Verwaltungsgericht Köln Urteil, 15. Nov. 2016 - 7 K 4333/14
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheids vom 25.10.2013 in der Gestalt ihres Widerspruchsbescheids vom 06.02.2014 verpflichtet, der Klägerin Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz zu gewähren.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
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T a t b e s t a n d
2Die im Juni 1961 geborene Klägerin stellte im Januar 2013 bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz (ContStiftG). Sie erklärte, ihre Mutter habe sie in ihrer Kindheit über ihre Fehlbildungen aufgeklärt und mitgeteilt, sie habe geringe Mengen Contergantabletten eingenommen, jedoch nicht am Anfang der Schwangerschaft; daher sei sie von schwerwiegenden Fehlbildungen verschont geblieben. Die Klägerin machte folgende Schäden als thalidomidbedingt geltend:
3- massive LWS-Skoliose sowie
4HWS-Blockwirbel (C3/4 und C6/7) (Befundbericht Frau Steiger 2001)
5- Fehlbildung der rechten Ohrmuschel bei regelrechtem Gehörgang und Mittelohr und
6Schwerhörigkeit links nach Operation am Cholesteatom (Bescheinigung HNO-Arzt
7Dr. Zerfass 2013)
8- Hammer- oder Krallenzehe
9- Conterganschaden rechte Hand
10Hinsichtlich der Fehlbildung der rechten Hand legte die Klägerin eine Bescheinigung des Orthopäden Dr. Goldstein aus dem Jahr 2001 vor. Er diagnostiziert einen Conterganschaden der rechten Hand mit Hypomelie im Bereich Metacarpale I. Es finde sich eine Dysmelie des Daumens; ein 6. Krallenfinger sei im Alter von etwa 2 Jahren entfernt worden.
11Die Beklagte legte den Fall der Medizinischen Kommission zur Beurteilung vor.
12Dr. Graf hielt in seiner Stellungnahme vom 30.03.2013 einen Conterganschaden aus orthopädischer Sicht für möglich. Die Veränderungen an den Füßen hätten mit Contergan nichts zu tun. Die LWS zeige eine deutliche Skoliose ohne eindeutige Hinweise auf Blockwirbel. Die HWS weise Blockwirbel und erhebliche degenerative Schäden auf. Blockwirbel seien relativ typisch für Conterganschäden; sie kämen sonst selten vor. Die rechte Hand zeige die für eine Conterganschädigung typische Veränderung mit Hypoplasie des 1. Strahls. (Nicht eindeutig) gegen einen Conterganschaden spreche die Einseitigkeit im Bereich der oberen Extremitäten.
13Die Humangenetikerin Prof. Dr. L. führte in ihrer Stellungnahme vom 23.09.2013 aus, die Fehlbildungssymptomatik sei nicht thalidomidtypisch und spreche daher gegen eine Thalidomidembryopathie. Ähnlich geringfügig ausgeprägte Ohrmuschelanomalien kämen in der Allgemeinbevölkerung recht häufig vor. Eine einseitige Ohrmuschelvariante ohne weitere Fehlbildungen von Gehörgang und Mittelohr sei nicht typisch für eine Thalidomidembryopathie. Auch die einseitige Handfehlbildung sei nicht thalidomidtypisch. Die neben der Hypoplasie des Daumens ursprünglich vorhandene Polydaktylie an der rechten Hand, sei bei Thalidomidembryopathie nicht beschrieben. Zur Symptomatik einer Thalidomidembryopathie passe nicht, dass nur die HWS kongenitale Blockwirbelbildungen aufweise. Die daneben vorhandenen Symptome Skoliose, Kyphose, Spondylosis deformans von BWS und LWS seien als Folgeschäden der statischen Fehlhaltung zu sehen.
14Mit Bescheid vom 25.10.2013 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Sie verwies auf die Einschätzungen von Prof. Dr. L. und Dr. H. , soweit darin Zweifel an einer Thalidomidembryopathie geäußert worden waren. Zudem entstünden Conterganfehlbildungen nur, wenn thalidomidhaltige Präparate - anders als im Fall der Klägerin - zu Beginn der Schwangerschaft eingenommen würden.
