Verwaltungsgericht Minden Beschluss, 02. Okt. 2015 - 10 L 923/15.A
Tenor
1. Dem Antragsteller wird für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungspflicht bewilligt und Rechtsanwältin Dr. U. , C. , beigeordnet.
2. Die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren 10 K 2299/15.A gegen die im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. August 2015 enthaltene Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
3. Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Antragsgegnerin.
1
G r ü n d e :
2A. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist begründet. Der Antragsteller kann nach den von ihm dargelegten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen (§§ 166 VwGO, 114 Satz 1, 115 ZPO). Die beabsichtigte Rechtsverfolgung erscheint auch nicht mutwillig und bietet - wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen unter B. ergibt - hinreichende Aussicht auf Erfolg (§§ 166 VwGO, 114 Satz 1 ZPO). Eine anwaltliche Vertretung ist schon angesichts der Bedeutung des Rechtsstreits für den Antragsteller erforderlich (§§ 166 VwGO, 121 Abs. 2 Alt. 1 ZPO).
3B. Der zulässige, insbesondere innerhalb der einwöchigen Frist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG gestellte Antrag,
4die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren 10 K 2299/15.A gegen die im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. August 2015 enthaltene Abschiebungsanordnung anzuordnen,
5ist begründet. Die im Verfahren nach § 34a Abs. 2 AsylVfG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht zugunsten des Antragstellers aus.
6I. Für die vorzunehmende Interessenabwägung gelten die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO anwendbaren allgemeinen Grundsätze. Dementsprechend ist das Interesse des Antragstellers an einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung gegen das öffentliche Interesse an deren alsbaldiger Vollziehung abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten der Klage maßgeblich zu berücksichtigen.
7Dagegen setzt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage anders als in Fällen der Unbeachtlichkeit oder der offensichtlichen Unbegründetheit des Asylantrags (§ 36 Abs. 1 und 4 Satz 1 AsylVfG) nicht voraus, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen. Im Gegensatz zu § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG enthält § 34a Abs. 2 AsylVfG keine entsprechende Einschränkung. Ein Antrag, § 34a Abs. 2 AsylVfG entsprechend zu fassen, fand im Gesetzgebungsverfahren keine Mehrheit.
8Vgl. VG Trier, Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, juris Rn. 5 ff. mit ausführlicher Darstellung des Ablaufs des Gesetzgebungsverfahrens; VG Darmstadt, Beschluss vom 9. Mai 2014 - 4 L 491/14.DA.A -, juris Rn. 2.
9II. Ob die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist derzeit offen. Es liegen nunmehr aufgrund aktueller Erkenntnisse ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 31; sog Dublin III-VO) aufgeführten Voraussetzungen zum Zeitpunkt des Erlasses der vorliegenden Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG) gegeben sind, dass also das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn derzeit systemische Mängel aufweisen, aufgrund derer der Antragsteller konkrete Gefahr läuft, im Falle seiner Überstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 GR-Charta bzw. des Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden. Dementsprechend ist die bisherige Rechtsprechung der Kammer (zuletzt Beschluss vom 13. Juli 2015 - 10 L 253/15.A -), nach der das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn bisher keine systemischen Mängel aufwiesen, nicht fortzuführen.
101. Die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. Dublin III-VO liegen vor, wenn ein Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen, also strukturell bedingter, größerer Funktionsstörungen, im konkret zu entscheidenden Fall in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird.
11Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, NVwZ 2014, 1039 (juris Rn. 9) zur Rechtslage nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (ABl. L 50. S. 1; sog. Dublin II-VO).
12Unerheblich ist dagegen, ob es unterhalb der Schwelle systemischer Mängel in Einzelfällen zu Grundrechtsverletzungen kommen kann und ob der betreffende Asylbewerber einer solchen tatsächlich schon einmal ausgesetzt gewesen ist. Derartige Erfahrungen sind vielmehr in die Gesamtwürdigung einzubeziehen, ob systemische Mängel im Zielland der Abschiebung des Asylbewerbers vorliegen; sie führen auch nicht zu einer Beweislastumkehr für die Frage des Vorliegens systemischer Mängel.
13Vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, Asylmagazin 2014, 258 (juris Rn. 6) zur Rechtslage nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003.
14Unter "Asylverfahren und Aufnahmebedingungen" ist das gesamte Asylsystem eines Mitgliedstaats zu verstehen. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Verfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die Behandlung nach einer ggf. erfolgten Anerkennung.
15Vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. April 2014 - RO 4 K 14.50022 -, juris Rn. 34; VG Kassel, Beschluss vom 24. Juli 2015 - 6 L 1147/15.KS.A -, Abdruck S. 7; Lübbe, ZAR 2014, 105, 108.
16Systemische Schwachstellen sind solche, die entweder bereits im Asyl- und Aufnahmeregime selbst angelegt sind und von denen alle Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern deshalb nicht zufällig und im Einzelfall, sondern vorhersehbar und regelhaft betroffen sind, oder aber tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem - aus welchen Gründen auch immer - faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird. Dabei ist der Begriff der systemischen Schwachstelle nicht in einer engen Weise derart zu verstehen, dass er geeignet sein muss, sich auf eine unüberschaubare Vielzahl von Asylbewerbern auszuwirken. Vielmehr kann ein systemischer Mangel auch dann vorliegen, wenn er von vornherein lediglich eine geringe Zahl von Asylbewerbern betreffen kann, sofern er sich nur vorhersehbar und regelhaft realisieren wird und nicht gewissermaßen dem Zufall oder einer Verkettung unglücklicher Umstände bzw. Fehlleistungen von in das Verfahren involvierten Akteuren geschuldet ist.
17Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, NVwZ 2014, 1039 (juris Rn. 9), sowie vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, Asylmagazin 2014, 258 (juris Rn. 5); VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 - A 11 S 1778/14 -, InfAuslR 2015, 77 (juris Rn. 33).
18Einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung sind Asylbewerber, die vollständig auf staatliche Hilfe angewiesen sind, insbesondere dann ausgesetzt, wenn sie sich in einer mit der menschlichen Würde unvereinbaren Situation ernsthafter Entbehrungen und Not behördlicher Gleichgültigkeit gegenüber sehen.
19Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarak-hel/Schweiz) -, HUDOC Rn. 98; s.a. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, BVerwGE 146, 12 (juris Rn. 24); United Kingdom Supreme Court, Urteil vom 19. Februar 2014- EM (Eritrea) and others v the Secretary of the State for the Home Department, [2014] UKSC 12 -, Rn. 62.
20Dabei ist zu berücksichtigen, ob staatliche Stellen es durch ihr vorsätzliches Handeln oder Unterlassen Asylbewerbern praktisch verwehren, von ihren gesetzlich verankerten Rechten auf eine Unterkunft und annehmbare materielle Bedingungen Gebrauch zu machen.
21Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarak-hel/Schweiz) -, HUDOC Rn. 96.
22Sind Kinder betroffen, ist entscheidend auf ihre besondere Verletzlichkeit abzustellen, der der Vorrang gegenüber dem Gesichtspunkt ihres Status als illegaler Einwanderer einzuräumen ist.
23Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarak-hel/Schweiz) -, HUDOC Rn. 99.
24Im Rahmen der Prognose, ob ein Antragsteller in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, ist nicht allein auf die Rechtslage im betreffenden Mitgliedstaat abzustellen; maßgeblich ist vielmehr deren Umsetzung in die Praxis.
25Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 (M.S.S./ Belgien und Griechenland) -, NVwZ 2011, 413 und HUDOC Rn. 359; Hailbronner, Ausländerrecht, Band 3, Stand: Juni 2014, § 34a AsylVfG Rn. 21.
262. Bei Anlegung dieses Maßstabs ergeben sich aus den dem Gericht vorliegenden aktuellen Erkenntnissen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn derzeit systemische Mängel aufweisen, aufgrund derer der Antragsteller konkrete Gefahr läuft, im Falle seiner Überstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 GR-Charta bzw. des Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden.
27Vgl. VG Münster, Beschluss vom 7. Juli 2015 - 2 L 858/15.A -, juris Rn. 7 ff.; VG München, Beschluss vom 17. Juli 2015 - M 24 S 15.50508 -, Abdruck S. 10 ff.; VG Potsdam, Beschluss vom 20. Juli 2015 - VG 6 L 356/15.A -, Abdruck S. 6 ff.; VG Kassel, Beschluss vom 24. Juli 2015 - 6 L 1147/15.KS.A -, Abdruck S. 7 ff.; VG Saarlouis, Beschluss vom 5. August 2015 - 3 L 633/15 -, juris Rn. 14 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 7. August 2015- 22 L 616/15.A -, nrwe Rn. 16 ff.; VG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 7. August 2015 - VG 3 L 169/15.A -, Abdruck S. 7 ff.; VG Kassel, Beschluss vom 7. August 2015 - 3 L 1303/15.KS.A -, juris Rn. 23 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 20. August 2015 - 15 L 2556/15.A -, nrwe Rn. 25 ff.; VG Köln, Urteil vom 8. September 2015 – 18 K 4584/15.A -, nrwe Rn. 38 ff.; a.A. VG Düsseldorf, Beschluss vom 17. Juli 2015 - 8 L 1895/15.A -, nrwe Rn. 50 ff.; VG Augsburg, Urteil vom 3. August 2015 - Au 5 K 15.50347 -, juris Rn. 39 ff.
28a) Derartige Anhaltspunkte ergeben sich zunächst aufgrund der am 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts. Insbesondere hat die ungarische Regierung eine Verordnung erlassen, mit der u.a. Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien zu sicheren Drittstaaten erklärt werden. Asylanträge von Personen, die über eines dieser Länder nach Ungarn eingereist sind, sind als unzulässig abzuweisen. Dies betrifft nach Einschätzung des Hungarian Helsinki Committee 99 % aller nach Ungarn eingereisten Asylbewerber, da diese vorliegenden Erkenntnissen zufolge derzeit nahezu ausschließlich über Serbien nach Ungarn einreisen.
29Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building a legal fence - Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, 7. August 2015, S. 1 f.; Asylum Information Database (aida), Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries, 23. Juli 2015.
30Aufgrund dieser Neuregelung droht der Antragsteller, der seinen eigenen Angaben zufolge über Griechenland und Serbien nach Ungarn eingereist ist, von einem effektiven Zugang zu einem ordnungsgemäßen Asylverfahren, insbesondere einer Entscheidung über seinen Asylantrag in der Sache, ausgeschlossen zu werden. Denn es besteht die Gefahr, dass er bei einer Überstellung nach Ungarn durch die dortigen Behörden ohne inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe nach europäischen Mindeststandards nach Serbien abgeschoben wird. Nach Einschätzung von UNHCR weist Serbiens Asylsystem gravierende Mängel auf. Dementsprechend hat UNCHR im August 2012 die Empfehlung ausgesprochen, Serbien nicht als sicheren Drittstaat anzuerkennen.
31Vgl. UNHCR, Serbia as a country of asylum, August 2012, Rn. 79 ff.
32Die tatsächlichen Grundlagen für diese Einschätzung haben sich aktuellen Erkenntnissen zufolge nicht wesentlich geändert.
33Vgl. Amnesty international, Europe's Borderlands, Violations against refugees and migrants in Macedonia, Serbia and Hungary, Juli 2015, S. 35 ff. und 42 ff.
34Aufgrund dessen ist fraglich und wird im Hauptsacheverfahren weiter zu prüfen sein, ob Serbien die in Art. 38 und 39 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. EU L 180; S. 60; sog. Verfahrensrichtlinie) geregelten Voraussetzungen für die Bestimmung sicherer Drittstaaten durch die Mitgliedstaaten erfüllt. Nach deutschem Recht ist Serbien ebenso wenig wie die übrigen eingangs aufgeführten Staaten als sicherer Drittstaat eingestuft (Anlage I zu § 26a AsylVfG). Nach Angaben des Hungarian Helsinki Committee gilt dies jedenfalls in Bezug auf Serbien auch für alle anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union außer Ungarn.
35Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building a legal fence - Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, 7. August 2015, S. 1.
36Aufgrund des mangelhaften Asylsystems in Serbien besteht die Gefahr, dass der Antragsteller letztlich ohne inhaltliche Prüfung seines Asylgesuchs nach Mazedonien oder Griechenland abgeschoben wird.
37Vgl. Amnesty International, Europe´s Borderlands, Violations against refugees and migrants in Macedonia, Serbia and Hungary, Juli 2015, S. 35, 41, 55.
38Mazedonien hat ebenfalls kein effektives Asylsystem. Vielmehr besteht dort die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen und eines refoulement durch Abschiebungen nach Griechenland.
39Vgl. Amnesty International, Europe´s Borderlands, Violations against refugees and migrants in Macedonia, Serbia and Hungary, Juli 2015, S. 40 f.
40Griechenland weist seinerseits systemische Mängel im Sinne der Rechtsprechung des EuGH auf. Die Gefahr von Kettenabschiebungen verstößt gegen das Prinzip des non-refoulement und damit gegen Art. 18 GR-Charta in Verbindung mit Art. 33 Abs. 1 GFK.
41Vgl. VG Köln, Urteil vom 8. September 2015 - 18 K 4584/15.A - nrwe Rn. 120; VG Düsseldorf, Beschluss vom 7. August 2015- 22 L 616/15.A -, juris Rn. 34.
42Ob und gegebenenfalls mit welcher Wahrscheinlichkeit eine solche Gefahr für den Antragsteller in seiner persönlichen Situation als Dublin-Rückkehrer tatsächlich besteht, bedarf weiterer Aufklärung im Hauptsacheverfahren.
43b) Außerdem liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass bestimmten Gruppen von Asylbewerbern im Falle einer Ablehnung ihres Asylantrags in Ungarn kein effektiver Rechtsschutz gewährt wird. Einem Bericht des Hungarian Helsinki Committee zufolge sind Klagen gegen Bescheide, mit denen ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, und Klagen gegen Bescheide, mit denen ein Asylantrag in dem ab dem 1. August 2015 neu eingeführten beschleunigten Verwaltungsverfahren abgelehnt wurde, innerhalb von drei Kalendertagen zu erheben.
44Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building a legal fence- Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, 7. August 2015, S. 4.
45Dasselbe gilt für die Klage gegen einen Dublin-Bescheid, mit dem die Abschiebung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verfügt wird.
46Vgl. Asylum Information Database (aida), Country Report Hungary, 17. Februar 2015, S. 21.
47Allerdings reicht die Kürze der Klagefrist allein nicht aus, um die Gewährung effektiven Rechtsschutzes zu verneinen. Vielmehr sind sämtliche Voraussetzungen der Klageerhebung zu würdigen. Insoweit ist insbesondere von Belang, bei welcher Behörde bzw. welchem Gericht eine Klage zu erheben ist, welche Kosten damit verbunden sind, in welcher Sprache die Klageschrift zu verfassen ist und ob ggf. die Hilfe eines Übersetzers in Anspruch genommen werden kann, ob die Klagebegründung ebenfalls innerhalb der Frist einzureichen ist sowie ob und zu welchen Kosten ein Rechtsbeistand in Anspruch genommen werden kann.
48Vgl. EGMR, Urteil vom 2. Februar 2012 - 9152/09 (I.M./Frank-reich) -, HUDOC, S. 3 f. der deutschen Zusammenfassung des Urteils.
49Die Klärung dieser Umstände muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
50c) Ferner liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die Möglichkeiten, Asylbewerber zu inhaftieren, aufgrund der am 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts wesentlich ausgeweitet wurden. Unklar ist nach den dem Gericht vorliegenden Unterlagen allerdings, wie weit diese Änderungen im Einzelnen gehen. Nach Darstellung des Hungarian Helsinki Committee wurde die Dauer der Asylhaft ("asylum detention") auf die Dauer des gerichtlichen Verfahrens erstreckt und ein neuer Haftgrund eingeführt, wonach eine Inhaftierung nunmehr auch im Falle einer ernstlichen Gefahr des Untertauchens ("serious danger of absconding") eines Asylbewerbers möglich sein soll.
51Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building a legal fence- Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, 7. August 2015, S. 5.
52Dagegen berichtet UNHCR über die Zulässigkeit einer anhaltenden Inhaftierung von Asylsuchenden ("prolonged detention of asylum-seekers"), ohne näher auf die Voraussetzungen für eine Inhaftierung einzugehen.
53Vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste, 3. Juli 2015.
54Andere Beobachter sprechen davon, dass Asylbewerber künftig wieder - wie bereits bis 2012 üblich - für die Dauer der Antragsbearbeitung inhaftiert werden können.
55Vgl. Die Welt vom 6. Juli 2015, Ungarn zieht Grenzzaun gegen Flüchtlinge hoch.
56Für Letzteres sprechen auch Äußerungen des Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei Fidesz, Antal Rogan, der sich für eine Rückkehr zur bis 2012 geltenden Rechtslage aussprach.
57Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Hungarian government reveals plans to breach EU asylum law and to subject asylum-seekers to massive detention and immediate deportation, 4. März 2015, S. 4 (Übersetzung durch das Gericht): "… Wir mussten das (Anmerkung des Gerichts: die bis 2012 geltende Rechtslage) wegen der EU ändern und es ist offensichtlich, dass die EU, wenn wir zu den Regeln, die vor 2012 galten zurückkehren - was wir wirklich wollen -, ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren anstrengen wird. …"
58Die Klärung der Fragen, ob mit den jüngsten Änderungen tatsächlich eine Rückkehr zur bis 2012 geltenden Rechtslage erfolgt ist und inwieweit von den gesetzlich eingeräumten Möglichkeiten tatsächlich Gebrauch gemacht wird, bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
59d) Vor dem Hintergrund stark gestiegener Zugangszahlen liegen zudem ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die ungarischen Behörden derzeit nicht mehr in der Lage sind, Asylbewerber angemessen mit Unterkunft, Nahrung, Kleidung und sonstigem täglichen Bedarf (vgl Art. 2 lit. g) und 17 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013, ABl. L 180, S. 96; sog. Aufnahmerichtlinie) zu versorgen und ihnen zumindest eine medizinische Notversorgung (vgl. Art. 19 RL 2013/33/EU) zukommen zu lassen.
60Vgl. VG Münster, Beschluss vom 7. Juli 2015 - 2 L 858/15.A -, juris Rn. 7 ff; VG München, Beschluss vom 17. Juli 2015 - M 24 S 15.50508 -, Abdruck S. 10 ff.; VG Kassel, Beschlüsse vom 24. Juli 2015 - 6 L 1147/15.KS.A -, Abdruck S. 7 ff., sowie vom 7. August 2015 - 3 L 1303/15.KS.A -, juris Rn. 23 ff.; a.A. VG Potsdam, Beschluss vom 20. Juli 2015 - VG 6 L 356/15.A -, Abdruck S. 6 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 7. August 2015 - 22 L 616/15.A -, nrwe Rn. 29.
61Die Zahl der in Ungarn gestellten Asylanträge hat sich zwischen 2012 (2.157) und 2014 (knapp 43.000) fast verzwanzigfacht.
62Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Hungarian Government reveals plans to breach EU asylum law and to subject asylum-seekers to massive detention and immediate deportation, 4. März 2015, S. 1.
63Im ersten Halbjahr 2015 sind bereits knapp 67.000 Asylanträge in Ungarn gestellt worden.
64Vgl. http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1 & language=de&pcode=tps00189&plugin=1 (aufgerufen am 21. August 2015)
65Dem stehen insgesamt knapp 2.000 Aufnahmeplätze in offenen und knapp 500 Aufnahmeplätze in geschlossenen Einrichtungen gegenüber. Allerdings ist bei dieser Gegenüberstellung zu berücksichtigen, dass etwa 80 bis 90 % der Asylbewerber Ungarn nicht als Ziel ihrer Flucht, sondern nur als Transitland betrachten und Ungarn bereits nach kurzer Zeit, oftmals bereits nach mehreren Tagen, wieder verlassen.
66Vgl. European Asylum Support Office (EASO), Description of the Hungarian asylum system, 4. Juni 2015, S. 7, 10 und 11.
67Folglich kann aus dem auf den ersten Blick bestehenden Missverhältnis zwischen der Anzahl der Asylbewerber und der Anzahl der Unterbringungsplätze nicht ohne Weiteres auf einen gravierenden Kapazitätsengpass geschlossen werden.
68Vgl. VG Potsdam, Beschluss vom 20. Juli 2015 - VG 6 L 356/15.A -, Abdruck S. 5.; a.A. z.B. VG Kassel, Beschluss vom 7. August 2015 - 3 L 1303/15.KS.A -, juris Rn. 27
69Dementsprechend berichtet das European Asylum Support Office, dass die Unterbringungsplätze noch im März 2015 lediglich zu 60 bis 70 % ausgelastet waren.
70Vgl. EASO, Description of the Hungarian Asylum System, 4. Juni 2015, S. 10.
71Jedoch hat sich die ungarische Regierung im Juni 2015 selbst darauf berufen, dass Ungarn keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen könne, weil die dortigen Aufnahmekapazitäten erschöpft seien.
72Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23. Juni 2015, Ungarn schottet sich ab, und vom 24. Juni 2015, Ungarn relativiert Aufnahmestopp für Asylsuchende; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Juni 2015, Ungarn nimmt keine Flüchtlinge mehr auf; Die Welt vom 24. Juni 2015, Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat.
73Aktuelle Berichte über die Zustände in ungarischen Flüchtlingslagern scheinen die Einschätzung der ungarischen Regierung zu bestätigen.
74Budapest Beacon vom 19. August 2015, Migration aid needs food, blankets and foam mattresses, sowie vom 25. Juli 2015, Hungary's Vamosszabadi refugee camp dangerously overcrow-ded.
75Anhaltspunkte dafür, dass die ungarischen Behörden ihre Aufnahmekapazitäten zwischenzeitlich aufgestockt haben oder entsprechende Planungen erfolgen, lassen sich den dem Gericht vorliegenden Unterlagen nicht entnehmen.
76Die weitere Klärung aller damit zusammenhängenden Fragen bleibt ebenfalls dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
773. Ist nach den vorstehenden Ausführungen derzeit offen, ob der angefochtene Bescheid rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt, überwiegt angesichts der durch die Abschiebungsanordnung betroffenen Rechte des Antragstellers sein Interesse an einem vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet und damit an einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung das öffentliche Interesse an deren alsbaldiger Vollziehung durch Überstellung des Antragstellers nach Ungarn.
78Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG.
ra.de-Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Minden Beschluss, 02. Okt. 2015 - 10 L 923/15.A
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(1) Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Prozesskostenhilfe sowie § 569 Abs. 3 Nr. 2 der Zivilprozessordnung gelten entsprechend. Einem Beteiligten, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann auch ein Steuerberater, Steuerbevollmächtigter, Wirtschaftsprüfer oder vereidigter Buchprüfer beigeordnet werden. Die Vergütung richtet sich nach den für den beigeordneten Rechtsanwalt geltenden Vorschriften des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes.
(2) Die Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach den §§ 114 bis 116 der Zivilprozessordnung einschließlich der in § 118 Absatz 2 der Zivilprozessordnung bezeichneten Maßnahmen, der Beurkundung von Vergleichen nach § 118 Absatz 1 Satz 3 der Zivilprozessordnung und der Entscheidungen nach § 118 Absatz 2 Satz 4 der Zivilprozessordnung obliegt dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des jeweiligen Rechtszugs, wenn der Vorsitzende ihm das Verfahren insoweit überträgt. Liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe hiernach nicht vor, erlässt der Urkundsbeamte die den Antrag ablehnende Entscheidung; anderenfalls vermerkt der Urkundsbeamte in den Prozessakten, dass dem Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen Prozesskostenhilfe gewährt werden kann und in welcher Höhe gegebenenfalls Monatsraten oder Beträge aus dem Vermögen zu zahlen sind.
(3) Dem Urkundsbeamten obliegen im Verfahren über die Prozesskostenhilfe ferner die Bestimmung des Zeitpunkts für die Einstellung und eine Wiederaufnahme der Zahlungen nach § 120 Absatz 3 der Zivilprozessordnung sowie die Änderung und die Aufhebung der Bewilligung der Prozesskostenhilfe nach den §§ 120a und 124 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 der Zivilprozessordnung.
(4) Der Vorsitzende kann Aufgaben nach den Absätzen 2 und 3 zu jedem Zeitpunkt an sich ziehen. § 5 Absatz 1 Nummer 1, die §§ 6, 7, 8 Absatz 1 bis 4 und § 9 des Rechtspflegergesetzes gelten entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Rechtspflegers der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle tritt.
(5) § 87a Absatz 3 gilt entsprechend.
(6) Gegen Entscheidungen des Urkundsbeamten nach den Absätzen 2 und 3 kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe die Entscheidung des Gerichts beantragt werden.
(7) Durch Landesgesetz kann bestimmt werden, dass die Absätze 2 bis 6 für die Gerichte des jeweiligen Landes nicht anzuwenden sind.
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der in der Hauptsache unter dem Aktenzeichen 5 K 1233/13.TR bei dem beschließenden Gericht anhängigen Klage des Antragstellers wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
- 1
Der am 6. September 2013 gestellte Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung der in der Hauptsache erhobenen Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. August 2013 anzuordnen, ist gemäß § 80 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO – in Verbindung mit §§ 34a Abs. 2, 75 Satz 1 Asylverfahrensgesetz – AsylVfG – in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), geändert durch den insoweit gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG seit dem 6. September 2013 anwendbaren Artikel 1 des Gesetzes vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3474), zulässig.
- 2
Mit dem vorgenannten Bescheid hat die Antragsgegnerin den Asylantrag des Antragstellers unter Bezugnahme auf § 27a AsylVfG und Art. 16 Abs. 1e der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 - Dublin-II-VO - für unzulässig erklärt und auf der Grundlage des § 34a AsylVfG die Abschiebung des Antragstellers nach Italien angeordnet. Gegen beide Entscheidungen ist in der Hauptsache eine Anfechtungsklage im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO statthaft, da die Antragsgegnerin mit ihrem Bescheid das Asylverfahren des Antragstellers ohne Sachprüfung abgeschlossen hat (vgl. insoweit BVerwG, Urteile vom 7. März 1995 - 9 C 264/94 - und vom 6. Juli 1998 - 9 C 45/97 -, juris; Bayerischer VGH, Urteil vom 14. Januar 2013 - 20 B 12.30348 -, juris; Urteil der erkennenden Kammer vom 30. Mai 2012 - 5 K 967/11.TR -, ESOVGRP), so dass § 80 VwGO anwendbar ist.
- 3
Des Weiteren wurde der Antrag ungeachtet der Frage, welche Frist für eine Antragstellung bei bereits vor Inkrafttreten der Änderung des § 34a AsylVfG bekannt gegebenen Bescheiden gilt, jedenfalls fristgerecht gestellt.
- 4
Der Antrag ist auch in der Sache begründet.
- 5
Bei der Entscheidung darüber, ob die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen ist, ist das öffentliche Interesse an einer alsbaldigen Vollziehung des Verwaltungsaktes gegenüber dem Interesse des Betroffenen an einer Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzuwägen. Insoweit finden die in den Fällen der vorliegenden Art in der Vergangenheit geltenden Einschränkungen, die darauf gründeten, dass aufgrund der bislang geltenden gesetzlichen Bestimmungen eine angeordnete Abschiebung in einen anderen EU-Mitgliedstaat kraft Gesetzes nicht nach §§ 80, 123 VwGO ausgesetzt werden durfte, keine Anwendung mehr, so dass die allgemeinen Grundsätze gelten, zumal der Gesetzgeber insoweit die für offensichtlich unbegründete Asylanträge geltende Bestimmung des § 36 Abs. 4 AsylVfG, der zufolge eine Aussetzung der Abschiebung nur bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes angeordnet werden darf, nicht für entsprechend anwendbar erklärt hat und die Gesetzesmaterialen keine Anhaltspunkte für eine abweichende Gesetzauslegung bieten.
- 6
Die Bundestags-Drucksache 17/13556, die der Änderung des § 34a AsylVfG zugrunde liegt, enthält keine Angaben zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen vorläufiger Rechtsschutz gewährt werden kann. In der Bundestagssitzung vom 7. Juni 2013 (vgl. Plenarprotokoll 17/244 S. 30891 ff, insbesondere S. 30895) wurde alsdann vor der Beschlussfassung in 2. und 3. Lesung ausdrücklich auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes eingegangen und darauf hingewiesen, dass nur noch entscheidend sei, ob dem Aussetzungsinteresse des Schutzsuchenden Vorrang vor dem Vollzugsinteresse der Behörde einzuräumen sei.
- 7
Die Materialien über die Beteiligung des Bundesrats am Gesetzgebungsverfahren ergeben ebenfalls keine Anhaltspunkte für eine entsprechende Anwendung des § 36 Abs. 4 AsylVfG.
- 8
In der Bundesratsdrucksache 495/1/13 vom 21. Juni 2013 ist festgehalten, dass der Bundesratsausschuss für Innere Angelegenheiten dem Bundesrat gegenüber unter 3. eine Empfehlung folgenden Inhalts abgegeben hat:
- 9
„Der Bundesrat stellt aber fest, dass die Änderungen in § 34a AsylVfG ergänzungsbedürftig sind, weil sie das verwaltungsgerichtliche Verfahren bei Anträgen nach § 80 Absatz 5 VwGO ungeregelt lassen. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, bei dem nächsten Gesetzentwurf zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes vorzusehen, dass im beschleunigten Verfahren bei Unbeachtlichkeit und offensichtlicher Unbegründetheit von Asylanträgen (§ 36 AsylVfG) entsprechende Bestimmungen ergänzt werden. Die Aussetzung der Überstellung darf nur angeordnet werden, wenn systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber erkennbar sind, sodass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH vom 21. Dezember 2011, Rs. C-411/10 und C-493/10).“
- 10
In der Sitzung des Bundesrates vom 5. Juli 2013 (vgl. Stenografischer Bericht, Plenarprotokoll 912, S. 401, 429 - Anlage 19) gab alsdann die rheinland-pfälzische Staatsministerin Margit Conrad eine Erklärung dahingehend zu Protokoll, dass die vorstehend zitierte Entschließung aus dem Innenausschuss nicht mitgetragen werden könne, weil sie den gerade wieder eingeführten einstweiligen Rechtsschutz wieder relativieren würde.
- 11
Bei der anschließenden Beschussfassung des Bundesrates schloss sich alsdann nur eine Minderheit des Bundesrates der dargestellten Beschlussempfehlung an (vgl. Plenarprotokoll 912, S. 401 zu Punkt 14, Ziffer 3).
- 12
Demnach kommt eine entsprechende Anwendung des § 36 Abs. 4 AsylVfG nicht in Betracht, so dass die bei der Anwendung des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 VwGO für kraft Gesetzes sofort vollziehbare Verwaltungsakte allgemein geltenden Grundsätze Anwendung finden müssen. Danach haben die Gerichte die Erfolgsaussichten der in der in der Hauptsache erhobenen Klage zu prüfen. Zu einer weitergehenden Einzelfallbetrachtung sind sie grundsätzlich nur im Hinblick auf solche Umstände angehalten, die von den Beteiligten vorgetragen werden und die die Annahme rechtfertigen können, dass im konkreten Fall von der gesetzgeberischen Grundentscheidung ausnahmsweise abzuweichen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2003 - 1 BvR 2025/03 -, juris).
- 13
Ausgehend hiervon erscheint es der Kammer interessengerecht, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, weil sie die Erfolgsaussichten der Klage unter Berücksichtigung der Gründe des den Beteiligten bekannten Beschlusses des OVG Rheinland-Pfalz vom 19. Juni 2013 - 10 B 10627/13.OVG –, auf die die Kammer zur Vermeidung von Wiederholungen in entsprechender Anwendung des § 77 Abs. 2 AsylVfG verweist, als zumindest offen einstuft, da der dortige Sachverhalt – insbesondere im Hinblick auf die vom Antragsteller geltend gemachten gesundheitlichen Probleme - mit dem vorliegenden Sachverhalt vergleichbar erscheint, und in dem von dem Antragsteller vorgelegten fachärztlichen Attest, auf das die Antragsgegnerin in ihrer ausführlichen Antragserwiderung nicht eingegangen ist, nachvollziehbar dargelegt ist, warum bei dem Antragsteller aufgrund besonderer Umstände seines Einzelfalles in Italien eine Verschlimmerung seiner gesundheitlichen Lage zu befürchten sei, so dass die vorzunehmende Interessenabwägung zu seinen Gunsten auszufallen hat.
- 14
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben.
- 15
Der Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 30. Juni 2014 - A 7 K 880/14 - geändert, soweit es der Klage stattgegeben hat.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Entscheidungsgründe
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Gründe
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 2 K 1422/15.A des Antragstellers gegen die in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Mai 2015 enthaltene Abschiebungsanordnung nach Ungarn wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e
2Der Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung seiner Klage 2 K 1422/15.A gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 12. Mai 2015, zugestellt am 18. Juni 2015, anzuordnen,
4ist zulässig und begründet.
5Im Rahmen der in Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotenen Abwägung zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers an einem Verbleib in Deutschland bis zum Abschluss des Klageverfahrens und dem öffentlichen Interesse an einem Vollzug der auf § 34a Abs. 1 AsylVfG gestützten Anordnung der Abschiebung nach Ungarn im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Mai 2015 überwiegt unter Berücksichtigung aller derzeit erkennbaren Umstände das Aussetzungsinteresse. Denn es lässt sich nicht mehr mit der in Verfahren der vorliegenden Art hinreichenden Wahrscheinlichkeit annehmen, dass sich der auf §§ 27a, 34a AsylVfG gestützte Bundesamtsbescheid im Ergebnis als rechtmäßig erweisen wird. Deshalb wäre mit einem sofortigen Vollzug des umstrittenen Bundesamtsbescheides eine unbillige Härte für den Antragsteller verbunden (vgl. zum Prüfungsmaßstab § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO).
6Nach § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
7Zwar ist die Antragsgegnerin zutreffend davon ausgegangen, dass Ungarn grundsätzlich der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Mitgliedsstaat ist. Die ungarischen Behörden haben auf das Wiederaufnahmegesuch der Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 10. April 2015 ihre Zuständigkeit gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin II-VO) für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers erklärt.
8Allerdings kann nach Einschätzung des Gerichts unter Berücksichtigung des vorliegenden neueren Erkenntnismaterials sowie der geänderten Positionierung des ungarischen Staates zur Aufnahmebereitschaft von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Übereinkommens aktuell nicht mehr mit der erforderlichen Gewissheit davon ausgegangen werden, dass in Ungarn systemische Mängel bzw. Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nicht anzunehmen sind. Vielmehr gibt die jüngste Entwicklung in Ungarn Anlass zu der Annahme, dass gravierende Anhaltspunkte für das Bestehen systemischer Mängel vorhanden sind, aufgrund derer der Antragsteller im Falle der Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.
9Ausgangspunkt für diese Bewertung ist das in Ungarn sich in jüngster Zeit massiv zuspitzende Kapazitätsproblem bei der Aufnahme von Asylbewerbern bedingt durch die stetig ansteigende Zahl von Asylbewerbern. Während in Ungarn im Jahre 2012 lediglich 2.157 Asylanträge gestellt wurden, stieg die Anzahl der Asylbewerber im Jahre 2013 auf 18.900 an und verdoppelte sich im Jahre 2014 auf 42.777. Vom 1. Januar 2015 bis zum 1. März 2015 registrierten die ungarischen Behörden bereits eine Anzahl von 28.535 Personen.
10Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015 (abrufbar unter http://helsinki.hu/wp-content/uploads/Asylum-2015-Hungary-press-info-4March2015.pdf.
11Bis zu 72.000 Flüchtlinge sollen bereits in diesem Jahr nach Angaben der ungarischen Regierung in das Land gelangt sein.
12Vgl. spiegelonline: Überlastetes Asylsystem, Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen, Bericht vom 6. Juli 2015, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-verschaerft-gesetzzur-aufnahme-von-flüchtlingen.
13Ungarn gehört damit in der EU zum drittgrößten Zuwanderungsland für Asylbewerber.
14Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015,aaO.
15Hinzu kommt noch, dass Ungarn nach der Dublin-VO verpflichtet ist, alle weitergereisten Personen, die erstmals in Ungarn einen Asylantrag gestellt haben, wiederaufzunehmen. Dieser großen Anzahl von Asylbewerbern steht demgegenüber nur eine geringe Zahl von Aufnahmeplätzen gegenüber. Wie dem jüngsten Bericht des European Asylum Support Office (EOS) vom 18. Mai 2015 zu entnehmen ist, der eine ausführliche aktuelle Berichterstattung über das ungarische Asylsystem enthält,
16http://easo.europa.eu/wp-content/uploads/Description-of-the-Hungarian-asylum-system-18-May-final.pdf;
17gibt es in ganz Ungarn weniger als 2.500 Aufnahmeplätze in staatlichen Unterbringungseinrichtungen. Die Plätze verteilen sich auf vier offene Aufnahmeeinrichtungen (Bicske 439, Debrecen 823, Vamaosszabadi 255, Nagyfa 300 sowie in Balassagyarmat 111) und drei geschlossene Lager (Debrecen 192, Bekescsabe 159, Nyirbator 105).
18Bereits diese Zahlen verdeutlichen das bestehende massive Unterbringungsproblem in Ungarn. Es kann angesichts dieser Größenordnung bei einer Zuwanderung von mehr als 60.000 Flüchtlingen innerhalb eines halben Jahres ersichtlich nicht davon ausgegangen werden, dass die erheblich zu geringe Zahl an staatlichen Unterbringungsplätzen für Asylbewerber auch nur ansatzweise durch von Kirchen und sonstigen nichtstaatlichen caritativen Einrichtungen aufgefangen werden könnte.
19Hinzu kommt, dass sich der ungarische Staat selbst weder willens noch in der Lage sieht, die Unterbringung und Versorgung der stetig ansteigenden Zahl von Asylbewerbern zu gewährleisten. Dass bereits seit einigen Monaten von den ungarischen Behörden die Situation der Flüchtlingsunterbringung als dramatisch eingestuft wird, zeigt der Umstand des bereits Ende Mai 2015 erklärten Aufnahmestopps von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Transfers wegen ausgeschöpfter Aufnahmekapazitäten bis zum 5. August 2015.
20S. E-Mail der Dublinet Hungary vom 29. Mai 2015 an die Europäischen Mitgliedsstaaten betr. INFO Transfer Stop.
21Als erschwerend ist die ablehnende Haltung der ungarischen Regierung gegenüber dem Dublin-Übereinkommen anzusehen, die das gesamte Dublin-Konzept als ein Systemfehler bezeichnet. Seitens der ungarischen Regierung wird unmissverständlich deutlich gemacht, dass man eine nennenswerte Zuwanderung sog. Wirtschaftsflüchtlinge nicht wünsche und Ungarn keine multikulturelle Gesellschaft werden wolle.
22Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015, aaO; Die Welt, Bericht vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat, abrufbar unter: http://www.welt.de/143027058; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, Die ungarische Regierung will Flüchtlinge ab sofort aussperren.
23Die mangelnde Bereitschaft der ungarischen Regierung zur Aufnahme von Dublin-Rückkehrern gipfelte schließlich in der am 23. Juni 2015 erfolgten Ankündigung des Regierungschef Orban, das EU Abkommen zur Aufnahme von Flüchtlingen auszusetzen. Begründet wurde diese Entscheidung mit dem Hinweis, dass die Kapazitäten ausgeschöpft seien („Das Boot ist voll“) und die ungarische Interessen sowie die ungarische Bevölkerung geschützt werden müssten.
24Vgl. Die Welt, Bericht vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat; aa0; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, aa0.
25Wenn auch diese Ankündigung bereits einen Tag später zurückgenommen wurde, so macht sie doch auf der einen Seite die dramatische Unterbringungssituation für die Flüchtlinge in Ungarn deutlich wie auch auf der anderen Seite die fehlende Bereitschaft staatlicher Stellen, die Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen und deren menschwürdige Unterbringung zu garantieren. Vielmehr ist zu konstatieren, dass die ungarische Regierung die Politik der Ausgrenzung weiter forciert. Ungeachtet internationaler Kritik hat Ungarn die Regeln für die Einwanderung verschärft. Am Montag, den 6. Juli 2015 verabschiedete das ungarische Parlament eine Verschärfung der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Der Zeitrahmen für Asylverfahren wird gekürzt werden. Mit der neuen Rechtslage wird ermöglicht, Asylanträge von Flüchtlingen abzulehnen, die über sichere Transitländer nach Ungarn gereist sind - selbst wenn sie aus Bürgerkriegsländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak stammen. Vorgesehen ist überdies, dass Asylbewerber zukünftig selbst für Kost und Unterbringung während der Antragsbearbeitung zahlen sollen.
26Vgl. spiegelonline. Überlastetes Asylsystem, aa0; Die Welt, Bericht vom 6. Juli 2015 Zuwanderung: Ungarn zieht Grenzzaun gegen Flüchtlinge hoch, abrufbar unter: http://www.welt.de/143651657.
27Angesichts dieser jüngeren Entwicklungen bestehen ernst zu nehmende Anhaltspunkte für die Annahme, dass das Asylsystem in Ungarn systemische Schwachstellen aufweist. Daher sieht sich das Gericht veranlasst, im vorläufigen Rechtsschutzverfahren – unter Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung - die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Ungarn nach summarischer Prüfung derzeit als offen zu betrachten. Die nähere Prüfung dieser in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht komplexen Fragestellung ist allerdings dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Im vorliegenden Verfahren überwiegt das Aussetzungsinteresse.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVG.
29Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
30Hemmelgarn
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 1489/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Februar 2015 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Der am 25. Februar 2015 sinngemäß gestellte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 1489/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Februar 2015 anzuordnen,
4hat Erfolg.
5Der Antrag ist zulässig und begründet.
6Der Antrag ist nach § 34a Abs. 2 S. 1 AsylVfG zulässig, insbesondere ist die dort bestimmte Antragsfrist von einer Woche nach Bekanntgabe gewahrt.
7Der Antrag ist auch begründet. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsanordnung durch § 75 AsylVfG gesetzlich angeordnete öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt. Die dabei vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Gunsten des Antragstellers aus. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützte Abschiebungsanordnung in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides begegnet nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
8Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Es bestehen erhebliche Zweifel, dass die hierfür erforderlichen Voraussetzungen im vorliegenden Fall derzeit erfüllt sind.
9Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III‑VO). Diese findet gemäß ihres Art. 49 Unterabsatz 2 Satz 1 auf Schutzgesuche Anwendung, die nach dem 31. Dezember 2013 gestellt werden, mithin auch auf den von dem Antragsteller im Dezember 2014 gestellten Asylantrag.
10Nach Art. 13 Abs. 1 der Dublin III‑VO ist die Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers begründet worden. Nach dieser Norm ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrages zuständig, in den der betreffende Ausländer ausweislich der in dieser Norm genannten Erkenntnismittel aus einem Drittstaat kommend illegal eingereist ist, wenn der Tag des illegalen Grenzübertritts zum maßgeblichen Zeitpunkt der erstmaligen Beantragung internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat (vgl. Art. 7 Abs. 2 Dublin III‑VO) noch nicht länger als zwölf Monate zurückliegt. Die Anfrage im EURODAC-Verzeichnis hat nach Angaben des Bundesamtes in dem an Ungarn gerichteten Übernahmeersuchen am 30. Dezember 2014 ergeben, dass sich der Antragsteller vor seiner Einreise in das Bundesgebiet in Ungarn aufgehalten und dort am 10. November 2014 einen Asylantrag gestellt hat. Es liegen damit hinreichende Indizien dafür vor, dass der Antragsteller aus einem Drittstaat kommend illegal nach Ungarn eingereist ist.
11Die damit anzunehmende Zuständigkeit ist auch nicht nachträglich entfallen. Insbesondere hat das Bundesamt innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO genannten Frist am 29. Januar 2015 ein Wiederaufnahmegesuch an Ungarn gerichtet.
12Ungarn hat mit Schreiben vom 12. Februar 2015 dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben.
13Ferner ist die Zuständigkeit nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III‑VO wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Antragsgegnerin übergegangen. Die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Ungarn liegt weniger als sechs Monate zurück.
14Auch kann sich der Antragsteller nicht erfolgreich darauf berufen, die Antragsgegnerin sei verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO Gebrauch zu machen, weil ihrer Überstellung nach Ungarn rechtliche Hindernisse entgegenstünden. Die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an einen bestimmten Staat hindert nur die Überstellung dorthin, begründet aber kein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Antragsgegnerin,
15vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - C 394/12 -, juris, Rdn. 60, 62 und Urteil vom 14. November 2013 - C 4/11 -, juris, Rdn. 37; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6/14 -, juris, Rdn. 7.
16Gegenwärtig steht indes nicht im Sinne von § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG fest, dass die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn durchgeführt werden kann. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift ist es Aufgabe allein des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen.
17Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 1795/14-, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 30. August 2011 -18 B 1060/11 -, juris Rn. 4 und vom 3. März 2015 und ‑ 14 B 102/15.A ‑, juris; OVG Niedersachsen, Urteil vom 4. Juli 2012- 2 LB 163/10 -, juris Rn. 41; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 - OVG 2 S 6.12 -, juris Rn. 4 ff.; VGH Bayern, Beschluss vom 12. März 2014 - 10 CE 14.427 -, juris Rn. 4; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 25. April 2014 - 2 B 215/14 -, juris Rn. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Mai 2011 ‑ A 11 S 1523/11 -, juris Rn. 4 ff.; OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, juris Rn. 9 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29. November 2004- 2 M 299/04 -, juris Rn. 9 ff.
18Die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist nicht etwa nur zu unterlassen, wenn ein Abschiebungshindernis vorliegt, sondern darf erst dann ergehen, wenn ein solches ausgeschlossen ist ("feststeht, dass sie durchgeführt werden kann").
19Vgl. zum tatsächlichen Abschiebungshindernis der fehlenden Übernahmebereitschaft des Zielstaates: OVG NRW, Beschlüsse vom 3. März 2015 ‑ 14 B 101/15.A ‑ und ‑ 14 B 102/15.A ‑ sowie vom 10. März 2015 ‑ 14 B 162/15.A ‑; Funke-Kaiser in: GK AsylVfG 1992, Loseblattsammlung (Stand: November 2014), § 34a Rn. 20.
20Daran fehlt es hier nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung. Denn es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn gegenwärtig rechtlich unmöglich ist, weil ihm in diesem Falle wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen,
21vgl. zur Definition „systemischer Mängel“ im Einzelnen: Lübbe: „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, in: ZAR 2014, 105 ff,; EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rdn. 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, NVwZ 2011, 413,
22die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) droht.
23Systemische Mängel in diesem Sinne können angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch, vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können.
24Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rdn. 94.
25Die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend achtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Artikel 4 EU-GR-Charta implizieren,
26EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. –, juris, Rdn. 86.
27Eine Widerlegung der Vermutung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Das Gericht muss sich vielmehr die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
28Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014 – 10 B 6.14 –, juris, Rdn. 6 ff. m.w.N.
29Vorliegend dürften nach Auffassung des Gerichts zwar auch weiterhin keine hinreichenden Anhaltspunkte für systemische Mängel im oben genannten Sinn hinsichtlich der Aufnahmebedingungen in Ungarn bestehen,
30vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 20. März 2015 – 13 K 501/14. A –, juris; a.A. VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 3 K 2005/15.A -, www.nrwe.de.
31Demgegenüber ergeben sich jedoch hinsichtlich des Asylverfahrens in Ungarn solche hinreichenden Anhaltspunkte aus den am 6. Juli 2015 beschlossenen und zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts, soweit sie sich aus frei zugänglichen Veröffentlichungen ergeben,
32vgl. Information im englischsprachigen Internetangebot der ungarischen Regierung, http://www.kormany.hu/en/news/government-has-identified-list-of-safe-countries; UNHCR vom 2. Juli 2015, „UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste”, http://www.unhcr.org/559641846.html; aida: „Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries”, http://www.asylumineurope.org/news/23-07-2015/hungary-adopts-list-safe-countries-origin-and-safe-third-countries; amnesty international: „Hungary: Change to Asylum Law puts tens of thousands at risk”, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/07/hungary-change-to-asylum-law-puts-tens-of-thousands-at-risk/; alle abgerufen am 6. August 2015.
33Insbesondere begründet die Aufnahme von Serbien – neben allen anderen an Ungarn angrenzenden Staaten – in die Liste der sicheren Drittstaaten die Gefahr, dass der betroffene Antragsteller keinen Zugang zu einem Asylverfahren erhält, in dem eine inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe vorgenommen würde. Es besteht die Gefahr, dass er bei einer Überstellung nach Ungarn durch die dortigen Behörden ohne inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe nach europäischen Mindeststandards beispielsweise nach Serbien abgeschoben wird. Nach den Feststellungen des Europäischen Kommissars für Menschenrechte ist jedoch jedenfalls hinsichtlich Serbien äußerst zweifelhaft, dass das dortige Asylverfahren und die dortigen Aufnahmebedingungen den europäischen Mindestanforderungen entsprechen,
34vgl. Schreiben an den serbischen Premierminister und Innenminister vom 27. November 2013, https://wcd.coe.int/com.instranet.InstraServlet?command=com.instranet.CmdBlobGet&InstranetImage=2444713&SecMode=1&DocId=2108062&Usage=2, abgerufen am 6. August 2015.
35Damit liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Ungarn eine weitere Abschiebung in ein nicht sicheres Drittland und damit letztlich in sein Herkunftsland droht, ohne ihm Zugang zu einem Verfahren auf Zuerkennung internationalen Schutzes zu gewähren, in dem seine Fluchtgründe inhaltlich geprüft werden. Darin läge zugleich ein Verstoß gegen das Refoulement-Verbot zu Lasten des Antragstellers,
36so im Ergebnis auch VG Kassel, Beschluss vom 24. Juli 2015 – 6 L 1147/15.KS.A -, n.v.
37Ob und gegebenenfalls mit welcher Wahrscheinlichkeit eine solche Gefahr für den Antragsteller in seiner persönlichen Situation als Dublin-Rückkehrer tatsächlich besteht, bedarf weiterer Aufklärung im Hauptsacheverfahren.
38Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.
39Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 15 K 5237/15.A gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 20. Juli 2015 wird angeordnet, soweit dort unter Ziffer 2 die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn angeordnet ist.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Das am 27. Juli 2015 bei Gericht eingegangene vorläufige Rechtsschutzgesuch mit dem sinngemäß (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) gestellten Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 15 K 5237/15.A gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 20. Juli 2015 anzuordnen, soweit dort unter Ziffer 2 die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn angeordnet ist,
4hat Erfolg. Es ist als Anordnungsbegehren gemäß den §§ 123 Abs. 5, 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO zwar, weil der Klage gegen den Ablehnungsbescheid des Bundesamtes nach § 75 Abs. 1 AsylVfG kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung zukommt, statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist der Rechtsschutzantrag gegenüber der Abschiebungsanordnung, die auf § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG gestützt ist, fristgerecht gestellt. Ausweislich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ist der angegriffene Bundesamtsbescheid gerichtet an den Antragsteller am 23. Juli 2015 zur Post gegeben worden mit der Folge, dass das am 27. Juli 2015 gestellte vorläufige Rechtsschutzgesuch die einwöchige Antragsfrist des § 34 a Abs. 2 S. 1 AsylVfG jedenfalls wahrt.
5Das danach zulässige Rechtsschutzgesuch ist auch begründet.
6Gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache als Ergebnis einer Interessenabwägung, die in den Fällen des § 34 a Abs. 2 S. 1 AsylVfG nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte nicht den Einschränkungen des § 36 Abs. 4 S. 1 AsylVfG unterliegt,
7vgl. hierzu nur mit ausführlicher Darstellung des Gesetzgebungsverfahrens Verwaltungsgericht (VG) Trier, Beschluss vom 18. September 2013, 5 L 1234/13.TR, juris Rdnr. 5 ff. m. w. N.,
8die aufschiebende Wirkung einer Klage ganz oder teilweise anordnen, soweit ihr ‑ wie hier ‑ kein Suspensiveffekt zukommt. Dabei überwiegt das Aussetzungsinteresse des Betroffenen das Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung einer Verfügung, wenn entweder der angegriffene Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil an der sofortigen Vollziehung einer solchen Regelung kein öffentliches Interesse besteht, oder aber wenn die angegriffene Regelung bei summarischer Prüfung zwar einer Rechtskontrolle Stand hält, gleichwohl aber das Aufschubinteresse des Betroffenen dem Allgemeininteresse an ihrer sofortigen Vollziehung vorgeht. Die danach gebotene Interessenabwägung fällt hier zu Gunsten des Antragstellers aus. Die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet bei summarischer Prüfung im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) rechtlich durchgreifenden Bedenken mit der Folge, dass unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Belange des Antragstellers an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung kein öffentliches Interesse besteht.
9Die Abschiebungsanordnung ist wohl nicht rechtsfehlerfrei auf § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG gestützt. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27 a AsylVfG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind zumindest im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) nicht (länger) erfüllt.
10Ist ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, ist gemäß § 27 a AsylVfG ein Asylantrag unzulässig. Zu Recht hat das Bundesamt hier zur Bestimmung des Staates im Sinne des § 27 a AsylVfG die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III‑VO), herangezogen.
11Gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III‑VO ist Ungarn für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers zuständig, nachdem der Antragsteller nach eigenen Angaben Syrien im März 2012 verlassen hat und über die Türkei, Griechenland, Mazedonien und ‑ insoweit durch einen EURODAC-Treffer (HU2 …) bestätigt ‑ Ungarn sowie Österreich am 29. März 2015 in das Bundesgebiet eingereist ist und seit der Ankunft in Ungarn das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten des Dublin III‑Abkommens nicht wieder verlassen hat. Auch hat Ungarn dem Bundesamt gegenüber auf dessen Anfrage vom 7. Mai 2015 unter dem 12. Juni 2015 schriftlich seine Bereitschaft erklärt, den Antragsteller aufzunehmen.
12Auch ist die Antragsgegnerin nicht verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III‑VO Gebrauch zu machen und das Asylgesuch des Antragstellers selbst zu prüfen. Ein subjektives Recht des Asylbewerbers auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts vermittelt diese Vorschrift als Teil der Regelungen der Dublin III‑VO, die ausgerichtet an objektiven Kriterien der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten dienen, für sich genommen nicht.
13Vgl. Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteile vom 10. Dezember 2013, C 394/12, juris Rdnr. 60, 62, und vom 14. November 2013, C 4/11, juris Rdnr. 7; Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 19. März 2014, 10 B 6.14, juris Rdnr. 7.
14Gleichwohl begegnet die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung, die nur dann rechtsfehlerfrei ist, wenn ausgeschlossen werden kann, dass ein Abschiebungshindernis vorliegt,
15vgl. Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 28. April 2015, 22 L 1095/15.A; zum tatsächlichen Abschiebungshindernis der fehlenden Übernahmebereitschaft des Zielstaates: OVG NRW, Beschlüsse vom 3. März 2015, 14 B 101/15.A und 14 B 102/15.A, sowie Beschluss vom 10. März 2015, 14 B 162/15.A.,
16hier rechtserheblichen Bedenken, die der Überprüfung im Hauptsacheverfahren bedürfen.
17Entgegen den Vorgaben des § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG steht derzeit nicht fest, dass der Antragsteller nach Ungarn abgeschoben werden kann, weil gewichtige Gründe für die Annahme sprechen, dass die Abschiebung Ungarn im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO unmöglich ist, weil der Antragsteller im hier maßgeblichen Prognosezeitraum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Ungarn wegen systemischer Mängel des dortigen Verfahrens zur Schutzgewährung der ernsthaften Gefahr ausgesetzt sein wird, eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) zu erfahren.
18Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III‑VO wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der für die Prüfung des Schutzgesuchs zuständige Mitgliedsstaat, wenn eine Überstellung des Schutzsuchenden in den nach Kapitel III der Dublin III‑VO bestimmten Mitgliedsstaat unmöglich ist, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder unwürdigeren Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtscharta mit sich bringen, und nach Kapitel III der Dublin III‑VO kein anderer Mitgliedsstaat als zuständig bestimmt werden kann.
19Die dem gemeinsamen europäischen Asylsystem zu Grunde liegende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Schutzsuchenden einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend beachtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn die aus Tatsachen abgeleitete Gefahr besteht, dass der Schutzsuchende in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, entgegen den Vorgaben des Art. 4 EU-Grundrechtscharta bzw. Art. 3 der Konvention unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden wird, weil das Verfahren zur Schutzgewährung und die Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen. Solche Mängel können allerdings erst dann angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen von einer Art. 4 EU-Grundrechtscharta bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen zu verzeichnen sind, sondern strukturell bedingt sind und dem überstellenden Staates nicht unbekannt sein können.
20Vgl. zum Ganzen: EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011, C 411/10 u. a., juris Rdnr. 83 ff; Europäischer Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR), Urteil vom 21. Januar 2011, 30696/09, juris.
21Insoweit ist damit ist eine Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat rechtlich unzulässig, sofern mit beachtlicher, das heißt überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass der Schutzsuchende dort wegen systemischer Mängel des Verfahrens zur Schutzgewährung oder der Aufnahmebedingungen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird,
22vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014, 10 B 6.14, juris Rdnr. 6,
23nicht aber schon dann, wenn der Zielstaat der Überstellung trotz möglicher Mängel in der Durchführung des Schutzverfahrens seine rechtlichen Verpflichtungen jedenfalls soweit erfüllt, dass eine Überstellung des Schutzsuchenden dorthin zumutbar erscheint.
24Vgl. etwa VG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Januar 2015, 13 L 58.15.A, VG Berlin, Beschlüsse vom 15. Januar 2015, 23 L 899.14 A, und vom 4. August 2014, 34 L 78.14 A, jeweils juris.
25Gemessen daran liegen zumindest gewichtige Anhaltspunkte tatsächlicher Art vor, die geeignet sein können, eine Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn rechtlich auszuschließen und deshalb einer näheren Überprüfung im Hauptsacheverfahren bedürfen. Namentlich spricht derzeit Vieles dafür, dass der Antragsteller im Fall seiner Überstellung nach Ungarn in dem hier maßgeblichen Prognosezeitraum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen systembedingter Mängel des Verfahrens zur Schutzgewährung eine Behandlung erfahren wird, die die hier rechtlich allein maßgeblichen Grenzen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bzw. der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzt.
26Belastbare Anhaltspunkte für diese Annahme ergeben sich aus den öffentlich zugänglichen Informationen über das in Ungarn am 6. Juli 2015 beschlossene und zum 1. August 2015 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung des dortigen Asylrechts.
27Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building A Legal Fence, Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, Information note, 7 August 2015, abrufbar unter http://helsinki.hu/en/new-asylum-rules-endanger-access-to-protection (Stand: 20 August 2015); Information im englischsprachigen Internetangebot der ungarischen Regierung, http://www.kormany.hu/en/news/government-has-identified-list-of-safe-countries; UNHCR vom 2. Juli 2015, „UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste”, http://www.unhcr.org/559641846.html; aida: „Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries”, http://www.asylumineurope.org/news/23-07-2015/hungary-adopts-list-safe-countries-origin-and-safe-third-countries; amnesty international: „Hungary: Change to Asylum Law puts tens of thousands at risk”, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/07/hungary-change-to-asylum-law-puts-tens-of-thousands-at-risk/; alle abgerufen am 6. August 2015.
28Danach sind nicht nur die Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeiten nach dem Dublin III‑Abkommen und zur Prüfung eines Asylgesuchs in Zuständigkeit des ungarischen Staates sowohl vor den ungarischen Behörden wie vor den ungarischen Gerichten etwa durch die Verkürzung von Fristen und die an Fristversäumnisse angeknüpften Sanktionen sowie neu gefasste Beweislastregeln formell wie materiell in einer Weise verändert worden, die ernsthaft befürchten lässt, dass das ungarische Asylrecht seit dem 1. August 2015 nicht nur etwa hinter den Verfahrensgarantien gemäß den Artikeln 26 ff. Dublin III‑VO und den Vorgaben der Richtlinie 2011/95/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9 ff.) zurückbleibt, sondern die in Ungarn Schutzsuchenden auch in Rechten verletzt, die ihnen auf europäischer Ebene grundrechtlich verbürgt sind. Ferner rechtfertigt die durch die Asylrechtrechtsnovelle bewirkte Aufnahme (insbesondere) Serbiens in den Kreis der aus Sicht des ungarischen Staates sicheren Drittstaaten die ernsthafte Besorgnis, dass Schutzsuchende in Ungarn ohne inhaltliche Prüfung ihrer Fluchtgründe in Staaten abgeschoben werden, für die ‑ wie etwa Serbien ‑,
29vgl. Commissioner for Human Rights, Council of Europe, Schreiben an den serbischen Premierminister und Innenminister vom 27. November 2013, https://wcd.coe.int/com.instranet.InstraServlet?comand=com.instranet.CmdBlobGet&InstranetImage=2444713&SecMode=1&DocId=2108062&Usage=2, abgerufen am 6. August 2015,
30zumindest zweifelhaft ist, dass die dortigen Asylverfahren den europäischen Mindestmindestanforderungen entsprechen und sicherstellen, dass Abschiebungen in andere nicht sichere Drittstaaten oder Rückführungen in das Herkunftsland des Schutzsuchenden unter Verstoß gegen das Refoulement-Verbot ausgeschlossen sind.
31Vgl. zu Letzterem schon Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 6. August 2015, 22 L 2205/15.A, n. v. sowie Beschluss vom 7. August 2015, 22 L 616/15.A, zur Veröffentlichung vorgesehen: www.nrwe.de und juris.
32Dass die zum 1. August 2015 in Ungarn geänderten asylrechtlichen Bestimmungen auf Dublin-Rückkehrer keine Anwendung finden, lässt sich dabei derzeit verlässlich nicht feststellen.
33Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
34Der Wert des Verfahrensgegenstandes ergibt sich aus § 30 RVG.
35Der Beschluss ist unanfechtbar; § 80 AsylVfG.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.7.2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
T a t b e s t a n d
2Der am 00.0.0000 in Vate im Kosovo geborene Kläger ist kosovarischer Staatsangehöriger albanischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit. Er reiste im Februar 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der ihn am 15.2.2015 aufgreifenden Bundespolizei teilte er mit, Asyl beantragen zu wollen und einen Asylantrag in Ungarn, falls er einen gestellt habe, hiermit zurückziehen zu wollen. Er wolle in Deutschland arbeiten und mit dem verdienten Geld seine Familie im Kosovo unterstützen. Ihm hätten im Kosovo die Mandeln entnommen werden müssen, wozu ihm das Geld gefehlt habe. Gegenüber der Ausländerbehörde der Stadt Köln verneinte er am 17.2.2015, in Deutschland einen Asylantrag stellen zu wollen. Er gab weiter an, am 15.2.2015 aus seinem Heimatland ausgereist und über Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland gereist zu sein, weil er zu Hause aus wirtschaftlichen Gründen keine Lebensperspektive habe.
3Die EURODAC-Anfrage ergab einen Treffer für Ungarn. Daraufhin richtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 27.2.2015 ein Wiederaufnahmegesuch unter Hinweis auf den dort am 8.2.2015 gestellten Asylantrag des Klägers an Ungarn. Am 12.3.2015 stimmte Ungarn der Rückführung des Klägers nach Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) zu.
4Mit Bescheid vom 31.7.2015 ordnete das Bundesamt die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
5Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 12.8.2015 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt, das ungarische Asylverfahren leide an systemischen Mängeln.
6Der Kläger beantragt,
7den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.7.2015 aufzuheben.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
11Auf den gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten Eilantrag des Klägers vom12.8.2015 hin hat der Einzelrichter im Verfahren 18 L 2015/15. A mit Beschluss vom 17.8.2015 die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage angeordnet.
12E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
13Der Einzelrichter entscheidet im Einverständnis der Beteiligten über die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO). Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig,
14vgl. OVG NRW, Urteil vom 7.3.2014 - 1 A 21/12.A -, juris,
15und auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entscheidungserheblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat zu Unrecht auf der Grundlage des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) an, wenn er dorthin abgeschoben werden soll, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
16Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staats ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-VO).
17Danach bestand gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten.
18Insoweit ist es unerheblich, dass der Kläger in Deutschland keinen Asylantrag gestellt hat. In einem solchen Fall ist Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO einschlägig. Danach kann ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich eine Person im Sinne des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO ohne Aufenthaltstitel aufhält und bei dem kein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wieder aufzunehmen, wenn er der Auffassung ist, dass der andere Mitgliedstaat gemäß Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO zuständig ist.
19Die Voraussetzungen des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO sind erfüllt. Denn der Kläger ist ein Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags im zuständigen Mitgliedstaat (hier: in Ungarn) sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: in Deutschland) ohne Aufenthaltstitel aufhält.
20Gemäß Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO müssen die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO (nach Auffassung des ersuchenden Mitgliedstaats, hier: Deutschlands) zusätzlich erfüllt sein, weil diese nach dem deutschen, englischen, französischen und niederländischen Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO („und“/„and“/„et“/„en“) kumulativ und nicht lediglich alternativ aufgeführt sind. Dass diese Formulierung in Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO nicht lediglich sprachlich verunglückt ist, folgt aus dem Gegenschluss der nachfolgenden, die Buchstaben b, c, d des Art. 18 Dublin III-VO betreffenden Formulierung des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO. Nach dem Wortlaut sämtlicher oben genannter Sprachen („oder“/„or“/„ou“/„of“) werden die Buchstaben b, c, d des Art. 18 Dublin III-VO in Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO nämlich eindeutig alternativ aufgeführt. Nach Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO ist der Mitgliedstaat, bei dem der erste Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde (hier: Ungarn), gehalten, einen Antragsteller, der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: in Deutschland) aufhält, nachdem er seinen ersten Antrag noch während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zurückgezogen hat, nach den Bestimmungen der Art. 23, 24 und 29 Dublin III-VO wieder aufzunehmen, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen.
21Hier braucht indes nicht entschieden zu werden, ob die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO erfüllt sind. Wenn die Erklärung des Klägers gegenüber der Bundespolizei in Rosenheim, den Asylantrag zurücknehmen zu wollen, auch gegenüber den ungarischen Behörden gelten sollte, sind die Voraussetzungen auch des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO erfüllt. Das selbe könnte dann gelten, wenn das Verfahren in Ungarn deshalb als zurückgezogen gelten sollte, weil der Kläger Ungarn noch vor einer dortigen Asylentscheidung verlassen hat.
22Hat der Kläger dagegen den in Ungarn gestellten Asylantrag nicht zurückgezogen, gelten Art. 20 Abs. 5 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO über ihren Wortlaut hinaus erst recht. Art. 20 Abs. 5 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO gelten gerade dann, wenn eine Person in einem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat und sodann in einen anderen Mitgliedstaat ausgereist ist, ohne dass er in dem anderen Mitgliedstaat einen weiteren Asylantrag gestellt und ohne dass er den im ersten Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zurückgenommen hat. Denn die Art. 20 Abs. 5, 21, 23 und 24 Dublin III-VO sollen als umfassendes Gesamtsystem sicherstellen, dass der zuständige Mitgliedstaat einen in einen anderen Mitgliedstaat ausgereisten Antragsteller von diesem anderen Mitgliedstaat aufnimmt oder wieder aufnimmt, um das Verfahren des Antragstellers fortzusetzen bzw. zum Abschluss zu bringen.
