noch Angaben dazu enthalten, warum die Inhaftierung aus Sicht der zuständigen Behörde im konkreten Einzelfall erforderlich und angemessen ist und keine anderen milderen Mittel in Betracht kommen, um eine Verfügbarkeit des Antragstellers im Asylverfahren sicherzustellen (vgl. UNHCR v. 9.5.2014, zu Frage 3, S. 2; UNHCR v. 30.9.2014, zu Frage 4, S. 2). Vielmehr sei vollkommen intransparent und daher nicht vorhersehbar, welche Asylbewerber in Ungarn verhaftet würden und welche nicht und warum (vgl. UNHCR v. 9.5.2014, zu Frage 3, S. 2; UNHCR v. 30.9.2014, zu Frage 4, S. 2). Dabei wurden die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Asylhaft als ineffektiv und im Ergebnis wirkungslos bewertet; selbstständige Rechtsbehelfe stünden gegen die behördliche Anordnung der Asylhaft nicht zur Verfügung (vgl. UNHCR v. 9.5.2014, zu Frage 7, S. 6-7; UNHCR v. 30.9.2014, zu Frage 11, S. 6-7). Die Überprüfung der Haftanordnungen erfolge vielmehr im Rahmen einer automatischen gerichtlichen Haftüberprüfung in einem 60-Tage-Rhythmus, wobei für den einzelnen Überprüfungstermin regelmäßig nur wenige Minuten zur Verfügung stünden (UNHCR v. 9.5.2014, zu Frage 7, S. 7; UNHCR v. 30.9.2014, zu Frage 11, S. 6-7). Hinzu komme, dass nach einer Untersuchung, die das höchste Gericht Ungarns (Kuria) in den Jahren 2011 und 2012 durchgeführt habe, die automatische Haftüberprüfung (durch dieselben Gerichte, die auch nach neuem Recht für die Überprüfung zuständig sind), lediglich in drei von 5.000 bzw. 8.000 Fällen tatsächlich zu einer Aufhebung der Haftanordnung geführt habe (vgl. UNHCR v. 9.5.2014, zu Frage 7, S. 7; UNHCR v. 30.9.2014, zu Frage 11, S. 6-7). Hinzu komme, dass dem UNHCR hinsichtlich der vom ungarischen Asylrecht seinerzeit neben der automatischen Haftprüfung dem Asylbewerber eingeräumten Möglichkeit einer "objection", also einer Art Einspruch gegen die Anordnung der Asylhaft, seit der Wiedereinführung der Asylhaft zum 1. Juli 2013 kein einziger Fall bekannt geworden war, in dem ein solcher Einspruch tatsächlich erhoben worden sei; nach Einschätzung des UNHCR seien Asylbewerber in der Praxis überhaupt nicht über diesen Rechtsbehelf informiert bzw. seitens der zuständigen Behörden von einer Einlegung abgehalten worden mit dem Hinweis darauf, dass dieser Rechtsbehelf ungeeignet sei, die Rechtmäßigkeit der Haftentscheidung anzugreifen, (vgl. UNHCR v. 9.5.2014, zu Frage 7, S. 6-7; UNHCR v. 30.9.2014, zu Frage 11, S. 6-7).
Es kann dahinstehen, inwieweit bereits diese frühere Kritik des UNHCR für sich allein betrachtet hinreichte, um von systemischen Mängeln des ungarischen Asylverfahrens derart auszugehen, dass darin eine hinreichende Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung i. S. v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO lag oder nicht. Denn jedenfalls in der Zusammenschau der jüngsten Verschärfung der Inhaftierungsmöglichkeiten und der gleichzeitigen Einführung einer Annullierungsregelung bei mehr als 48-stündiger Abwesenheit vom zugewiesenen Aufenthaltsort ist von einer derartigen Gefahr auszugehen, weil gleichzeitig - von der ungarischen Regierung selbst eingeräumt - in Ungarn erhebliche Kapazitätsengpässe bestehen. Wenn nämlich die Haft während des gesamten Asylverfahrens aufrechterhalten werden kann, gleichzeitig aber keine ausreichenden Kapazitäten für die Durchführung der enorm gestiegenen Verfahrenszahlen zur Verfügung stehen, ist angesichts der bereits in der Vergangenheit zu konstatierenden geringen Rechtsbehelfsmöglichkeiten gegen Asylhaft von einer in einer Vielzahl von Fällen systemisch-unverhältnismäßigen Inhaftierungspraxis auszugehen. Weil gleichzeitig angesichts der erheblichen Kapazitätsdefizite nicht von einer hinreichend effizienten Durchführung des Asylverfahrens ausgegangen werden kann, müssen auch tatsächlich verfolgte Asylantragsteller damit rechnen, ohne überwiegende Gründe mit einer zeitlich nicht hinreichend begrenzten Haftsituation konfrontiert zu werden, obwohl sie mit dem Asylantrag nur von ihrem Menschenrecht auf Asyl Gebrauch machen. Hierin liegt nicht nur im Hinblick auf die Asylhaft eine systemische Schwachstelle des ungarischen Asylverfahrens. Infolge der Kapazitätsengpässe ist auch nicht ersichtlich, dass diese Verfahrensweise den Zweck des Asylverfahrens, nämlich die Klärung der Frage, ob tatsächlich Asylgründe vorliegen oder nicht, maßgeblich befördern würde. Das ungarische Asylsystem in seiner aktuellen Ausgestaltung ist deshalb von erheblichen Verfahrensrestriktionen gekennzeichnet, gewährleistet aber gleichzeitig nicht die Erreichung des Zwecks des Asylverfahrens. Das gilt angesichts der Neuregelung auch in Fällen, in denen keine Asylhaft angeordnet wird, im Hinblick auf die Annullierungsregelung bei mehr als 48-stündiger Abwesenheit. Denn es ist nicht zu verkennen, dass eine formale Annullierungsregelung gerade bei solchen Personen, die tatsächlich Verfolgung erlitten haben, einen besonderen Druck erzeugt, von ihrer Bewegungsfreiheit keinen Gebrauch zu machen, wobei andererseits angesichts der beschriebenen erheblichen Kapazitätsengpässe auch insoweit nicht davon auszugehen ist, dass diese Einschränkung zeitlich überschaubar wäre oder ihrerseits den Zweck des Asylverfahrens befördern könnte. Auch insoweit ist von einer systemischen Schwachstelle des ungarischen Asylverfahrens auszugehen.
Hinzu kommt, dass die im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung veröffentlichten aktuellen Stellungnahmen der Non-Government-Organisationen zur aktuellen Lage der Asylbewerber in Ungarn nach der am 6. Juli 2015 beschlossenen Gesetzesnovelle keine andere Einschätzung nahelegen (vgl. die Stellungnahme von proasyl „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“ (abrufbar unter:
http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/kein_schutz_fuer_niemanden_ungarn_verabschiedet_sich_vom_fluechtlingsrecht/?cHash=768f0edf92619027d9b26d3c44fd17f2&no_cache=1&sword_list%5B0%5D=ungarn&sword_list%5B1%5D=kein&sword_list%5B2%5D=schutz&sword_list%5B3%5D=f%C3%BCr&sword_list%5B4%5D=niemanden ).
Zusammenfassend kommen derzeit angesichts der beschriebenen systemischen Schwachstellen des ungarischen Asylverfahrens i. S. v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO Überstellungen von Asylbewerbern nach Ungarn nicht in Betracht.
6. Angesichts der somit wegen Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO anzunehmenden Unzuständigkeit Ungarns ist die in Nr. 1 des sgB ausgesprochene Ablehnung des Asylantrages als unzulässig und damit auch die Abschiebungsanordnung nach Ungarn in Nr. 2 des sgB rechtswidrig.
Dabei ist Nr. 1 des sgB (Ablehnung des Asylantrages als unzulässig) im Zusammenhang mit der explizit auf Ungarn bezogenen Nr. 2 des sgB (Abschiebungsanordnung) zu sehen, wobei zusätzlich auch die Begründung des Bescheides von der Unzulässigkeit nach § 27a AsylVfG deshalb ausgeht, weil Ungarn (wie gezeigt unrichtiger Weise - s. o.) für zuständig gehalten wird. Die Ablehnung des bei der Bundesrepublik Deutschland gestellten Asylantrages als unzulässig gerade wegen der Zuständigkeit Ungarns macht die eigentliche Regelung der Nr. 1 des sgB im konkreten Einzelfall aus (vgl. § 35 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz - VwVfG). Wegen des so zum Ausdruck gebrachten (wie gezeigt unrichtigen - s. o.) Bezugs zur Zuständigkeit Ungarns handelt es sich bei Nr. 1 des sgB auch nicht nur um einen bloß deklaratorischen Hinweis auf eine nach § 27a AsylVfG bestehende gesetzliche Rechtslage; vielmehr beinhaltet Nr. 1 des sgB eine echte (feststellende) Regelung und stellt mithin einen Verwaltungsakt i. S. v. § 35 VwVfG dar, der der (isolierten) Anfechtung zugänglich ist (vgl. BayVGH, U. v. 28.2.2014 - 13a B 13.30295 - juris Rn. 22; BayVGH, B. v. 11.3.2015 - 13a ZB 14.50043 - juris Rn. 6). Da somit Nr. 1 des sgB im Ergebnis ebenso wie auch die Abschiebungsanordnung eine auf die Zuständigkeit Ungarns bezogene Regelung darstellt, Ungarn aber - wie gezeigt - tatsächlich wegen Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO unzuständig ist (s.o.), ist auch Nr. 1 des Bescheides schon aus diesem Grund aufzuheben.