15Mit ihrem gegen diese Entscheidung gerichteten Widerspruch machte die Klägerin geltend, ihre Mutter habe definitiv Contergan eingenommen. Sie kenne nur nicht den exakten Zeitpunkt. Wahrscheinlich habe sie in ihrer kindlichen Naivität glauben wollen, dass sie bei einer früheren Einnahme schwerere Schäden davon getragen hätte. Als sich für sie durch den Wegfall der Ausschlussfrist die Möglichkeit zur Antragstellung ergeben habe, habe sie ihre Mutter aufgrund mehrerer Schlaganfälle nicht mehr befragen können. Ihre sieben Geschwister hätten keine Fehlbildungen. Wenn Fehlbildungen in der Regel beidseitig aufträten, müsse es auch Ausnahmen geben. Im Bereich der Wirbelsäule habe sie an der LWS Keilwirbel und an der HWS neben Blockwirbeln auch zwei Synostosen. Synostosen seien ebenso wie einseitige Daumenfehlbildungen und Hypoplasien des Mittelhandknochens in der Medizinischen Punktetabelle erwähnt. Im Übrigen seien die Fehlbildungen der oberen Extremitäten keineswegs einseitig. Wie auf den übersandten Fotos ihrer Hände deutlich zu erkennen sei, entspreche die Form ihres linken Daumens eher der eines (Lang-) Fingers. Beigefügt war eine Bescheinigung der Orthopädin Steiger von November 2013. Sie führt aus, das Grundgelenk des linken Daumens sei deutlich überstreckbar. Im Endgelenk liege eine leichte Ulnardeviation vor. Der Daumenstrahl weise keine Skelettanomalie auf. Herr X. L1. gab in einer eidesstattlichen Erklärung vom 29.01.2014 an, er sei der Bruder der Mutter der Klägerin. Als er die Klägerin zum ersten Mal gesehen und seine Schwester auf die Fehlbildungen angesprochen habe, habe diese ihm gesagt, dass sie während der Schwangerschaft Contergan eingenommen habe.
16Die Beklagte befasste den Orthopäden Prof. Dr. G. mit dem Vorgang. Er kam in seiner Stellungnahme vom 25.05.2014 zum Schluss, dass die bei der Klägerin vorliegenden skelettalen Veränderungen zum Teil, nämlich hinsichtlich der Daumenhypoplasie, auch bei der Thalidomidembryopathie zu finden seien. Sie entspreche dem Typ II der Daumenhypoplasie. Auffallend seien die nur einseitige Handveränderung und die Ausbildung eines 6. Fingers laut Anamnese. Polydaktylie sei für die Thalidomidembryopathie nicht beschrieben. Auf den Röntgenaufnahmen und Fotos der linken Hand, die eine regelrechte Anlage des 1. Strahls zeigten, ließen sich keine thalidomidtypischen Veränderungen erkennen. Die Fehlbildungen an Hals- und Lendenwirbelsäule wiesen keine Verbindung zur Thalidomidembryopathie auf. Bei der Thalidomidembryopathie seien Fehlbildungen des Bandscheibenraums nur an der unteren Brust- und Lendenwirbelsäule gefunden worden. Eine Skoliose komme bei etwa einem Drittel der Patienten mit Thalidomidembryopathie vor, sie sei jedoch kein Beleg für eine Thalidomidembryopathie. Das Röntgenbild des linken Fußes sei vollkommen unauffällig und zeige keine Veränderungen, die im Sinne einer Thalidomidembryopathie interpretiert werden könnten. Im Hinblick auf die nicht typischen Veränderungen der rechten Hand und den Zeitpunkt der berichteten Tabletteneinnahme plädiere er für eine Antragsablehnung.
17Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14.07.2014 zurück. Hierbei verwies sie auf die Stellungnahme von Prof. Dr. G. .
18Die Klägerin hat am 08.08.2014 Klage erhoben.