23Dass das System der Dublin III-VO für jede Fallgestaltung gilt und deshalb grundsätzlich auch in einem Fall wie dem vorliegenden ein Mitgliedstaat die Übernahme eines Asylantragstellers durch einen anderen Mitgliedstaat verlangen kann, wird letztlich aus Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO deutlich. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden kann, etwa weil in allen oder auch nur einem dieser Mitgliedstaaten systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO bestehen. Folgt aus dieser Ausnahmeregelung des Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO, dass nach der Dublin III-VO auf jeden Fall ein Mitgliedstaat für die materielle Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, auch wenn der Antrag ausschließlich in einem anderen Mitgliedstaat gestellt worden ist, wird daran zum einen deutlich, dass innerhalb der Europäischen Union kein Asylantrag unbeschieden bleiben darf, und zum anderen, dass dieser Ausnahmeregelung eine Regel zugrundeliegt, wonach – vorbehaltlich der in Kapitel III Dublin III-VO genannten Kriterien – ein Mitgliedstaat, in dem eine Person zuerst einen Asylantrag gestellt hat, regelmäßig vor einem anderen Mitgliedstaat für die materielle Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist und demzufolge – vorbehaltlich der in Kapitel III Dublin III-VO genannten Kriterien – ein anderer Mitgliedstaat grundsätzlich von dem ersten Mitgliedstaat in jeder Fallgestaltung die Übernahme des Asylantragstellers verlangen kann.
24Nunmehr ist allerdings die Beklagte für die Entscheidung über das (ausschließlich in Ungarn gestellte) Asylbegehren des Klägers zuständig, weil die Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO einschlägig ist. Denn einer Überstellung des Klägers nach Ungarn stehen systemische Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegen, und eine weitere Prüfung, ob ein dritter Mitgliedstaat zuständig ist, verspricht nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen keinen Erfolg.
25Die Dublin III-VO beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der GFK und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (GrCh) sowie mit der GFK und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GrCh implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat" im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden.
26Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - Rs C-411/10 und C-493/10 -, juris; EGMR, Urteil vom 21.1.2011 - 30696/09 - M.S.S. / Belgien und Griechenland - und Urteil vom 4.11.2014 - 29217/12 - Tarakhel / Italien -.
27Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen" ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der GFK und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
28Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel" in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff.; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
29Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem - aus welchen Gründen auch immer - faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weit gehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK kommt.
30Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.3.2014 - 10 B 6.14 - und vom 6.6.2014 - 10 B 35.14 -, juris.
31Nicht erforderlich ist, dass sich der systemische Mangel bzw. die strukturelle - systemische - Schwachstelle auf eine unüberschaubare Vielzahl, die Mehrheit aller Asylbewerber oder gar auf alle Asylbewerber auswirkt. Ein systemischer Mangel kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn nur eine geringe Anzahl von Asylbewerbern betroffen ist, soweit dies vorhersehbar und regelhaft geschieht.
32Vgl. VGH BW, Urteile vom 18.3.2015 - A 11 S 2042/14 - und vom 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 -; Lübbe, a. a. O.
33Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
34Vgl. Lübbe, a. a. O.
35Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
36Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.5.2013 - C-528/11 -, juris.
37Für die Rechtsfrage einer Verletzung des Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des EGMR eine Orientierungs- und Leitfunktion.
38Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn bereits aufgrund der dort bestehenden Inhaftierungspraxis die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Diesbezüglich schließt sich die Kammer der Rechtsprechung der
393. Kammer des VG Köln, Urteil vom 15.7.2015 - 3 K 2005/15.A -, NRWE,
40an sowie deren Begründung, die nachfolgend wiedergegeben wird.
41Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d. h. Personen, die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR
42vgl. Auskunft vom 30.9.2014 an das VG Bremen,
43mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen. Diese Inhaftierungspraxis begegnet bereits deshalb Bedenken, weil nach den UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden Asylsuchende grundsätzlich nicht in Haft genommen werden sollten und Haft immer nur das letzte Mittel darstellen darf. Da Asylsuchende meist bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, kann sie nämlich eine Inhaftierung mit besonderer Härte treffen.
44Vgl. UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen unter Hinweis auf UNHCR, Detention Guidelines, 2012.
45Diesen Anforderungen wird die in dem seit dem 1.7.2013 geltenden ungarischen Asylgesetz geregelte Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten schon deshalb nicht gerecht, weil die dort genannten Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und auch die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nach der Auskunft des UNHCR nicht mit Gründen versehen wird. Die ungarischen Behörden scheinen dabei bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr anzunehmen.
46UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
47Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh. Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
48UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
49Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
50UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
51Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
52So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
53Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
54UNHCR vom 30.9.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.
55Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weit gehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird.
56Schließlich entsprechen auch die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe.
57UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.9.2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
58Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR
59vgl. Auskünfte vom 9.5. und 30.9.2014 an das VG Düsseldorf,
60an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen" von Strafgefangenen an einer Leine - zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen - noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen
61Detention Guidelines a. a. O.,
62ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben.
63Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
64So unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung im Ergebnis auch: VG Münster, Beschluss vom 7.7.2015 - 2 L 858/15.A -; VG Bremen, Beschluss vom 1.4.2015 - 3 V 145/15 -; VG München, Beschluss vom 20.2.2015 - M 24 S 15.50091 - und VG Berlin, Beschluss vom 15.1.2015 - 23 L 899.14 A - jeweils m. w. N. (alle juris); a. A. u.a. VG Düsseldorf, Urteil vom 20.3.2015 - 13 K 501/14.A; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.6.2015 - 7a L 1208/15.A -; BayVGH, Beschluss vom 12.6.2015 - 13a ZB 15.50097 - (alle juris).
65Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner
66Stellungnahme vom 30.9.2014 an das VG Bremen
67ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
68UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen.
69Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der EGMR mit
70Urteil vom 3.7.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12)
71entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen - wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen - nicht erfüllt.
72Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit. Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.7.2015 sollen es bis zu 78000 Flüchtlinge gewesen sein.
73Vgl. Pressemitteilung des ungarischen Ministry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence".
74Andere Quellen sprechen von 61000 Flüchtlingen.
75So die Pressemitteilung des UNHCR vom 2.7.2015, „UNHCR urges Hungary not to amend its asylum system in a rush, ignoring international standards".
76Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlingen im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet sein soll.
77Vgl. zu einer ähnlichen Überlegung zu Italien bei einem zahlenmäßig noch deutlich günstigeren Verhältnis von ca. 35000 Aufnahmeplätzen und 7900 Flüchtlingen in den ersten zwei Monaten 2015 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.5.2015 - 8 K 1694/15.A -, juris Rz. 40 ff.
78Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind.
79Dass das ungarische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, wird bestätigt durch die hinter den Missständen stehende Absicht der ungarischen Behörden. Deren Einstellung wird nicht nur durch das Fehlen zielgerichteter Maßnahmen zur Beseitigung des derzeit in Ungarn, vor allem an Budapester Bahnhöfen und an anderen ungarischen Orten herrschenden Flüchtlingschaos erkennbar, sondern zusätzlich durch die jüngsten Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán gegenüber Organen der Europäischen Union, wonach bestimmte Flüchtlingsgruppen kein Problem Ungarns darstellten und das Land von vornherein Flüchtlinge gewisser Herkunftsländer wegen deren nichtchristlicher Religionszugehörigkeit nicht aufzunehmen gewillt sei.
80Tagesschau.de vom 4.9.2015: „Zug steht still – Orbán als `Schande´ kritisiert“; DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „Ungarn voller Angst, Europäer voller Angst“; ZEIT ONLINE vom 3.9.2015: „Orbán nennt Flüchtlingskrise `ein deutsches Problem´“.
81Unabhängig von diesen Gründen bestehen nach Auffassung der Kammer auch aus einem weiteren Grund in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Kläger tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden. Diese betreffen sämtliche Asylbewerber, die auf dem Landweg über die so genannte Balkan-Route nach Ungarn gelangen. Das erfolgt ausschließlich über Serbien. Über 99 % aller Asylsuchenden gelangen über die serbisch-ungarische Grenze nach Ungarn.
82FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
83Das war nach seinen Angaben auch beim Kläger der Fall. Seit Jahresbeginn wurden knapp 100000 Migranten registriert, von denen praktisch alle in wohlhabendere Länder der EU weiterreisen wollen.
84FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“.
85Zum 1.8.2015 ist ein ungarisches Gesetz in Kraft getreten, das u.a. Serbien zum sicheren Drittstaat erklärt. Diese Änderung des Asylgesetzes ermöglicht voraussichtlich ab dem 15.9.2015,
86Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“,
87die Ablehnung von Asylanträgen als unzulässig mit der Folge, dass in Ungarn die Anträge solcher Asylsuchender im Normalfall nicht mehr materiell geprüft werden und eine sofortige Abschiebung nach Serbien droht.
88DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „500 Flüchtlinge verweigern Fahrt in ungarisches Aufnahmelager“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritte vom 21.7.2015: „Mit Zelten in die Pampa: Ungarns Umgang mit Flüchtlingen“ und vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“; SPIEGEL ONLINE vom 6.7.2015: „Überlastetes Asylsystem: Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen“; Pester Lloyd, Internetauftritte vom 6.7.2015: „Gesetzesflut im ungarischen Parlament: Quasi-Aufhebung des Rechtes auf Asyl ...“ und vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“; Amnesty International: Europe´s Borderlands – Violations against Refugees and Migrants in Macedonia, Serbia and Hungary, Juli 2015, S. 61; ZEIT ONLINE vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Grenzzaun aufhalten“; n-tv, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Zaun gegen Migranten – Ungarn macht Grenze zu Serbien dicht“; Süddeutsche Zeitung, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Vier-Meter-Zaun abhalten“.
89Von 2010 bis 2012 hatte Ungarn bereits Flüchtlinge völkerrechtswidrig nach Serbien abgeschoben, was zu scharfer Kritik der EU-Kommission geführt hatte.
90PRO ASYL, Internetauftritt vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“.
91Die Republik Serbien hat jedoch angekündigt, sie sei nicht gewillt, zigtausenden Flüchtlingen, die nicht weiterkämen, wochen- oder monatelang Unterkunft zu gewähren, weil das die Ressourcen des Landes nicht hergäben. Man werde auch keine Flüchtlingslager bauen.
92Pester Lloyd, Internetauftritt vom 21.8.2015.
93Serbien hat auch kein funktionierendes Asylsystem.
94Vgl. die Einzelheiten in: Amnesty International a. a. O., S. 35 - 45.
95Menschenrechtsorganisationen haben das Fehlen eines funktionierenden Schutzsystems in Serbien immer wieder kritisiert.
96PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
97Im April 2008 trat Serbiens Asylgesetz in Kraft.
98PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
99Seither ist die Zahl der registrierten Asylsuchenden – also ohne diejenigen Personen, die Serbien lediglich „durchqueren“, ohne registriert zu werden – exponentiell gestiegen. Betrug sie im Jahr 2008 nur 77, im Jahr 2009 erst 275 und im Jahr 2010 noch 522, stieg sie im Jahr 2011 auf 3132 an, sank im Jahr 2012 etwas auf 2723, um im Jahr 2013 auf 5066 und im Jahr 2014 auf 16490 Personen anzuschwellen.
100Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Serbien (Stand: November 2014) vom 15.12.2014 (Lagebericht Serbien), S. 13; Amnesty International a. a. O., S. 36.
101Die Anerkennungsrate von Asylsuchenden als Flüchtlinge in Serbien ist äußerst gering.
102AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
103Bis Ende 2014 wurden lediglich sechs Personen als Flüchtlinge anerkannt, zwölf erhielten einen subsidiären Schutzstatus. Bis Ende Mai 2015 wurde weiteren vier Flüchtlingen Asyl gewährt.
104PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
105Die serbische Anerkennungsquote ist auch unter Herausrechnen der Personen, die letztlich keinen Asylantrag stellen oder ein laufendes Verfahren nicht abwarten und weiterreisen, gering. Denn im Jahr 2011 erhielt keiner der 3134 registrierten Antragsteller Asyl, im Jahr 2012 erhielten von 2723 Antragstellern lediglich drei Personen subsidiären internationalen Schutz, und im Jahr 2013 wurden bei insgesamt 5066 Antragstellern von 193 in den Blick genommenen Anträgen vier bestätigt, 13 verworfen oder abgewiesen und 176 nicht fortgeführt. Obwohl geschätzt wird, dass von den 16490 Personen, die im Jahr 2014 angaben, Asyl beantragen zu wollen, nur die Hälfte auch tatsächlich einen Antrag auf Asyl in Serbien gestellt hat, wurden nur 1350 Asylsuchende tatsächlich registriert, und von 388 eingereichten Anträgen wurden 307 nicht fortgesetzt, weil der jeweilige Antragsteller während des Verfahrens untertauchte. Die Asylbehörde befragte im Jahr 2014 17 von 18 Antragstellern, gab sechs Anträgen statt, wobei einer Person der Flüchtlingsstatus und fünf Personen subsidiärer Schutz gewährt wurde, wohingegen zwölf Anträge abgelehnt wurden und vier Anträge aus dem Jahr 2014 im Jahr 2015 noch in Bearbeitung waren. Obwohl die Flüchtlinge viele Gründe dafür hatten, weiterzureisen, anstatt in Serbien um Asyl nachzusuchen oder ein Asylverfahren abzuwarten, scheinen Unzulänglichkeiten im serbischen Asylsystem eine Rolle für solche Entscheidungen zu spielen.
106Amnesty International a. a. O., S. 36 f.
107Aus dem Kreis der registrierten potentiellen Asylbewerber hat deshalb nur ein kleiner Teil tatsächlich einen Asylantrag gestellt, weil der Prozess dafür in Serbien sehr komplex ist.
108AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
109Asylbewerbern Rechtshilfe leistende Nichtregierungsorganisationen meinen, dass die serbische Politik der sicheren Herkunftsländer in großem Umfang fortgeführt wird. So wurden beispielsweise von 17 von der Asylbehörde im Jahr 2014 entschiedenen Fällen sieben in der Zeit von Januar bis April berücksichtigte Anträge zurückgewiesen, weil der jeweilige Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat nach Serbien gekommen war. Diesen Asylbewerbern wurde weder Asyl noch irgend eine andere Form von Schutz gewährt. Die Mehrheit der Berufungen wird üblicherweise ohne Rücksicht auf ihre Gründe abgewiesen. Das schließt Berufungen gegen erstinstanzliche Entscheidungen ein, die auf dem Konzept der sicheren Drittstaaten beruhen. Eine Begründung für die Zurückweisung der Berufung wird selten gegeben.
110Amnesty International a. a. O., S. 41 f.
111Zahlreichen Schutzsuchenden droht in Serbien die Zurückschiebung nach Mazedonien oder Griechenland.
112PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“.
113Im Jahr 2012 hatte der UNHCR die Republik Serbien beschuldigt, Massenabschiebungen von Flüchtlingen und Migranten nach Mazedonien durchzuführen. Der UNHCR hatte ferner vorgetragen, dass in einigen Fällen Flüchtlinge und Migranten, die von Ungarn nach Serbien abgeschoben worden waren, informell anstatt nach den Regeln des zwischen Serbien und Mazedonien abgeschlossenen Wiederaufnahmeabkommens nach Mazedonien verbracht worden waren. Im Mai 2015 äußerte das Committee against Torture (CAT) Befürchtungen hinsichtlich des erhöhten Risikos eines refoulement für Personen, die durch die serbischen Behörden nach Mazedonien verbracht worden sind.
114Amnesty International a. a. O., S. 33 f.
115Die ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien hat ebenfalls kein effektives Asylsystem, vielmehr besteht dort die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen und eines refoulement durch Abschiebungen nach Griechenland.
116Amnesty International a. a. O., S. 40 f.
117Der ohnehin schwache Rechtsstaat wird derzeit durch die autoritäre Politik der größten Regierungspartei erheblich in Frage gestellt.
118AA: Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien (Stand: August 2015) vom 12.8.2015, S. 4.
119Griechenland weist seinerseits systemische Mängel im Sinne der Rechtsprechung des EuGH auf.
120Abgesehen davon verstößt die Gefahr von Kettenabschiebungen gegen das Prinzip des non-refoulement und damit gegen Art. 18 GrCh in Verbindung mit Art. 33 Abs. 1 GFK, zumal gerade hier die Gefahr besteht, dass der Kläger von Serbien aus in seinen Herkunftsstaat, den Kosovo, abgeschoben wird, ohne dass zuvor sein Schutzgesuch geprüft worden ist. Insoweit ist es dem Gericht rechtlich auch verwehrt, die Erfolgsaussichten des Asylantrags des Klägers auf der Grundlage seiner bisherigen Angaben materiellrechtlich zu prüfen, weil es aus den eingangs dargelegten Gründen auch nicht „durchentscheiden“ darf.
121Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen.
122Vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste.
123Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden.
124Unterbleiben kann ferner die rechtliche Einordnung der beabsichtigten Schaffung der Möglichkeit, die ungarische Armee an der Grenze einzusetzen.
125Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.9.2015: „Ungarn bereitet Militäreinsatz gegen Flüchtlinge vor: Opposition will Orbán vor Internationalen Strafgerichtshof bringen“.
126Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.6.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.
127Dieser letztgenannte Umstand ist jedoch ein weiterer Grund dafür, dass die – hier allein streitbefangene – Anordnung, den Kläger nach Ungarn abzuschieben, rechtswidrig ist. Insoweit liegen die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 AsylVfG nicht (mehr) vor. Nach dieser Norm ordnet das Bundesamt ohne vorherige Anordnung und Fristsetzung die Abschiebung eines Ausländers in den für das Asylverfahren zuständigen Staat an, „sobald feststeht“, dass sie durchgeführt werden kann. Der Gesetzgeber wollte mit § 34a Abs. 1 AsylVfG die Möglichkeit schaffen, für eine in der Regel nur kurzfristig durchgeführte durchführbare Rückführung ein verkürztes Verfahren zu schaffen. Die Abschiebungsanordnung ist deshalb nicht quasi auf Vorrat zulässig, sondern erst dann, wenn das Übernahmeverfahren positiv abgeschlossen ist, weil der andere Staat seine Übernahmebereitschaft auf die vorhergesehene Art und Weise verbindlich erklärt hat und die näheren Umstände der Überstellung wenigstens dem Grundsatz nach geklärt sind, etwa wenn zwischen dem jeweiligen Staat und der Bundesrepublik Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren praktiziert wird, das die zuverlässige Prognose zulässt, die Übernahme werde in naher Zukunft abgeschlossen werden können. Das Bundesamt hat vor Erlass der Abschiebungsanordnung der Frage nachzugehen, ob der ersuchte Mitgliedstaat tatsächlich zur (Wieder-) Aufnahme bereit ist. Zudem ist – solange die Abschiebung eines Ausländers aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist – auch ein Vollzugshindernis im Sinne des § 60a AufenthG gegeben und hindert den Erlass einer Abschiebungsanordnung. Die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist dann anzunehmen, wenn für einen vorausschaubaren Zeitraum die Abschiebung ausgeschlossen ist und erst recht, wenn die Abschiebungsmöglichkeit zeitlich völlig ungewiss ist. Unter Berücksichtigung der Auskünfte des Bundesamts gegenüber dem VG Oldenburg kann derzeit eine hinreichend zuverlässige Prognose, die Übernahme des Klägers durch Ungarn werde in naher Zukunft abgeschlossen sein, nicht erstellt werden. Ob und in welchem Umfang der ungarische Staat Asylsuchende im Rahmen des Überstellungsverfahrens aufnehmen wird, muss als offen angesehen werden. Auch die Zahlen, die das Bundesamt zu den im ersten Quartal 2015 aus Deutschland durchgeführten Überstellungen vorgelegt hat, wecken Bedenken daran, dass zwischen Ungarn und Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren besteht. Zwar hat Ungarn in 2300 Fällen den Übernahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland formal entsprochen, tatsächliche Überstellungen erfolgten jedoch nur in einem Umfang von ca. 1,4 %. Die offensichtlichen Probleme beim Vollzug der in der Dublin III-Verordnung normierten Regelungen zur Aufnahme bzw. Wiederaufnahme von Asylsuchenden und der Überstellung sind keine bloße zeitliche Verzögerung aufgrund administrativer Vorkehrungen für eine an sich bereits dem Grunde nach ins Auge gefasste Abschiebung.
128Vgl. zu diesen Aspekten, Zahlen und weiteren Nachweisen: VG Oldenburg, Urteil vom 19.6.2015 - 13 A 1294/15 -.
129Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
Tenor
Der Antrag wird - einschließlich des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe - abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Der Einzelrichter ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes für die Entscheidung zuständig (§ 76 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG).
3Der am 26. Mai 2015 sinngemäß gestellte Antrag,
4die aufschiebende Wirkung der Klage 8 K 3925/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Mai 2015 anzuordnen,
5hat keinen Erfolg.
6Er ist zulässig, insbesondere nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft.
7Der Antragsteller hat auch die Wochenfrist zur Stellung des Antrages gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG eingehalten. Der Bescheid vom 18. Mai 2015 wurde ihm am 21. Mai 2015 persönlich zugestellt. Der Antragsteller hat am 26. Mai 2015 fristgerecht den Eilantrag bei Gericht gestellt.
8Der Antrag hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
9Die vorzunehmende Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers hat sich maßgeblich - nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren, wie diese sich bei summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren abschätzen lassen.
10Vgl. zum Maßstab Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 1. August 2014 – 8 L 1195/14.A – m.w.N.
11Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zu Lasten des Antragstellers aus, denn der angefochtene Bescheid des Bundesamtes begegnet nach diesem Maßstab keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
12Das Bundesamt hat den Asylantrag des Antragstellers zu Recht gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt und geht von der Zuständigkeit Ungarns für dessen Prüfung aus.
13Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Beklagte den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
14Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-Verordnung).
15Gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-Verordnung wird der Antrag von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird. Lässt sich anhand der Kriterien der Dublin III-Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-Verordnung der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.
16Nach diesen Maßgaben ist Ungarn als der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig. Eine vorrangige Zuständigkeit nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-Verordnung liegt nicht vor. Die Asylantragstellung in Ungarn ergibt sich aus einem entsprechenden Eurodac-Treffer. Der Antragsteller hat das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten seither nicht verlassen. In diesem Fall ist Ungarn für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Nach Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-Verordnung ist Ungarn verpflichtet, den Antragsteller nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 Dublin III-Verordnung wieder aufzunehmen. Ungarn hat der Wiederaufnahme des Antragstellers mit Schreiben vom 22. April 2015 zugestimmt.
17Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-Verordnung.
18Ausgehend von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist ein Mitglied- oder Vertragsstaat unter bestimmten Umständen dazu verpflichtet, von der Rückführung in den an sich zuständigen Mitgliedstaat abzusehen. Das ihm insofern eingeräumte Ermessen ist Teil des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und stellt ein Element des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems dar. Bei der Ermessensausübung führt der Mitgliedstaat daher Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh) aus. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Europäischen Grundrechtecharta, aber auch der Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Art. 18 GRCh und Art. 78 AEUV). Die Mitgliedstaaten müssen bei ihrer Entscheidung, ob sie von dem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen, diese Grundsätze beachten.
19Vgl. ausführlich EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a., N.S. u.a. -, NVwZ 2012, 417 Rn. 96; Urteil vom 14. November 2013 - C-4/11, Puid -, NVwZ 2014, 170 Rn. 33; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. April 2014 – A 11 S 1721/13 -, juris Rn. 18; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12.A -, juris Rn. 28 ff.
20Nach diesem Maßstab liegen keine Voraussetzungen vor, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des den Bestimmungen der Dublin III-Verordnung zugrunde liegenden Systems des gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt wäre. Dies setzte voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen in Ungarn aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär wären, dass anzunehmen wäre, dass dem Antragsteller im konkreten Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohte.
21Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 – 10 B 6/14 –, juris.
22Nach diesem Maßstab liegen systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn nicht vor.
23Die 13. Kammer des beschließenden Gerichts hat nach Auswertung aktueller Erkenntnisse hierzu im Kammerurteil vom 20. März 2015 (13 K 501/14.A) wie folgt ausgeführt:
24„Systemische Mängel in diesem Sinne können erst angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Artikel 4 EU-GR-Charta bzw. Artikel 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) entsprechenden Gravität nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können,
25EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. –, juris, Rn. 94.
26Die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend achtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Artikel 4 EU-GR-Charta implizieren,
27EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. –, juris, Rn. 86.
28Eine Widerlegung der Vermutung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Das Gericht muss sich vielmehr die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
29Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014 – 10 B 6.14 –, juris, Rn. 6 m.w.N.
30Bei der Bewertung der in Ungarn anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind dabei vorliegend diejenigen Umstände heranzuziehen, die auf die Situation des Klägers zutreffen. Abzustellen ist demnach auf die Situation von Flüchtlingen in einer vergleichbaren rechtlichen oder tatsächlichen Lage, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Umständen keine unmittelbare Rolle spielt. Sie kann allenfalls ergänzend herangezogen werden, sofern sich diese Umstände auch auf die Situation des Klägers auswirken (können),
31vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12 –, juris, Rn. 130.
32Damit ist vorliegend in erster Linie die Situation von Dublin-Rückkehren zu betrachten, die wie der Kläger vor der Ausreise aus Ungarn dort bereits einen ersten Asylantrag gestellt haben, über den materiell noch nicht entschieden worden ist.
33Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage in dem zuständigen Mitgliedstaat sind nach der Rechtsprechung des EuGH im Übrigen die regelmäßigen und übereinstimmenden Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen, Berichte der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems und Berichte des UNHCR zur Lage von Flüchtlingen und Migranten vor Ort,
34vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C 411/10 et. al. –, juris, Rn. 90 ff.
35Letzteren Informationen kommt bei der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems in dem nach der Dublin II-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat besondere Relevanz zu. Dies entspricht der Rolle, die dem Amt des UNHCR durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden ist, wobei letztere bei der Auslegung der unionsrechtlichen Asylvorschriften zu beachten ist,
36vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013 – C 528/11 –, juris, Rn. 44.
37Für die Frage, ob in Ungarn „systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber“ im Sinne der zitierten Rechtsprechung vorliegen, kommen dabei allerdings vorliegend von vorne herein nur solche Auskünfte und Berichte der genannten Organisationen in Betracht, die sich mit der Sach- und Rechtslage in Ungarn seit dem 1. Juli 2013 befassen. Für den Zeitraum bis zum 30. Juni 2013, insbesondere ab dem 1. Januar 2013, ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte davon auszugehen, dass die in den Jahren bis 2012 festgestellten Mängel des ungarischen Asylsystems und der Aufnahmebedingungen durch zwischenzeitliche weitreichende tatsächliche und rechtliche Verbesserungen, insbesondere die vorübergehende Abschaffung der Inhaftierungsmöglichkeiten für Asylbewerber mit Wirkung zum 1. Januar 2013, entfallen sind,
38vgl. EGMR, Urteil vom 6. Juni 2013 – 2283/12 –, juris, Rn. 105, Mohammed gegen Österreich, in Auszügen veröffentlicht unter asyl.net.
39Zum 1. Juli 2013 wurde das Asylsystem Ungarns allerdings erneut verändert. Insbesondere wurden erneut umfassende Gründe für die Inhaftierung von Asylbewerbern, sog. asylum detention – eine durch die für das Asylverfahren zuständige Behörde angeordnete Verwaltungshaft – in das Asylrecht aufgenommen.
40Der EGMR, dessen Rechtsprechung auf der Ebene des (nationalen) Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dienen kann,
41vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04 –, juris, Rn. 32,
42und dessen Rechtsprechung maßgeblich für die Auslegung der Menschenrechte der EMRK ist, hat mit Urteil vom 3. Juli 2014 das Vorliegen systemischer Mängel in Ungarn unter Berücksichtigung der veränderten Rechtslage verneint. Zur Begründung führte er aus:
43„The country reports showed that there is still a practice of detaining asylum-seekers, and that so-called asylum detention is also applicable to Dublin returnees. The grounds for detention are vaguely formulated, and there is no legal remedy against asylum detention. However, the reports also showed that there is no systematic detention of asylum-seekers anymore, and that alternatives to detention are now provided for by law. The maximum period of detention has been limited to six months. Turning to the conditions of detention, it is noted that while there are still reports of shortcomings in the detention system, from an overall view there seem to have been improvements.
44Moreover, the Court notes that the UNHCR never issued a position paper requesting EU member States to refrain from transferring asylum‑seekers to Hungary under the Dublin II or Dublin III Regulation (compare the situation relating to Greece discussed in M.S.S. v. Belgium and Greece, cited above, § 195, and the UNHCR recommendation of 2 January 2013 to halt transfers to Bulgaria).
45Under those circumstances and as regards the possible detention of the applicant and the related complaints, the Court concludes that in view of the recent reports cited above, the applicant would currently not be at a real and individual risk of being subjected to treatment in violation of Article 3 of the Convention upon a transfer to Hungary under the Dublin Regulation.”
46EGMR, Urteil vom 3. Juli 2014 – 71932/12 –, Mohammadi gegen Österreich, Rn. 68 bis 70.
47Auch das erkennende Gericht vermag nach Auswertung der im vorliegenden Verfahren eingeholten aktuellen Auskünfte des UNHCR, des Auswärtigen Amtes und von Pro Asyl – welche dem EGMR bei seiner Entscheidung nicht vorlagen – nicht festzustellen, dass der Kläger Gefahr liefe, nach seiner Rücküberstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Artikel 4 EU-GR-Charta bzw. im Sinne von Artikel 3 EMRK zu unterfallen. Dies ergibt sich aus folgenden rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen:
48Artikel 4 EU-GR-Charta bzw. Artikel 3 EMRK normieren das Verbot der Folter und unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung. Eine Behandlung ist „unmenschlich”, wenn sie vorsätzlich und ohne Unterbrechung über Stunden zugefügt wurde und entweder körperliche Verletzungen oder intensives physisches oder psychisches Leid verursacht hat. „Erniedrigend” ist eine Behandlung, wenn sie eine Person demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt oder sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt, geeignet, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen. Es kann ausreichen, dass ein Opfer in seinen Augen erniedrigt ist, auch wenn andere das nicht so sehen. Ob Zweck der Behandlung war, das Opfer zu erniedrigen oder zu demütigen, ist zu berücksichtigen, aber auch wenn das nicht gewollt war, schließt das die Feststellung einer Verletzung von Artikel 3 EMRK nicht zwingend aus.
49EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 –, NVwZ 2011, 413, Rn. 220 m.w.N.
50Eine Behandlung in diesem Sinne kann nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme zumindest nicht positiv festgestellt werden.
51Zwar hat sich nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen bestätigt, dass Dublin-Rückkehrer flächendeckend – so der UNHCR – bzw. regelmäßig – so Pro Asyl – inhaftiert werden.
52Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 3, Seite 2; Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 3 b), Seite.
53Indes begründet die Tatsache, dass das ungarische Asylrecht seit der erneuten Rechtsänderung zum 1. Juli 2013 – wieder – Inhaftierungsgründe für Asylbewerber enthält und Ungarn auf dieser Grundlage praktisch alle Dublin-Rückkehr – so der UNHCR – bzw. regelmäßig, allerdings nicht sämtliche Dublin-Rückkehrer – so Pro Asyl – inhaftiert, für sich genommen noch keinen begründeten Anhaltspunkt für das Vorliegen systemischer Mängel des Asylsystems. Vielmehr verpflichtet Artikel 3 EMRK die Mitgliedstaaten, sich zu vergewissern, dass die Bedingungen der Haft mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigt, und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Haft angemessen sichergestellt sind.
54Vgl. EGMR, Urteile vom 21. Januar 2011 – 30696/09 –, juris, Rn. 221, und 15. Juli 2002 – 47095/99 –, Rn. 95.
55Die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (AufnahmeRL), enthält für die Inhaftierung von Asylbewerbern Mindeststandards, zu denen auch die Benennung von Haftgründen gehört. Anhaltspunkte dafür, dass diese Mindeststandards ihrerseits nicht genügen, um die Asylbewerber vor einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zu schützen, liegen dem Gericht nicht vor. Danach darf Haft nicht allein deswegen angeordnet werden, weil der Betroffene einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes gestellt hat, sondern nur in Ausnahmefällen, insbesondere zur Überprüfung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit, im Falle notwendiger Beweissicherung, insbesondere bei Fluchtgefahr, zur Prüfung des Einreiserechts, zur Durch- oder Fortführung eines Abschiebeverfahrens, wenn die Gefahr der Verzögerung oder der Vereitelung durch den Betroffenen besteht und bei Gefahr für die nationale Sicherheit und Ordnung (Artikel 8 Absatz 1 und 3 AufnahmeRL). Die Inhaftierung darf nur für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange, wie die Gründe gemäß Artikel 8 Absatz 3 bestehen, angeordnet werden (Artikel 9 Absatz 1 Satz 1 AufnahmeRL). Die Haftanordnung ist zu begründen (Artikel 9 Absatz 2 AufnahmeRL); bei einer Anordnung durch eine Verwaltungsbehörde ist eine zügige Überprüfung durch ein Gericht herbeizuführen (Artikel 9 Absatz 3 AufnahmeRL). In diesem Fall soll dem Betroffenen unentgeltlicher Rechtsbeistand zur Verfügung stehen (Artikel 9 Absatz 6 AufnahmeRL). Auch im Übrigen ist eine turnusmäßige Haftüberprüfung von Amts wegen vorzusehen (Artikel 9 Absatz 5 AufnahmeRL). Die Schutzsuchenden sind in speziellen Hafteinrichtungen unterzubringen, auf jeden Fall aber getrennt von gewöhnlichen Strafgefangenen (Artikel 10 Absatz 1 AufnahmeRL). Die Inhaftierung von besonders schutzbedürftigen Personen ist nur im Ausnahmefall und unter weiteren sehr eingeschränkten Bedingungen zulässig (Artikel 11 AufnahmeRL).
56Dahingestellt bleiben kann, wann ein Verstoß gegen diese Mindeststandards die Annahme systemischer Mängel indiziert, da die gesetzlichen Regelungen Ungarns zur Inhaftierung von Asylbewerbern (Act LXXX of 2007 on Asylum, im Folgenden: Asylum Act Hungary) den vorstehend genannten Vorgaben im Wesentlichen gerecht werden:
57Gemäß § 31/B Absatz 1 Asylum Act Hungary darf eine Inhaftierung nicht alleine deswegen erfolgen, weil die Antragsteller einen Asylantrag gestellt haben. Die in § 31/A Absatz 1 Asylum Act Hungary genannten Haftgründe entsprechen ganz überwiegend denen des Artikel 8 Absatz 3 der AufnahmeRL; insbesondere wird auch die Fluchtgefahr als ein Haftgrund genannt (Buchstabe c). Dabei darf entsprechend den Vorgaben der AufnahmeRL nach § 31/A Absatz 3 des ungarischen Gesetzes eine Inhaftierung nur aufgrund einer individuellen Ermessensentscheidung erfolgen und nur, wenn nicht durch andere Maßnahmen sichergestellt werden kann, dass der Asylbewerber sich dem Asylverfahren nicht entzieht. Unbegleitete Minderjährige dürfen gemäß § 31/B Absatz 2 Asylum Act Hungary nicht inhaftiert werden; Familien mit Minderjährigen dürfen nur ultima ratio inhaftiert werden, wobei das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist. Gemäß § 31/A Absatz 10 Asylum Act Hungary soll Asylhaft nur in speziellen Einrichtungen vollzogen werden. Dabei soll die Inhaftierung von Männern und Frauen sowie Familien mit Minderjährigen jeweils getrennt erfolgen (§ 31/F Absatz 1 Asylum Act Hungary). Die zulässige Höchstdauer von Asylhaft regelt § 31/A Absatz 7 Asylum Act Hungary. Danach soll die Haft maximal sechs Monate dauern; bei Familien mit Kindern nicht länger als 30 Tage. Gemäß § 31/A Absatz 6 Asylum Act Hungary kann die Flüchtlingsbehörde innerhalb von 24 Stunden seit der Haftanordnung die Verlängerung der Inhaftierung auf mehr als 72 Stunden bei dem örtlich zuständigen Amtsgericht beantragen. Das Gericht kann die Haftdauer sodann auf höchstens 60 Tage verlängern. Eine Verlängerung auf weitere 60 Tage ist nach einem erneuten Antrag der Flüchtlingsbehörde durch das zuständige Amtsgericht möglich. Hieraus folgt, dass eine Überprüfung der Inhaftierung von Amts wegen nach 72 Stunden und anschließend nach 60 Tagen erfolgt. Darüber hinaus besteht gemäß § 31/C Absatz 3 Asylum Act Hungary die Möglichkeit gegen die Inhaftierung Einspruch einzulegen. Gemäß § 31/E Absatz 1 Asylum Act Hungary sollen inhaftierte Asylbewerber über ihre Rechte und Pflichten in ihrer Muttersprache oder einer anderen Sprache, die sie verstehen können, informiert werden. Gemäß § 31/D Absatz 4 Asylum Act Hungary soll das Gericht einen Vormund bestellen, wenn der Asylbewerber kein ungarisch spricht und nicht in der Lage ist seine Vertretung durch einen Bevollmächtigten sicherzustellen. § 31/A Absatz 8 Asylum Act Hungary zählt schließlich auf, in welchen Fällen die Inhaftierung unverzüglich zu beenden ist. Danach endet die Haft unter anderem, wenn der Haftgrund entfallen ist.
58Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass die ungarischen Behörden diese Vorgaben bei ihrer Entscheidung über die Inhaftierung von Asylbewerbern – speziell Dublin-Rückkehrern – nicht nur in Einzelfällen, sondern systemisch nicht beachten und sich hieraus eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im oben genannten Sinne ergibt, liegen nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht vor.
59Das Gericht hat im Rahmen der Beweisaufnahme unter anderem danach gefragt, auf welche konkreten Haftgründe die Inhaftierungen seit dem 1. Juli 2013 gestützt werden (Frage 4).
60Pro Asyl gab an, dass laut dem Hungarian Helsinki Committee (HHC) in der Praxis vor allem der Haftgrund „risk of absconding“ (c) bzw. der Haftgrund „risk of absconding“ in Verbindung mit „establishment of identiy“ (a) Anwendung finde. Weiterhin würden Inhaftierungen auf dem Haftgrund „previous absconding“ (b) basieren.
61Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 4, Seite 3.
62Bei diesen Haftgründen, welche dazu dienen, einer bestehende Fluchtgefahr zu begegnen oder die Identität des Asylbewerbers festzustellen, handelt es sich um Haftgründe, die den in Artikel 8 Absatz 3 AufnahmeRL genannten entsprechen. Allerdings hat Pro Asyl im Rahmen der Beantwortung von Frage 9 unter Bezugnahme auf die Ausführungen des HHC angegeben, dass in der Mehrheit der Haftanordnungen weiterhin auf Gründe verwiesen werde, die nicht unter die im „Asylum Act“ definierten Haftgründe fallen würden. Das HHC führt diesbezüglich auf Seite 6 der „INFORMATION NOTE ON ASYLUM-SEEKERS IN DETENTION AND IN DUBLIN PROCEDURES IN HUNGARY“ von Mai 2014 aus, dass viele Entscheidungen verschiedene Umstände und Gründe benennen würden, die oftmals über die zulässigen Haftgründe nach dem Asylum Act Hungary hinausgingen. Beispielsweise genannt werden der unrechtmäßige Aufenthalt, die Einreise auf irreguläre Weise, das Fehlen ausreichender finanzieller Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts und das Fehlen von Verbindungen nach Ungarn. Dahingestellt bleiben kann, inwieweit die vorstehend genannten Beispiele unter einen der in Artikel 8 Absatz 3 AufnahmeRL bzw. § 31/A Absatz 1 Asylum Act Hungary genannten Haftgründe subsumiert werden können. Zunächst liegen dem Gericht keine Erkenntnisse vor, wonach diese Haftgründe auch bei Dublin-Rückkehrern angewandt werden. Sodann bestehen nach dem oben Ausgeführten tragfähige Anhaltspunkte, die die häufige Heranziehung des auch in der AufnahmeRL aufgeführten Haftgrundes der Fluchtgefahr belegen. Schließlich lässt sich jedenfalls nicht allein aus einer etwaigen europarechtswidrigen Annahme eines Haftgrundes ohne weiteres auf das Vorliegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Artikel 3 EMRK bzw. Artikel 4 EU-GR-Charta schließen. Entscheidend ist vielmehr, dass das ungarische Recht den Asylbewerbern in solchen Fällen ermöglicht, sich gegen eine unrechtmäßige Inhaftierung zu wehren.
63Zwar gibt es gemäß § 31/C Absatz 2 Asylum Act Hungary keine individuellen Rechtsmittel, sondern gemäß Absatz 3 nur die Möglichkeit eines Einspruchs („objection“), gegen die Haftanordnung.
64Vgl auch Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 11, Seite 9 und Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 11, Seite 7.
65Dahingestellt bleiben kann, inwieweit dieser Rechtsbehelf hinreichenden Rechtschutz zu gewähren vermag. Denn die Asylbewerber haben jedenfalls die Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit ihrer Inhaftierung im Rahmen der von Amts wegen erfolgenden Überprüfung nach 72 Stunden bzw. 60 Tagen vor dem Amtsgericht geltend zu machen. Anhaltspunkte dafür, dass diese Fristregelungen gegen Artikel 9 Absatz 3 AufnahmeRL – der seinerseits keine konkreten Fristvorgaben enthält – verstoßen und/oder diese Vorgaben in der Praxis nicht umgesetzt werden, sind nicht ersichtlich. Ebenso wenig steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die vorgeschriebenen gerichtlichen Haftüberprüfungen nicht geeignet sind, den Asylbewerbern effektiven Rechtschutz zu gewähren. Zwar kritisieren Pro Asyl und der UNHCR, dass es in der Praxis so gut wie nie zu einer Entlassung komme.
66Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 11, Seite 10 und Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 11, Seite 7.
67Zum einen konnte keine der drei befragten Organisationen verlässliche Auskünfte zu der Frage, wie viele der nach dem 1. Juli 2013 erlassenen Anordnungen von Asylhaft aufgrund der bestehenden Rechtschutzmöglichkeiten tatsächlich aufgehoben worden sind, geben.
68Vgl. die Antworten des Auswärtigen Amtes, UNHCR und von Pro Asyl zu Frage 12 des Beweisbeschlusses.
69Zum anderen ließe sich allein aus einer geringen Erfolgsquote der Rechtsbehelfe auch nicht ohne weiteres darauf schließen, dass die ungarischen Gerichte keinen effektiven Rechtschutz gewährleisten. Dass derartige Haftprüfungsanträge durch die Gerichte angeblich mit schematisierten Entscheidungen abgelehnt werden und die Verhandlungen nur wenige Minuten dauern, muss nicht bedeuten, dass diese Rechtsbehelfe nicht individuell geprüft würden. Vielmehr kann in Haftsachen, die Massenverfahren darstellen, aus Gründen der Vereinfachung auch eine individuelle richterliche Überprüfung zu einer schematisierten Begründung führen, wenn das Gericht keine besonders begründungsbedürftigen Umstände des Einzelfalles angenommen hat, ohne dass grundlegende rechtsstaatliche Garantien verletzt wären; die Annahme von (fortbestehender) Fluchtgefahr bei Personen, die sich dem Asylverfahren bereits in der Vergangenheit entzogen haben, erscheint dem erkennenden Gericht zumindest nicht unvertretbar.
70Vgl. Verwaltungsgericht Würzburg, Urteil vom 23. September 2014 – W 1 K 14.50050 –, juris, Rn. 37.
71Gleichfalls steht nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern in der Praxis entgegen den Vorgaben des Artikel 8 Absatz 2 AufnahmeRL und § 31/A Absatz 2 Asylum Act Hungary erfolgt. Danach dürfen die Mitgliedstaaten in Fällen, in denen es erforderlich ist, auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung den Antragsteller in Haft nehmen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.
72Zwar spricht vieles dafür, dass die Haftanordnung regelmäßig schematisch erfolgt und eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Argumentation unter Abwägung der Rechts- bzw. Verhältnismäßigkeit in der Regel nicht stattfindet.
73Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 9, Seite 8.
74Indes lässt sich daraus bereits nicht ableiten, dass eine Einzelfallprüfung auch tatsächlich nicht stattgefunden hat. Vielmehr erscheint es dem Gericht nachvollziehbar, dass die Haftanordnungen größtenteils inhaltlich identisch aussehen und von einer individuellen Begründung absehen, da die Haftanordnung bei Dublin Rückkehrern regelmäßig auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt wird. Vor dem Hintergrund, dass die Dublin-Rückkehr bereits einmal aus Ungarn geflohen sind, erscheint diese Annahme auch nicht willkürlich (s.o.).