Dabei kommt es für den Erfolg der vorliegenden Anfechtungsklage hinsichtlich Nr. 1 des sgB auch nicht darauf an, ob eine Zuständigkeit anderer Dublin-Staaten - etwa gemäß Art. 13 Abs. 2 Dublin-III-VO - (noch) besteht oder nicht. Die gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO von der Bundesrepublik Deutschland in erster Linie geforderte Fortsetzung der Prüfung der Zuständigkeitskriterien der Dublin-III-VO ist nämlich nicht Gegenstand des vorliegend angefochtenen Bescheides, deshalb auch nicht Streitgegenstand der vorliegenden Anfechtungsklage und infolge dessen auch nicht vom Gericht, sondern außerhalb des vorliegenden Klageverfahrens vom BAMF durchzuführen. Denn ausweislich der Verwaltungsakte hat das BAMF die Zuständigkeit anderer Dublin-Staaten als Ungarn weder im Bescheid noch im Verwaltungsverfahren thematisiert und insbesondere keine entsprechenden (weiteren) Anfragen bei anderen Dublin-Staaten nach den hierfür vorgesehenen unionsrechtlich vorgesehenen Verfahren durchgeführt.
Auch der Anwendungsvorrang der Dublin-III-VO führt nicht dazu, dass das Gericht die in Nr. 1 des sgB (wegen im Ergebnis unrichtig angenommener Zuständigkeit Ungarns) verfügte Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nur dann aufheben dürfte, wenn gerichtlicherseits feststeht, dass außer der Bundesrepublik Deutschland kein anderer Dublin-Mitgliedstaat zuständig ist.
Es kann dabei dahinstehen, inwieweit unter der Geltung der früheren Dublin-II-Verordnung eine derartige Prüfung angezeigt war oder ob nicht vielmehr schon nach der Dublin-II-VO das BAMF (als die Bundesrepublik Deutschland vertretende Behörde) zunächst die Möglichkeit haben musste, einen anderen Mitglied- bzw. Vertragsstaat, der nachrangig zuständig ist, zu ersuchen. Schon zur Dublin-II-VO hat es - anders als zur (unbestrittenen) Statthaftigkeit der Anfechtungsklage (vgl. BayVGH, B. v. 11.3.2015 - 13a ZB 14.50043 - juris Rn. 6 m. w. N.) - für die Frage, inwieweit das Gericht (im Rahmen dieser Anfechtungsklage) anstelle des BAMF die Zuständigkeit weiterer (nachrangiger) Dublin-Staaten vorzunehmen hat, keine abschließende Klärung gegeben (vgl. zur Dublin-II-VO einerseits VGH BW, U. v. 16.4.2014 - A 11 S 1721/13 - InfAuslR 2014, 293, juris Rn. 18; andererseits OVG NRW, U. v. 7.3.2014 - 1 A 21/12.A - DVBl 2014, 790, juris Rn. 31).
Jedenfalls seit der expliziten Einführung der Pflicht zur Fortsetzung der Prüfung in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO, zu der es in der früheren Dublin-II-VO keine explizite Vorgängerregelung gab, kommen für eine solche fortgesetzte Prüfung ausschließlich die dort vorgesehenen Verfahrensabläufe in Betracht. Dabei spricht für die genannte Beschränkung der gerichtlichen Prüfung auf die im streitgegenständlichen Bescheid des BAMF vorgegebene Auswahl anderer Dublin-Staaten vor allem Art. 35 Dublin-III-VO. Denn Art. 35 Dublin-III-VO geht hinsichtlich der Durchführung der Dublin-III-VO von explizit gegenüber der Kommission zu benennenden „Behörden“ - also Stellen der Exekutive, nicht aber der Judikative - mit entsprechenden Veröffentlichungsverfahren aus. Für die Bundesrepublik Deutschland ist dies aber hinsichtlich der Übermittlung von Aus- und Wiederaufnahmeersuchen gerade das BAMF (vgl. auch § 2 Abs. 1 der Verordnung zur Neufassung der Asylzuständigkeitsbestimmungsverordnung - AsylZBV). Nur das BAMF als Verwaltungsstelle kann die nach der Dublin-III-VO vorgesehenen Fristläufe nach den dort (insbesondere in Art. 21 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 3 Dublin-III-VO) vorgesehenen Verfahrensweisen erfüllen und nur gegenüber dem BAMF können andere Dublin-Mitgliedstaaten die für sie geltenden Fristen wahren. Dafür spricht nicht zuletzt auch Art. 15 Abs. 1 der Verordnung (EG) 1560/2003 (EU-Asylantragszuständigkeits-DVO), wonach sämtliche Gesuche und Antworten zwischen Mitgliedstaaten über das dort näher geregelte „DubliNet“ übermittelt werden, wohingegen für das Gericht keine Nutzung des DubliNet vorgesehen ist. Soweit aber andere Dublin-Staaten nicht innerhalb der unionsrechtlich vorgesehenen (zwischenbehördlichen) Verfahren eingebunden sind und soweit deshalb auch die Regelungswirkung einer Feststellung nach § 27a AsylVfG sich darauf nicht erstreckt (s. o.), kommt vor diesem Hintergrund eine diesbezügliche gerichtliche Prüfung (mit entsprechenden Bindungswirkungen gegenüber der am Rechtsstreit beteiligten Bundesrepublik Deutschland - vgl. § 121 VwGO) nicht in Betracht.
7. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylVfG).
8. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 2 und Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 2 K 1422/15.A des Antragstellers gegen die in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Mai 2015 enthaltene Abschiebungsanordnung nach Ungarn wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e
2Der Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung seiner Klage 2 K 1422/15.A gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 12. Mai 2015, zugestellt am 18. Juni 2015, anzuordnen,
4ist zulässig und begründet.
5Im Rahmen der in Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotenen Abwägung zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers an einem Verbleib in Deutschland bis zum Abschluss des Klageverfahrens und dem öffentlichen Interesse an einem Vollzug der auf § 34a Abs. 1 AsylVfG gestützten Anordnung der Abschiebung nach Ungarn im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Mai 2015 überwiegt unter Berücksichtigung aller derzeit erkennbaren Umstände das Aussetzungsinteresse. Denn es lässt sich nicht mehr mit der in Verfahren der vorliegenden Art hinreichenden Wahrscheinlichkeit annehmen, dass sich der auf §§ 27a, 34a AsylVfG gestützte Bundesamtsbescheid im Ergebnis als rechtmäßig erweisen wird. Deshalb wäre mit einem sofortigen Vollzug des umstrittenen Bundesamtsbescheides eine unbillige Härte für den Antragsteller verbunden (vgl. zum Prüfungsmaßstab § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO).
6Nach § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
7Zwar ist die Antragsgegnerin zutreffend davon ausgegangen, dass Ungarn grundsätzlich der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Mitgliedsstaat ist. Die ungarischen Behörden haben auf das Wiederaufnahmegesuch der Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 10. April 2015 ihre Zuständigkeit gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin II-VO) für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers erklärt.
8Allerdings kann nach Einschätzung des Gerichts unter Berücksichtigung des vorliegenden neueren Erkenntnismaterials sowie der geänderten Positionierung des ungarischen Staates zur Aufnahmebereitschaft von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Übereinkommens aktuell nicht mehr mit der erforderlichen Gewissheit davon ausgegangen werden, dass in Ungarn systemische Mängel bzw. Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nicht anzunehmen sind. Vielmehr gibt die jüngste Entwicklung in Ungarn Anlass zu der Annahme, dass gravierende Anhaltspunkte für das Bestehen systemischer Mängel vorhanden sind, aufgrund derer der Antragsteller im Falle der Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.
9Ausgangspunkt für diese Bewertung ist das in Ungarn sich in jüngster Zeit massiv zuspitzende Kapazitätsproblem bei der Aufnahme von Asylbewerbern bedingt durch die stetig ansteigende Zahl von Asylbewerbern. Während in Ungarn im Jahre 2012 lediglich 2.157 Asylanträge gestellt wurden, stieg die Anzahl der Asylbewerber im Jahre 2013 auf 18.900 an und verdoppelte sich im Jahre 2014 auf 42.777. Vom 1. Januar 2015 bis zum 1. März 2015 registrierten die ungarischen Behörden bereits eine Anzahl von 28.535 Personen.
10Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015 (abrufbar unter http://helsinki.hu/wp-content/uploads/Asylum-2015-Hungary-press-info-4March2015.pdf.
11Bis zu 72.000 Flüchtlinge sollen bereits in diesem Jahr nach Angaben der ungarischen Regierung in das Land gelangt sein.
12Vgl. spiegelonline: Überlastetes Asylsystem, Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen, Bericht vom 6. Juli 2015, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-verschaerft-gesetzzur-aufnahme-von-flüchtlingen.
13Ungarn gehört damit in der EU zum drittgrößten Zuwanderungsland für Asylbewerber.
14Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015,aaO.
15Hinzu kommt noch, dass Ungarn nach der Dublin-VO verpflichtet ist, alle weitergereisten Personen, die erstmals in Ungarn einen Asylantrag gestellt haben, wiederaufzunehmen. Dieser großen Anzahl von Asylbewerbern steht demgegenüber nur eine geringe Zahl von Aufnahmeplätzen gegenüber. Wie dem jüngsten Bericht des European Asylum Support Office (EOS) vom 18. Mai 2015 zu entnehmen ist, der eine ausführliche aktuelle Berichterstattung über das ungarische Asylsystem enthält,
16http://easo.europa.eu/wp-content/uploads/Description-of-the-Hungarian-asylum-system-18-May-final.pdf;
17gibt es in ganz Ungarn weniger als 2.500 Aufnahmeplätze in staatlichen Unterbringungseinrichtungen. Die Plätze verteilen sich auf vier offene Aufnahmeeinrichtungen (Bicske 439, Debrecen 823, Vamaosszabadi 255, Nagyfa 300 sowie in Balassagyarmat 111) und drei geschlossene Lager (Debrecen 192, Bekescsabe 159, Nyirbator 105).
18Bereits diese Zahlen verdeutlichen das bestehende massive Unterbringungsproblem in Ungarn. Es kann angesichts dieser Größenordnung bei einer Zuwanderung von mehr als 60.000 Flüchtlingen innerhalb eines halben Jahres ersichtlich nicht davon ausgegangen werden, dass die erheblich zu geringe Zahl an staatlichen Unterbringungsplätzen für Asylbewerber auch nur ansatzweise durch von Kirchen und sonstigen nichtstaatlichen caritativen Einrichtungen aufgefangen werden könnte.
19Hinzu kommt, dass sich der ungarische Staat selbst weder willens noch in der Lage sieht, die Unterbringung und Versorgung der stetig ansteigenden Zahl von Asylbewerbern zu gewährleisten. Dass bereits seit einigen Monaten von den ungarischen Behörden die Situation der Flüchtlingsunterbringung als dramatisch eingestuft wird, zeigt der Umstand des bereits Ende Mai 2015 erklärten Aufnahmestopps von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Transfers wegen ausgeschöpfter Aufnahmekapazitäten bis zum 5. August 2015.
20S. E-Mail der Dublinet Hungary vom 29. Mai 2015 an die Europäischen Mitgliedsstaaten betr. INFO Transfer Stop.
21Als erschwerend ist die ablehnende Haltung der ungarischen Regierung gegenüber dem Dublin-Übereinkommen anzusehen, die das gesamte Dublin-Konzept als ein Systemfehler bezeichnet. Seitens der ungarischen Regierung wird unmissverständlich deutlich gemacht, dass man eine nennenswerte Zuwanderung sog. Wirtschaftsflüchtlinge nicht wünsche und Ungarn keine multikulturelle Gesellschaft werden wolle.
22Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015, aaO; Die Welt, Bericht vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat, abrufbar unter: http://www.welt.de/143027058; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, Die ungarische Regierung will Flüchtlinge ab sofort aussperren.
23Die mangelnde Bereitschaft der ungarischen Regierung zur Aufnahme von Dublin-Rückkehrern gipfelte schließlich in der am 23. Juni 2015 erfolgten Ankündigung des Regierungschef Orban, das EU Abkommen zur Aufnahme von Flüchtlingen auszusetzen. Begründet wurde diese Entscheidung mit dem Hinweis, dass die Kapazitäten ausgeschöpft seien („Das Boot ist voll“) und die ungarische Interessen sowie die ungarische Bevölkerung geschützt werden müssten.
24Vgl. Die Welt, Bericht vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat; aa0; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, aa0.
25Wenn auch diese Ankündigung bereits einen Tag später zurückgenommen wurde, so macht sie doch auf der einen Seite die dramatische Unterbringungssituation für die Flüchtlinge in Ungarn deutlich wie auch auf der anderen Seite die fehlende Bereitschaft staatlicher Stellen, die Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen und deren menschwürdige Unterbringung zu garantieren. Vielmehr ist zu konstatieren, dass die ungarische Regierung die Politik der Ausgrenzung weiter forciert. Ungeachtet internationaler Kritik hat Ungarn die Regeln für die Einwanderung verschärft. Am Montag, den 6. Juli 2015 verabschiedete das ungarische Parlament eine Verschärfung der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Der Zeitrahmen für Asylverfahren wird gekürzt werden. Mit der neuen Rechtslage wird ermöglicht, Asylanträge von Flüchtlingen abzulehnen, die über sichere Transitländer nach Ungarn gereist sind - selbst wenn sie aus Bürgerkriegsländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak stammen. Vorgesehen ist überdies, dass Asylbewerber zukünftig selbst für Kost und Unterbringung während der Antragsbearbeitung zahlen sollen.
26Vgl. spiegelonline. Überlastetes Asylsystem, aa0; Die Welt, Bericht vom 6. Juli 2015 Zuwanderung: Ungarn zieht Grenzzaun gegen Flüchtlinge hoch, abrufbar unter: http://www.welt.de/143651657.
27Angesichts dieser jüngeren Entwicklungen bestehen ernst zu nehmende Anhaltspunkte für die Annahme, dass das Asylsystem in Ungarn systemische Schwachstellen aufweist. Daher sieht sich das Gericht veranlasst, im vorläufigen Rechtsschutzverfahren – unter Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung - die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Ungarn nach summarischer Prüfung derzeit als offen zu betrachten. Die nähere Prüfung dieser in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht komplexen Fragestellung ist allerdings dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Im vorliegenden Verfahren überwiegt das Aussetzungsinteresse.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVG.
29Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
30Hemmelgarn
Gründe
Bayerisches Verwaltungsgericht München
M 23 K 15.50045
Im Namen des Volkes
Urteil
vom
23. Kammer
Sachgebiets-Nr. 710
Hauptpunkte:
Dublin-III-Verfahren; Vorrangiges Asylverfahren in Ungarn; Änderung der ungarischen Asylgesetze zum
Rechtsquellen:
In der Verwaltungsstreitsache
..., geb. ...1989 alias ..., geb. ... 1989 Gasthof ...
- Kläger -
bevollmächtigt: ...
gegen
...
vertreten durch:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Außenstelle ...,
- Beklagte -
beteiligt:
Regierung von ..., Vertreter des öffentlichen Interesses B-str. ..., M.
wegen Asylrecht
erlässt das Bayerische Verwaltungsgericht München, 23. Kammer, durch die Richterin am Verwaltungsgericht ... als Einzelrichterin ohne mündliche Verhandlung
am
folgendes Urteil:
I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ... Januar 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Der nach seinen eigenen Angaben am ... 1989 in Aleppo geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er reiste vermutlich am ... Oktober 2014 in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am ... Dezember 2014 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.
Bei dem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens am ... Dezember 2014 gab der Kläger gegenüber dem Bundesamt an, dass ihm in Ungarn Ende September 2014 Fingerabdrücke abgenommen worden seien. Im Rahmen des beschleunigten schriftlichen Verfahrens verzichtete der Kläger auf die Prüfung seines Anspruchs auf Asyl.
Aufgrund eines Eurodac-Treffers der Kategorie I bezüglich des Klägers für Ungarn sandte das Bundesamt am ... Dezember 2014 ein Wiederaufnahmeersuchen an die ungarischen Behörden. Diese teilten am ... Dezember 2014 mit, dass das mit Antrag vom ... Oktober 2014 eingeleitete Asylverfahren wegen des Verschwindens des Klägers beendet worden sei. Weiter erklärten die ungarischen Behörden die Bereitschaft zur Wiederaufnahme des Klägers.
Mit Bescheid vom ... Januar 2015 - zugestellt am ... Januar 2015 - stellte das Bundesamt fest, dass der Asylantrag unzulässig sei (Nr. 1 des Bescheids) und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Nr. 2 des Bescheids). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Asylantrag gem. § 27a AsylVfG unzulässig sei, da Ungarn aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrags gem. Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin-III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Das Bundesamt gehe davon aus, dass in Ungarn keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorlägen. Deutschland sei verpflichtet, die Überstellung nach Ungarn als zuständigem Mitgliedstaat innerhalb der in Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO festgesetzten Fristen durchzuführen. Die Anordnung der Abschiebung nach Ungarn beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.