19Zur Klagebegründung wendet sie sich dagegen, dass ausschließlich Stellungnahmen von Ärzten eingeholt worden seien, die als ständige Gutachter der Medizinischen Kommission im Lager der Beklagten stünden. Ihre nicht abgewogenen Äußerungen stützten sich auf ältere Literatur, ohne die Zahl der abgewiesenen Antragsteller mit einem vergleichbaren Schädigungsbild zu berücksichtigen. Aus der unspezifischen Information, dass Contergan nicht am Anfang der Schwangerschaft eingenommen worden sei, hätten die Gutachter nicht ableiten dürfen, dass der Zeitpunkt der berichteten Tabletteneinnahme eine Antragsablehnung rechtfertige. Die Gewährung von Leistungen nach dem ContStiftG setze nicht voraus, dass eine Schädigung typisch für eine Thalidomidembryopathie oder bereits einmal beschrieben worden sei. Die gleichzeitige Missbildung von Daumen und Ohr stehe mit dem Fehlbildungszeitplan in Einklang. Es handle sich dabei auch um thalidomidtypische Fehlbildungen. Ein überzähliger dysplastischer Finger sowie die einseitige Ohrmuscheldeformierung fänden in der Medizinischen Punktetabelle Berücksichtigung. Gleichwohl habe die Beklagte es versäumt, ein HNO-spezifisches Gutachten einzuholen. Dass bestimmte Fehlbildungen in der Allgemeinbevölkerung anzutreffen seien, gelte auch für andere anerkannte Conterganschädigungen. Nach der Veröffentlichung „Conterganbedingte Schädigungen des Skelettsystems“ von Prof. Peters kämen Blockwirbel auch an der HWS vor. Dass Blockwirbel im HWS-Bereich in der von den Gutachtern der medizinischen Kommission zitierten Literatur keine Erwähnung fänden, sei unschädlich, denn die Arbeiten seien entweder nicht auf eine umfassende Auflistung orthopädischer Thalidomidschäden fokussiert, oder sie beschränkten sich auf Häufigkeitsverteilungen bei einigen Patienten. Daraus lasse sich nicht ableiten, dass ein spezielles Schädigungsmuster keine Conterganschädigung darstelle. Für einen Zusammenhang zwischen der Conterganeinnahme und den Fehlbildungen an der Wirbelsäule sprächen thalidomidtypische Fehlbildungen an den Außenorganen. Zudem leide sie unter einer thalidomidbedingten Kieferfehlbildung, die ebenfalls in die medizinische Punktetabelle aufgenommen sei. Hierzu ist eine Bescheinigung des Zahnarztes Dr. M. aus 2014 vorgelegt worden, wonach die Klägerin einen offenen Biss habe.
20Die Klägerin beantragt,
21die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 25.10.2013 und ihres Widerspruchsbescheids vom 14.07.2014 zu verpflichten, ihr Leistungen nach den ContStiftG zu gewähren.
22Die Beklagte beantragt,
23die Klage abzuweisen.
24Sie verweist auf eine weitere Stellungnahme von Prof. Dr. L. vom 21.01.2015, die ausführt, eine ursächliche Verbindung zwischen den Fehlbildungen bei der Klägerin und einer Thalidomideinwirkung lasse sich nicht daraus schließen, dass die Geschwister gesund geboren seien. Soweit die Klägerin sich darauf berufe, dass überzählige Finger in der medizinischen Punktetabelle genannt würden, sei darauf hinzuweisen, dass die einseitige Hypoplasie des Daumens in Kombination mit einem zusätzlich ausgebildeten radialseitigen Krallenfinger bei Thalidomidgeschädigten nicht beschrieben sei. Liege eine LWS-Skoliose ohne weitere thalidomidtypische Auffälligkeiten an den Wirbelkörpern vor, spreche dies nicht für eine Thalidomidembryopathie, denn solche Skoliosen würden auch in der Allgemeinbevölkerung beobachtet. Prof. Dr. G. erwähne keine Keilwirbel in seinem Gutachten. Auch fehlten ventrale Verknöcherungsstörungen an den Wirbelkörpern der LWS, wie sie für eine Thalidomidembryopathie typisch seien. Sie bleibe dabei, dass die Ausbildung von Blockwirbeln an der HWS kein thalidomidtypisches Symptom sei; In der Literatur finde sie keine Erwähnung. Die Genese eines „offenen Bisses“ sei heterogen und keine thalidomidtypische Fehlbildung.
