Verwaltungsgericht München Urteil, 04. Juni 2014 - 23 K 11.30549

bei uns veröffentlicht am04.06.2014

Gericht

Verwaltungsgericht München

Tenor

I.

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ... Mai 2011 wird in den Nrn. 2, 3 und 4 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG zuzuerkennen.

II.

Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die am ... 1991 in ... geborene Klägerin ist afghanische Staatsangehörige tadschikischer Volkszugehörigkeit. Nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet am 1. April 2011 stellte sie am 11. April 2011 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag.

Bei ihrer Anhörung gemäß § 25 AsylVfG am 18. April 2011 trug die Klägerin im Wesentlichen vor, sie habe zuletzt in ... mit ihrer Mutter, ihrer Schwester, zwei Brüdern sowie ihrem Onkel väterlicherseits, der nach dem Tode ihres Vaters ihre Mutter geheiratet habe, gelebt. Zwei weitere Schwestern und ein weiterer Bruder seien verheiratet und lebten nicht mehr bei der Familie. Sie könne nicht lesen oder schreiben und habe keine Schule besucht und keinen Beruf erlernt. Als sie fünf Jahre alt gewesen sei, habe ihr Onkel nach dem Tod ihres Vaters ihre Mutter geheiratet. Ihr Onkel habe sie schlecht behandelt. Er habe ihr nicht erlaubt, zur Schule zu gehen oder das Haus zu verlassen. Wenn er gewollt habe, habe er sie auch geschlagen. Sie hätten nicht mit ihm diskutieren dürfen. Ihr Onkel habe sie mit dem Sohn ihrer Tante väterlicherseits verheiraten wollen. Dieser sei aber genauso gewesen wie ihr Onkel, sie habe gewusst, dass sie mit ihm nicht glücklich würde. Seit zwei Jahren sei sie mit ihrem jetzigen Ehemann, ..., befreundet gewesen. Dieser habe ihre Familie zusammen mit seiner Mutter besucht; bei diesen Besuchen hätten sie sich sehen können. Ihr Bruder sei mit ihm befreundet gewesen und habe ihn auch besucht, sie selbst habe ihn aber nicht besuchen dürfen. Sie hätten sich aber gelegentlich im Garten allein gesehen. Er habe ihr dann ein Handy gekauft und sie hätten auf diese Weise heimlich miteinander sprechen können. Nach etwa einem Jahr habe er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ihre Mutter wäre mit der Heirat einverstanden gewesen, ihr Onkel sei jedoch dagegen gewesen, da ihr jetziger Ehemann arm sei bzw. nicht aus der Familie stamme. Sieben Monate später habe ihr der Sohn ihrer Tante einen Heiratsantrag gemacht und sie sei mit diesem verlobt worden. Die Familie habe dann die Hochzeit für den Monat Asad vorbereitet. Sie habe ihrer Familie gesagt, dass sie ihren jetzigen Ehemann heiraten wolle. Ihr Onkel habe sie geschlagen und gesagt, dass sie seinen Neffen heiraten solle. Sie habe ihren jetzigen Ehemann informiert und dieser habe für ihre gemeinsame Flucht gesorgt. Drei Tage später habe er sie in der Nacht angerufen und gesagt, dass sie für die Flucht vorbereitet sein solle. Morgens um fünf Uhr habe sie dann mit ein paar Kleidern das Haus verlassen, ihr jetziger Ehemann habe in einem Pkw auf sie gewartet. Ihre Flucht aus Afghanistan habe vor ca. acht Monaten, wohl im Monat Asad des Jahres 1389 nach dem Sonnenkalender, stattgefunden. Sie seien von der Provinz ... nach ... in Pakistan gefahren. Vor ca. sieben Monaten hätten sie in Pakistan eine „Nekah“, eine traditionelle Hochzeit vor einem Mullah, gehabt. Sie seien dann in den Iran nach ... gefahren und dort einen Monat geblieben. Dann seien sie über die Türkei nach Griechenland gekommen. Dort seien sie etwa sechs Monate geblieben. Sie hätten dann den Schleuser, dem sie das Geld für die Weiterreise nach Deutschland gegeben hätten, nicht mehr gefunden. Da sie nicht mehr genug Geld gehabt hätten, um gemeinsam nach Deutschland zu reisen, sei sie nach Deutschland gereist und ihr Ehemann zunächst in Griechenland zurückgeblieben. Nach ihrer Flucht habe ihr Ehemann von Afghanistan aus mit seinem Vater telefoniert, um sich nach der Lage zu erkundigen. Sein Vater habe gesagt, der Onkel und ihr Verlobter hätten bei ihnen nachgeschaut und gesagt, dass sie, wenn sie die beiden - die Klägerin und ihren Ehemann - lebend fänden, sie töten würden. Ihr Ehemann und sie hätten sich deswegen entschieden, nach Deutschland zu kommen.

Mit Schreiben vom 26. November 2010 (wohl falsches Datum) bat die Klägerin um Korrekturen zum Protokoll ihrer Anhörung. Unter anderem gab sie an, sie habe nicht gemeint, dass ihr jetziger Ehemann arm im finanziellen Sinn gewesen sei, sondern dass er nicht viele Verbindungen zu ihrer Familie und anderen gehabt habe. Dies sei vom Übersetzer falsch wiedergegeben worden. Ihr Ehemann habe nicht von Afghanistan aus, sondern vom Iran aus mit seinem Vater telefoniert. Der Garten, in dem sie sich mit ihrem jetzigen Ehemann getroffen habe, sei kein privater Garten, sondern so etwas wie ein kleiner Park gewesen, den sich die Nachbarn geteilt hätten.

Mit Bescheid vom ... Mai 2011 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte ab (Nr. 1) und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 2) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG (Nr. 3) nicht vorliegen. Die Klägerin wurde zur Ausreise aufgefordert und die Abschiebung nach Afghanistan für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise angedroht (Nr. 4). Auf den Inhalt des Bescheids wird Bezug genommen.

Mit Schriftsatz vom 8. Juli 2011, bei Gericht eingegangen am 11. Juli 2011, erhob der frühere Bevollmächtigte der Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht München. Die Klägerin beantragt zuletzt sinngemäß:

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ... Mai 2011 wird in Ziff. 2 - 4 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin internationalen Schutz zu gewähren, hilfsweise Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen.