Mit Schreiben vom 23. Januar 2015 erhoben die Bevollmächtigten des Klägers Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragten:
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ...01.2015, Az. ..., wird aufgehoben.
Weiterhin beantragten sie, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (Az.: M 23 S 15.50047).
Zur Begründung trugen sie unter Verweis auf umfangreiche Rechtsprechung und Stellungnahmen insbesondere vor, dass in Ungarn systemische Mängel vorlägen und dem Kläger in Ungarn die Inhaftierung drohe.
Die Akten des Bundesamts wurden mit Schreiben vom
Mit Beschluss vom 3. Februar 2015
Mit Schreiben vom
Durch Beschluss der Kammer vom
Mit Schreiben vom
Mit Schreiben vom
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte im Verfahren M 23 S 15.50047 sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Über die Klage konnte mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom ... Januar 2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er war daher aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
Die isolierte Anfechtungsklage ist gegen den Bescheid des Bundesamts, mit dem der Asylantrag nach § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung angeordnet wird, die statthafte Klageart (vgl. BayVGH, U.v. 29.1.2015 - 13a B 14.50039 - juris m. w. N.).
Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Unrecht gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt.
Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In diesem Fall kann das Bundesamt gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat anordnen, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Vorliegend hat der Kläger zunächst in Ungarn Asyl beantragt; Ungarn hat auch mit Schreiben vom ... Dezember 2014 der Wiederaufnahme des Antragstellers gemäß § 18 Abs. 1 Ziff. b Dublin-III-VO zugestimmt. Damit wäre grundsätzlich Ungarn für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig.
Allerdings bestimmt Art. 3 Abs. 2 Unterabsätze 2 und 3 Dublin III-VO in Umsetzung des Urteils des EuGH vom 21. Dezember 2011 (EuGH, U.v. 21. Dezember 2011 - C-411/10, C-493/10
Nach der zur Rechtslage unter der Dublin-II-VO ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (U.v. 21.12.2011 - C-411/10
Die Rechtsprechung beurteilte die Frage des Vorliegens systemischer Mängel im oben beschriebenen Sinn im ungarischen Asylsystem bis zur letzten Änderung der ungarischen Asylgesetze unterschiedlich (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 15.5.2015 - 8 LA 85/15; zuletzt ablehnend VG München, U.v. 1.7.2015 - M 12 K 15. 50491, VG Augsburg, U.v. 20.7.2015 - Au 5 K 15.50316, VG Düsseldorf, U.v. 26.6.2015 - 13 K 787/14.A; zuletzt bejahend VG Köln, U.v. 15.7.2015 - 3 K 2005/15.A; VG Münster, B.v. 7.7.15 - 2 L 858/15.A; VG Bremen, B.v. 1.4.15 - 3 V 145/15
Insbesondere aufgrund der zum 1. August 2015 in Kraft getretenen - und damit bei der gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigenden - Änderung des ungarischen Asylrechts gibt es nach Überzeugung des erkennenden Gerichts wesentliche Gründe für die Annahme, dass in Ungarn systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen, vorliegen und folgt insoweit der soweit erkennbar überwiegenden Meinung in der Rechtsprechung (vgl. VG Augsburg, U.v. 18.8.2015 - Au 6 K 15.50155 - bisher unveröffentlicht; VG Düsseldorf, B.v. 20.8.2015 - 15 L 2556715.A; VG Saarland, B.v. 12.8.2015 - 3 L 816/15; VG Kassel, B.v. 7.8.2015 - 3 L 1303/15.KS.A - jeweils juris). Obergerichtliche Rechtsprechung zu der seit 1. August 2015 geänderten ungarischen Rechtslage existiert hierzu soweit ersichtlich nicht.
Nach den vorliegenden aktuellen Erkenntnissen sind mit dieser Gesetzesänderung sowohl die Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit nach der Dublin-III-VO und zur Prüfung eines Asylgesuchs in Zuständigkeit des ungarischen States sowohl vor den ungarischen Behörden wie vor den ungarischen Gerichten etwa durch die Verkürzung von Fristen und die an Fristversäumnisse angeknüpften Sanktionen sowie neu gefasste Beweislastregeln in einer Weise verändert worden, die die Einhaltung der Mindestanforderungen nicht mehr gewährleisten (vgl. VG Düsseldorf, B.v. 20.8.2015 - 15 L 2556/15.A - juris Rn. 27).
Das Verwaltungsgericht Augsburg (U.v. 18.8.2015 - Au 6 K 15.50155 - bisher unveröffentlicht), dem das erkennende Gericht vollumfänglich folgt, führt hierzu aus:
„Sowohl das Hungarian Helsinki Committee als auch der UNHCR erklären sich nach der Änderung der ungarischen Gesetzeslage zum 1. August 2015 und der tatsächlichen Aufnahmebedingungen zu tiefst besorgt („deeply concerned“) über die Entwicklung und Verschärfung des Asylrechts in Ungarn, und fordern Ungarn auf, ihr Asylrecht unter Beachtung der Flüchtlingsrechte, des EU-Rechts und des internationalen Rechts zu handhaben. Das Hungarian Helsinki Committee führt zu der zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderung des ungarischen Asylrechts in seiner Stellungnahme vom 7. August 2015 (abrufbar unter: HYPERLINK http://he...pdf) aus, dass Ungarn eine Liste von sicheren Drittstaaten beschlossen habe, zu denen unter anderem auch Serbien zähle. Diese Einschätzung stehe in Widerspruch zu der aktuell gültigen Position des UNHCR, des Helsinki Committees selbst und Amnesty International. Kein anderes Land in der EU betrachte Serbien für Asylsuchende als sicheres Drittland. Aufgrund dieser Festlegung sei es der ungarischen Immigrationsbehörde (Office of Immigration and Nationality (OIN) möglich, alle Asylsuchenden, die über Serbien nach Ungarn einreisen, das seien ca. 99% der Asylbewerber, ohne Prüfung und Anhörung ihrer Fluchtsituation abzulehnen. Eine Ausnahme bestehe nur, wenn der Asylbewerber beweisen könne, dass es ihm in Serbien nicht möglich gewesen sei, Asyl zu beantragen. Ein Nachweis sei dem Asylbewerber in der Praxis jedoch aus tatsächlichen Gründen nicht möglich, zudem hätten Asylsuchende regelmäßig keinen Zugang zu professioneller Rechtsberatung, die jedoch für die Nachweisführung notwendig sei. Zudem existiere in Serbien in der Realität kein funktionierendes Asylsystem. Weiterhin werde auch Griechenland als sicheres Drittland angesehen, ein Land, in das die EU-Mitgliedstaaten seit 2011 wegen der dort herrschenden Verhältnisse keine Dublin-Überstellungen mehr durchführen. Mit dieser Haltung verstoße Ungarn in der Praxis gegen das Gebot des „non-refoulement“, das in der Flüchtlingskonvention von 1951, in Art. 3 der EMRK und in Art. 18 und 19 der EU-GRcharta verankert sei (HHC, Stellungnahme vom 7.8.2015, a. a. O. S. 2). Gegen eine ablehnende Entscheidung als unzulässig, die z. B. bereits bei einer Einreise über einen sicheren Drittstaat (wie Serbien) erfolge, könne eine gerichtliche Überprüfung nur innerhalb einer Frist von drei Tagen erfolgen, eine Frist, die sowohl gegen EU-Recht, als auch gegen die gefestigte Rechtsprechung des EGMR verstoße, die beide eine Mindestfrist von einer Woche vorsähen (HHC, Stellungnahme vom 7.8.2015, a. a. O. S. 4 m. w. N.). Auch die Möglichkeiten einer Inhaftierung insbesondere in den sog. Dublin-Fällen sei im Verhältnis zur vorherigen Rechtslage wieder verschärft worden. Zudem sollen Flüchtlinge bis zum Ende ihres Asylverfahrens inhaftiert werden dürfen. Die neue Gesetzeslage entspricht somit in weiten Teilen der Rechtlage, die im Jahr 2012 den UNHCR zu seiner Empfehlung veranlasste, nach den Dublin-II-Bestimmungen keine Asylbewerber nach Ungarn zu überstellen.