75Ungeachtet dessen widerlegt die Tatsache, dass es auch Fälle gibt, in denen die Haftanordnung auch individuelle Einzelheiten berücksichtigt,
76vgl. HHC “INFORMATION NOTE ON ASYLUM-SEEKERS IN DETENTION AND IN DUBLIN PROCEDURES IN HUNGARY“, Seite 6,
77die Annahme der fehlenden individuellen Einzelfallprüfung. Auch spricht für die Durchführung einer Einzelfallprüfung, dass Familien und besonders schutzbedürftige Personen in der Regel nicht inhaftiert werden, obwohl die Inhaftierung dieser Personengruppen ebenfalls rechtlich möglich wäre.
78Vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 6, Seite 6.
79Zudem wird zumindest auch in vereinzelten Fällen von den im ungarischen Recht vorgesehenen Haftalternativen Gebrauch gemacht. Laut dem HHC sei in 13 der 107 untersuchten Haftentscheidungen begründet worden, warum nicht auf Haftalternativen zurückgegriffen worden sei. Im Zeitraum vom 1. Juli 2013 bis zum 17. April 2014 sei in 32 Fällen eine Kaution angeordnet worden. Die Betroffenen seien vorab gefragt worden, ob sie Geld besäßen bzw. jemand Geld schicken könne.
80Vgl. Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 10, Seite 9; dem UNHCR liegen hierzu keine Informationen vor.
81Daraus geht hervor, dass die gesetzlich vorgesehenen Haftalternativen in der Praxis –wenn auch nur in Ausnahmefällen – tatsächlich angewendet werden. Dass die Anzahl von Fällen, in denen eine Kaution angeordnet wurde, gering ausfällt überrascht das Gericht nicht, da Flüchtlinge in der Regel nicht über entsprechende finanzielle Mittel verfügen werden, um eine Kaution in Höhe von 962,00 und 2.000,00 Euro bezahlen zu können.
82Vgl. Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 10, Seite 9.
83Unter Berücksichtigung der Funktion einer Kaution als eine Sicherheitsleistung, welche nur bei einer gewissen – für den Betroffenen spürbaren – Höhe erfüllt werden kann, bestehen keine Bedenken gegen die geforderte Höhe. Auch spricht der Umstand, dass die Höhe der geforderten Kaution variiert, dafür, dass die Höhe der Kaution im jeweiligen Einzelfall entsprechend der wirtschaftlichen Verhältnisse des Inhaftierten festgesetzt wird.
84Aus den vorstehenden Ausführungen folgt überdies, dass die Haftanordnung in Übereinstimmung mit Artikel 9 Absatz 2 AufnahmeRL schriftlich unter Angabe der sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft, die letztlich eine Überprüfbarkeit gewährleisten, ergeht. Diese werden den Asylsuchenden auch verbal übersetzt.
85Vgl. Auskunft Pro Asyl an das Verwaltungsgericht München vom 30. Oktober 2014 zu Frage 1.
86Damit wird dem durch Artikel 5 Absatz 2 EMRK gewährleisteten Recht eines jeden Festgenommenen auf Unterrichtung hinreichend entsprochen. Eine mündliche Unterrichtung genügt insoweit.
87Vgl. Dörr, in: Grote/Marahun, EMRK/GG, S. 574, Rn. 36.
88Auch aus den Erkenntnissen des Gerichts zur Haftdauer lässt sich keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von Dublin-Rückkehrern ableiten. Vielmehr steht die Rechtslage und tatsächlich gelebte Praxis in Ungarn auch insoweit in Einklang mit den europarechtlichen Vorgaben. Laut Auskunft von Pro Asyl beobachtete das HHC in der Vergangenheit, dass die maximale Haftdauer von sechs Monaten in vielen Fällen ausgeschöpft worden sei. Seit Kurzem würden inhaftierte Asylsuchende aus der Asylhaft entlassen, sobald das OIN im „in-merit procedure“ über das Asylgesuch entschieden hat und zwar auch dann, wenn diese Entscheidung negativ ausgefallen sei und der Betroffene Rechtmitte eingelegt habe. Demgegenüber ist nicht ersichtlich, dass die Höchstgrenze der zulässigen Haftdauer überschritten wird.
89vgl. Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 2 Buchstabe, Seite 2.
90Es erscheint zumindest nicht unvertretbar, bei Dublin-Rückkehrern anzunehmen, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr – bis zu einer Entscheidung über das Asylbegehren bzw. unter Umständen auch nach einer ablehnenden Entscheidung – fortlaufend gegeben ist.
91Vgl. Verwaltungsgericht Stade, Beschluss vom 14. Juli 2014 – 1 B 862/14 –, juris, Rn. 15.
92Hinzu kommt, dass die Inhaftierung von Amts wegen alle 60 Tage überprüft wird (s.o.), die Asylbewerber mithin die Möglichkeit haben, ihre Inhaftierung auf die fortbestehende Rechtmäßigkeit hin überprüfen zu lassen.
93Schließlich kann das Gericht den aktuellen Auskünften nicht entnehmen, dass die konkreten Haftbedingungen in Ungarn systemisch eine unmenschliche, erniedrigende Behandlung der Dublin-Rückkehrer darstellen.
94Hinsichtlich der Haftbedingungen in den Asylhaftanstalten liegen dem Gericht im Wesentlichen die folgenden Erkenntnisse vor:
95Die Asylhafteinrichtungen seien nicht überbelegt. Die gesetzliche Mindestvorgabe von 5 m² pro Person werde in allen Einrichtungen gewahrt. Asylbewerber könnten sich innerhalb der Hafteinrichtungen zwischen 6 und 23 Uhr frei bewegen. Außerhalb der Einrichtungen, auf dem Weg zum Krankenhaus oder zum Gericht, würden die Asylbewerber hingegen an einer Leine geführt. Zur Freizeitgestaltung gebe es in den Hafteinrichtungen Computerräume mit Internetzugang, Fitnessräume und Gemeinschaftsräume, in denen ein Fernseher stehe. Bezüglich der hygienischen Verhältnisse in den Asylhafteinrichtungen lägen Mängel vor. In Békéscaba hätten einige der Toiletten keine Türen gehabt und einige Wasserhähne würden nicht funktionieren, weshalb der Zugang zu warmen Wasser nicht immer gewährleistet sei. In Nyírbátor habe eine unzureichende Versorgung mit Putzutensilien und Reinigungsmitteln zur Reinigung der Toiletten und Duschen stattgefunden. Der Waschraum im ersten Stock sei permanent dreckig gewesen und würde stinken. Auch sei das Wasser von mangelhafter Qualität gewesen, was zu Hautausschlägen geführt habe. In Debrecen seien Duschen im zweiten Stock häufig verstopft und daher unbenutzbar gewesen. Eine Versorgung mit Lebensmitteln erfolge entsprechend einer Verordnung des Innenministeriums. Religiöse und medizinische Besonderheiten würden in der Regel berücksichtigt. Kritisiert werde aber die schlechte Qualität des Essens. Eine medizinische Grundversorgung werde gewährleistet, auch wenn diese oft als unzureichend empfunden werde. Sanitäter bzw. Krankenschwestern seien permanent anwesend; Allgemeinmediziner würden die Einrichtungen zweitweise besuchen. In schwerwiegenden Fällen könne eine Zuweisung zu den Allgemein- oder Spezialeinrichtungen des Gesundheitssystems erfolgen. Die Kosten der Behandlung trage der ungarische Staat bzw. seine Gesundheitseinrichtung. In der Aufnahmeeinrichtung Békéscaba werde zudem psychologische Betreuung durch Spezialisten und Psychologen der Cordelia Stiftung gewährt.
96Vgl. Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 5 b) bis f), Seite 3 ff.; Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 5 b) bis f), Seite 3 f.; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 19. November 2014 zu Frage 5 b) bis f), Seite 3 f.; HHC “INFORMATION NOTE ON ASYLUM-SEEKERS IN DETENTION AND IN DUBLIN PROCEDURES IN HUNGARY“, S. 15 ff.
97Obschon das Gericht nicht verkennt, das Defizite in den Haftbedingungen bestehen, erreichen diese jedenfalls nicht das erforderliche Mindestmaß an Schwere, um von systemischen Mängeln in dem geschilderten Sinne ausgehen zu können. Die Beurteilung dieses Mindestmaßes ist relativ und hängt von allen Umständen des Einzelfalls ab, wie die Dauer der Behandlung und ihre physischen und psychischen Wirkungen und manchmal das Geschlecht, das Alter und der Gesundheitszustand des Opfers.
98Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – M.S. S./Belgien u. Griechenland, Rn. 219.
99Die vorstehend genannten hygienischen, medizinischen und sonstigen Mängel in den Asylhaftanstalten, insbesondere auch die Vorfälle, in denen Asylbewerber von „armed security guards“ misshandelt worden sind, sind zwar nicht zu vernachlässigen. Indes lässt sich daraus nicht ableiten, dass die inhaftierten Asylbewerber in Ungarn nicht nur vereinzelt, sondern gerade systematisch einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterliegen. Vielmehr zeigt ein Vergleich mit der früheren Lage in Ungarn, dass zwischenzeitlich weitreichende tatsächliche und rechtliche Verbesserungen eingetreten sind.
100So auch EGMR, Urteil vom 3. Juli 2014 – 71932/12 – Mohammadi gegen Österreich, Rn. 68.
101Soweit die Bedingungen in einzelnen Aufnahmeeinrichtungen noch verbesserungswürdig sind, ist darauf hinzuweisen, dass einzelne Missstände, die in bestimmten Aufnahmeeinrichtungen auftreten, das Asyl- und Aufnahmesystem nicht insgesamt tangieren. Auch der Umstand, dass sich die Situation in Ungarn deutlich schlechter darstellen mag als in der Bundesrepublik Deutschland, begründet für sich keinen systemischen Mangel.
102Vgl. EGMR, Urteil vom 3. Juli 2014 – 71932/12 – Mohammadi gegen Österreich, Rn. 69; Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 30. Januar 2015 – 13 L 58/15.A –, juris, Rn. 43 m.w.N.
103Lediglich ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass der UNHCR – auch nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der Inhaftierungspraxis Ungarns infolge der durch das Gericht veranlassten Beweisaufnahme – keine systemischen Mängel des Asylverfahrens oder Aufnahmebedingungen in Ungarn explizit festgestellt und keine generelle Empfehlung ausgesprochen hat, im Rahmen des Dublin-Verfahrens Asylbewerber nicht nach Ungarn zu überstellen. Dem Fehlen einer solchen generellen Empfehlung des UNHCR kommt insoweit besondere Bedeutung zu. Denn die vom Amt des UNHCR herausgegebenen Dokumente sind im Rahmen der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems in einem Mitgliedstaat angesichts der Rolle, die dem UNHCR durch die – bei der Auslegung des unionsrechtlichen Asylverfahrensrechts zu beachtende – Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden ist, besonders relevant.
104So auch Verwaltungsgericht Augsburg, Beschluss vom 26. Januar 2015 – Au 7 S 15.50015 –, juris, Rn. 31.
105Schließlich liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Dublin-Rückkehrer entgegen des Refoulement-Verbots ohne eine Entscheidung über ihren Asyl(folge)antrag in ihr Herkunftsland abgeschoben werden, wenn – wie vorliegend – über den Asylantrag des Asylbewerbers noch nicht entschieden worden ist, weil dieser infolge des Verlassens Ungarns während des Asylverfahrens als zurückgenommen gilt.
106Vgl. Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht München vom 31. Oktober 2014 zu Frage 2, Seite 2 f.; HHC “INFORMATION NOTE ON ASYLUM-SEEKERS IN DETENTION AND IN DUBLIN PROCEDURES IN HUNGARY“, S. 20.
107Dass das Asylverfahren des Klägers in Ungarn eingestellt worden ist, ohne dass über seinen Asylantrag entschieden worden ist, steht zur Überzeugung des Gerichts aufgrund der auf Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe c) Dublin II-VO gestützten Zustimmung Ungarns zur Übernahme des Klägers fest. Danach ist ein Mitgliedstaat verpflichtet einen Drittstaatangehörigen oder einen Staatenlosen, der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats befindet nach Maßgabe des Artikel 20 wieder aufzunehmen.
108Steht nach alldem nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass das ungarische Asylverfahren an systemischen Mängeln leidet, geht dieser Umstand – nach den Grundsätzen der materiellen Beweislast – zu Lasten des Klägers. Bereits aus dem eingangs dargestellten Erfordernis, dass sich das Gericht zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen muss, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird (S. 10),
109BVerwG, Beschluss vom 15. April 2014 – 10 B 16.14 –, juris, S. 5,
110folgt, dass es zu Lasten des Asylbewerbers geht, wenn das Gericht – wie vorliegend – nicht zu dieser Überzeugungsgewissheit gelangt. Gleiches ergibt sich auch aus der Diktion des EuGH, wonach ein Asylbewerber seiner Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht (Hervorhebung durch das Gericht), die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Artikel 4 der Charta ausgesetzt zu werden.
111Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 –, juris, Rn. 62.“
112Dem hat sich die beschließende Kammer angeschlossen.
113Vgl. Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteile vom 9. Juli 2015 – 8 K 326/15.A -, vom 2. Juli 2015 – 8 K 513/15.A – und vom 25. Juni 2015 – 8 K 555/15.A -; Beschlüsse vom 8. Juli 2015 – 8 L 2139/15.A -, vom 6. Juli 2015 – 8 L 1148/15.A – und vom 13. April 2015 – 8 L 94/15.A –, juris.
114Die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG ist ebenfalls rechtmäßig. Nach dieser Norm gilt: Soll der Ausländer – wie hier – in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
115OVG NRW, Beschlüsse vom 8. Juni 2015 – 14 A 1233/15.A –, vom 28. April 2015 - 14 B 502/15.A – und vom 3. März 2015 - 14 B 102/15.A -, jeweils juris.
116Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Ungarn hat der Wiederaufnahme des Antragstellers mit Schreiben vom 22. April 2015 ausdrücklich zugestimmt. Es ist weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass Ungarn der Verpflichtung zur Wiederaufnahme des Antragstellers nicht nachkommen wird.
117Dies gilt auch unter Berücksichtigung aktueller Pressemeldungen, wonach Ungarn keine Flüchtlinge auf der Grundlage der Dublin III-Verordnung mehr zurücknehme, da sich diese Ankündigung nur auf Flüchtlinge bezieht, die – anders als der Antragsteller – über Griechenland in die Europäische Union eingereist sind und die andere EU-Staaten „irrtümlich“ nach Ungarn überstellen wollen.
118http://www.sueddeutsche.de/politik/2.220/nach-kritik-aus-bruessel-ungarn-rudert-bei-aufnahmestopp-fuer-asylsuchende-zurueck-1.2536039; http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/dublin-iii-abkommen-ungarn-nimmt-fluechtlinge-weiter-auf-13665801.html.
119Nichts anderes ergibt sich schließlich aus der Email der Hungarian Dublin Unit vom 29. Mai 2015, in der die anderen EU-Staaten gebeten werden, an bestimmten Tagen bis Anfang August 2015 wegen begrenzter Kapazitäten keine Überstellungen nach Ungarn zu planen, da zahlreiche Wochentage hiervon nicht erfasst sind.
120Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteile vom 2. Juli 2015 – 8 K 513/15.A – und vom 25. Juni 2015 – 8 K 555/15.A -.
121Es bestehen auch im übrigen keine Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung, insbesondere besteht kein innerstaatliches Abschiebungshindernis.
122Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe kommt nicht in Betracht, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den vorstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).
123Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
124Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 RVG.
125Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.7.2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
T a t b e s t a n d
2Der am 00.0.0000 in Vate im Kosovo geborene Kläger ist kosovarischer Staatsangehöriger albanischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit. Er reiste im Februar 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der ihn am 15.2.2015 aufgreifenden Bundespolizei teilte er mit, Asyl beantragen zu wollen und einen Asylantrag in Ungarn, falls er einen gestellt habe, hiermit zurückziehen zu wollen. Er wolle in Deutschland arbeiten und mit dem verdienten Geld seine Familie im Kosovo unterstützen. Ihm hätten im Kosovo die Mandeln entnommen werden müssen, wozu ihm das Geld gefehlt habe. Gegenüber der Ausländerbehörde der Stadt Köln verneinte er am 17.2.2015, in Deutschland einen Asylantrag stellen zu wollen. Er gab weiter an, am 15.2.2015 aus seinem Heimatland ausgereist und über Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland gereist zu sein, weil er zu Hause aus wirtschaftlichen Gründen keine Lebensperspektive habe.
3Die EURODAC-Anfrage ergab einen Treffer für Ungarn. Daraufhin richtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 27.2.2015 ein Wiederaufnahmegesuch unter Hinweis auf den dort am 8.2.2015 gestellten Asylantrag des Klägers an Ungarn. Am 12.3.2015 stimmte Ungarn der Rückführung des Klägers nach Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) zu.
4Mit Bescheid vom 31.7.2015 ordnete das Bundesamt die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
5Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 12.8.2015 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt, das ungarische Asylverfahren leide an systemischen Mängeln.
6Der Kläger beantragt,
7den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.7.2015 aufzuheben.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
11Auf den gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten Eilantrag des Klägers vom12.8.2015 hin hat der Einzelrichter im Verfahren 18 L 2015/15. A mit Beschluss vom 17.8.2015 die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage angeordnet.
12E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
13Der Einzelrichter entscheidet im Einverständnis der Beteiligten über die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO). Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig,
14vgl. OVG NRW, Urteil vom 7.3.2014 - 1 A 21/12.A -, juris,
15und auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entscheidungserheblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat zu Unrecht auf der Grundlage des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) an, wenn er dorthin abgeschoben werden soll, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
16Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staats ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-VO).
17Danach bestand gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten.
18Insoweit ist es unerheblich, dass der Kläger in Deutschland keinen Asylantrag gestellt hat. In einem solchen Fall ist Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO einschlägig. Danach kann ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich eine Person im Sinne des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO ohne Aufenthaltstitel aufhält und bei dem kein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wieder aufzunehmen, wenn er der Auffassung ist, dass der andere Mitgliedstaat gemäß Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO zuständig ist.
19Die Voraussetzungen des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO sind erfüllt. Denn der Kläger ist ein Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags im zuständigen Mitgliedstaat (hier: in Ungarn) sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: in Deutschland) ohne Aufenthaltstitel aufhält.
20Gemäß Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO müssen die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO (nach Auffassung des ersuchenden Mitgliedstaats, hier: Deutschlands) zusätzlich erfüllt sein, weil diese nach dem deutschen, englischen, französischen und niederländischen Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO („und“/„and“/„et“/„en“) kumulativ und nicht lediglich alternativ aufgeführt sind. Dass diese Formulierung in Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO nicht lediglich sprachlich verunglückt ist, folgt aus dem Gegenschluss der nachfolgenden, die Buchstaben b, c, d des Art. 18 Dublin III-VO betreffenden Formulierung des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO. Nach dem Wortlaut sämtlicher oben genannter Sprachen („oder“/„or“/„ou“/„of“) werden die Buchstaben b, c, d des Art. 18 Dublin III-VO in Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO nämlich eindeutig alternativ aufgeführt. Nach Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO ist der Mitgliedstaat, bei dem der erste Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde (hier: Ungarn), gehalten, einen Antragsteller, der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: in Deutschland) aufhält, nachdem er seinen ersten Antrag noch während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zurückgezogen hat, nach den Bestimmungen der Art. 23, 24 und 29 Dublin III-VO wieder aufzunehmen, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen.
21Hier braucht indes nicht entschieden zu werden, ob die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO erfüllt sind. Wenn die Erklärung des Klägers gegenüber der Bundespolizei in Rosenheim, den Asylantrag zurücknehmen zu wollen, auch gegenüber den ungarischen Behörden gelten sollte, sind die Voraussetzungen auch des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO erfüllt. Das selbe könnte dann gelten, wenn das Verfahren in Ungarn deshalb als zurückgezogen gelten sollte, weil der Kläger Ungarn noch vor einer dortigen Asylentscheidung verlassen hat.
22Hat der Kläger dagegen den in Ungarn gestellten Asylantrag nicht zurückgezogen, gelten Art. 20 Abs. 5 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO über ihren Wortlaut hinaus erst recht. Art. 20 Abs. 5 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO gelten gerade dann, wenn eine Person in einem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat und sodann in einen anderen Mitgliedstaat ausgereist ist, ohne dass er in dem anderen Mitgliedstaat einen weiteren Asylantrag gestellt und ohne dass er den im ersten Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zurückgenommen hat. Denn die Art. 20 Abs. 5, 21, 23 und 24 Dublin III-VO sollen als umfassendes Gesamtsystem sicherstellen, dass der zuständige Mitgliedstaat einen in einen anderen Mitgliedstaat ausgereisten Antragsteller von diesem anderen Mitgliedstaat aufnimmt oder wieder aufnimmt, um das Verfahren des Antragstellers fortzusetzen bzw. zum Abschluss zu bringen.
23Dass das System der Dublin III-VO für jede Fallgestaltung gilt und deshalb grundsätzlich auch in einem Fall wie dem vorliegenden ein Mitgliedstaat die Übernahme eines Asylantragstellers durch einen anderen Mitgliedstaat verlangen kann, wird letztlich aus Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO deutlich. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden kann, etwa weil in allen oder auch nur einem dieser Mitgliedstaaten systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO bestehen. Folgt aus dieser Ausnahmeregelung des Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO, dass nach der Dublin III-VO auf jeden Fall ein Mitgliedstaat für die materielle Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, auch wenn der Antrag ausschließlich in einem anderen Mitgliedstaat gestellt worden ist, wird daran zum einen deutlich, dass innerhalb der Europäischen Union kein Asylantrag unbeschieden bleiben darf, und zum anderen, dass dieser Ausnahmeregelung eine Regel zugrundeliegt, wonach – vorbehaltlich der in Kapitel III Dublin III-VO genannten Kriterien – ein Mitgliedstaat, in dem eine Person zuerst einen Asylantrag gestellt hat, regelmäßig vor einem anderen Mitgliedstaat für die materielle Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist und demzufolge – vorbehaltlich der in Kapitel III Dublin III-VO genannten Kriterien – ein anderer Mitgliedstaat grundsätzlich von dem ersten Mitgliedstaat in jeder Fallgestaltung die Übernahme des Asylantragstellers verlangen kann.
24Nunmehr ist allerdings die Beklagte für die Entscheidung über das (ausschließlich in Ungarn gestellte) Asylbegehren des Klägers zuständig, weil die Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO einschlägig ist. Denn einer Überstellung des Klägers nach Ungarn stehen systemische Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegen, und eine weitere Prüfung, ob ein dritter Mitgliedstaat zuständig ist, verspricht nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen keinen Erfolg.