Weiterhin wurde beantragt, der Klägerin unter Beiordnung des Unterfertigten Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

Zur Frage der fristgerechten Klageerhebung wurde eine eidesstattliche Versicherung der Klägerin vorgelegt und ausgeführt, der Bescheid des Bundesamts sei, wie aus den Akten ersichtlich sei, am 25. Mai 2011 in der Aufnahmeeinrichtung in der ... Straße ..., ..., eingegangen. Die Klägerin habe sich zu diesem Zeitpunkt in der Unterkunft ...-straße ..., ..., aufgehalten. Von dort sei sie am 1. Juni 2011 wegen ihrer Schwangerschaft in die Unterkunft ...straße ... - ..., ... verlegt worden. Sie habe sich überwiegend in ihrem Zimmer aufgehalten und auch täglich nach der Postliste geschaut. Auf diese Weise habe sie auch das Interviewprotokoll erhalten; allerdings sei dieses am 21. April 2011 in der ... Straße eingetroffen und erst am 27. April 2011 in die ...-straße gelangt. Der Klägerin sei auch die Zuweisung nach ... vom 27. Mai 2011 ausgehändigt worden. Sie habe die Unterkunft nur für Arztbesuche und Behördengänge verlassen. Bei ihrer Verlegung nach ... habe sie unter anderem den Schlüssel abgegeben, es sei ihr aber keine Post ausgehändigt worden. Eine Mitteilung über den Bescheid habe sie erst durch ein Schreiben von der Regierung von ... am ... Juli 2011 erhalten. Es bestünden daher erhebliche Zweifel an einer wirksamen Zustellung des Bescheids. Jedenfalls habe die Klägerin die Klagefrist nicht schuldhaft versäumt, so dass ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei. Zur Begründung der Klage wurde auf die Anhörung der Klägerin vom 18. April 2011 Bezug genommen und auf die Geburt ihrer Tochter ... am ... ... 2011 hingewiesen. Die Klägerin gehöre in jedem Fall zum besonders geschützten Personenkreis der alleinstehenden Mütter mit Kindern. Im Übrigen sei bei einer Rückkehr ihr Existenzminimum nicht gesichert.

Mit Schreiben vom 10. Oktober 2011 führte das Bundesamt aus, die Adresse ...-straße ... in ... sei eine Zweigstelle der Aufnahmeeinrichtung in der ... Straße .... Es sei sichergestellt, dass Bescheide umgehend in die ...-straße ... weitergeleitet würden, wenn sich ein Empfänger dort aufhalte. Auch in der ...-straße ... gebe es ein „Schwarzes Brett“, an dem bekannt gemacht werde, wenn ein Schriftstück zur Abholung bereit liege. Vom 25. Mai bis 1. Juni 2011 sei bekannt gemacht worden, dass für die Klägerin ein Schriftstück zur Abholung bereit liege. Die Klage sei daher verfristet. Im Übrigen könne die Klägerin durch einen Wohnsitzwechsel der vermeintlichen Bedrohung durch ihren Onkel entgehen.

Mit Schreiben vom 14. April 2014 legte der jetzige Bevollmächtigte der Klägerin ein Gutachten von ... vom ... April 2014 zum Gesundheitszustand der Klägerin vor.

Durch Beschluss der Kammer vom 3. April 2014 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.

Den Beteiligten ist mit Schreiben vom 9. April 2014 mitgeteilt worden, welche Unterlagen zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden (Erkenntnismittelliste Nr. 423b, Stand: 7. April 2014).

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung am 4. Juni 2014, auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte sowie auf die beigezogene Behördenakte (Az.: ...) des Ehemanns der Klägerin Bezug genommen.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache

verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die Klage ist zulässig, insbesondere ist sie nicht verfristet. Nach § 74 Abs. 1 Halbsatz 1 AsylVfG muss die Klage innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung erhoben werden. Vorliegend lässt sich eine Zustellung des Bescheides in der Aufnahmeeinrichtung nach Maßgabe der § 10 Abs. 4 Satz 1, Satz 4 Halbsatz 2 i. V. m. § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG nach den Behördenakten nicht feststellen. Eine Zustellung nach diesen Vorschriften setzt einen Zustellungsversuch durch Auslieferung oder durch Bereithalten in der Ausgabestelle während der Postausgabezeiten voraus. Ein „Schwarzes Brett“ ist als zusätzliche, aber nicht zwingende Vorkehrung möglich, ersetzt aber nicht die Ausgabe an jedem Werktag (vgl. Funke-Kaiser, GK-AsylVfG Stand Februar 2013, § 10 Rn. 293, 297). Auf dem Anschreiben des Bundesamts an die Aufnahmeeinrichtung ...-straße ... ..., vom 17. Mai 2011 ist in der Spalte „Eingangsdatum AE“ als Datum „25.05.2011“ vermerkt. Diese Eingangsdatum lässt sich nicht mit dem weiteren Vermerk in Einklang bringen, wonach in der Zeit vom „24.05.11 bis 01.06.11“ bekannt gemacht gewesen sei, dass ein Schriftstück für die Empfängerin während der Postausgabezeiten zur Abholung bereit liege. Den Vermerken lässt sich darüber hinaus nicht eindeutig entnehmen, wann das Anschreiben mit Bescheid tatsächlich in der Zweigstelle ...-straße ... eingetroffen und dort verfügbar war. Nach dem Vortrag der Klägerin hat diese täglich die „Postliste“ angesehen und auf diese Weise unter anderem auch den Bescheid der Regierung von ... vom ... Mai 2011 zu ihrer Zuweisung zum 1. Juni 2011 so rechtzeitig bekommen, dass sie zum 1. Juni 2011 umzog. Die Klägerin hat nicht nur bei der Rückgabe der Schlüssel am 1. Juni 2011 in der Aufnahmeeinrichtung vorgesprochen, ohne den Bescheid zu erhalten. Vielmehr war sie offensichtlich in der Zeit bis zum 1. Juni 2011 auch bei der Postausgabestelle und hat dort den Zuweisungsbescheid, nicht aber den Bescheid des Bundesamts ausgehändigt bekommen. Eine formgerechte Zustellung nach § 10 Abs. 4 Satz 1, Satz 4 Halbsatz 2 i. V. m. § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG ist daher nicht nachgewiesen. Der Bescheid gilt nach § 8 VwZG als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem er der Klägerin tatsächlich zugegangen ist. Da die Klägerin erst am 5. Juli 2011 überhaupt Kenntnis von der Existenz des Bescheids erhielt, ist die Klage vom 8. Juli 2011 jedenfalls fristgerecht.

Die Klage ist begründet.