Auch das UNHCR, dessen Wertungen im Rahmen der Prüfung des Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin-III-VO maßgebliches Gewicht zukommt (vgl. EuGH, U.v. 30.5.2013 - C-528/11, juris Rn. 44), hatte bereits in seiner Stellungnahme vom 3. Juli 2015 im Vorfeld der zwischenzeitlich beschlossenen Gesetzesänderungen Bedenken angemeldet und sich insoweit als „tief besorgt“ (deeply concerned) bezeichnet (abrufbar unter: http://www.u...org/...html). Das Asylsystem Ungarns sei bereits vor der Novelle immer restriktiver geworden und es werde befürchtet, dass die neuen Vorschläge es Flüchtlingen unmöglich machen wird, in diesem Land Sicherheit zu suchen. Rund 80% der Asylsuchenden kämen aus den Konfliktzonen Syrien, Afghanistan, Irak und bedürften internationalen Schutz. Hier ist anzufügen, dass nach österreichischen Angaben von den im Jahr 2013 in Ungarn gestellten 44.000 Asylanfragen nur 550 positiv verbeschieden worden sind (http://www.s...de/p...).“
Ergänzend hierzu führt das Gericht aus, dass das Hungarian Helsinki Committee in seiner Stellungnahme des Weitern bemängelt, dass in den meisten Fällen ein beschleunigtes Verfahren zulässig werde, in dem innerhalb von 15 Tagen eine Entscheidung erfolgen solle. Es bestehe ein hohes Risiko, dass dieses Verfahren aufgrund der benannten Voraussetzungen zum Regelfall würde. Die 15-Tage-Frist sei ein Verstoß gegen EU-Recht, da sie keinen effektiven Zugang zu Asylverfahren mehr gewähre (HHC, Stellungnahme vom 7.8.2015, .a.aO., S. 3f). Auch der gerichtliche Schutz für diese - bis zu 99% aller Asylverfahren betreffenden - beschleunigten Verfahren sei, insbesondere auch durch die nicht mehr zwingend vorgesehene persönliche Anhörung, unzureichend und Verstoße gegen EU-Recht (HHC, Stellungnahme vom 7.8.2015, a. a. O., S. 4).
Darüber hinaus bestehen in Ungarn massive Kapazitätsprobleme aufgrund der enormen Zunahme von Flüchtlingszahlen. Während in Ungarn im Jahre 2012 lediglich 2.157 Asylanträge gestellt wurden, stieg die Anzahl der Asylbewerber im Jahre 2013 auf 18.900 an und verdoppelte sich im Jahre 2014 auf 42.777. Vom 1. Januar 2015 bis zum 1. März 2015 registrierten die ungarischen Behörden bereits eine Anzahl von 28.535 Personen (Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Bericht vom 4. März 2015, abrufbar unter http://h...hu/wp-c...pdf.). Bis zu 72.000 Flüchtlinge sollen bereits in diesem Jahr nach Angaben der ungarischen Regierung in das Land gelangt sein. Demgegenüber stehen in ganz Ungarn weniger als 2.500 Aufnahmeplätze in staatlichen Unterbringungseinrichtungen zu Verfügung. Hinzu kommt die ablehnende Haltung der ungarischen Regierung gegenüber dem Dublin-System (vgl. hierzu VG Münster, B.v. 7.7.2015 - 2 L 858/15.A - juris), so dass auch mit einer entsprechend zügigen Erweiterung der Aufnahmekapazitäten mit zumutbarer Ausstattung nicht zu rechnen ist. Auch kann das Gericht keine Anhaltspunkte dafür erkennen, dass die ungarische behördliche und gerichtliche Praxis die verschärften gesetzlichen Vorgaben nicht befolgen wird.
Das Gericht macht sich ergänzend die Einschätzungen des Verwaltungsgerichts Düsseldorf (B.v. 20.8.2015 - 15 L 2556/15.A - juris), des Verwaltungsgerichts Saarland (B.v. 12.8.2015 - 3 L 816/15 - juris) sowie des Verwaltungsgerichts Kassel (B.v. 7.8.2015 - 3 L 1303/15.KS.A -juris) zu Eigen. Demnach bestehen (zumindest) bei der Zusammenschau der in jüngerer Zeit entstandenen Kapazitätsprobleme einerseits und der gegenüber der bisherigen Rechtslage zulasten der Asylbewerber im Asylverfahrensablauf sowie bei den Inhaftierungsmöglichkeiten vorgenommenen Verschlechterungen derzeit systemische Schwachstellen des ungarischen Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) bergen.
Angesichts der somit wegen Art. 3 Abs. 2 Satz Unterabsatz 2 Dublin-III-VO anzunehmenden Unzuständigkeit Ungarns sind sowohl die in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids ausgesprochene Ablehnung des Asylantrags als unzulässig als auch die Abschiebungsandrohung nach Ungarn in Nr. 2 des Bescheids rechtswidrig und aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen dieses Urteil können die Beteiligten die Zulassung der Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
schriftlich beantragen. Dem Antrag sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Dem Kläger wird für das Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin ... beigeordnet.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (§ 114 ZPO) und Beiordnung der bevollmächtigten Rechtsanwältin des Klägers (§ 121 Abs. 2 ZPO) hat Erfolg.
Gemäß § 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Diese Voraussetzungen sind im Fall der Kläger erfüllt.
Aus der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und den beigefügten Belegen (§ 166 VwGO i. V. m. § 117 Abs. 2 S. 1 ZPO) ergibt sich, dass der Kläger die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann.
Die beabsichtigte Rechtsverfolgung hatte im maßgeblichen Zeitpunkt auch hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne des § 176 VwGO i. V. m. § 114 ZPO. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Erfolgsaussicht ist der Zeitpunkt der Entscheidungsreife der Prozesskostenhilfe-Sache. Im Zeitpunkt der Stellung des Antrages auf Prozesskostenhilfe am 9. Februar 2015 waren die Erfolgsaussichten des Klageantrags zumindest offen. Insoweit wird auf die Ausführungen im Beschluss vom 3. Februar 2015 im Verfahren M 23 S 15.50047 verwiesen.
Dem Kläger war daher die beantragte Prozesskostenhilfe zu bewilligen und die bevollmächtigte Rechtsanwältin beizuordnen.
Die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag ist gerichtsgebührenfrei. Auslagen werden nicht erstattet.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 15 K 5237/15.A gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 20. Juli 2015 wird angeordnet, soweit dort unter Ziffer 2 die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn angeordnet ist.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Das am 27. Juli 2015 bei Gericht eingegangene vorläufige Rechtsschutzgesuch mit dem sinngemäß (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) gestellten Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 15 K 5237/15.A gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 20. Juli 2015 anzuordnen, soweit dort unter Ziffer 2 die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn angeordnet ist,
4hat Erfolg. Es ist als Anordnungsbegehren gemäß den §§ 123 Abs. 5, 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO zwar, weil der Klage gegen den Ablehnungsbescheid des Bundesamtes nach § 75 Abs. 1 AsylVfG kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung zukommt, statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist der Rechtsschutzantrag gegenüber der Abschiebungsanordnung, die auf § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG gestützt ist, fristgerecht gestellt. Ausweislich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ist der angegriffene Bundesamtsbescheid gerichtet an den Antragsteller am 23. Juli 2015 zur Post gegeben worden mit der Folge, dass das am 27. Juli 2015 gestellte vorläufige Rechtsschutzgesuch die einwöchige Antragsfrist des § 34 a Abs. 2 S. 1 AsylVfG jedenfalls wahrt.
5Das danach zulässige Rechtsschutzgesuch ist auch begründet.
6Gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache als Ergebnis einer Interessenabwägung, die in den Fällen des § 34 a Abs. 2 S. 1 AsylVfG nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte nicht den Einschränkungen des § 36 Abs. 4 S. 1 AsylVfG unterliegt,
7vgl. hierzu nur mit ausführlicher Darstellung des Gesetzgebungsverfahrens Verwaltungsgericht (VG) Trier, Beschluss vom 18. September 2013, 5 L 1234/13.TR, juris Rdnr. 5 ff. m. w. N.,
8die aufschiebende Wirkung einer Klage ganz oder teilweise anordnen, soweit ihr ‑ wie hier ‑ kein Suspensiveffekt zukommt. Dabei überwiegt das Aussetzungsinteresse des Betroffenen das Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung einer Verfügung, wenn entweder der angegriffene Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil an der sofortigen Vollziehung einer solchen Regelung kein öffentliches Interesse besteht, oder aber wenn die angegriffene Regelung bei summarischer Prüfung zwar einer Rechtskontrolle Stand hält, gleichwohl aber das Aufschubinteresse des Betroffenen dem Allgemeininteresse an ihrer sofortigen Vollziehung vorgeht. Die danach gebotene Interessenabwägung fällt hier zu Gunsten des Antragstellers aus. Die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet bei summarischer Prüfung im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) rechtlich durchgreifenden Bedenken mit der Folge, dass unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Belange des Antragstellers an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung kein öffentliches Interesse besteht.
9Die Abschiebungsanordnung ist wohl nicht rechtsfehlerfrei auf § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG gestützt. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27 a AsylVfG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind zumindest im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) nicht (länger) erfüllt.
