Verwaltungsgericht München Urteil, 08. Jan. 2015 - M 11 K 14.50184

published on 08/01/2015 00:00
Verwaltungsgericht München Urteil, 08. Jan. 2015 - M 11 K 14.50184
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Gericht

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Tenor

I.

Der Bescheid der Beklagten vom ... April 2014 wird aufgehoben.

II.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

III.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Mutter des Klägers reiste nach eigenen Angaben im Mai 2013 in das Bundesgebiet ein und stellte am 21. Juni 2013 Asylantrag. Auf ein Übernahmeersuchen teilte Belgien am 20. Dezember 2013 mit, dass es für die Bearbeitung des Asylantrags der Mutter nach Art. 16 Absatz 1 e Dublin-II- Verordnung zuständig sei. Der Kläger ist Staatsangehöriger von Sierra Leone und wurde am ... November 2013 in ... geboren. Der Asylantrag des Klägers wurde am 31. März 2014 gestellt.

Mit Bescheid vom ... April 2014 stellte das Bundesamt ... (Bundesamt) fest, dass der Asylantrag des Klägers unzulässig ist (Ziff. 1), und ordnete die Abschiebung nach Belgien an (Ziff. 2). Der Asylantrag sei gemäß § 27 a AsylVfG unzulässig, da Belgien aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrags nach Art. 16 Absatz 1 e Dublin-II-VO für die Bearbeitung des Asylantrages zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Systemische Mängel des Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen würden in Belgien nicht vorliegen.

Mit Schriftsatz vom 30. April 2014, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München eingegangen am gleichen Tag, ließ der Kläger einen Eilantrag stellen (M 11 S 14. 50185), Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom ... April 2014 erheben und beantragen,

den Bescheid vom ... April 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen und das Asylverfahren in eigener Zuständigkeit zu entscheiden.

Zur Begründung teilte der Bevollmächtigte des Klägers im Wesentlichen mit, wegen der Zustände in Belgien bestehe ein Selbsteintrittsrecht. Das Asylverfahren der Mutter des Klägers sei abgelehnt worden. Sie müsse damit rechnen, in Abschiebehaft genommen zu werden. Der Kläger könnte obdachlos werden und müsste damit rechnen, dass er abgeschoben werde.

Mit Beschluss vom Beschluss vom 12. Mai 2014 ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom ... April 2014 an (M 11 S 14.50185), da nicht feststehe, dass die Abschiebung in einen anderen Staat durchgeführt werden kann, da kein Antrag auf Aufnahme des Klägers gestellt worden sei. Auf die Begründung des Beschlusses wird verwiesen.

Mit Schreiben vom 21. Mai 2014 teilte die Beklagte mit, im Verfahren der Mutter sei Belgien über das Verfahren des Klägers informiert worden. Mit weiterem Schreiben vom 13. November 2014 teilte die Beklagte der Ausländerbehörde mit, dass die Überstellungsfristen der Mutter und des Vaters abgelaufen seien. Da eine gemeinsame Überstellung der Familie nicht mehr möglich sei, werde das Dublin-Verfahren des Klägers abgebrochen.

Die Parteien erklärten sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden.

Mit Beschluss vom 8. Januar 2015 wurde das Verfahren auf den Einzelrichter übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Akten im Verfahren M 11 S 14.50185, die Gerichtsakte im vorliegenden Verfahren sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Mit Einverständnis der Parteien entscheidet das Gericht ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Absatz 2 VwGO).

Die Klage ist auf Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes ... vom ... April 2014 gerichtet (vgl. Klageantrag unter I.); nach dessen Aufhebung hat das Bundesamt ein Asylverfahren durchzuführen und über den Asylantrag des Klägers zu entscheiden, so dass es einer ausdrücklichen Entscheidung über Klageantrag unter II. nicht bedurfte.