Die Klägerin hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG in der ab 1. Dezember 2013 geltenden Fassung nach dem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl I S. 3474). Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom ... Mai 2011 erweist sich daher insoweit als rechtswidrig und war in dem ausgesprochenen Umfang aufzuheben (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl S. 3474) hat die Bundesrepublik Deutschland die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 337, S. 9; sog. (neuere) Qualifikationsrichtlinie), umgesetzt, die die vorausgehende Qualifikationsrichtlinie RL 2004/83/EG (ABl EU Nr. L 304, S. 12) in einer überarbeiteten Fassung ablöste. In diesem Zuge wurde die bisherige Normierung in § 60 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, Abs. 7 Satz 2 AufenthG a. F., die die Flüchtlingsanerkennung auf der Grundlage des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK) und den europarechtlichen Abschiebeschutz (nunmehr insgesamt als internationaler Schutz bezeichnet) betraf, zugleich in das Asylverfahrensgesetz transferiert.

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG ist die Klägerin Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, da sie sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG außerhalb ihres Herkunftslands befindet, dessen Schutz sie nicht in Anspruch nehmen kann, § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AsylVfG.

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG voraus, dass der Ausländer sein Herkunftsland aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verlassen hat.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) - EMRK - keine Abweichung zulässig ist, oder Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist, vgl. § 3a Abs. 1 AsylVfG. Als Verfolgung in diesem Sinne können unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt gelten (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG), gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (§ 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG), oder unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylVfG). Die Prüfung der Verfolgungsgründe ist in § 3b AsylVfG näher geregelt. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es danach unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden, § 3b Abs. 2 AsylVfG. In § 3a Abs. 3 AsylVfG ist nunmehr auch gesetzlich geregelt, dass eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG i. V. m. § 3b AsylVfG und den Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG i. V. m. § 3a Abs. 1 und 2 AsylVfG bestehen muss.

Die Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG kann gemäß § 3c AsylVfG ausgehen von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Schutz vor Verfolgung kann gemäß § 3d Abs. 1 AsylVfG nur geboten werden vom Staat oder von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sofern sie willens und in der Lage sind, wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz zu gewähren, vgl. § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylVfG. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat, § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylVfG. Gemäß § 3e Abs. 1 AsylVfG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn eine sogenannte interne Schutzalternative besteht, weil er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylVfG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

Nach Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung bedroht sind. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür dazulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Ob die Vermutung durch „stichhaltige Gründe“ widerlegt ist, obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, U. v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 - BVerwGE 136, 377 - in Bezug auf den wortgleichen Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83 EG). Die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kommt dem vorverfolgten Antragsteller auch bei der Prüfung zugute, ob für ihn im Gebiet einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylVfG (vgl. vormals Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG) keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht (vgl. BVerwG, U. v. 5.5.2009 - 10 C 21/08 - NVwZ 2009, 1308 in Bezug auf Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG). Mit Blick auf den Normzweck der Beweiserleichterung erscheint es nicht nachvollziehbar, der Prüfung internen Schutzes als Ausdruck der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes einen strengeren Maßstab zugrunde zu legen als der systematisch vorgelagerten Stellung der Verfolgungsprognose. Die hinter der Beweiserleichterung stehende Teleologie - der humanitäre Charakter des Asyls - verbietet es, einem Schutzsuchenden, der das Schicksal der Verfolgung bereits einmal erlitten hat, das Risiko einer Wiederholung solcher Verfolgung aufzubürden (BVerwG, U. v. 5.5.2009 - 10 C 21/08 - NVwZ 2009, 1308).

Bei der individuellen Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz sind alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen zu berücksichtigen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslands und der Weise, in der sie angewandt werden, sowie die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. a und b Richtlinie 2 Richtlinie 2011/95/EU). Weiterhin sind zu berücksichtigen die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung gleichzusetzen sind (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. c Richtlinie 2011/95/EU).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss auch in Asylstreitigkeiten das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit - und nicht etwa nur der Wahrscheinlichkeit - des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Sachvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann (BVerwG, B. v. 21.7.1989 - 9 B 239/89 - InfAuslR 1989, 349). Das Tatsachengericht darf dabei berücksichtigen, dass die Befragung von Asylbewerbern aus anderen Kulturkreisen mit erheblichen Problemen verbunden ist (vgl. BVerwG, B. v. 21.7.1989, a. a. O.). Der Asylbewerber befindet sich typischerweise in Beweisnot. Er ist als „Zeuge in eigener Sache“ zumeist das einzige Beweismittel. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Wer durch Vortrag eines Verfolgungsschicksals um Asyl nachsucht, ist in der Regel der deutschen Sprache nicht mächtig und deshalb auf die Hilfe eines Sprachmittlers angewiesen, um sich mit seinem Begehren verständlich zu machen. Zudem ist er in aller Regel mit den kulturellen und sozialen Gegebenheiten des Aufnahmelands, mit Behördenzuständigkeiten und Verfahrensabläufen sowie mit den sonstigen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, auf die er nunmehr achten soll, nicht vertraut. Es kommt hinzu, dass Asylbewerber, die alsbald nach ihrer Ankunft angehört werden, etwaige physische und psychische Auswirkungen einer Verfolgung und Flucht möglicherweise noch nicht überwunden haben, und dies ihre Fähigkeit zu einer überzeugenden Schilderung ihres Fluchtgrunds beeinträchtigen kann (BVerfG, U. v. 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 - NVwZ 1996, 678).

Diesen Grundsätzen folgend hat die Klägerin Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund einer Verfolgung wegen ihres Geschlechts. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin ihr Herkunftsland aus begründeter Furcht vor einer Zwangsheirat verlassen hat und sie im Falle einer Rückkehr hiervon weiterhin bedroht ist bzw. Repressionen seitens ihrer Familie ausgesetzt ist, weil sie sich ihrer Zwangsverheiratung entzogen hat.

Eine Zwangsheirat stellt eine an das unverfügbare Merkmal des Geschlechts anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a) dar (vgl. u. a. OVG Lüneburg, B. v. 21.1.2014 - 9 LA 60/13; VG Gelsenkirchen, U. v. 7.8.2014 - 5a K 2573/13.A; VG Stuttgart, U. v. 25.6.2013 - A 6 K 2412/12; VG München, U.V: 7.11.2011 - M 23 K 11.30139 - jeweils juris).

Die Klägerin hat in überzeugender Weise und ohne Widersprüche das Verfolgungsgeschehen und die Vorkommnisse auf ihrer Flucht geschildert. Sie hat in allen Verfahrensstadien zu ihrem Verfolgungsschicksal und der Flucht im Wesentlichen übereinstimmende Angaben gemacht und verbliebene Unklarheiten im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar erläutert. Das Gericht hat keine Zweifel daran, dass die Klägerin das von ihr geschilderte Geschehen tatsächlich erlebt hat. Danach ist davon auszugehen, dass der Stiefvater der Klägerin diese entgegen ihrem Willen mit einem Cousin verheiraten wollte, die Verlobung bereits erfolgt war und der Heiratstermin unmittelbar bevorstand. Weiterhin ist das Gericht davon überzeugt, dass der Stiefvater weiterhin damit droht, die Klägerin und ihren Ehemann zu töten, falls er sie erwischen würde.

