Verwaltungsgericht Düsseldorf Beschluss, 20. Aug. 2015 - 15 L 2556/15.A
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 15 K 5237/15.A gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 20. Juli 2015 wird angeordnet, soweit dort unter Ziffer 2 die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn angeordnet ist.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Das am 27. Juli 2015 bei Gericht eingegangene vorläufige Rechtsschutzgesuch mit dem sinngemäß (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) gestellten Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 15 K 5237/15.A gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 20. Juli 2015 anzuordnen, soweit dort unter Ziffer 2 die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn angeordnet ist,
4hat Erfolg. Es ist als Anordnungsbegehren gemäß den §§ 123 Abs. 5, 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO zwar, weil der Klage gegen den Ablehnungsbescheid des Bundesamtes nach § 75 Abs. 1 AsylVfG kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung zukommt, statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist der Rechtsschutzantrag gegenüber der Abschiebungsanordnung, die auf § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG gestützt ist, fristgerecht gestellt. Ausweislich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ist der angegriffene Bundesamtsbescheid gerichtet an den Antragsteller am 23. Juli 2015 zur Post gegeben worden mit der Folge, dass das am 27. Juli 2015 gestellte vorläufige Rechtsschutzgesuch die einwöchige Antragsfrist des § 34 a Abs. 2 S. 1 AsylVfG jedenfalls wahrt.
5Das danach zulässige Rechtsschutzgesuch ist auch begründet.
6Gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache als Ergebnis einer Interessenabwägung, die in den Fällen des § 34 a Abs. 2 S. 1 AsylVfG nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte nicht den Einschränkungen des § 36 Abs. 4 S. 1 AsylVfG unterliegt,
7vgl. hierzu nur mit ausführlicher Darstellung des Gesetzgebungsverfahrens Verwaltungsgericht (VG) Trier, Beschluss vom 18. September 2013, 5 L 1234/13.TR, juris Rdnr. 5 ff. m. w. N.,
8die aufschiebende Wirkung einer Klage ganz oder teilweise anordnen, soweit ihr ‑ wie hier ‑ kein Suspensiveffekt zukommt. Dabei überwiegt das Aussetzungsinteresse des Betroffenen das Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung einer Verfügung, wenn entweder der angegriffene Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil an der sofortigen Vollziehung einer solchen Regelung kein öffentliches Interesse besteht, oder aber wenn die angegriffene Regelung bei summarischer Prüfung zwar einer Rechtskontrolle Stand hält, gleichwohl aber das Aufschubinteresse des Betroffenen dem Allgemeininteresse an ihrer sofortigen Vollziehung vorgeht. Die danach gebotene Interessenabwägung fällt hier zu Gunsten des Antragstellers aus. Die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet bei summarischer Prüfung im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) rechtlich durchgreifenden Bedenken mit der Folge, dass unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Belange des Antragstellers an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung kein öffentliches Interesse besteht.
9Die Abschiebungsanordnung ist wohl nicht rechtsfehlerfrei auf § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG gestützt. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27 a AsylVfG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind zumindest im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) nicht (länger) erfüllt.
10Ist ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, ist gemäß § 27 a AsylVfG ein Asylantrag unzulässig. Zu Recht hat das Bundesamt hier zur Bestimmung des Staates im Sinne des § 27 a AsylVfG die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III‑VO), herangezogen.
11Gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III‑VO ist Ungarn für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers zuständig, nachdem der Antragsteller nach eigenen Angaben Syrien im März 2012 verlassen hat und über die Türkei, Griechenland, Mazedonien und ‑ insoweit durch einen EURODAC-Treffer (HU2 …) bestätigt ‑ Ungarn sowie Österreich am 29. März 2015 in das Bundesgebiet eingereist ist und seit der Ankunft in Ungarn das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten des Dublin III‑Abkommens nicht wieder verlassen hat. Auch hat Ungarn dem Bundesamt gegenüber auf dessen Anfrage vom 7. Mai 2015 unter dem 12. Juni 2015 schriftlich seine Bereitschaft erklärt, den Antragsteller aufzunehmen.
12Auch ist die Antragsgegnerin nicht verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III‑VO Gebrauch zu machen und das Asylgesuch des Antragstellers selbst zu prüfen. Ein subjektives Recht des Asylbewerbers auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts vermittelt diese Vorschrift als Teil der Regelungen der Dublin III‑VO, die ausgerichtet an objektiven Kriterien der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten dienen, für sich genommen nicht.