25Die Dublin III-VO beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der GFK und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (GrCh) sowie mit der GFK und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GrCh implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat" im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden.
26Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - Rs C-411/10 und C-493/10 -, juris; EGMR, Urteil vom 21.1.2011 - 30696/09 - M.S.S. / Belgien und Griechenland - und Urteil vom 4.11.2014 - 29217/12 - Tarakhel / Italien -.
27Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen" ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der GFK und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
28Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel" in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff.; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
29Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem - aus welchen Gründen auch immer - faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weit gehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK kommt.
30Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.3.2014 - 10 B 6.14 - und vom 6.6.2014 - 10 B 35.14 -, juris.
31Nicht erforderlich ist, dass sich der systemische Mangel bzw. die strukturelle - systemische - Schwachstelle auf eine unüberschaubare Vielzahl, die Mehrheit aller Asylbewerber oder gar auf alle Asylbewerber auswirkt. Ein systemischer Mangel kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn nur eine geringe Anzahl von Asylbewerbern betroffen ist, soweit dies vorhersehbar und regelhaft geschieht.
32Vgl. VGH BW, Urteile vom 18.3.2015 - A 11 S 2042/14 - und vom 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 -; Lübbe, a. a. O.
33Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
34Vgl. Lübbe, a. a. O.
35Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
36Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.5.2013 - C-528/11 -, juris.
37Für die Rechtsfrage einer Verletzung des Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des EGMR eine Orientierungs- und Leitfunktion.
38Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn bereits aufgrund der dort bestehenden Inhaftierungspraxis die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Diesbezüglich schließt sich die Kammer der Rechtsprechung der
393. Kammer des VG Köln, Urteil vom 15.7.2015 - 3 K 2005/15.A -, NRWE,
40an sowie deren Begründung, die nachfolgend wiedergegeben wird.
41Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d. h. Personen, die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR
42vgl. Auskunft vom 30.9.2014 an das VG Bremen,
43mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen. Diese Inhaftierungspraxis begegnet bereits deshalb Bedenken, weil nach den UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden Asylsuchende grundsätzlich nicht in Haft genommen werden sollten und Haft immer nur das letzte Mittel darstellen darf. Da Asylsuchende meist bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, kann sie nämlich eine Inhaftierung mit besonderer Härte treffen.
44Vgl. UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen unter Hinweis auf UNHCR, Detention Guidelines, 2012.
45Diesen Anforderungen wird die in dem seit dem 1.7.2013 geltenden ungarischen Asylgesetz geregelte Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten schon deshalb nicht gerecht, weil die dort genannten Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und auch die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nach der Auskunft des UNHCR nicht mit Gründen versehen wird. Die ungarischen Behörden scheinen dabei bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr anzunehmen.
46UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
47Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh. Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
48UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
49Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
50UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
51Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
52So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
53Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
54UNHCR vom 30.9.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.
55Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weit gehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird.
56Schließlich entsprechen auch die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe.
57UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.9.2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
58Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR
59vgl. Auskünfte vom 9.5. und 30.9.2014 an das VG Düsseldorf,
60an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen" von Strafgefangenen an einer Leine - zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen - noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen
61Detention Guidelines a. a. O.,
62ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben.
63Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
64So unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung im Ergebnis auch: VG Münster, Beschluss vom 7.7.2015 - 2 L 858/15.A -; VG Bremen, Beschluss vom 1.4.2015 - 3 V 145/15 -; VG München, Beschluss vom 20.2.2015 - M 24 S 15.50091 - und VG Berlin, Beschluss vom 15.1.2015 - 23 L 899.14 A - jeweils m. w. N. (alle juris); a. A. u.a. VG Düsseldorf, Urteil vom 20.3.2015 - 13 K 501/14.A; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.6.2015 - 7a L 1208/15.A -; BayVGH, Beschluss vom 12.6.2015 - 13a ZB 15.50097 - (alle juris).
65Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner
66Stellungnahme vom 30.9.2014 an das VG Bremen
67ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
68UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen.
69Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der EGMR mit
70Urteil vom 3.7.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12)
71entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen - wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen - nicht erfüllt.
72Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit. Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.7.2015 sollen es bis zu 78000 Flüchtlinge gewesen sein.
73Vgl. Pressemitteilung des ungarischen Ministry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence".
74Andere Quellen sprechen von 61000 Flüchtlingen.
75So die Pressemitteilung des UNHCR vom 2.7.2015, „UNHCR urges Hungary not to amend its asylum system in a rush, ignoring international standards".
76Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlingen im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet sein soll.
77Vgl. zu einer ähnlichen Überlegung zu Italien bei einem zahlenmäßig noch deutlich günstigeren Verhältnis von ca. 35000 Aufnahmeplätzen und 7900 Flüchtlingen in den ersten zwei Monaten 2015 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.5.2015 - 8 K 1694/15.A -, juris Rz. 40 ff.
78Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind.
79Dass das ungarische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, wird bestätigt durch die hinter den Missständen stehende Absicht der ungarischen Behörden. Deren Einstellung wird nicht nur durch das Fehlen zielgerichteter Maßnahmen zur Beseitigung des derzeit in Ungarn, vor allem an Budapester Bahnhöfen und an anderen ungarischen Orten herrschenden Flüchtlingschaos erkennbar, sondern zusätzlich durch die jüngsten Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán gegenüber Organen der Europäischen Union, wonach bestimmte Flüchtlingsgruppen kein Problem Ungarns darstellten und das Land von vornherein Flüchtlinge gewisser Herkunftsländer wegen deren nichtchristlicher Religionszugehörigkeit nicht aufzunehmen gewillt sei.
80Tagesschau.de vom 4.9.2015: „Zug steht still – Orbán als `Schande´ kritisiert“; DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „Ungarn voller Angst, Europäer voller Angst“; ZEIT ONLINE vom 3.9.2015: „Orbán nennt Flüchtlingskrise `ein deutsches Problem´“.
81Unabhängig von diesen Gründen bestehen nach Auffassung der Kammer auch aus einem weiteren Grund in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Kläger tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden. Diese betreffen sämtliche Asylbewerber, die auf dem Landweg über die so genannte Balkan-Route nach Ungarn gelangen. Das erfolgt ausschließlich über Serbien. Über 99 % aller Asylsuchenden gelangen über die serbisch-ungarische Grenze nach Ungarn.
82FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
83Das war nach seinen Angaben auch beim Kläger der Fall. Seit Jahresbeginn wurden knapp 100000 Migranten registriert, von denen praktisch alle in wohlhabendere Länder der EU weiterreisen wollen.
84FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“.
85Zum 1.8.2015 ist ein ungarisches Gesetz in Kraft getreten, das u.a. Serbien zum sicheren Drittstaat erklärt. Diese Änderung des Asylgesetzes ermöglicht voraussichtlich ab dem 15.9.2015,
86Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“,
87die Ablehnung von Asylanträgen als unzulässig mit der Folge, dass in Ungarn die Anträge solcher Asylsuchender im Normalfall nicht mehr materiell geprüft werden und eine sofortige Abschiebung nach Serbien droht.
88DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „500 Flüchtlinge verweigern Fahrt in ungarisches Aufnahmelager“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritte vom 21.7.2015: „Mit Zelten in die Pampa: Ungarns Umgang mit Flüchtlingen“ und vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“; SPIEGEL ONLINE vom 6.7.2015: „Überlastetes Asylsystem: Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen“; Pester Lloyd, Internetauftritte vom 6.7.2015: „Gesetzesflut im ungarischen Parlament: Quasi-Aufhebung des Rechtes auf Asyl ...“ und vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“; Amnesty International: Europe´s Borderlands – Violations against Refugees and Migrants in Macedonia, Serbia and Hungary, Juli 2015, S. 61; ZEIT ONLINE vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Grenzzaun aufhalten“; n-tv, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Zaun gegen Migranten – Ungarn macht Grenze zu Serbien dicht“; Süddeutsche Zeitung, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Vier-Meter-Zaun abhalten“.
89Von 2010 bis 2012 hatte Ungarn bereits Flüchtlinge völkerrechtswidrig nach Serbien abgeschoben, was zu scharfer Kritik der EU-Kommission geführt hatte.
90PRO ASYL, Internetauftritt vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“.
91Die Republik Serbien hat jedoch angekündigt, sie sei nicht gewillt, zigtausenden Flüchtlingen, die nicht weiterkämen, wochen- oder monatelang Unterkunft zu gewähren, weil das die Ressourcen des Landes nicht hergäben. Man werde auch keine Flüchtlingslager bauen.
92Pester Lloyd, Internetauftritt vom 21.8.2015.
93Serbien hat auch kein funktionierendes Asylsystem.
94Vgl. die Einzelheiten in: Amnesty International a. a. O., S. 35 - 45.
95Menschenrechtsorganisationen haben das Fehlen eines funktionierenden Schutzsystems in Serbien immer wieder kritisiert.
96PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
97Im April 2008 trat Serbiens Asylgesetz in Kraft.
98PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
99Seither ist die Zahl der registrierten Asylsuchenden – also ohne diejenigen Personen, die Serbien lediglich „durchqueren“, ohne registriert zu werden – exponentiell gestiegen. Betrug sie im Jahr 2008 nur 77, im Jahr 2009 erst 275 und im Jahr 2010 noch 522, stieg sie im Jahr 2011 auf 3132 an, sank im Jahr 2012 etwas auf 2723, um im Jahr 2013 auf 5066 und im Jahr 2014 auf 16490 Personen anzuschwellen.
100Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Serbien (Stand: November 2014) vom 15.12.2014 (Lagebericht Serbien), S. 13; Amnesty International a. a. O., S. 36.
101Die Anerkennungsrate von Asylsuchenden als Flüchtlinge in Serbien ist äußerst gering.
102AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
103Bis Ende 2014 wurden lediglich sechs Personen als Flüchtlinge anerkannt, zwölf erhielten einen subsidiären Schutzstatus. Bis Ende Mai 2015 wurde weiteren vier Flüchtlingen Asyl gewährt.
104PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
105Die serbische Anerkennungsquote ist auch unter Herausrechnen der Personen, die letztlich keinen Asylantrag stellen oder ein laufendes Verfahren nicht abwarten und weiterreisen, gering. Denn im Jahr 2011 erhielt keiner der 3134 registrierten Antragsteller Asyl, im Jahr 2012 erhielten von 2723 Antragstellern lediglich drei Personen subsidiären internationalen Schutz, und im Jahr 2013 wurden bei insgesamt 5066 Antragstellern von 193 in den Blick genommenen Anträgen vier bestätigt, 13 verworfen oder abgewiesen und 176 nicht fortgeführt. Obwohl geschätzt wird, dass von den 16490 Personen, die im Jahr 2014 angaben, Asyl beantragen zu wollen, nur die Hälfte auch tatsächlich einen Antrag auf Asyl in Serbien gestellt hat, wurden nur 1350 Asylsuchende tatsächlich registriert, und von 388 eingereichten Anträgen wurden 307 nicht fortgesetzt, weil der jeweilige Antragsteller während des Verfahrens untertauchte. Die Asylbehörde befragte im Jahr 2014 17 von 18 Antragstellern, gab sechs Anträgen statt, wobei einer Person der Flüchtlingsstatus und fünf Personen subsidiärer Schutz gewährt wurde, wohingegen zwölf Anträge abgelehnt wurden und vier Anträge aus dem Jahr 2014 im Jahr 2015 noch in Bearbeitung waren. Obwohl die Flüchtlinge viele Gründe dafür hatten, weiterzureisen, anstatt in Serbien um Asyl nachzusuchen oder ein Asylverfahren abzuwarten, scheinen Unzulänglichkeiten im serbischen Asylsystem eine Rolle für solche Entscheidungen zu spielen.
106Amnesty International a. a. O., S. 36 f.
107Aus dem Kreis der registrierten potentiellen Asylbewerber hat deshalb nur ein kleiner Teil tatsächlich einen Asylantrag gestellt, weil der Prozess dafür in Serbien sehr komplex ist.
108AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
109Asylbewerbern Rechtshilfe leistende Nichtregierungsorganisationen meinen, dass die serbische Politik der sicheren Herkunftsländer in großem Umfang fortgeführt wird. So wurden beispielsweise von 17 von der Asylbehörde im Jahr 2014 entschiedenen Fällen sieben in der Zeit von Januar bis April berücksichtigte Anträge zurückgewiesen, weil der jeweilige Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat nach Serbien gekommen war. Diesen Asylbewerbern wurde weder Asyl noch irgend eine andere Form von Schutz gewährt. Die Mehrheit der Berufungen wird üblicherweise ohne Rücksicht auf ihre Gründe abgewiesen. Das schließt Berufungen gegen erstinstanzliche Entscheidungen ein, die auf dem Konzept der sicheren Drittstaaten beruhen. Eine Begründung für die Zurückweisung der Berufung wird selten gegeben.
110Amnesty International a. a. O., S. 41 f.
111Zahlreichen Schutzsuchenden droht in Serbien die Zurückschiebung nach Mazedonien oder Griechenland.
112PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“.
113Im Jahr 2012 hatte der UNHCR die Republik Serbien beschuldigt, Massenabschiebungen von Flüchtlingen und Migranten nach Mazedonien durchzuführen. Der UNHCR hatte ferner vorgetragen, dass in einigen Fällen Flüchtlinge und Migranten, die von Ungarn nach Serbien abgeschoben worden waren, informell anstatt nach den Regeln des zwischen Serbien und Mazedonien abgeschlossenen Wiederaufnahmeabkommens nach Mazedonien verbracht worden waren. Im Mai 2015 äußerte das Committee against Torture (CAT) Befürchtungen hinsichtlich des erhöhten Risikos eines refoulement für Personen, die durch die serbischen Behörden nach Mazedonien verbracht worden sind.
114Amnesty International a. a. O., S. 33 f.
115Die ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien hat ebenfalls kein effektives Asylsystem, vielmehr besteht dort die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen und eines refoulement durch Abschiebungen nach Griechenland.
116Amnesty International a. a. O., S. 40 f.
117Der ohnehin schwache Rechtsstaat wird derzeit durch die autoritäre Politik der größten Regierungspartei erheblich in Frage gestellt.
118AA: Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien (Stand: August 2015) vom 12.8.2015, S. 4.
119Griechenland weist seinerseits systemische Mängel im Sinne der Rechtsprechung des EuGH auf.
120Abgesehen davon verstößt die Gefahr von Kettenabschiebungen gegen das Prinzip des non-refoulement und damit gegen Art. 18 GrCh in Verbindung mit Art. 33 Abs. 1 GFK, zumal gerade hier die Gefahr besteht, dass der Kläger von Serbien aus in seinen Herkunftsstaat, den Kosovo, abgeschoben wird, ohne dass zuvor sein Schutzgesuch geprüft worden ist. Insoweit ist es dem Gericht rechtlich auch verwehrt, die Erfolgsaussichten des Asylantrags des Klägers auf der Grundlage seiner bisherigen Angaben materiellrechtlich zu prüfen, weil es aus den eingangs dargelegten Gründen auch nicht „durchentscheiden“ darf.
121Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen.
122Vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste.
123Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden.
124Unterbleiben kann ferner die rechtliche Einordnung der beabsichtigten Schaffung der Möglichkeit, die ungarische Armee an der Grenze einzusetzen.
125Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.9.2015: „Ungarn bereitet Militäreinsatz gegen Flüchtlinge vor: Opposition will Orbán vor Internationalen Strafgerichtshof bringen“.
126Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.6.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.
127Dieser letztgenannte Umstand ist jedoch ein weiterer Grund dafür, dass die – hier allein streitbefangene – Anordnung, den Kläger nach Ungarn abzuschieben, rechtswidrig ist. Insoweit liegen die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 AsylVfG nicht (mehr) vor. Nach dieser Norm ordnet das Bundesamt ohne vorherige Anordnung und Fristsetzung die Abschiebung eines Ausländers in den für das Asylverfahren zuständigen Staat an, „sobald feststeht“, dass sie durchgeführt werden kann. Der Gesetzgeber wollte mit § 34a Abs. 1 AsylVfG die Möglichkeit schaffen, für eine in der Regel nur kurzfristig durchgeführte durchführbare Rückführung ein verkürztes Verfahren zu schaffen. Die Abschiebungsanordnung ist deshalb nicht quasi auf Vorrat zulässig, sondern erst dann, wenn das Übernahmeverfahren positiv abgeschlossen ist, weil der andere Staat seine Übernahmebereitschaft auf die vorhergesehene Art und Weise verbindlich erklärt hat und die näheren Umstände der Überstellung wenigstens dem Grundsatz nach geklärt sind, etwa wenn zwischen dem jeweiligen Staat und der Bundesrepublik Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren praktiziert wird, das die zuverlässige Prognose zulässt, die Übernahme werde in naher Zukunft abgeschlossen werden können. Das Bundesamt hat vor Erlass der Abschiebungsanordnung der Frage nachzugehen, ob der ersuchte Mitgliedstaat tatsächlich zur (Wieder-) Aufnahme bereit ist. Zudem ist – solange die Abschiebung eines Ausländers aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist – auch ein Vollzugshindernis im Sinne des § 60a AufenthG gegeben und hindert den Erlass einer Abschiebungsanordnung. Die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist dann anzunehmen, wenn für einen vorausschaubaren Zeitraum die Abschiebung ausgeschlossen ist und erst recht, wenn die Abschiebungsmöglichkeit zeitlich völlig ungewiss ist. Unter Berücksichtigung der Auskünfte des Bundesamts gegenüber dem VG Oldenburg kann derzeit eine hinreichend zuverlässige Prognose, die Übernahme des Klägers durch Ungarn werde in naher Zukunft abgeschlossen sein, nicht erstellt werden. Ob und in welchem Umfang der ungarische Staat Asylsuchende im Rahmen des Überstellungsverfahrens aufnehmen wird, muss als offen angesehen werden. Auch die Zahlen, die das Bundesamt zu den im ersten Quartal 2015 aus Deutschland durchgeführten Überstellungen vorgelegt hat, wecken Bedenken daran, dass zwischen Ungarn und Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren besteht. Zwar hat Ungarn in 2300 Fällen den Übernahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland formal entsprochen, tatsächliche Überstellungen erfolgten jedoch nur in einem Umfang von ca. 1,4 %. Die offensichtlichen Probleme beim Vollzug der in der Dublin III-Verordnung normierten Regelungen zur Aufnahme bzw. Wiederaufnahme von Asylsuchenden und der Überstellung sind keine bloße zeitliche Verzögerung aufgrund administrativer Vorkehrungen für eine an sich bereits dem Grunde nach ins Auge gefasste Abschiebung.
128Vgl. zu diesen Aspekten, Zahlen und weiteren Nachweisen: VG Oldenburg, Urteil vom 19.6.2015 - 13 A 1294/15 -.
129Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 1489/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Februar 2015 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Der am 25. Februar 2015 sinngemäß gestellte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 1489/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Februar 2015 anzuordnen,
4hat Erfolg.
5Der Antrag ist zulässig und begründet.
6Der Antrag ist nach § 34a Abs. 2 S. 1 AsylVfG zulässig, insbesondere ist die dort bestimmte Antragsfrist von einer Woche nach Bekanntgabe gewahrt.
7Der Antrag ist auch begründet. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsanordnung durch § 75 AsylVfG gesetzlich angeordnete öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt. Die dabei vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Gunsten des Antragstellers aus. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützte Abschiebungsanordnung in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides begegnet nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
8Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Es bestehen erhebliche Zweifel, dass die hierfür erforderlichen Voraussetzungen im vorliegenden Fall derzeit erfüllt sind.
9Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III‑VO). Diese findet gemäß ihres Art. 49 Unterabsatz 2 Satz 1 auf Schutzgesuche Anwendung, die nach dem 31. Dezember 2013 gestellt werden, mithin auch auf den von dem Antragsteller im Dezember 2014 gestellten Asylantrag.
10Nach Art. 13 Abs. 1 der Dublin III‑VO ist die Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers begründet worden. Nach dieser Norm ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrages zuständig, in den der betreffende Ausländer ausweislich der in dieser Norm genannten Erkenntnismittel aus einem Drittstaat kommend illegal eingereist ist, wenn der Tag des illegalen Grenzübertritts zum maßgeblichen Zeitpunkt der erstmaligen Beantragung internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat (vgl. Art. 7 Abs. 2 Dublin III‑VO) noch nicht länger als zwölf Monate zurückliegt. Die Anfrage im EURODAC-Verzeichnis hat nach Angaben des Bundesamtes in dem an Ungarn gerichteten Übernahmeersuchen am 30. Dezember 2014 ergeben, dass sich der Antragsteller vor seiner Einreise in das Bundesgebiet in Ungarn aufgehalten und dort am 10. November 2014 einen Asylantrag gestellt hat. Es liegen damit hinreichende Indizien dafür vor, dass der Antragsteller aus einem Drittstaat kommend illegal nach Ungarn eingereist ist.
11Die damit anzunehmende Zuständigkeit ist auch nicht nachträglich entfallen. Insbesondere hat das Bundesamt innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO genannten Frist am 29. Januar 2015 ein Wiederaufnahmegesuch an Ungarn gerichtet.
12Ungarn hat mit Schreiben vom 12. Februar 2015 dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben.
13Ferner ist die Zuständigkeit nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III‑VO wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Antragsgegnerin übergegangen. Die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Ungarn liegt weniger als sechs Monate zurück.
14Auch kann sich der Antragsteller nicht erfolgreich darauf berufen, die Antragsgegnerin sei verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO Gebrauch zu machen, weil ihrer Überstellung nach Ungarn rechtliche Hindernisse entgegenstünden. Die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an einen bestimmten Staat hindert nur die Überstellung dorthin, begründet aber kein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Antragsgegnerin,
15vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - C 394/12 -, juris, Rdn. 60, 62 und Urteil vom 14. November 2013 - C 4/11 -, juris, Rdn. 37; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6/14 -, juris, Rdn. 7.
16Gegenwärtig steht indes nicht im Sinne von § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG fest, dass die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn durchgeführt werden kann. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift ist es Aufgabe allein des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen.
17Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 1795/14-, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 30. August 2011 -18 B 1060/11 -, juris Rn. 4 und vom 3. März 2015 und ‑ 14 B 102/15.A ‑, juris; OVG Niedersachsen, Urteil vom 4. Juli 2012- 2 LB 163/10 -, juris Rn. 41; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 - OVG 2 S 6.12 -, juris Rn. 4 ff.; VGH Bayern, Beschluss vom 12. März 2014 - 10 CE 14.427 -, juris Rn. 4; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 25. April 2014 - 2 B 215/14 -, juris Rn. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Mai 2011 ‑ A 11 S 1523/11 -, juris Rn. 4 ff.; OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, juris Rn. 9 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29. November 2004- 2 M 299/04 -, juris Rn. 9 ff.