Die in dem angefochtenen Bescheid des Bundesamts vom ... Mai 2011 dargestellten Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Vortrags der Klägerin überzeugen nicht. Soweit die Klägerin bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt und ihrer informatorischen Anhörung durch das Gericht variierende Angaben zur Frage machte, wie lange sie ihren jetzigen Ehemann kannte, bevor dieser ihr einen Heiratsantrag machte, ergeben sich hieraus für das Gericht keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Klägerin. Die Klägerin ist Analphabetin. Sie wurde durch ihren Onkel und Stiefvater nicht nur am Schulbesuch gehindert, sondern auch sozial isoliert; ihr war verboten, das Haus zu verlassen und soziale Kontakte zu unterhalten. Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt war die Klägerin ausweislich der Vermerke während wesentlicher Teile der Anhörung in Tränen und offenbar aufgewühlt. Angesichts dessen und ihres Bildungsstands erscheint es nachvollziehbar, dass die genaue zeitliche Einordnung von Vorkommnissen für sie weniger selbstverständlich ist. Hinzu kommt, dass das nähere Kennenlernen ihres späteren Ehemanns, der zugleich ihr Nachbar war, und der Übergang ihrer Bekanntschaft zu einer engeren Beziehung nach ihrer Schilderung fließend und - anders als ihre Verlobung mit dem Cousin und ihre Flucht - nicht durch ein einschneidendes, sich einprägendes Ereignis gekennzeichnet war. Soweit der Klägerin im Bescheid widersprüchliche Angaben zum Verhältnis zu ihrem Cousin, den sie hätte heiraten sollen, vorgehalten werden, hat die Klägerin diese Widersprüche bereits während der Anhörung vor dem Bundesamt korrigiert. In ihrer informatorischen Anhörung vor Gericht hat sie hierzu mit den korrigierten Angaben übereinstimmende Aussagen gemacht. Im Übrigen hat die Klägerin in ihrer informatorischen Anhörung vor Gericht die Geschehnisse vor und nach ihrer Flucht aus ... detailreich und ohne Steigerung gegenüber ihrem Vortrag vor dem Bundesamt geschildert. So hat die Klägerin die Vorkommnisse um den Heiratsantrag durch die Eltern ihres späteren Ehemanns geschildert. Vor dem Hintergrund, dass nach ihrer Schilderung ihre Verlobung mit dem Cousin bereits seit ihrer Kindheit geplant gewesen war, erscheint auch die von der Klägerin geschilderte Reaktion ihres Stiefvaters plausibel, der die Heirat mit Verweis darauf ablehnte, dass der jetzige Ehemann nicht aus der Familie der Klägerin stamme. Weiterhin hat die Klägerin erläutert, dass sie mit ihrem Cousin nicht lediglich verlobt worden sei, sondern bereits der religiöse Teil der Eheschließung bereits vollzogen worden sei, warum sie zunächst weiterhin bei ihrer Familie lebte und wie sie von dem geplanten Hochzeitstermin erfahren habe. Dies wie auch ihre Schilderung um die Reaktionen der Familien und der Streit zwischen den Familien der Klägerin und ihres Ehemanns nach der Flucht der Eheleute war reich an Einzelheiten und lebensnah. Dass die Klägerin Einzelheiten teilweise erstmals erwähnte, kann ihr nicht vorgehalten werden, da ihr seitens des Bundesamts hierzu keine Fragen gestellt worden waren. Der Vortrag der Klägerin stimmt auch mit den Angaben ihres Ehemanns in dessen Asylverfahren überein, wobei dessen Schilderungen von seinem Blickwinkel aus vorgebracht wurden und ersichtlich nicht mit den Angaben der Klägerin „abgesprochen“ wirken.

Die Schilderungen der Klägerin stehen auch mit der Auskunftslage in Einklang. Nach den Ausführungen des Lageberichts kennzeichnen Zwangsheirat, Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren, der „Austausch“ weiblicher Familienangehöriger zur Beilegung von Stammesfehden sowie weit verbreitete häusliche Gewalt die Situation der Frauen (vgl. Lagebericht vom 31.3.2014, S. 14; vgl. auch UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 60 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage - Stand: 30. September 2013, S. 15). Die afghanische Unabhängige Menschenrechtskommission (AIHRC) geht davon aus, dass 60 - 80% aller Ehen in Afghanistan Zwangsehen sind (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 60 Rn. 331). Berichten zufolge steige die Zahl der Ehrenmord-Fälle an (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 60 Rn. 332; geschildert werden dabei auch Fälle im Zusammenhang mit Widerstand gegen eine Zwangsheirat, „Weglaufen von Zuhause“ sowie Ehebruch).

Die erforderliche Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und dem Verfolgungsgrund liegt im Fall einer drohenden Zwangsheirat unzweifelhaft vor. Die der Klägerin in Afghanistan drohende geschlechtsspezifische Verfolgung ging von ihrem Stiefvater und ihrem Cousin und damit von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylVfG aus. Zu diesen nichtstaatlichen Akteuren zählen auch Einzelpersonen (vgl. BVerwG, U. v.18.7.2006 - 1 C 15/05 - juris Rn. 23).

Die Islamische Republik Afghanistan ist erwiesenermaßen jedenfalls nicht in der Lage, Schutz vor der Verfolgung der nichtstaatlichen Akteure zu bieten. Dies wäre dann der Fall, wenn der Staat geeignete Schritte eingeleitet hätte, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung der Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn die Klägerin Zugang zu diesem Schutz hätte (vgl. § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylVfG). Nach der Auskunftslage sind diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 31.3.2014 (S. 13) stärken Verfassung und Gesetzgebung Afghanistans zwar die Rechte der Frau. In der Praxis mangele es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte. Eine Verteidigung der Rechte der Frauen sei in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in wenigen Fällen möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten seien häufig nicht in der Lage oder aufgrund traditioneller Wertvorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Viele Gewaltfälle gelangten nicht vor Geicht, sondern würden vor traditionellen Institutionen zur Streitbeilegung verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führe oft zu Verletzungen von Rechten der Frauen (Auswärtiges Amt, a. a. O. S. 14). Das Auswärtige Amt (a. a. O. S. 14) und UNHCR (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 59) berichten darüber hinaus, dass Frauen und Mädchen, die vor Misshandlung oder drohender Zwangsheirat von Zuhause wegliefen, oftmals vager oder gar nicht definierter „moralischer Straftaten“ bezichtigt und inhaftiert würden, einschließlich des Ehebruchs („zina“) oder des „von Zuhause Weglaufens“ (obwohl keine Straftat in Afghanistan). Während Frauen in dieser Situation oftmals verurteilt und inhaftiert würden, blieben die für die häusliche Gewalt oder Zwangsheirat verantwortlichen Männer fast immer straflos (UNHCR, a. a. O. S. 59). Die Zahl der aufgrund von „moralischen Straftaten“ inhaftierten Mädchen und Frauen sei Berichten zufolge zwischen Oktober 2011 und Mai 2013 um 50% gestiegen (UNHCR a. a. O. S. 63). Nach alledem ist davon auszugehen, dass in Afghanistan kein wirksamer staatlicher Schutz vor einer drohenden Zwangsheirat existiert, zu dem die Klägerin Zugang (gehabt) hätte. Sonstige schutzbereite Akteure sind nicht ersichtlich.