25Auf Nachfrage, welche Fallgestaltungen überzähliger Finger bei Thalidomidgeschädigten beobachtet worden sind, hat die Beklagte erklärt, es seien drei Geschädigte mit überzähligen Fingern beidseits (Diagnoseziffer 094) und sechs Geschädigte mit einer einseitigen Ausbildung eines zusätzlichen Fingers (093) anerkannt worden. Bei zwei der beidseits Betroffenen seien an jeder Hand fünf dreigliedrige Finger vorhanden und zusätzlich ein rudimentärer Daumen an der radialen Seite beschrieben (002); bei ihnen seien ausschließlich orthopädische Schäden anerkannt worden. Der dritte Fall habe einen Daumenschaden zweigliedrig (004) und zusätzlich multiple Schäden am Kiefer, an den Augen und des HNO-Bereichs aufgewiesen. Von den sechs Fällen einseitiger Mehrfingrigkeit seien bei fünf Personen beide Hände geschädigt, bei ihnen sei die Mehrfingrigkeit mit der Ausbildung eines dreigliedrigen Daumens einhergegangen; zusätzlich wiesen an dieser Seite Radius und Ellbogen Schäden auf.
26In einem ergänzend eingeholten Gutachten vom 02.11.2015 führt die HNO-Ärztin Dr. X1. aus, bei der Thalidomidembryopathie gebe es durchaus einseitige Fehlbildungen der Ohrmuschel. Im Einzelfall seien diese auch ohne Gehörgangsveränderungen und ohne Einbeziehung des Mittelohrs zu finden. Allerdings seien Ohrmuschelveränderungen recht häufig und ließen nicht den Umkehrschluss zu, dass es sich um einen Thalidomidschaden handle. Die Fehlbildung bei der Klägerin vermindere die Größe nicht unter 2/3 der Norm, so dass man keine Schadenspunkte vergeben würde.
27Mit Beschlüssen vom 06.02.2015 und 26.02.2015 hat die Kammer der Klägerin Prozesskostenhilfe bewilligt und die Prozessbevollmächtigten beigeordnet.
28Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der von der Beklagten vorgelegten Vorgänge Bezug genommen.
29E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
30Die zulässige Klage ist begründet.
31Der Bescheid der Beklagten vom 25.10.2013 in der Gestalt ihres Widerspruchsbescheids vom 14.07.2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem ContStiftG zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
32Gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1 ContStiftG setzt die Gewährung von Leistungen nach § 13 ContStiftG voraus, dass der Antragsteller Fehlbildungen aufweist, die mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH, Aachen, durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können. Der Kreis der Anspruchsberechtigten ist weit gefasst, um zugunsten etwaiger Betroffener dem Umstand Rechnung zu tragen, dass eine über jeden Zweifel erhabene Kausalitätsfeststellung unmöglich ist,
33vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 02.12.2011 - 16 E 723/11 -, vom 25.03.2013 - 16 E 1139/12 - und vom 14.01.2015 - 16 E 435/13 -,
34weil sowohl die Aufklärung einer Thalidomideinnahme durch die Mutter während einer mehrere Jahrzehnte zurückliegenden Schwangerschaft als auch die eindeutige Feststellung eines naturwissenschaftlichen Zusammenhangs zwischen der Einnahme und einer Fehlbildung an Grenzen stoßen. Allerdings reicht es für die Zuerkennung der Leistungsberechtigung nicht aus, dass Thalidomid als mögliche Ursache von Fehlbildungen nicht auszuschließen ist. Ansonsten ließe sich der anspruchsberechtigte Personenkreis, der nach dem Willen des Gesetzgebers aus dem Stiftungsvermögen profitieren soll, nicht verlässlich eingrenzen. Angesichts der theoretisch vielfältigen und wohl noch nicht bis ins Letzte ergründeten Ursachen für kongenitale Missbildungen muss gerade die Einwirkung von Thalidomid während der Embryonalentwicklung wahrscheinliche Ursache der Fehlbildungen des Antragstellers sein,
35vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30.12.2015 - 16 A 1852/15 -; VG Köln, Urteil vom 24.02.2015 - 7 K 4608/13 -.
36Dies zugrunde gelegt, lassen sich bei der Klägerin erkennbare Fehlbildungen mit einer Thalidomideinnahme durch ihre Mutter in Verbindung bringen.