18Die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist nicht etwa nur zu unterlassen, wenn ein Abschiebungshindernis vorliegt, sondern darf erst dann ergehen, wenn ein solches ausgeschlossen ist ("feststeht, dass sie durchgeführt werden kann").
19Vgl. zum tatsächlichen Abschiebungshindernis der fehlenden Übernahmebereitschaft des Zielstaates: OVG NRW, Beschlüsse vom 3. März 2015 ‑ 14 B 101/15.A ‑ und ‑ 14 B 102/15.A ‑ sowie vom 10. März 2015 ‑ 14 B 162/15.A ‑; Funke-Kaiser in: GK AsylVfG 1992, Loseblattsammlung (Stand: November 2014), § 34a Rn. 20.
20Daran fehlt es hier nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung. Denn es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn gegenwärtig rechtlich unmöglich ist, weil ihm in diesem Falle wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen,
21vgl. zur Definition „systemischer Mängel“ im Einzelnen: Lübbe: „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, in: ZAR 2014, 105 ff,; EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rdn. 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, NVwZ 2011, 413,
22die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) droht.
23Systemische Mängel in diesem Sinne können angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch, vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können.
24Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rdn. 94.
25Die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend achtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Artikel 4 EU-GR-Charta implizieren,
26EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. –, juris, Rdn. 86.
27Eine Widerlegung der Vermutung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Das Gericht muss sich vielmehr die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
28Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014 – 10 B 6.14 –, juris, Rdn. 6 ff. m.w.N.
29Vorliegend dürften nach Auffassung des Gerichts zwar auch weiterhin keine hinreichenden Anhaltspunkte für systemische Mängel im oben genannten Sinn hinsichtlich der Aufnahmebedingungen in Ungarn bestehen,
30vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 20. März 2015 – 13 K 501/14. A –, juris; a.A. VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 3 K 2005/15.A -, www.nrwe.de.
31Demgegenüber ergeben sich jedoch hinsichtlich des Asylverfahrens in Ungarn solche hinreichenden Anhaltspunkte aus den am 6. Juli 2015 beschlossenen und zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts, soweit sie sich aus frei zugänglichen Veröffentlichungen ergeben,
32vgl. Information im englischsprachigen Internetangebot der ungarischen Regierung, http://www.kormany.hu/en/news/government-has-identified-list-of-safe-countries; UNHCR vom 2. Juli 2015, „UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste”, http://www.unhcr.org/559641846.html; aida: „Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries”, http://www.asylumineurope.org/news/23-07-2015/hungary-adopts-list-safe-countries-origin-and-safe-third-countries; amnesty international: „Hungary: Change to Asylum Law puts tens of thousands at risk”, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/07/hungary-change-to-asylum-law-puts-tens-of-thousands-at-risk/; alle abgerufen am 6. August 2015.
33Insbesondere begründet die Aufnahme von Serbien – neben allen anderen an Ungarn angrenzenden Staaten – in die Liste der sicheren Drittstaaten die Gefahr, dass der betroffene Antragsteller keinen Zugang zu einem Asylverfahren erhält, in dem eine inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe vorgenommen würde. Es besteht die Gefahr, dass er bei einer Überstellung nach Ungarn durch die dortigen Behörden ohne inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe nach europäischen Mindeststandards beispielsweise nach Serbien abgeschoben wird. Nach den Feststellungen des Europäischen Kommissars für Menschenrechte ist jedoch jedenfalls hinsichtlich Serbien äußerst zweifelhaft, dass das dortige Asylverfahren und die dortigen Aufnahmebedingungen den europäischen Mindestanforderungen entsprechen,
34vgl. Schreiben an den serbischen Premierminister und Innenminister vom 27. November 2013, https://wcd.coe.int/com.instranet.InstraServlet?command=com.instranet.CmdBlobGet&InstranetImage=2444713&SecMode=1&DocId=2108062&Usage=2, abgerufen am 6. August 2015.
35Damit liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Ungarn eine weitere Abschiebung in ein nicht sicheres Drittland und damit letztlich in sein Herkunftsland droht, ohne ihm Zugang zu einem Verfahren auf Zuerkennung internationalen Schutzes zu gewähren, in dem seine Fluchtgründe inhaltlich geprüft werden. Darin läge zugleich ein Verstoß gegen das Refoulement-Verbot zu Lasten des Antragstellers,
36so im Ergebnis auch VG Kassel, Beschluss vom 24. Juli 2015 – 6 L 1147/15.KS.A -, n.v.
37Ob und gegebenenfalls mit welcher Wahrscheinlichkeit eine solche Gefahr für den Antragsteller in seiner persönlichen Situation als Dublin-Rückkehrer tatsächlich besteht, bedarf weiterer Aufklärung im Hauptsacheverfahren.
38Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.
39Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 2 K 1422/15.A des Antragstellers gegen die in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Mai 2015 enthaltene Abschiebungsanordnung nach Ungarn wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e
2Der Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung seiner Klage 2 K 1422/15.A gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 12. Mai 2015, zugestellt am 18. Juni 2015, anzuordnen,
4ist zulässig und begründet.
5Im Rahmen der in Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotenen Abwägung zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers an einem Verbleib in Deutschland bis zum Abschluss des Klageverfahrens und dem öffentlichen Interesse an einem Vollzug der auf § 34a Abs. 1 AsylVfG gestützten Anordnung der Abschiebung nach Ungarn im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Mai 2015 überwiegt unter Berücksichtigung aller derzeit erkennbaren Umstände das Aussetzungsinteresse. Denn es lässt sich nicht mehr mit der in Verfahren der vorliegenden Art hinreichenden Wahrscheinlichkeit annehmen, dass sich der auf §§ 27a, 34a AsylVfG gestützte Bundesamtsbescheid im Ergebnis als rechtmäßig erweisen wird. Deshalb wäre mit einem sofortigen Vollzug des umstrittenen Bundesamtsbescheides eine unbillige Härte für den Antragsteller verbunden (vgl. zum Prüfungsmaßstab § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO).
6Nach § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
7Zwar ist die Antragsgegnerin zutreffend davon ausgegangen, dass Ungarn grundsätzlich der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Mitgliedsstaat ist. Die ungarischen Behörden haben auf das Wiederaufnahmegesuch der Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 10. April 2015 ihre Zuständigkeit gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin II-VO) für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers erklärt.
8Allerdings kann nach Einschätzung des Gerichts unter Berücksichtigung des vorliegenden neueren Erkenntnismaterials sowie der geänderten Positionierung des ungarischen Staates zur Aufnahmebereitschaft von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Übereinkommens aktuell nicht mehr mit der erforderlichen Gewissheit davon ausgegangen werden, dass in Ungarn systemische Mängel bzw. Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nicht anzunehmen sind. Vielmehr gibt die jüngste Entwicklung in Ungarn Anlass zu der Annahme, dass gravierende Anhaltspunkte für das Bestehen systemischer Mängel vorhanden sind, aufgrund derer der Antragsteller im Falle der Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.
9Ausgangspunkt für diese Bewertung ist das in Ungarn sich in jüngster Zeit massiv zuspitzende Kapazitätsproblem bei der Aufnahme von Asylbewerbern bedingt durch die stetig ansteigende Zahl von Asylbewerbern. Während in Ungarn im Jahre 2012 lediglich 2.157 Asylanträge gestellt wurden, stieg die Anzahl der Asylbewerber im Jahre 2013 auf 18.900 an und verdoppelte sich im Jahre 2014 auf 42.777. Vom 1. Januar 2015 bis zum 1. März 2015 registrierten die ungarischen Behörden bereits eine Anzahl von 28.535 Personen.
10Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015 (abrufbar unter http://helsinki.hu/wp-content/uploads/Asylum-2015-Hungary-press-info-4March2015.pdf.
11Bis zu 72.000 Flüchtlinge sollen bereits in diesem Jahr nach Angaben der ungarischen Regierung in das Land gelangt sein.
12Vgl. spiegelonline: Überlastetes Asylsystem, Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen, Bericht vom 6. Juli 2015, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-verschaerft-gesetzzur-aufnahme-von-flüchtlingen.
13Ungarn gehört damit in der EU zum drittgrößten Zuwanderungsland für Asylbewerber.
14Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015,aaO.
15Hinzu kommt noch, dass Ungarn nach der Dublin-VO verpflichtet ist, alle weitergereisten Personen, die erstmals in Ungarn einen Asylantrag gestellt haben, wiederaufzunehmen. Dieser großen Anzahl von Asylbewerbern steht demgegenüber nur eine geringe Zahl von Aufnahmeplätzen gegenüber. Wie dem jüngsten Bericht des European Asylum Support Office (EOS) vom 18. Mai 2015 zu entnehmen ist, der eine ausführliche aktuelle Berichterstattung über das ungarische Asylsystem enthält,
16http://easo.europa.eu/wp-content/uploads/Description-of-the-Hungarian-asylum-system-18-May-final.pdf;
17gibt es in ganz Ungarn weniger als 2.500 Aufnahmeplätze in staatlichen Unterbringungseinrichtungen. Die Plätze verteilen sich auf vier offene Aufnahmeeinrichtungen (Bicske 439, Debrecen 823, Vamaosszabadi 255, Nagyfa 300 sowie in Balassagyarmat 111) und drei geschlossene Lager (Debrecen 192, Bekescsabe 159, Nyirbator 105).
18Bereits diese Zahlen verdeutlichen das bestehende massive Unterbringungsproblem in Ungarn. Es kann angesichts dieser Größenordnung bei einer Zuwanderung von mehr als 60.000 Flüchtlingen innerhalb eines halben Jahres ersichtlich nicht davon ausgegangen werden, dass die erheblich zu geringe Zahl an staatlichen Unterbringungsplätzen für Asylbewerber auch nur ansatzweise durch von Kirchen und sonstigen nichtstaatlichen caritativen Einrichtungen aufgefangen werden könnte.
19Hinzu kommt, dass sich der ungarische Staat selbst weder willens noch in der Lage sieht, die Unterbringung und Versorgung der stetig ansteigenden Zahl von Asylbewerbern zu gewährleisten. Dass bereits seit einigen Monaten von den ungarischen Behörden die Situation der Flüchtlingsunterbringung als dramatisch eingestuft wird, zeigt der Umstand des bereits Ende Mai 2015 erklärten Aufnahmestopps von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Transfers wegen ausgeschöpfter Aufnahmekapazitäten bis zum 5. August 2015.
20S. E-Mail der Dublinet Hungary vom 29. Mai 2015 an die Europäischen Mitgliedsstaaten betr. INFO Transfer Stop.
21Als erschwerend ist die ablehnende Haltung der ungarischen Regierung gegenüber dem Dublin-Übereinkommen anzusehen, die das gesamte Dublin-Konzept als ein Systemfehler bezeichnet. Seitens der ungarischen Regierung wird unmissverständlich deutlich gemacht, dass man eine nennenswerte Zuwanderung sog. Wirtschaftsflüchtlinge nicht wünsche und Ungarn keine multikulturelle Gesellschaft werden wolle.
22Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015, aaO; Die Welt, Bericht vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat, abrufbar unter: http://www.welt.de/143027058; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, Die ungarische Regierung will Flüchtlinge ab sofort aussperren.
23Die mangelnde Bereitschaft der ungarischen Regierung zur Aufnahme von Dublin-Rückkehrern gipfelte schließlich in der am 23. Juni 2015 erfolgten Ankündigung des Regierungschef Orban, das EU Abkommen zur Aufnahme von Flüchtlingen auszusetzen. Begründet wurde diese Entscheidung mit dem Hinweis, dass die Kapazitäten ausgeschöpft seien („Das Boot ist voll“) und die ungarische Interessen sowie die ungarische Bevölkerung geschützt werden müssten.
24Vgl. Die Welt, Bericht vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat; aa0; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, aa0.
25Wenn auch diese Ankündigung bereits einen Tag später zurückgenommen wurde, so macht sie doch auf der einen Seite die dramatische Unterbringungssituation für die Flüchtlinge in Ungarn deutlich wie auch auf der anderen Seite die fehlende Bereitschaft staatlicher Stellen, die Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen und deren menschwürdige Unterbringung zu garantieren. Vielmehr ist zu konstatieren, dass die ungarische Regierung die Politik der Ausgrenzung weiter forciert. Ungeachtet internationaler Kritik hat Ungarn die Regeln für die Einwanderung verschärft. Am Montag, den 6. Juli 2015 verabschiedete das ungarische Parlament eine Verschärfung der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Der Zeitrahmen für Asylverfahren wird gekürzt werden. Mit der neuen Rechtslage wird ermöglicht, Asylanträge von Flüchtlingen abzulehnen, die über sichere Transitländer nach Ungarn gereist sind - selbst wenn sie aus Bürgerkriegsländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak stammen. Vorgesehen ist überdies, dass Asylbewerber zukünftig selbst für Kost und Unterbringung während der Antragsbearbeitung zahlen sollen.
26Vgl. spiegelonline. Überlastetes Asylsystem, aa0; Die Welt, Bericht vom 6. Juli 2015 Zuwanderung: Ungarn zieht Grenzzaun gegen Flüchtlinge hoch, abrufbar unter: http://www.welt.de/143651657.
27Angesichts dieser jüngeren Entwicklungen bestehen ernst zu nehmende Anhaltspunkte für die Annahme, dass das Asylsystem in Ungarn systemische Schwachstellen aufweist. Daher sieht sich das Gericht veranlasst, im vorläufigen Rechtsschutzverfahren – unter Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung - die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Ungarn nach summarischer Prüfung derzeit als offen zu betrachten. Die nähere Prüfung dieser in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht komplexen Fragestellung ist allerdings dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Im vorliegenden Verfahren überwiegt das Aussetzungsinteresse.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVG.
29Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
30Hemmelgarn
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 1489/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Februar 2015 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Der am 25. Februar 2015 sinngemäß gestellte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 1489/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Februar 2015 anzuordnen,
4hat Erfolg.
5Der Antrag ist zulässig und begründet.
6Der Antrag ist nach § 34a Abs. 2 S. 1 AsylVfG zulässig, insbesondere ist die dort bestimmte Antragsfrist von einer Woche nach Bekanntgabe gewahrt.
7Der Antrag ist auch begründet. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsanordnung durch § 75 AsylVfG gesetzlich angeordnete öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt. Die dabei vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Gunsten des Antragstellers aus. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützte Abschiebungsanordnung in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides begegnet nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
8Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Es bestehen erhebliche Zweifel, dass die hierfür erforderlichen Voraussetzungen im vorliegenden Fall derzeit erfüllt sind.
9Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III‑VO). Diese findet gemäß ihres Art. 49 Unterabsatz 2 Satz 1 auf Schutzgesuche Anwendung, die nach dem 31. Dezember 2013 gestellt werden, mithin auch auf den von dem Antragsteller im Dezember 2014 gestellten Asylantrag.
10Nach Art. 13 Abs. 1 der Dublin III‑VO ist die Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers begründet worden. Nach dieser Norm ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrages zuständig, in den der betreffende Ausländer ausweislich der in dieser Norm genannten Erkenntnismittel aus einem Drittstaat kommend illegal eingereist ist, wenn der Tag des illegalen Grenzübertritts zum maßgeblichen Zeitpunkt der erstmaligen Beantragung internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat (vgl. Art. 7 Abs. 2 Dublin III‑VO) noch nicht länger als zwölf Monate zurückliegt. Die Anfrage im EURODAC-Verzeichnis hat nach Angaben des Bundesamtes in dem an Ungarn gerichteten Übernahmeersuchen am 30. Dezember 2014 ergeben, dass sich der Antragsteller vor seiner Einreise in das Bundesgebiet in Ungarn aufgehalten und dort am 10. November 2014 einen Asylantrag gestellt hat. Es liegen damit hinreichende Indizien dafür vor, dass der Antragsteller aus einem Drittstaat kommend illegal nach Ungarn eingereist ist.
11Die damit anzunehmende Zuständigkeit ist auch nicht nachträglich entfallen. Insbesondere hat das Bundesamt innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO genannten Frist am 29. Januar 2015 ein Wiederaufnahmegesuch an Ungarn gerichtet.
12Ungarn hat mit Schreiben vom 12. Februar 2015 dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben.
13Ferner ist die Zuständigkeit nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III‑VO wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Antragsgegnerin übergegangen. Die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Ungarn liegt weniger als sechs Monate zurück.
14Auch kann sich der Antragsteller nicht erfolgreich darauf berufen, die Antragsgegnerin sei verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO Gebrauch zu machen, weil ihrer Überstellung nach Ungarn rechtliche Hindernisse entgegenstünden. Die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an einen bestimmten Staat hindert nur die Überstellung dorthin, begründet aber kein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Antragsgegnerin,
15vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - C 394/12 -, juris, Rdn. 60, 62 und Urteil vom 14. November 2013 - C 4/11 -, juris, Rdn. 37; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6/14 -, juris, Rdn. 7.
16Gegenwärtig steht indes nicht im Sinne von § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG fest, dass die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn durchgeführt werden kann. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift ist es Aufgabe allein des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen.
17Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 1795/14-, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 30. August 2011 -18 B 1060/11 -, juris Rn. 4 und vom 3. März 2015 und ‑ 14 B 102/15.A ‑, juris; OVG Niedersachsen, Urteil vom 4. Juli 2012- 2 LB 163/10 -, juris Rn. 41; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 - OVG 2 S 6.12 -, juris Rn. 4 ff.; VGH Bayern, Beschluss vom 12. März 2014 - 10 CE 14.427 -, juris Rn. 4; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 25. April 2014 - 2 B 215/14 -, juris Rn. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Mai 2011 ‑ A 11 S 1523/11 -, juris Rn. 4 ff.; OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, juris Rn. 9 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29. November 2004- 2 M 299/04 -, juris Rn. 9 ff.
18Die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist nicht etwa nur zu unterlassen, wenn ein Abschiebungshindernis vorliegt, sondern darf erst dann ergehen, wenn ein solches ausgeschlossen ist ("feststeht, dass sie durchgeführt werden kann").
19Vgl. zum tatsächlichen Abschiebungshindernis der fehlenden Übernahmebereitschaft des Zielstaates: OVG NRW, Beschlüsse vom 3. März 2015 ‑ 14 B 101/15.A ‑ und ‑ 14 B 102/15.A ‑ sowie vom 10. März 2015 ‑ 14 B 162/15.A ‑; Funke-Kaiser in: GK AsylVfG 1992, Loseblattsammlung (Stand: November 2014), § 34a Rn. 20.
20Daran fehlt es hier nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung. Denn es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn gegenwärtig rechtlich unmöglich ist, weil ihm in diesem Falle wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen,
21vgl. zur Definition „systemischer Mängel“ im Einzelnen: Lübbe: „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, in: ZAR 2014, 105 ff,; EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rdn. 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, NVwZ 2011, 413,
22die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) droht.
23Systemische Mängel in diesem Sinne können angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch, vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können.
24Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rdn. 94.
25Die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend achtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Artikel 4 EU-GR-Charta implizieren,
26EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. –, juris, Rdn. 86.
27Eine Widerlegung der Vermutung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Das Gericht muss sich vielmehr die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
28Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014 – 10 B 6.14 –, juris, Rdn. 6 ff. m.w.N.
29Vorliegend dürften nach Auffassung des Gerichts zwar auch weiterhin keine hinreichenden Anhaltspunkte für systemische Mängel im oben genannten Sinn hinsichtlich der Aufnahmebedingungen in Ungarn bestehen,
30vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 20. März 2015 – 13 K 501/14. A –, juris; a.A. VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 3 K 2005/15.A -, www.nrwe.de.
31Demgegenüber ergeben sich jedoch hinsichtlich des Asylverfahrens in Ungarn solche hinreichenden Anhaltspunkte aus den am 6. Juli 2015 beschlossenen und zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts, soweit sie sich aus frei zugänglichen Veröffentlichungen ergeben,
32vgl. Information im englischsprachigen Internetangebot der ungarischen Regierung, http://www.kormany.hu/en/news/government-has-identified-list-of-safe-countries; UNHCR vom 2. Juli 2015, „UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste”, http://www.unhcr.org/559641846.html; aida: „Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries”, http://www.asylumineurope.org/news/23-07-2015/hungary-adopts-list-safe-countries-origin-and-safe-third-countries; amnesty international: „Hungary: Change to Asylum Law puts tens of thousands at risk”, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/07/hungary-change-to-asylum-law-puts-tens-of-thousands-at-risk/; alle abgerufen am 6. August 2015.
33Insbesondere begründet die Aufnahme von Serbien – neben allen anderen an Ungarn angrenzenden Staaten – in die Liste der sicheren Drittstaaten die Gefahr, dass der betroffene Antragsteller keinen Zugang zu einem Asylverfahren erhält, in dem eine inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe vorgenommen würde. Es besteht die Gefahr, dass er bei einer Überstellung nach Ungarn durch die dortigen Behörden ohne inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe nach europäischen Mindeststandards beispielsweise nach Serbien abgeschoben wird. Nach den Feststellungen des Europäischen Kommissars für Menschenrechte ist jedoch jedenfalls hinsichtlich Serbien äußerst zweifelhaft, dass das dortige Asylverfahren und die dortigen Aufnahmebedingungen den europäischen Mindestanforderungen entsprechen,
34vgl. Schreiben an den serbischen Premierminister und Innenminister vom 27. November 2013, https://wcd.coe.int/com.instranet.InstraServlet?command=com.instranet.CmdBlobGet&InstranetImage=2444713&SecMode=1&DocId=2108062&Usage=2, abgerufen am 6. August 2015.
35Damit liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Ungarn eine weitere Abschiebung in ein nicht sicheres Drittland und damit letztlich in sein Herkunftsland droht, ohne ihm Zugang zu einem Verfahren auf Zuerkennung internationalen Schutzes zu gewähren, in dem seine Fluchtgründe inhaltlich geprüft werden. Darin läge zugleich ein Verstoß gegen das Refoulement-Verbot zu Lasten des Antragstellers,
36so im Ergebnis auch VG Kassel, Beschluss vom 24. Juli 2015 – 6 L 1147/15.KS.A -, n.v.
37Ob und gegebenenfalls mit welcher Wahrscheinlichkeit eine solche Gefahr für den Antragsteller in seiner persönlichen Situation als Dublin-Rückkehrer tatsächlich besteht, bedarf weiterer Aufklärung im Hauptsacheverfahren.
38Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.
39Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.