Das Gericht geht auch davon aus, dass der Klägerin im Falle einer Rückkehr erneut die Gefahr einer Verfolgung aufgrund ihres Geschlechts droht. Der Klägerin kommt in Bezug auf die anzustellende Verfolgungsprognose die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU zugute, da sie vor ihrer Ausreise von Verfolgung bereits unmittelbar bedroht war. Die demnach bestehende Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung bedroht ist, ist im Fall der Klägerin auch nicht widerlegt. Stichhaltige Gründe, die objektiv gegen die Vermutung der fortwirkenden Verfolgungsfurcht sprechen würden, sind nicht erkennbar. Letztlich hat sich die Verfolgungsfurcht der Klägerin im Hinblick auf ihre Flucht in nachvollziehbarer Weise noch gesteigert, da sie nun - wie sie vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat - befürchtet, dass ihr Stiefvater sie und ihren Ehemann im Falle einer Rückkehr töten würde. Das Gericht hält die Angaben der Klägerin zur Drohung ihres Stiefvaters für glaubhaft. Hierfür sprechen auch die von der Klägerin geschilderten Vorsichtsmaßnahmen bei ihren Kontakten zur Familie ihres Ehemanns. Auch im Hinblick auf das geschilderte Wesen ihres Stiefvaters und das Verhältnis der Klägerin zu ihm erscheint es plausibel, dass dieser die Flucht der Klägerin und ihr Aufbegehren gegen ihre Zwangsverheiratung nicht auf sich beruhen lassen würde. Das „Weglaufen“ der (Stief-)Tochter und ihre „Entführung“ durch den mit ihr fliehenden Mann wird als Ehrverletzung angesehen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Informationszentrum Asyl und Migration, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 30 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr, 2.10.2012; Bundesasylamt Republik Österreich, Ehrenmorde in Afghanistan, 27.11.2009, S. 6). Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass die Klägerin mit ihrem Cousin nicht nur verlobt, sondern im religiösen Sinne bereits verheiratet war, so dass die Flucht der jetzigen Eheleute als Ehebruch eingeschätzt wird. Die von dem Stiefvater gegenüber der Klägerin bereits verübte Gewalt spricht ebenfalls dafür, dass die Drohung ernst zu nehmen ist.

Für die Klägerin besteht auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylVfG. Auch insoweit kommt ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU zugute. Die Auskunftslage lässt nicht den Schluss zu, dass die Klägerin in anderen Landesteilen vor Nachstellungen ihres Schwiegervaters sicher wäre. Der UNHCR berichtet, dass sogar in einer großen Stadt wie Kabul, die in Viertel eingeteilt ist, wo sich die Menschen zumeist untereinander kennen, eine Verfolgungsgefahr bestehen bleibe, da Neuigkeiten über eine Person, die aus einem anderen Landesteil oder dem Ausland zuzieht, potentielle Akteure einer Verfolgung erreichen können (UNHCR, Auskunft an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 30.11.2009, S. 4). Gleiches dürfte für andere größere Städte gelten. UNHCR weist im Übrigen darauf hin, dass bei Personen wie Frauen, die aufgrund schädlicher traditioneller Bräuche (wie Zwangsheirat) mit Verfolgungscharakter Schaden befürchteten, die Unterstützung derartiger Bräuche und Normen durch große Teile der Gesellschaft und durch mächtige konservative Elemente auf allen Ebenen des Staates als Faktor berücksichtigt werden müsse, der der Relevanz einer internen Schutzalternative entgegen stehe (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 83). Diese Erkenntnismittel erlauben nicht die Annahme, dass die Klägerin in anderen Landesteilen nicht von ihrem Stiefvater aufgespürt werden kann. Im Hinblick auf die Frage, ob für die Klägerin eine begründete Furcht vor Verfolgung auch außerhalb von Kabul bestünde, kann es auch nicht darauf ankommen, wie hoch möglicherweise eine statistische Wahrscheinlichkeit für eine erneute Verfolgung wäre, sofern sich eine solche überhaupt berechnen ließe. Wie bereits ausgeführt, verbietet es der humanitäre Charakter des Asyls, einem Schutzsuchenden, der das Schicksal der Verfolgung bereits einmal erlitten hat, das Risiko einer Wiederholung solcher Verfolgung aufzubürden (vgl. BVerwG, U. v. 5.5.2009 - 10 C 21/08 - NVwZ 2009, 1308). Im Hinblick darauf kann nicht davon ausgegangen werden, und dass die Furcht der Klägerin vor Übergriffen in anderen Landesteilen unbegründet wäre.

Nach alledem war der Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Aufhebung der entgegenstehenden Nummer 2 des Bescheids des Bundesamts vom ... Mai 2011 stattzugeben, so dass über den hilfsweise gestellten Antrag auf Zuerkennung subsidiären Schutzes und Feststellung von Abschiebungshindernissen nicht mehr zu entscheiden war.

Die Klage ist auch begründet, soweit die Aufhebung der Nummern 3 und 4 des angefochtenen Bescheids begehrt wird. Denn die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, lässt die negative Feststellung des Bundesamts zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG a. F. angesichts des Eventualverhältnisses (vgl. BVerwG, U. v. 15.4.1997 - 9 C 19/96 - BVerwGE 104, 260) gegenstandslos werden, so dass der ablehnende Bescheid auch insoweit aufzuheben ist. Entsprechendes gilt im Hinblick auf die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83 b AsylVfG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

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Verwaltungsgericht München Urteil, 04. Juni 2014 - 23 K 11.30549 zitiert 7 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 113


(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag au

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 167


(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs. (2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungskl

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60 Verbot der Abschiebung


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 102


(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende di

Verwaltungszustellungsgesetz - VwZG 2005 | § 8 Heilung von Zustellungsmängeln


Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist es unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, gilt es als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist

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Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Urteil, 07. Aug. 2014 - 5a K 2573/13.A

bei uns veröffentlicht am 07.08.2014

Tenor Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. Mai 2013 und 16. August 2013 zu Nrn. 2. – 4. verpflichtet, den Klägerinnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.Die Beklagte trägt die Kos

Bundesverwaltungsgericht Urteil, 27. Apr. 2010 - 10 C 5/09

bei uns veröffentlicht am 27.04.2010

Tatbestand 1 Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

Referenzen

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.