37Die Einnahme von Contergantabletten während der Schwangerschaft, von der die Mutter der Klägerin nach ihren Angaben als Kind erzählt hat, wird von dem Bruder der Mutter bestätigt. Die Kammer hat keine Bedenken gegen die Glaubhaftigkeit dieses Vorbringens. Die Klägerin hat die Einnahme dargelegt, wie sie in ihrer Familie überliefert worden ist. Ferner hat sie nachvollziehbar geschildert, weshalb sie keine näheren Angaben dazu machen kann, wann genau die Mutter die Tabletten eingenommen hat. Dass die Mutter ihr damals erklärt haben soll, eine Einnahme sei nicht „am Anfang der Schwangerschaft“ erfolgt, führt nicht zu der Annahme, die Mutter habe die Tabletten außerhalb des für Thalidomidschädigungen sensiblen Zeitraums von knapp 20 Tagen genommen. Die Angabe ist in ihrer zeitlichen Abgrenzung äußerst vage. Die Dauer einer Schwangerschaft beträgt etwa 38 Wochen ab dem - der Schwangeren meist nicht genau bekannten - Zeitpunkt der Befruchtung. Angesichts der Länge dieses Zeitraums kann „am Anfang“ durchaus die Phase der ersten Monate oder auch die allerersten, vor der teratogenen Phase liegenden Tage bedeuten. Dass die teratogene Phase der Schwangerschaft im Herbst 1960 in den Vertriebszeitraum von Thalidomid fällt, lässt zwar für sich genommen nicht den Schluss auf eine Thalidomideinnahme zu, passt jedoch zu dem plausiblen Vorbringen der Klägerin.
38Ist danach eine Conterganeinnahme während der Schwangerschaft wahrscheinlich, ohne dass sich nach so langer Zeit die Einnahme gerade während des thalidomidsensiblen Zeitraums sicher feststellen lässt, führt eine Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung des Erscheinungsbildes der Fehlbildungen zu der Annahme, dass die Fehlbildungen der Klägerin zumindest mit Wahrscheinlichkeit mit einer Thalidomideinnahme durch die Mutter zusammenhängen. Hiervon hat sich die Kammer nach Auswertung sämtlicher ärztlicher Stellungnahmen, insbesondere der von der Beklagten eingeholten Stellungnahmen überzeugt.
39Maßgebend für die Überzeugungsbildung der Kammer in diesem Einzelfall ist, dass das bei der Klägerin anzutreffende Schädigungsbild eine für die Thalidomidschädigung typische Fehlbildung aufweist (dazu 1.), die mit anderen häufig oder nur vereinzelt bei Thalidomidgeschädigten auftretenden weiteren Schäden zusammentrifft, welche selbst zwar nicht charakteristisch für die Thalidomidembryopathie sind, aber durchaus mit - ihrer aus der typischen Fehlbildung abgeleiteten - Annahme in Einklang stehen (dazu 2.). In dem Gesamtbild der Fehlbildungen hat die Kammer schließlich Gegebenheiten, die mit einer Thalidomidembryopathie nicht vereinbar sind und daher das aus der typischen Fehlbildung ableitbare Indiz entkräften, nicht eindeutig feststellen können (dazu 3.).
40An dieser auf dem herabgesetzten Kausalitätsmaßstab fußenden Einschätzung sieht sich die Kammer nicht durch die Beurteilung von Prof. Dr. L. gehindert, es seien nicht sämtliche einzelnen Fehlbildungen und deren Gesamtbild für die Thalidomidembryopathie typisch. Die daraus und aus der Thalidomidanamnese abgeleitete Folgerung, Thalidomid sei als Ursache der Fehlbildungen unwahrscheinlich, verlässt den Bereich medizinischen Fachwissens und betrifft die vom Gericht zu beantwortende Rechtsfrage, welche Anforderungen an das Beweismaß bei der Prüfung anzuwenden sind, ob die in § 12 Abs. 1 Satz 1 ContStiftG genannten Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen.
411. Die Klägerin weist an der rechten Hand mit der Daumenhypoplasie vom Typ II eine Fehlbildung des 1. Strahls auf, wie sie für die Thalidomidembryopathie typisch ist. Dies entnimmt die Kammer den orthopädischen Stellungnahmen, die sich mit den Erkenntnissen aus anderen Verfahren decken. Diese Typik gibt für sich betrachtet einen deutlichen Hinweis auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Thalidomideinnahme und der Körperschädigung.