13Vgl. Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteile vom 10. Dezember 2013, C 394/12, juris Rdnr. 60, 62, und vom 14. November 2013, C 4/11, juris Rdnr. 7; Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 19. März 2014, 10 B 6.14, juris Rdnr. 7.
14Gleichwohl begegnet die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung, die nur dann rechtsfehlerfrei ist, wenn ausgeschlossen werden kann, dass ein Abschiebungshindernis vorliegt,
15vgl. Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 28. April 2015, 22 L 1095/15.A; zum tatsächlichen Abschiebungshindernis der fehlenden Übernahmebereitschaft des Zielstaates: OVG NRW, Beschlüsse vom 3. März 2015, 14 B 101/15.A und 14 B 102/15.A, sowie Beschluss vom 10. März 2015, 14 B 162/15.A.,
16hier rechtserheblichen Bedenken, die der Überprüfung im Hauptsacheverfahren bedürfen.
17Entgegen den Vorgaben des § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG steht derzeit nicht fest, dass der Antragsteller nach Ungarn abgeschoben werden kann, weil gewichtige Gründe für die Annahme sprechen, dass die Abschiebung Ungarn im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO unmöglich ist, weil der Antragsteller im hier maßgeblichen Prognosezeitraum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Ungarn wegen systemischer Mängel des dortigen Verfahrens zur Schutzgewährung der ernsthaften Gefahr ausgesetzt sein wird, eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) zu erfahren.
18Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III‑VO wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der für die Prüfung des Schutzgesuchs zuständige Mitgliedsstaat, wenn eine Überstellung des Schutzsuchenden in den nach Kapitel III der Dublin III‑VO bestimmten Mitgliedsstaat unmöglich ist, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder unwürdigeren Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtscharta mit sich bringen, und nach Kapitel III der Dublin III‑VO kein anderer Mitgliedsstaat als zuständig bestimmt werden kann.
19Die dem gemeinsamen europäischen Asylsystem zu Grunde liegende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Schutzsuchenden einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend beachtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn die aus Tatsachen abgeleitete Gefahr besteht, dass der Schutzsuchende in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, entgegen den Vorgaben des Art. 4 EU-Grundrechtscharta bzw. Art. 3 der Konvention unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden wird, weil das Verfahren zur Schutzgewährung und die Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen. Solche Mängel können allerdings erst dann angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen von einer Art. 4 EU-Grundrechtscharta bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen zu verzeichnen sind, sondern strukturell bedingt sind und dem überstellenden Staates nicht unbekannt sein können.
20Vgl. zum Ganzen: EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011, C 411/10 u. a., juris Rdnr. 83 ff; Europäischer Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR), Urteil vom 21. Januar 2011, 30696/09, juris.
21Insoweit ist damit ist eine Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat rechtlich unzulässig, sofern mit beachtlicher, das heißt überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass der Schutzsuchende dort wegen systemischer Mängel des Verfahrens zur Schutzgewährung oder der Aufnahmebedingungen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird,
22vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014, 10 B 6.14, juris Rdnr. 6,
23nicht aber schon dann, wenn der Zielstaat der Überstellung trotz möglicher Mängel in der Durchführung des Schutzverfahrens seine rechtlichen Verpflichtungen jedenfalls soweit erfüllt, dass eine Überstellung des Schutzsuchenden dorthin zumutbar erscheint.
24Vgl. etwa VG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Januar 2015, 13 L 58.15.A, VG Berlin, Beschlüsse vom 15. Januar 2015, 23 L 899.14 A, und vom 4. August 2014, 34 L 78.14 A, jeweils juris.
25Gemessen daran liegen zumindest gewichtige Anhaltspunkte tatsächlicher Art vor, die geeignet sein können, eine Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn rechtlich auszuschließen und deshalb einer näheren Überprüfung im Hauptsacheverfahren bedürfen. Namentlich spricht derzeit Vieles dafür, dass der Antragsteller im Fall seiner Überstellung nach Ungarn in dem hier maßgeblichen Prognosezeitraum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen systembedingter Mängel des Verfahrens zur Schutzgewährung eine Behandlung erfahren wird, die die hier rechtlich allein maßgeblichen Grenzen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bzw. der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzt.
26Belastbare Anhaltspunkte für diese Annahme ergeben sich aus den öffentlich zugänglichen Informationen über das in Ungarn am 6. Juli 2015 beschlossene und zum 1. August 2015 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung des dortigen Asylrechts.
27Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building A Legal Fence, Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, Information note, 7 August 2015, abrufbar unter http://helsinki.hu/en/new-asylum-rules-endanger-access-to-protection (Stand: 20 August 2015); Information im englischsprachigen Internetangebot der ungarischen Regierung, http://www.kormany.hu/en/news/government-has-identified-list-of-safe-countries; UNHCR vom 2. Juli 2015, „UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste”, http://www.unhcr.org/559641846.html; aida: „Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries”, http://www.asylumineurope.org/news/23-07-2015/hungary-adopts-list-safe-countries-origin-and-safe-third-countries; amnesty international: „Hungary: Change to Asylum Law puts tens of thousands at risk”, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/07/hungary-change-to-asylum-law-puts-tens-of-thousands-at-risk/; alle abgerufen am 6. August 2015.
28Danach sind nicht nur die Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeiten nach dem Dublin III‑Abkommen und zur Prüfung eines Asylgesuchs in Zuständigkeit des ungarischen Staates sowohl vor den ungarischen Behörden wie vor den ungarischen Gerichten etwa durch die Verkürzung von Fristen und die an Fristversäumnisse angeknüpften Sanktionen sowie neu gefasste Beweislastregeln formell wie materiell in einer Weise verändert worden, die ernsthaft befürchten lässt, dass das ungarische Asylrecht seit dem 1. August 2015 nicht nur etwa hinter den Verfahrensgarantien gemäß den Artikeln 26 ff. Dublin III‑VO und den Vorgaben der Richtlinie 2011/95/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9 ff.) zurückbleibt, sondern die in Ungarn Schutzsuchenden auch in Rechten verletzt, die ihnen auf europäischer Ebene grundrechtlich verbürgt sind. Ferner rechtfertigt die durch die Asylrechtrechtsnovelle bewirkte Aufnahme (insbesondere) Serbiens in den Kreis der aus Sicht des ungarischen Staates sicheren Drittstaaten die ernsthafte Besorgnis, dass Schutzsuchende in Ungarn ohne inhaltliche Prüfung ihrer Fluchtgründe in Staaten abgeschoben werden, für die ‑ wie etwa Serbien ‑,
29vgl. Commissioner for Human Rights, Council of Europe, Schreiben an den serbischen Premierminister und Innenminister vom 27. November 2013, https://wcd.coe.int/com.instranet.InstraServlet?comand=com.instranet.CmdBlobGet&InstranetImage=2444713&SecMode=1&DocId=2108062&Usage=2, abgerufen am 6. August 2015,
30zumindest zweifelhaft ist, dass die dortigen Asylverfahren den europäischen Mindestmindestanforderungen entsprechen und sicherstellen, dass Abschiebungen in andere nicht sichere Drittstaaten oder Rückführungen in das Herkunftsland des Schutzsuchenden unter Verstoß gegen das Refoulement-Verbot ausgeschlossen sind.
31Vgl. zu Letzterem schon Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 6. August 2015, 22 L 2205/15.A, n. v. sowie Beschluss vom 7. August 2015, 22 L 616/15.A, zur Veröffentlichung vorgesehen: www.nrwe.de und juris.
32Dass die zum 1. August 2015 in Ungarn geänderten asylrechtlichen Bestimmungen auf Dublin-Rückkehrer keine Anwendung finden, lässt sich dabei derzeit verlässlich nicht feststellen.
33Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
34Der Wert des Verfahrensgegenstandes ergibt sich aus § 30 RVG.
35Der Beschluss ist unanfechtbar; § 80 AsylVfG.
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Urteil einreichenVerwaltungsgericht Düsseldorf Beschluss, 20. Aug. 2015 - 15 L 2556/15.A zitiert oder wird zitiert von 31 Urteil(en).
(1) §§ 88, 108 Abs. 1 Satz 1, §§ 118, 119 und 120 gelten entsprechend für Beschlüsse.
(2) Beschlüsse sind zu begründen, wenn sie durch Rechtsmittel angefochten werden können oder über einen Rechtsbehelf entscheiden. Beschlüsse über die Aussetzung der Vollziehung (§§ 80, 80a) und über einstweilige Anordnungen (§ 123) sowie Beschlüsse nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache (§ 161 Abs. 2) sind stets zu begründen. Beschlüsse, die über ein Rechtsmittel entscheiden, bedürfen keiner weiteren Begründung, soweit das Gericht das Rechtsmittel aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 2375/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Februar 2015 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Der am 18. Februar 2015 sinngemäß gestellte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 2375/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Februar 2015 anzuordnen,
4hat Erfolg.
5Der Antrag nach § 80 Absatz 5 VwGO ist gemäß § 34a Abs. 2 S. 1 AsylVfG statthaft. Ferner ist die dort bestimmte Antragsfrist von einer Woche nach Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides am 17. Februar 2015 gewahrt.