10Ist ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, ist gemäß § 27 a AsylVfG ein Asylantrag unzulässig. Zu Recht hat das Bundesamt hier zur Bestimmung des Staates im Sinne des § 27 a AsylVfG die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III‑VO), herangezogen.
11Gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III‑VO ist Ungarn für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers zuständig, nachdem der Antragsteller nach eigenen Angaben Syrien im März 2012 verlassen hat und über die Türkei, Griechenland, Mazedonien und ‑ insoweit durch einen EURODAC-Treffer (HU2 …) bestätigt ‑ Ungarn sowie Österreich am 29. März 2015 in das Bundesgebiet eingereist ist und seit der Ankunft in Ungarn das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten des Dublin III‑Abkommens nicht wieder verlassen hat. Auch hat Ungarn dem Bundesamt gegenüber auf dessen Anfrage vom 7. Mai 2015 unter dem 12. Juni 2015 schriftlich seine Bereitschaft erklärt, den Antragsteller aufzunehmen.
12Auch ist die Antragsgegnerin nicht verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III‑VO Gebrauch zu machen und das Asylgesuch des Antragstellers selbst zu prüfen. Ein subjektives Recht des Asylbewerbers auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts vermittelt diese Vorschrift als Teil der Regelungen der Dublin III‑VO, die ausgerichtet an objektiven Kriterien der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten dienen, für sich genommen nicht.
13Vgl. Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteile vom 10. Dezember 2013, C 394/12, juris Rdnr. 60, 62, und vom 14. November 2013, C 4/11, juris Rdnr. 7; Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 19. März 2014, 10 B 6.14, juris Rdnr. 7.
14Gleichwohl begegnet die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung, die nur dann rechtsfehlerfrei ist, wenn ausgeschlossen werden kann, dass ein Abschiebungshindernis vorliegt,
15vgl. Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 28. April 2015, 22 L 1095/15.A; zum tatsächlichen Abschiebungshindernis der fehlenden Übernahmebereitschaft des Zielstaates: OVG NRW, Beschlüsse vom 3. März 2015, 14 B 101/15.A und 14 B 102/15.A, sowie Beschluss vom 10. März 2015, 14 B 162/15.A.,
16hier rechtserheblichen Bedenken, die der Überprüfung im Hauptsacheverfahren bedürfen.
17Entgegen den Vorgaben des § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG steht derzeit nicht fest, dass der Antragsteller nach Ungarn abgeschoben werden kann, weil gewichtige Gründe für die Annahme sprechen, dass die Abschiebung Ungarn im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO unmöglich ist, weil der Antragsteller im hier maßgeblichen Prognosezeitraum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Ungarn wegen systemischer Mängel des dortigen Verfahrens zur Schutzgewährung der ernsthaften Gefahr ausgesetzt sein wird, eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) zu erfahren.
18Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III‑VO wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der für die Prüfung des Schutzgesuchs zuständige Mitgliedsstaat, wenn eine Überstellung des Schutzsuchenden in den nach Kapitel III der Dublin III‑VO bestimmten Mitgliedsstaat unmöglich ist, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder unwürdigeren Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtscharta mit sich bringen, und nach Kapitel III der Dublin III‑VO kein anderer Mitgliedsstaat als zuständig bestimmt werden kann.
19Die dem gemeinsamen europäischen Asylsystem zu Grunde liegende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Schutzsuchenden einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend beachtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn die aus Tatsachen abgeleitete Gefahr besteht, dass der Schutzsuchende in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, entgegen den Vorgaben des Art. 4 EU-Grundrechtscharta bzw. Art. 3 der Konvention unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden wird, weil das Verfahren zur Schutzgewährung und die Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen. Solche Mängel können allerdings erst dann angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen von einer Art. 4 EU-Grundrechtscharta bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen zu verzeichnen sind, sondern strukturell bedingt sind und dem überstellenden Staates nicht unbekannt sein können.
20Vgl. zum Ganzen: EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011, C 411/10 u. a., juris Rdnr. 83 ff; Europäischer Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR), Urteil vom 21. Januar 2011, 30696/09, juris.
21Insoweit ist damit ist eine Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat rechtlich unzulässig, sofern mit beachtlicher, das heißt überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass der Schutzsuchende dort wegen systemischer Mängel des Verfahrens zur Schutzgewährung oder der Aufnahmebedingungen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird,
22vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014, 10 B 6.14, juris Rdnr. 6,
23nicht aber schon dann, wenn der Zielstaat der Überstellung trotz möglicher Mängel in der Durchführung des Schutzverfahrens seine rechtlichen Verpflichtungen jedenfalls soweit erfüllt, dass eine Überstellung des Schutzsuchenden dorthin zumutbar erscheint.
24Vgl. etwa VG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Januar 2015, 13 L 58.15.A, VG Berlin, Beschlüsse vom 15. Januar 2015, 23 L 899.14 A, und vom 4. August 2014, 34 L 78.14 A, jeweils juris.
25Gemessen daran liegen zumindest gewichtige Anhaltspunkte tatsächlicher Art vor, die geeignet sein können, eine Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn rechtlich auszuschließen und deshalb einer näheren Überprüfung im Hauptsacheverfahren bedürfen. Namentlich spricht derzeit Vieles dafür, dass der Antragsteller im Fall seiner Überstellung nach Ungarn in dem hier maßgeblichen Prognosezeitraum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen systembedingter Mängel des Verfahrens zur Schutzgewährung eine Behandlung erfahren wird, die die hier rechtlich allein maßgeblichen Grenzen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bzw. der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzt.
26Belastbare Anhaltspunkte für diese Annahme ergeben sich aus den öffentlich zugänglichen Informationen über das in Ungarn am 6. Juli 2015 beschlossene und zum 1. August 2015 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung des dortigen Asylrechts.
27Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building A Legal Fence, Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, Information note, 7 August 2015, abrufbar unter http://helsinki.hu/en/new-asylum-rules-endanger-access-to-protection (Stand: 20 August 2015); Information im englischsprachigen Internetangebot der ungarischen Regierung, http://www.kormany.hu/en/news/government-has-identified-list-of-safe-countries; UNHCR vom 2. Juli 2015, „UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste”, http://www.unhcr.org/559641846.html; aida: „Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries”, http://www.asylumineurope.org/news/23-07-2015/hungary-adopts-list-safe-countries-origin-and-safe-third-countries; amnesty international: „Hungary: Change to Asylum Law puts tens of thousands at risk”, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/07/hungary-change-to-asylum-law-puts-tens-of-thousands-at-risk/; alle abgerufen am 6. August 2015.
28Danach sind nicht nur die Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeiten nach dem Dublin III‑Abkommen und zur Prüfung eines Asylgesuchs in Zuständigkeit des ungarischen Staates sowohl vor den ungarischen Behörden wie vor den ungarischen Gerichten etwa durch die Verkürzung von Fristen und die an Fristversäumnisse angeknüpften Sanktionen sowie neu gefasste Beweislastregeln formell wie materiell in einer Weise verändert worden, die ernsthaft befürchten lässt, dass das ungarische Asylrecht seit dem 1. August 2015 nicht nur etwa hinter den Verfahrensgarantien gemäß den Artikeln 26 ff. Dublin III‑VO und den Vorgaben der Richtlinie 2011/95/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9 ff.) zurückbleibt, sondern die in Ungarn Schutzsuchenden auch in Rechten verletzt, die ihnen auf europäischer Ebene grundrechtlich verbürgt sind. Ferner rechtfertigt die durch die Asylrechtrechtsnovelle bewirkte Aufnahme (insbesondere) Serbiens in den Kreis der aus Sicht des ungarischen Staates sicheren Drittstaaten die ernsthafte Besorgnis, dass Schutzsuchende in Ungarn ohne inhaltliche Prüfung ihrer Fluchtgründe in Staaten abgeschoben werden, für die ‑ wie etwa Serbien ‑,
29vgl. Commissioner for Human Rights, Council of Europe, Schreiben an den serbischen Premierminister und Innenminister vom 27. November 2013, https://wcd.coe.int/com.instranet.InstraServlet?comand=com.instranet.CmdBlobGet&InstranetImage=2444713&SecMode=1&DocId=2108062&Usage=2, abgerufen am 6. August 2015,
30zumindest zweifelhaft ist, dass die dortigen Asylverfahren den europäischen Mindestmindestanforderungen entsprechen und sicherstellen, dass Abschiebungen in andere nicht sichere Drittstaaten oder Rückführungen in das Herkunftsland des Schutzsuchenden unter Verstoß gegen das Refoulement-Verbot ausgeschlossen sind.
31Vgl. zu Letzterem schon Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 6. August 2015, 22 L 2205/15.A, n. v. sowie Beschluss vom 7. August 2015, 22 L 616/15.A, zur Veröffentlichung vorgesehen: www.nrwe.de und juris.