Die so ausgelegte Klage ist zulässig und begründet, denn der Bescheid ist im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 HS 2 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die sechsmonatigen Überstellungsfristen der Eltern des Klägers sind unstreitig abgelaufen, ohne dass die Eltern abgeschoben wurden. Damit ist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO die Zuständigkeit für die Verfahren der Eltern auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Ihr Asylantrag ist daher nicht mehr nach § 27a AsylVfG wegen Unzuständigkeit der Beklagten unzulässig und eine Anordnung der Abschiebung in den ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat nach § 34a AsylVfG ist nicht mehr möglich (vgl. VG Regensburg U.v. 21.10.2014 - RO 9 K 14.30217 - juris Rn. 19; VG München U.v. 4.11.2014 - M 10 K 13.30627 -; VG Augsburg U.v. 11.9.2014 - Au 7 K 14.50016 - juris Rn. 31). Dass der Mitgliedstaat ausnahmsweise nach Fristablauf weiterhin zur Übernahme bereit wäre, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Die Beklagte hat selbst mit Schreiben vom 13. November 2014 mitgeteilt, dass eine gemeinsame Überstellung der Familie nicht mehr möglich ist.

Wegen Art. 20 Absatz 3 Satz 2 und Satz 2 Dublin-III-VO ist die Situation des Klägers untrennbar mit der Situation der Familienangehörigen verbunden, d. h. die Beklagte ist auch für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig, selbst wenn für den Kläger die Überstellungfrist nicht abgelaufen sein sollte. Eine alleinige Überstellung eines einjährigen Kindes kommt wegen Art. 20 Absatz 3 Satz 2 und Satz 2 Dublin-III-VO nicht in Betracht.

Der streitgegenständliche Bescheid ist damit im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht objektiv rechtswidrig.

Der Kläger ist durch den streitgegenständlichen Bescheid auch in seinen Rechten verletzt. Zwar handelt es sich bei den Regelungen der Dublin III-VO um objektive Zuständigkeitsvorschriften, die den Asylbewerbern grundsätzlich keine subjektiven Rechte verleihen (vgl. Beck’scher OK AuslR/Günther, Stand 1.9.2014, § 27a Rn. 30).

Wenn allerdings die Überstellungsfrist in den ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat abgelaufen ist und alleine die Zuständigkeit der Beklagten bleibt, kann der Asylbewerber dies als Ausfluss des materiellen Asylanspruchs gegenüber dem nunmehr zuständig gewordenen Staat geltend machen (vgl. VG Regensburg U.v. 21.10.2014 - RO 9 K 14.30217 - juris Rn. 20; VG Regensburg U.v. 23.10.2014 - RN 3 K 14.30180 - juris; VG Augsburg U.v. 11.9.2014 - Au 7 K 14.50016 - juris Rn. 32; VG München U.v. 4.11.2014 - M 10 K 13.30627 -; VG Göttingen B.v. 30.6.2014 - 2 B 86/14 - juris; VG Magdeburg U.v. 28.2.2014 - 1 A 313/13 - juris; Beck’scher OK AuslR/Günther, Stand 1.9.2014, § 27a Rn. 39; a.A.: VG Düsseldorf B.v. 18.9.2014 - 13 L 1785/14.A - juris; einschränkend: VG Würzburg B.v. 30.10.2014 - W 3 E 14.50144 - juris Rn.14: subjektives Recht nur, wenn sich der andere Mitgliedstaat auf den Ablauf der Überstellungsfrist beruft). Der Kläger ist hier wegen Art. 20 Absatz 3 Satz 2 und Satz 2 Dublin-III-VO so zu stellen als wenn seine Überstellungsfrist wie die der Eltern abgelaufen wäre.

Somit war der Bescheid aufzuheben. Es ist nun Sache der Beklagten ein ordnungsgemäßes behördliches Verfahren durchzuführen.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

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(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag au

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs. (2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungskl
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Tenor I. Der Antrag wird abgelehnt. II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe I. Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben äthiopi
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Gründe 1 Die auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) gestützte Beschwerde ist unbegründet.
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Tenor Der Antrag und der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt X.         aus N.      werden abgelehnt. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden. 1Gründ
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Tenor I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 2 des Bescheids der Antragsgegnerin vom ... April 2014 wird angeordnet. II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. G
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Annotations

(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Die mündliche Verhandlung soll so früh wie möglich stattfinden.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.