6Der Antrag ist begründet.
7Das Gericht folgt der bislang zu § 34a Absatz 2 AsylVfG n.F. ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unzulässig oder unbegründet gemäß § 36 Absatz 4 Satz 1 AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Eine derartige Einschränkung der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis hat der Gesetzgeber für die Fälle des § 34a Absatz 2 AsylVfG gerade nicht geregelt. Eine solche Gesetzesauslegung entspräche auch nicht dem Willen des Gesetzgebers, denn eine entsprechende Initiative zur Ergänzung des § 34a Absatz 2 AsylVfG n.F. fand im Bundesrat keine Mehrheit;
8vgl. hierzu bereits mit ausführlicher Darstellung des Gesetzgebungsverfahrens Verwaltungsgericht Trier, Beschluss vom 18. September 2013 – 5 L 1234/13.TR ‑, juris Rn 5 ff. m.w.N.; Verwaltungsgericht Göttingen, Beschluss vom 17. Oktober 2013 – 2 B 844/13 ‑, juris Rn 3 f.; siehe auch bereits Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschlüsse vom 7. Januar 2014 – 13 L 2168/13.A ‑ und 24. Februar 2014 – 13 L 2685/13.A ‑, juris.
9Die danach vorzunehmende Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragsteller hat sich maßgeblich ‑ nicht ausschließlich ‑ an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren, wie diese sich bei summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren abschätzen lassen. Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zu Gunsten der Antragsteller aus, denn die Abschiebungsanordnung in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes begegnet nach diesen Maßstäben erheblichen rechtlichen Bedenken.
10Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Es bestehen erhebliche Zweifel, dass die hierfür erforderlichen Voraussetzungen im vorliegenden Fall derzeit erfüllt sind.
11Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Antragsgegnerin den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann, § 34a Absatz 1 Satz 1 AsylVfG.
12Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III‑VO). Diese findet gemäß ihres Art. 49 Unterabsatz 2 Satz 1 auf Schutzgesuche Anwendung, die nach dem 31. Dezember 2013 gestellt werden, mithin auch auf den von den Antragstellern im November 2014 gestellten Asylantrag.
13Nach Art. 13 Abs. 1 der Dublin III‑VO ist Italien für die Prüfung des Asylantrags der Antragsteller zu 1. und 2. zuständig. Die Anfrage im EURODAC-Verzeichnis hat ausweislich der Übermittlungsprotokolle vom 1. Dezember 2014 ergeben, dass sich die Antragsteller zu 1. und 2. vor ihrer Einreise in das Bundesgebiet in Italien aufgehalten und dort am 17. September 2014 bereits einen Asylantrag gestellt haben.
14Die damit für Italien anzunehmende Zuständigkeit ist auch nicht nachträglich entfallen. Insbesondere hat das Bundesamt innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO genannten Frist am 21. Januar 2015 ein Wiederaufnahmegesuch bezüglich der Antragsteller zu 1. und 2. an Italien gerichtet.
15Italien hat hierauf nicht reagiert, sodass gemäß Art. 25 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 der Dublin III-VO seit Ablauf des 5. Februar 2015 davon auszugehen ist, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird.
16Ferner ist die Zuständigkeit nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III‑VO wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Antragsgegnerin übergegangen. Die fingierte Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Italien liegt weniger als sechs Monate zurück.
17Unter diesen Umständen ist Italien gemäß Art. 20 Abs. 3 S. 1 Dublin III-VO auch für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller zu 3. und 4. zuständig. Bei diesen handelt es sich um die minderjährigen unverheirateten Kinder der Antragsteller zu 1. und 2., mithin um Familienangehörige im Sinne des Art. 2 g) zweiter Spiegelstrich Dublin III-VO. Die Prüfung der Asylanträge aller Familienangehörigen durch das für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller zu 1 und 2. zuständige Land dient auch dem Wohl der Antragsteller zu 3. und 4.
18Ferner können sich die Antragsteller auch nicht erfolgreich darauf berufen, die Antragsgegnerin sei verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO Gebrauch zu machen, weil ihrer Überstellung nach Italien rechtliche Hindernisse entgegenstünden. Die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an einen bestimmten Staat hindert nur die Überstellung dorthin, begründet aber kein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Antragsgegnerin,
19vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - C 394/12 -, juris, Rdn. 60, 62 und Urteil vom 14. November 2013 - C 4/11 -, juris, Rdn. 37; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6/14 -, juris, Rdn. 7.