32Dass die zum 1. August 2015 in Ungarn geänderten asylrechtlichen Bestimmungen auf Dublin-Rückkehrer keine Anwendung finden, lässt sich dabei derzeit verlässlich nicht feststellen.
33Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
34Der Wert des Verfahrensgegenstandes ergibt sich aus § 30 RVG.
35Der Beschluss ist unanfechtbar; § 80 AsylVfG.
Gründe
Bayerisches Verwaltungsgericht München
M 23 K 15.50045
Im Namen des Volkes
Urteil
vom
23. Kammer
Sachgebiets-Nr. 710
Hauptpunkte:
Dublin-III-Verfahren; Vorrangiges Asylverfahren in Ungarn; Änderung der ungarischen Asylgesetze zum
Rechtsquellen:
In der Verwaltungsstreitsache
..., geb. ...1989 alias ..., geb. ... 1989 Gasthof ...
- Kläger -
bevollmächtigt: ...
gegen
...
vertreten durch:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Außenstelle ...,
- Beklagte -
beteiligt:
Regierung von ..., Vertreter des öffentlichen Interesses B-str. ..., M.
wegen Asylrecht
erlässt das Bayerische Verwaltungsgericht München, 23. Kammer, durch die Richterin am Verwaltungsgericht ... als Einzelrichterin ohne mündliche Verhandlung
am
folgendes Urteil:
I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ... Januar 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Der nach seinen eigenen Angaben am ... 1989 in Aleppo geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er reiste vermutlich am ... Oktober 2014 in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am ... Dezember 2014 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.
Bei dem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens am ... Dezember 2014 gab der Kläger gegenüber dem Bundesamt an, dass ihm in Ungarn Ende September 2014 Fingerabdrücke abgenommen worden seien. Im Rahmen des beschleunigten schriftlichen Verfahrens verzichtete der Kläger auf die Prüfung seines Anspruchs auf Asyl.
Aufgrund eines Eurodac-Treffers der Kategorie I bezüglich des Klägers für Ungarn sandte das Bundesamt am ... Dezember 2014 ein Wiederaufnahmeersuchen an die ungarischen Behörden. Diese teilten am ... Dezember 2014 mit, dass das mit Antrag vom ... Oktober 2014 eingeleitete Asylverfahren wegen des Verschwindens des Klägers beendet worden sei. Weiter erklärten die ungarischen Behörden die Bereitschaft zur Wiederaufnahme des Klägers.
Mit Bescheid vom ... Januar 2015 - zugestellt am ... Januar 2015 - stellte das Bundesamt fest, dass der Asylantrag unzulässig sei (Nr. 1 des Bescheids) und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Nr. 2 des Bescheids). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Asylantrag gem. § 27a AsylVfG unzulässig sei, da Ungarn aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrags gem. Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin-III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Das Bundesamt gehe davon aus, dass in Ungarn keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorlägen. Deutschland sei verpflichtet, die Überstellung nach Ungarn als zuständigem Mitgliedstaat innerhalb der in Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO festgesetzten Fristen durchzuführen. Die Anordnung der Abschiebung nach Ungarn beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.
Mit Schreiben vom 23. Januar 2015 erhoben die Bevollmächtigten des Klägers Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragten:
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ...01.2015, Az. ..., wird aufgehoben.
Weiterhin beantragten sie, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (Az.: M 23 S 15.50047).
Zur Begründung trugen sie unter Verweis auf umfangreiche Rechtsprechung und Stellungnahmen insbesondere vor, dass in Ungarn systemische Mängel vorlägen und dem Kläger in Ungarn die Inhaftierung drohe.
Die Akten des Bundesamts wurden mit Schreiben vom
Mit Beschluss vom 3. Februar 2015
Mit Schreiben vom
Durch Beschluss der Kammer vom
Mit Schreiben vom
Mit Schreiben vom
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte im Verfahren M 23 S 15.50047 sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Über die Klage konnte mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom ... Januar 2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er war daher aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
Die isolierte Anfechtungsklage ist gegen den Bescheid des Bundesamts, mit dem der Asylantrag nach § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung angeordnet wird, die statthafte Klageart (vgl. BayVGH, U.v. 29.1.2015 - 13a B 14.50039 - juris m. w. N.).
Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Unrecht gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt.
Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In diesem Fall kann das Bundesamt gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat anordnen, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Vorliegend hat der Kläger zunächst in Ungarn Asyl beantragt; Ungarn hat auch mit Schreiben vom ... Dezember 2014 der Wiederaufnahme des Antragstellers gemäß § 18 Abs. 1 Ziff. b Dublin-III-VO zugestimmt. Damit wäre grundsätzlich Ungarn für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig.
Allerdings bestimmt Art. 3 Abs. 2 Unterabsätze 2 und 3 Dublin III-VO in Umsetzung des Urteils des EuGH vom 21. Dezember 2011 (EuGH, U.v. 21. Dezember 2011 - C-411/10, C-493/10
Nach der zur Rechtslage unter der Dublin-II-VO ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (U.v. 21.12.2011 - C-411/10
Die Rechtsprechung beurteilte die Frage des Vorliegens systemischer Mängel im oben beschriebenen Sinn im ungarischen Asylsystem bis zur letzten Änderung der ungarischen Asylgesetze unterschiedlich (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 15.5.2015 - 8 LA 85/15; zuletzt ablehnend VG München, U.v. 1.7.2015 - M 12 K 15. 50491, VG Augsburg, U.v. 20.7.2015 - Au 5 K 15.50316, VG Düsseldorf, U.v. 26.6.2015 - 13 K 787/14.A; zuletzt bejahend VG Köln, U.v. 15.7.2015 - 3 K 2005/15.A; VG Münster, B.v. 7.7.15 - 2 L 858/15.A; VG Bremen, B.v. 1.4.15 - 3 V 145/15
Insbesondere aufgrund der zum 1. August 2015 in Kraft getretenen - und damit bei der gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigenden - Änderung des ungarischen Asylrechts gibt es nach Überzeugung des erkennenden Gerichts wesentliche Gründe für die Annahme, dass in Ungarn systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen, vorliegen und folgt insoweit der soweit erkennbar überwiegenden Meinung in der Rechtsprechung (vgl. VG Augsburg, U.v. 18.8.2015 - Au 6 K 15.50155 - bisher unveröffentlicht; VG Düsseldorf, B.v. 20.8.2015 - 15 L 2556715.A; VG Saarland, B.v. 12.8.2015 - 3 L 816/15; VG Kassel, B.v. 7.8.2015 - 3 L 1303/15.KS.A - jeweils juris). Obergerichtliche Rechtsprechung zu der seit 1. August 2015 geänderten ungarischen Rechtslage existiert hierzu soweit ersichtlich nicht.
Nach den vorliegenden aktuellen Erkenntnissen sind mit dieser Gesetzesänderung sowohl die Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit nach der Dublin-III-VO und zur Prüfung eines Asylgesuchs in Zuständigkeit des ungarischen States sowohl vor den ungarischen Behörden wie vor den ungarischen Gerichten etwa durch die Verkürzung von Fristen und die an Fristversäumnisse angeknüpften Sanktionen sowie neu gefasste Beweislastregeln in einer Weise verändert worden, die die Einhaltung der Mindestanforderungen nicht mehr gewährleisten (vgl. VG Düsseldorf, B.v. 20.8.2015 - 15 L 2556/15.A - juris Rn. 27).