(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist es unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, gilt es als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist, im Fall des § 5 Abs. 5 in dem Zeitpunkt, in dem der Empfänger das Empfangsbekenntnis zurückgesendet hat.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tatbestand

1

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

2

Der 1972 geborene Kläger wurde im November 2004 in M. aufgegriffen und beantragte daraufhin Asyl. Zur Begründung gab der Kläger an, er habe sich am bewaffneten Kampf der PKK beteiligt. Im Juni 1991 sei er festgenommen und einen Monat lang von türkischen Sicherheitskräften unter Folter verhört worden. Nach seiner Verurteilung zu zwölfeinhalb Jahren Haft sei er bis Dezember 2000 weiter im Gefängnis gewesen und dann vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Anschließend habe er sich erneut der PKK angeschlossen. Später habe er an deren politischer Linie gezweifelt und sich im Juli 2004 von der PKK getrennt. In der Türkei sei sein Leben trotz des Reuegesetzes gefährdet gewesen, da er keinen Wehrdienst abgeleistet und deswegen gesucht worden sei. Zudem hätten die Sicherheitskräfte erfahren, dass er sich nach seiner Entlassung aus der Haft wieder der PKK angeschlossen habe.

3

Der Kläger hat dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) unter anderem die Kopie eines Urteils des Staatssicherheitsgerichts D. vom 24. Januar 1992 übergeben, wonach er u.a. wegen "Mitgliedschaft in der illegalen Organisation PKK" gemäß § 168/2 tStGB zu einer Haftstrafe von 12 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden ist. Das Auswärtige Amt bestätigte die Echtheit der Urkunden und teilte mit, dass nach dem Kläger in der Türkei wegen Mitgliedschaft in der PKK gefahndet werde. Sein Bruder habe ausgesagt, dass der Kläger sich nach der Entlassung aus der Strafhaft wieder der PKK angeschlossen habe. Außerdem sei bekannt, dass er sich in einem Ausbildungscamp im Iran aufgehalten habe. Würde er wegen Mitgliedschaft in der PKK zu einer Haftstrafe verurteilt, würde zusätzlich die auf Bewährung ausgesetzte Reststrafe vollstreckt werden.

4

Mit Bescheid vom 28. Juli 2005 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Der Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 4 AsylVfG offensichtlich unbegründet, da der Kläger eine schwere nichtpolitische Straftat begangen und den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider gehandelt habe. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

5

Im Klageverfahren hat der Kläger seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter nicht weiter verfolgt. Mit Urteil vom 22. November 2005 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtet. Im Berufungsverfahren hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz mitgeteilt, der Kläger sei im Bundesgebiet für die Nachfolgeorganisation der PKK, den KONGRA-GEL aktiv und habe im Januar 2005 an einer Aktivistenversammlung in N. teilgenommen. Er habe im Jahr 2006 als Leiter des KONGRA-GEL in Offenbach fungiert und ab diesem Zeitpunkt eine Kontrollfunktion innerhalb des KONGRA-GEL in A. ausgeübt. Der Kläger hat das bestritten.

6

Mit Urteil vom 21. Oktober 2008 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger nach Rückkehr in die Türkei gemäß § 314 Abs. 2 tStGB 2005 zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests widerrufen würde. Auch wenn dies politische Verfolgung darstellen sollte, stünde § 3 Abs. 2 AsylVfG der Flüchtlingsanerkennung entgegen. Die terroristischen Taten der PKK seien als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen, stellten schwere nichtpolitische Straftaten dar und stünden in Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. Der Kläger habe sich daran zumindest "in sonstiger Weise" beteiligt. Selbst wenn für das Vorliegen von Ausschlussgründen gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG von dem Ausländer weiterhin eine Gefahr ausgehen müsse, sei das beim Kläger der Fall. Denn er habe sich weder äußerlich von der PKK abgewandt noch innerlich von seiner früheren Verstrickung in den Terror gelöst. Dahinstehen könne, ob § 3 Abs. 2 AsylVfG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetze, denn der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung bedeute keine unbillige Härte für den Kläger.

7

Abschiebungshindernisse lägen nicht vor. Die Todesstrafe sei in der Türkei vollständig abgeschafft. Wegen der dem Kläger in der Türkei drohenden langjährigen Haftstrafe sei ausgeschlossen, dass er im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG einer erheblichen individuellen Gefahr ausgesetzt sei. Ein Abschiebungsverbot ergebe sich auch nicht aus § 60 Abs. 2 AufenthG und § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Zwar greife zugunsten des Klägers, der im Anschluss an seine Festnahme im Juni 1991 Folter erlitten habe, die Beweiserleichterung des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Dennoch sprächen aufgrund der Angaben des Auswärtigen Amtes sowie türkischer Menschenrechtsorganisationen stichhaltige Gründe dagegen, dass er bis zum Abschluss des Strafverfahrens Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu befürchten habe. Misshandlungen durch türkische Sicherheitskräfte lägen ganz überwiegend Fälle zugrunde, in denen sich der Betroffene nicht offiziell in Gewahrsam befunden habe; das wäre beim Kläger jedoch der Fall. Angesichts bereits vorhandener Beweise bestünde auch keine Notwendigkeit, durch Folter ein Geständnis zu erzwingen. Schließlich lebten in seiner Heimat zahlreiche Personen, die sich seiner annehmen und ihm bereits bei seiner Ankunft anwaltlichen Beistand verschaffen könnten. Zudem würden die PKK oder andere prokurdische Organisationen das Schicksal des Klägers verfolgen und etwaige Übergriffe auf seine Person publik machen. Ein Schutz durch "Herstellen von Öffentlichkeit" lasse sich zwar nicht während der gesamten Dauer der Strafhaft gewährleisten. Aber auch für diese Zeitspanne sprächen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger, der in einem Gefängnis des Typs F untergebracht würde, Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein würde, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen könnten. Dahinstehen könne, ob das auch für unter dieser Schwelle liegende Maßnahmen gelte, denn derartige Umstände stünden einer Abschiebung des Klägers in die Türkei als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 3 EMRK stehe bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat dessen eigene Verantwortung für die Einhaltung der Konventionsrechte im Vordergrund. Eine Mitverantwortung des abschiebenden Landes bestehe nur, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohten und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht rechtzeitig zu erreichen sei. Diese Voraussetzungen lägen angesichts der Verhältnisse in der Türkei nicht vor. Da sich Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG an Art. 3 EMRK orientiere, beanspruchten diese Grundsätze auch im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG Geltung. Stünden im Herkunftsland ausreichende und effektive Möglichkeiten zur Abwehr drohender Gefahren zur Verfügung, benötige der Betreffende keinen internationalen Schutz. Auch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG greife nicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision - beschränkt auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2 AufenthG - zugelassen.