20Gegenwärtig steht indes nicht im Sinne von § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG fest, dass die Abschiebung der Antragsteller nach Italien durchgeführt werden kann. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift ist es Aufgabe allein des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen.
21Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 1795/14-, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 30. August 2011 -18 B 1060/11 -, juris Rn. 4 und vom 3. März 2015 und ‑ 14 B 102/15.A ‑, juris; OVG Niedersachsen, Urteil vom 4. Juli 2012- 2 LB 163/10 -, juris Rn. 41; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 - OVG 2 S 6.12 -, juris Rn. 4 ff.; VGH Bayern, Beschluss vom 12. März 2014 - 10 CE 14.427 -, juris Rn. 4; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 25. April 2014 - 2 B 215/14 -, juris Rn. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, juris Rn. 4 ff.; OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, juris Rn. 9 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29. November 2004- 2 M 299/04 -, juris Rn. 9 ff.
22Die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist nicht etwa nur zu unterlassen, wenn ein Abschiebungshindernis vorliegt, sondern darf erst dann ergehen, wenn ein solches ausgeschlossen ist ("feststeht, dass sie durchgeführt werden kann").
23Vgl. zum tatsächlichen Abschiebungshindernis der fehlenden Übernahmebereitschaft des Zielstaates: OVG NRW, Beschlüsse vom 3. März 2015 ‑ 14 B 101/15.A ‑ und ‑ 14 B 102/15.A ‑ sowie vom 10. März 2015 ‑ 14 B 162/15.A ‑; Funke-Kaiser in: GK AsylVfG 1992, Loseblattsammlung (Stand: November 2014), § 34a Rn. 20.
24Daran fehlt es hier nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung. Denn es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass für die Antragsteller im Falle ihrer Abschiebung nach Italien wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen,
25vgl. zur Definition „systemischer Mängel“ im Einzelnen: Lübbe: „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, in: ZAR 2014, 105 ff,
26die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) besteht. Das ergibt sich angesichts des Alters der Antragsteller zu 3. und 4. von derzeit drei bzw. zwei Jahren aus den tatsächlichen Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in dessen Urteil vom 4. November 2014,
27Nr. 29217/12 in der Rechtssache Tarakhel ./. Schweiz, juris (in englischer Sprache),
28und deren Bewertung durch den EGMR, denen sich das Gericht anschließt.
29Bei dieser Sachlage spricht Überwiegendes dafür, dass eine Überstellung der Antragsteller nicht vorgenommen werden darf, ohne dass die Antragsgegnerin vorher eine individuelle Zusicherung der italienischen Behörden für eine dem Alter der Antragsteller zu 3. und 4. angemessene Betreuung und die Wahrung der Einheit der Familie erhalten hat.
30Dabei kann offen bleiben, ob sich eine solche individuelle Zusicherung aus der im Nachgang zu der genannten Entscheidung des EGMR abgegebenen und sowohl dem Gericht als auch den Beteiligten bekannten allgemeinen Erklärung des italienischen Ministero dell´Interno entnehmen ließe. Denn jedenfalls ist auch nach dieser Erklärung für die Sicherstellung der im Einklang mit Art. 3 EMRK, Art. 4 GRCh stehenden Behandlung der rückzuführenden Asylbewerber erforderlich, dass die italienischen Behörden mindestens 15 Tage vor der beabsichtigten Überstellung von den deutschen Behörden über die Überstellung und deren Zeitpunkt informiert werden. Im Nachgang zu dieser Information will Italien den deutschen Behörden sodann den Ort der Unterbringung der Familie sowie den Ankunftsflughafen mitteilen. Es ist zu dem gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht ersichtlich, dass eine Information durch die deutschen Behörden über die beabsichtigte Überstellung der Antragsteller erfolgt ist und eine entsprechende Antwort der italienischen Behörden vorliegt.
31Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.
32Eine Entscheidung über den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe war in Anbetracht der Kostenentscheidung entbehrlich.
33Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
(1) In Klageverfahren nach dem Asylgesetz beträgt der Gegenstandswert 5 000 Euro, in den Fällen des § 77 Absatz 4 Satz 1 des Asylgesetzes 10 000 Euro, in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes 2 500 Euro. Sind mehrere natürliche Personen an demselben Verfahren beteiligt, erhöht sich der Wert für jede weitere Person in Klageverfahren um 1 000 Euro und in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes um 500 Euro.
(2) Ist der nach Absatz 1 bestimmte Wert nach den besonderen Umständen des Einzelfalls unbillig, kann das Gericht einen höheren oder einen niedrigeren Wert festsetzen.