Das Verwaltungsgericht Augsburg (U.v. 18.8.2015 - Au 6 K 15.50155 - bisher unveröffentlicht), dem das erkennende Gericht vollumfänglich folgt, führt hierzu aus:
„Sowohl das Hungarian Helsinki Committee als auch der UNHCR erklären sich nach der Änderung der ungarischen Gesetzeslage zum 1. August 2015 und der tatsächlichen Aufnahmebedingungen zu tiefst besorgt („deeply concerned“) über die Entwicklung und Verschärfung des Asylrechts in Ungarn, und fordern Ungarn auf, ihr Asylrecht unter Beachtung der Flüchtlingsrechte, des EU-Rechts und des internationalen Rechts zu handhaben. Das Hungarian Helsinki Committee führt zu der zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderung des ungarischen Asylrechts in seiner Stellungnahme vom 7. August 2015 (abrufbar unter: HYPERLINK http://he...pdf) aus, dass Ungarn eine Liste von sicheren Drittstaaten beschlossen habe, zu denen unter anderem auch Serbien zähle. Diese Einschätzung stehe in Widerspruch zu der aktuell gültigen Position des UNHCR, des Helsinki Committees selbst und Amnesty International. Kein anderes Land in der EU betrachte Serbien für Asylsuchende als sicheres Drittland. Aufgrund dieser Festlegung sei es der ungarischen Immigrationsbehörde (Office of Immigration and Nationality (OIN) möglich, alle Asylsuchenden, die über Serbien nach Ungarn einreisen, das seien ca. 99% der Asylbewerber, ohne Prüfung und Anhörung ihrer Fluchtsituation abzulehnen. Eine Ausnahme bestehe nur, wenn der Asylbewerber beweisen könne, dass es ihm in Serbien nicht möglich gewesen sei, Asyl zu beantragen. Ein Nachweis sei dem Asylbewerber in der Praxis jedoch aus tatsächlichen Gründen nicht möglich, zudem hätten Asylsuchende regelmäßig keinen Zugang zu professioneller Rechtsberatung, die jedoch für die Nachweisführung notwendig sei. Zudem existiere in Serbien in der Realität kein funktionierendes Asylsystem. Weiterhin werde auch Griechenland als sicheres Drittland angesehen, ein Land, in das die EU-Mitgliedstaaten seit 2011 wegen der dort herrschenden Verhältnisse keine Dublin-Überstellungen mehr durchführen. Mit dieser Haltung verstoße Ungarn in der Praxis gegen das Gebot des „non-refoulement“, das in der Flüchtlingskonvention von 1951, in Art. 3 der EMRK und in Art. 18 und 19 der EU-GRcharta verankert sei (HHC, Stellungnahme vom 7.8.2015, a. a. O. S. 2). Gegen eine ablehnende Entscheidung als unzulässig, die z. B. bereits bei einer Einreise über einen sicheren Drittstaat (wie Serbien) erfolge, könne eine gerichtliche Überprüfung nur innerhalb einer Frist von drei Tagen erfolgen, eine Frist, die sowohl gegen EU-Recht, als auch gegen die gefestigte Rechtsprechung des EGMR verstoße, die beide eine Mindestfrist von einer Woche vorsähen (HHC, Stellungnahme vom 7.8.2015, a. a. O. S. 4 m. w. N.). Auch die Möglichkeiten einer Inhaftierung insbesondere in den sog. Dublin-Fällen sei im Verhältnis zur vorherigen Rechtslage wieder verschärft worden. Zudem sollen Flüchtlinge bis zum Ende ihres Asylverfahrens inhaftiert werden dürfen. Die neue Gesetzeslage entspricht somit in weiten Teilen der Rechtlage, die im Jahr 2012 den UNHCR zu seiner Empfehlung veranlasste, nach den Dublin-II-Bestimmungen keine Asylbewerber nach Ungarn zu überstellen.
Auch das UNHCR, dessen Wertungen im Rahmen der Prüfung des Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin-III-VO maßgebliches Gewicht zukommt (vgl. EuGH, U.v. 30.5.2013 - C-528/11, juris Rn. 44), hatte bereits in seiner Stellungnahme vom 3. Juli 2015 im Vorfeld der zwischenzeitlich beschlossenen Gesetzesänderungen Bedenken angemeldet und sich insoweit als „tief besorgt“ (deeply concerned) bezeichnet (abrufbar unter: http://www.u...org/...html). Das Asylsystem Ungarns sei bereits vor der Novelle immer restriktiver geworden und es werde befürchtet, dass die neuen Vorschläge es Flüchtlingen unmöglich machen wird, in diesem Land Sicherheit zu suchen. Rund 80% der Asylsuchenden kämen aus den Konfliktzonen Syrien, Afghanistan, Irak und bedürften internationalen Schutz. Hier ist anzufügen, dass nach österreichischen Angaben von den im Jahr 2013 in Ungarn gestellten 44.000 Asylanfragen nur 550 positiv verbeschieden worden sind (http://www.s...de/p...).“
Ergänzend hierzu führt das Gericht aus, dass das Hungarian Helsinki Committee in seiner Stellungnahme des Weitern bemängelt, dass in den meisten Fällen ein beschleunigtes Verfahren zulässig werde, in dem innerhalb von 15 Tagen eine Entscheidung erfolgen solle. Es bestehe ein hohes Risiko, dass dieses Verfahren aufgrund der benannten Voraussetzungen zum Regelfall würde. Die 15-Tage-Frist sei ein Verstoß gegen EU-Recht, da sie keinen effektiven Zugang zu Asylverfahren mehr gewähre (HHC, Stellungnahme vom 7.8.2015, .a.aO., S. 3f). Auch der gerichtliche Schutz für diese - bis zu 99% aller Asylverfahren betreffenden - beschleunigten Verfahren sei, insbesondere auch durch die nicht mehr zwingend vorgesehene persönliche Anhörung, unzureichend und Verstoße gegen EU-Recht (HHC, Stellungnahme vom 7.8.2015, a. a. O., S. 4).
Darüber hinaus bestehen in Ungarn massive Kapazitätsprobleme aufgrund der enormen Zunahme von Flüchtlingszahlen. Während in Ungarn im Jahre 2012 lediglich 2.157 Asylanträge gestellt wurden, stieg die Anzahl der Asylbewerber im Jahre 2013 auf 18.900 an und verdoppelte sich im Jahre 2014 auf 42.777. Vom 1. Januar 2015 bis zum 1. März 2015 registrierten die ungarischen Behörden bereits eine Anzahl von 28.535 Personen (Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Bericht vom 4. März 2015, abrufbar unter http://h...hu/wp-c...pdf.). Bis zu 72.000 Flüchtlinge sollen bereits in diesem Jahr nach Angaben der ungarischen Regierung in das Land gelangt sein. Demgegenüber stehen in ganz Ungarn weniger als 2.500 Aufnahmeplätze in staatlichen Unterbringungseinrichtungen zu Verfügung. Hinzu kommt die ablehnende Haltung der ungarischen Regierung gegenüber dem Dublin-System (vgl. hierzu VG Münster, B.v. 7.7.2015 - 2 L 858/15.A - juris), so dass auch mit einer entsprechend zügigen Erweiterung der Aufnahmekapazitäten mit zumutbarer Ausstattung nicht zu rechnen ist. Auch kann das Gericht keine Anhaltspunkte dafür erkennen, dass die ungarische behördliche und gerichtliche Praxis die verschärften gesetzlichen Vorgaben nicht befolgen wird.
Das Gericht macht sich ergänzend die Einschätzungen des Verwaltungsgerichts Düsseldorf (B.v. 20.8.2015 - 15 L 2556/15.A - juris), des Verwaltungsgerichts Saarland (B.v. 12.8.2015 - 3 L 816/15 - juris) sowie des Verwaltungsgerichts Kassel (B.v. 7.8.2015 - 3 L 1303/15.KS.A -juris) zu Eigen. Demnach bestehen (zumindest) bei der Zusammenschau der in jüngerer Zeit entstandenen Kapazitätsprobleme einerseits und der gegenüber der bisherigen Rechtslage zulasten der Asylbewerber im Asylverfahrensablauf sowie bei den Inhaftierungsmöglichkeiten vorgenommenen Verschlechterungen derzeit systemische Schwachstellen des ungarischen Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) bergen.
Angesichts der somit wegen Art. 3 Abs. 2 Satz Unterabsatz 2 Dublin-III-VO anzunehmenden Unzuständigkeit Ungarns sind sowohl die in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids ausgesprochene Ablehnung des Asylantrags als unzulässig als auch die Abschiebungsandrohung nach Ungarn in Nr. 2 des Bescheids rechtswidrig und aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen dieses Urteil können die Beteiligten die Zulassung der Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
schriftlich beantragen. Dem Antrag sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Dem Kläger wird für das Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin ... beigeordnet.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (§ 114 ZPO) und Beiordnung der bevollmächtigten Rechtsanwältin des Klägers (§ 121 Abs. 2 ZPO) hat Erfolg.
Gemäß § 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Diese Voraussetzungen sind im Fall der Kläger erfüllt.
Aus der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und den beigefügten Belegen (§ 166 VwGO i. V. m. § 117 Abs. 2 S. 1 ZPO) ergibt sich, dass der Kläger die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann.
Die beabsichtigte Rechtsverfolgung hatte im maßgeblichen Zeitpunkt auch hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne des § 176 VwGO i. V. m. § 114 ZPO. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Erfolgsaussicht ist der Zeitpunkt der Entscheidungsreife der Prozesskostenhilfe-Sache. Im Zeitpunkt der Stellung des Antrages auf Prozesskostenhilfe am 9. Februar 2015 waren die Erfolgsaussichten des Klageantrags zumindest offen. Insoweit wird auf die Ausführungen im Beschluss vom 3. Februar 2015 im Verfahren M 23 S 15.50047 verwiesen.
Dem Kläger war daher die beantragte Prozesskostenhilfe zu bewilligen und die bevollmächtigte Rechtsanwältin beizuordnen.
Die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag ist gerichtsgebührenfrei. Auslagen werden nicht erstattet.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
(1) Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Kann eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 oder 2 nicht ergehen, droht das Bundesamt die Abschiebung in den jeweiligen Staat an.
(2) Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt nach § 11 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung bleibt hiervon unberührt.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.