8

Mit der Revision rügt der Kläger vor allem eine Verletzung des § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Berufungsgericht habe im Rahmen seiner Beweiswürdigung die Quellen selektiv ausgewertet und zu Lasten des Klägers ohne Aufklärung unterstellt, dass seine Familie einen Rechtsanwalt besorgen könne und die Nachfolgeorganisationen der PKK für ihn Öffentlichkeitsarbeit machen würden. Angesichts der umfassenden Geltung des Art. 3 EMRK reiche die Erkenntnislage nicht aus, um ein Abschiebungshindernis auszuschließen. Insofern werde auch eine Gehörsverletzung gerügt, denn wenn das Gericht zu erkennen gegeben hätte, dass es aus tatsächlichen Gründen für den Kläger keine Gefahr einer Misshandlung sehe, hätte der Kläger dazu weiter vorgetragen und Beweisanträge gestellt. Schließlich sei die Auslegung der in Art. 17 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Ausschlussgründe ungeklärt.

9

Innerhalb der bis einschließlich 4. Juni 2009 verlängerten Revisionsbegründungsfrist ist der Begründungsschriftsatz nicht vollständig per Fax eingegangen. Die Bevollmächtigte des Klägers hat Wiedereinsetzung beantragt und zur Begründung Probleme bei der Faxübertragung geltend gemacht.

10

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen des Berufungsgerichts seien einer Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. Nicht ersichtlich sei, warum der Kläger angesichts der tatsächlichen Würdigung des Berufungsgerichts nicht den Schutz seines Heimatlandes durch Anrufung türkischer Gerichte bzw. eine Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Anspruch nehmen könne.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision hat Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), da er bei der Prüfung des in § 60 Abs. 2 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots diejenigen erniedrigenden Behandlungsmaßnahmen übergangen hat, die keine irreparablen oder sonst schweren körperlichen und seelischen Folgen hinterlassen. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder in positiver noch in negativer Hinsicht abschließend selbst entscheiden. Daher ist die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

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1. Die Revision ist zulässig. Wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren, da seine Prozessbevollmächtigte ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten. Diese durfte nach mehreren nur teilweise erfolgreichen Versuchen einer Faxübertragung infolge der fernmündlich erteilten unrichtigen Auskunft des Gerichtspförtners, es seien alle Seiten angekommen, davon ausgehen, dass der Revisionsbegründungsschriftsatz innerhalb der Frist vollständig eingegangen sei.

13

2. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die unionsrechtlich vorgezeichneten Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG. Die vom Berufungsgericht ausgesprochene Beschränkung der Revisionszulassung auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG erweist sich als unwirksam. Denn der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) bildet nach dem dafür maßgeblichen materiellen Recht einen einheitlichen Streitgegenstand bzw. selbständigen Streitgegenstandsteil (Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 ). Die Revisionszulassung kann daher nicht wirksam auf einzelne materielle Anspruchsgrundlagen dieses einheitlichen prozessualen Anspruchs beschränkt werden (vgl. Urteil vom 1. April 1976 - BVerwG 2 C 39.73 - BVerwGE 50, 292 <295>; BGH, Urteil vom 21. September 2006 - I ZR 2/04 - NJW-RR 2007, 182 <183>).

14

Für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens, das auf Feststellung der Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG zielt, ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz am 15. Oktober 2008 abzustellen. Deshalb sind die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162) von Bedeutung, die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten und die Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - berücksichtigen.

15

3. Gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Mit diesem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz ergänzten Abschiebungsverbot, das bereits in § 53 Abs. 1 AuslG 1990 und § 53 Abs. 4 AuslG 1990 i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 685 - EMRK) enthalten war, wird Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG umgesetzt. Die Europäische Kommission hat sich bei der Formulierung dieser Richtlinienbestimmung an Art. 3 EMRK orientiert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bezug genommen (Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen vom 12. September 2001 KOM(2001) 510 endgültig S. 6, 30).

16

Die Vorschriften zum subsidiären Schutz sind im Aufenthaltsgesetz insoweit "überschießend" umgesetzt worden, als die in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Varianten des ernsthaften Schadens in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG als absolute Abschiebungsverbote ausgestaltet worden sind. Denn die in Art. 17 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe greifen nach nationalem Recht gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erst auf einer nachgelagerten Ebene als Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Daher kommt es entgegen der Annahme der Revision auf die Interpretation der Ausschlussgründe gemäß Art. 17 der Richtlinie im vorliegenden Fall nicht an.

17

Bei der Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG ist der während des Revisionsverfahrens in Kraft getretene Art. 19 Abs. 2 der Grundrechte-Charta (ABl EU 2010 Nr. C 83 S. 389 - GR-Charta) als verbindlicher Teil des primären Unionsrechts (Art. 6 Abs. 1 EUV) zu berücksichtigen. Danach darf niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Die Vorschrift gilt nach Art. 51 Abs. 1 GR-Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach den gemäß Art. 52 Abs. 7 GR-Charta bei ihrer Auslegung gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen (ABl EU 2007 Nr. C 303 S. 17 = EuGRZ 2008, 92) wird durch diese Bestimmung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen übernommen.

18

a) Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Prüfung des § 60 Abs. 2 AufenthG in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass der Kläger vor seiner Ausreise in der Türkei gefoltert worden ist. Dennoch hat das Berufungsgericht seiner Prognose den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und nicht den sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab hinreichender Sicherheit zugrunde gelegt. Es hat aber zugunsten des Klägers die in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltene Beweiserleichterung angewendet (UA Rn. 90). Das hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand.

19

Gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG gilt für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

20

Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Das ergibt sich neben dem Wortlaut auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind.

21

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; dem folgend Urteil vom 31. März 1981 - BVerwG 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27; stRspr). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (Urteil vom 27. April 1982 - BVerwG 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - a.a.O. S. 99). Diese zum Asylgrundrecht entwickelte Rechtsprechung (zusammenfassend Urteile vom 25. September 1984 - BVerwG 9 C 17.84 - BVerwGE 70, 169 <170 f.> und vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>) wurde auf den Flüchtlingsschutz (Abschiebungsschutz aus politischen Gründen) gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (Urteil vom 3. November 1992 - BVerwG 9 C 21.92 - BVerwGE 91, 150 <154 f.>), nicht jedoch auf die Abschiebungsverbote des § 53 AuslG 1990 übertragen (vgl. Urteile vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <330> zu § 53 Abs. 6 AuslG und vom 4. Juni 1996 - BVerwG 9 C 134.95 - InfAuslR 1996, 289 zu § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK).

22

Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4: Zum einen wird ihr Anwendungsbereich über den Flüchtlingsschutz hinaus auf alle Tatbestände des unionsrechtlich geregelten subsidiären Schutzes ausgeweitet. Sie erfasst demzufolge auch das im vorliegenden Fall zu prüfende Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG. Zum anderen bleibt der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie erlitten hat (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 84 ff. zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung). Der in dem Tatbestandsmerkmal "... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2 Buchst. e der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192 stRspr).

23

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. Rn. 128 m.w.N.). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG kann im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Dieser Maßstab hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung (mehr).

24

b) Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung, ob stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Kläger während der Strafhaft erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein wird, den Maßstab des § 60 Abs. 2 AufenthG auf diejenigen tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen verengt, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen können, zur Verursachung bleibender Schäden geeignet oder aus sonstigen Gründen als gravierend anzusehen sind (UA Rn. 106). Erniedrigende Behandlungsmaßnahmen im Sinne des Art. 3 EMRK, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen, hat es bei der Prognoseerstellung ausdrücklich nicht geprüft (UA Rn. 111). Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof die eigene Verantwortung der Türkei als Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention betont und daraus gefolgert, dass sich der Kläger darauf verweisen lassen müsse, seine Rechte gegen diese Arten von Konventionsverletzungen in der Türkei und von der Türkei aus selbst zu verfolgen (UA Rn. 112). Diese Annahme verletzt Bundesrecht.

25

Die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG hat sich nach den unionsrechtlichen Vorgaben - wie oben bereits ausgeführt - an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK zu orientieren. Dieser betont in seinen Entscheidungen zur Verantwortlichkeit eines Vertragsstaates für die mittelbaren Folgen einer Abschiebung, wenn dem Betroffenen im Zielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, immer wieder den absoluten und ausnahmslosen Schutz des Art. 3 EMRK (EGMR, Urteile vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217, Soering - NJW 1990, 2183 ; vom 15. November 1996 - Nr. 70/1995/576/662, Chahal - NVwZ 1997, 1093 und vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. ). Damit erweist es sich als unvereinbar, den Schutzbereich des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG zu verengen, und bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat der Konvention erniedrigende Behandlungsmaßnahmen von vornherein auszunehmen, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen. Sonst käme Rechtsschutz durch türkische Gerichte oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu spät und könnte eine bereits eingetretene Rechtsverletzung nicht ungeschehen machen. Das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG gilt mithin uneingeschränkt auch bei der Abschiebung in einen Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention.

26

Der Verwaltungsgerichtshof beruft sich für seine Auffassung zu Unrecht auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 53 Abs. 4 AuslG 1990 (nunmehr: § 60 Abs. 5 AufenthG) i.V.m. Art. 3 EMRK. Der damals für die Feststellung von Abschiebungshindernissen durch das Bundesamt zuständige 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat entschieden, dass eine Mitverantwortung des abschiebenden Vertragsstaates, den menschenrechtlichen Mindeststandard in einem anderen Signatarstaat als Zielstaat der Abschiebung zu wahren, nur dann besteht, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist (Urteil vom 7. Dezember 2004 - BVerwG 1 C 14.04 - BVerwGE 122, 271 <277>). Dieser Rechtssatz schränkt jedoch nicht den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ein. Vielmehr werden - insbesondere mit Blick auf die von dem damaligen Kläger angeführten Haftbedingungen in der Türkei - nur Maßnahmen erfasst, die erst durch Zeitablauf oder Wiederholung in den Tatbestand einer erniedrigenden Behandlung und damit den Schutzbereich des Art. 3 EMRK hineinwachsen. Nur in derartigen Fällen kann der Betroffene auf Rechtsschutz im Abschiebezielstaat oder durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verwiesen werden.

27

4. Das Berufungsgericht hat die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG geprüft und aus tatsächlichen Gründen abgelehnt (UA Rn. 86 f.). Dagegen bestehen aus revisionsgerichtlicher Sicht keine Bedenken.

28

5. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder zugunsten noch zulasten des Klägers abschließend entscheiden. Die Sache ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Damit bedarf es keiner Entscheidung über die Gehörsrüge. Der Senat bemerkt aber dazu, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht gegen das Verbot einer Überraschungsentscheidung verstoßen hat. Denn grundsätzlich ist ein Gericht nicht verpflichtet, die abschließende Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorab mit den Beteiligten zu erörtern (Beschlüsse vom 21. Januar 2000 - BVerwG 9 B 614.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 46 und vom 26. November 2001 - BVerwG 1 B 347.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52; stRspr). Etwas anderes gilt nur dann, wenn es einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. Urteil vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235). Dafür ist im vorliegenden Fall nichts ersichtlich, da der Kläger selbst in der Berufungsbegründung zur Gefahr der Folter in der Türkei vorgetragen hatte.

29

Der Verwaltungsgerichtshof wird in dem neuen Berufungsverfahren die Prognose, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der Kläger in der Türkei der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen wird, auf aktueller tatsächlicher Grundlage erneut stellen müssen. Dabei besteht auch Gelegenheit, dem Vorbringen des Klägers weiter nachzugehen, dass die ihn belastende Aussage seines Bruders die Gefahr von Folter nicht ausschließe. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände im Rahmen der tatsächlichen Feststellung, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG widerlegt ist, kann das Berufungsgericht auch der Tatsache Bedeutung beimessen, dass die Türkei als Abschiebezielstaat ein Vertragsstaat der Konvention ist, der sich verpflichtet hat, die darin garantierten Rechte und Grundsätze zu achten. Die Berücksichtigung dieses Umstands im Rahmen der Prognose entspricht ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK (Entscheidungen vom 7. Oktober 2004 - Nr. 33743/03, Dragan - NVwZ 2005, 1043 <1045> und vom 15. Dezember 2009 - Nr. 43212/05, Kaplan - ) und ist durch Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG mit dem darin enthaltenen Kriterium ausreichender Schutzgewährleistung abgedeckt.

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. Mai 2013 und 16. August 2013 zu Nrn. 2. – 4. verpflichtet, den Klägerinnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Gläubiger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.


Tatbestand:

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.