422. Mit der Annahme eines Thalidomidschadens zumindest vereinbar sind weitere Elemente des bei der Klägerin vorhandenen Schadensbilds.
43Dabei handelt es sich zum einen um Schäden, die mitunter mit der Thalidomidembryopathie einhergehen, aber wegen ihres häufigen Vorkommens auch in der Allgemeinbevölkerung selbst kein aussagekräftiges Indiz für eine Thalidomidembryopathie sind. Dies gilt für die Skoliose der Klägerin, die entsprechend der Stellungnahme von Prof. Dr. G. etwa ein Drittel der thalidomidgeschädigten Patienten zeigen (vgl. Ruffing, Die Wirbelsäule bei der Thalidomid-Embryopathie in: Fortschritte der Medizin 1980, S. 406). Auch die bei der Klägerin am rechten Ohr anzutreffende Ohrmuschelfehlbildung ohne Gehörgangsveränderungen kommt bei der Thalidomidembryopathie (vgl. etwa Nowack, Die sensible Phase bei der Thalidomid-Embryopathie, Humangenetik 1, 1965, S. 516, 527) wie auch in der Allgemeinbevölkerung vor, wie die Stellungnahmen von Prof. Dr. L. und Dr. X1. zeigen.
44Zum anderen stehen auch Ausprägungen des bei der Klägerin vorhandenen Schadensbildes, die nur in Einzelfällen bei Thalidomidgeschädigten beobachtet wurden, der aus der typischen Fehlbildung des rechten Daumenstrahls abgeleiteten Annahme eines wahrscheinlichen Kausalitätszusammenhangs nicht entgegen, sondern sind damit in Einklang zu bringen.
45Dazu zählt zunächst der Umstand, dass die am rechten Daumen der Klägerin und an ihrer rechten Ohrmuschel vorliegenden Fehlbildungen nicht auch auf der linken Seite anzutreffen sind. Der linke Daumen wirkt zwar auf den vorgelegten Fotos ungewöhnlich lang. Jedoch weist das Röntgenbild des linken Daumenstrahls nach dem Befund von Prof. Dr. G. wie auch von Frau T. keinerlei Skelettanomalie auf. Die Schäden an Ohr und Daumen sind demnach einseitig.
46Angesichts der Wirkungsweise von Thalidomid begegnet es Bedenken, einseitig ausgeprägte Fehlbildungen einschränkungslos auf eine Thalidomideinnahme zurückzuführen. Denn ein Teratogen erreicht den Embryo über den konstanten Blutstrom der Mutter zur Plazenta und wirkt dort in den jeweils anstehenden Entwicklungsphasen. Dementsprechend ist nachvollziehbar, dass ausgeprägt einseitige Fehlbildungen, also solche, bei denen die allein betroffene Seite erhebliche Schädigungen aufweist, gegen eine teratogene Schädigung durch Thalidomid sprechen,
47vgl. VG Köln, Urteil vom 15.04.2015 – 7 K 1778/13 -; in diese Richtung auch OVG NRW, Beschluss vom 28.12.2015 – 16 A 1124/15 -.
48Aus Sicht der Kammer schließt das Wirkprinzip von Thalidomid nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand jedoch nicht in jedem Fall das Vorkommen einseitiger Thalidomidschäden aus. Wie die Kammer aus diesem wie auch aus verschiedenen anderen Verfahren ersehen kann, hat selbst die Medizinische Kommission der Beklagten, der das ContStiftG die Untersuchung von Schadensfällen auf eine Thalidomidembryopathie hin zuweist und deren Mitglieder durchweg langjährige Erfahrung mit Thalidomidschäden besitzen, zu dieser Frage noch keine einheitliche Haltung finden können. Mehrere Mitglieder der Kommission vertreten die Auffassung, dass einseitige Fehlbildungen mit der Annahme eines Thalidomidschadens im Einzelfall vereinbar sein können. So betont Dr. X1. im vorliegenden Fall, dass explizit die einseitige Ohrmuscheldysplasie durchaus bei der Thalidomidembryopathie vorkommt. Dr. H. hält einen Conterganschaden auch vor dem Hintergrund der einseitigen Daumenhypoplasie für möglich.
49Nach Auswertung der Fachquellen, auf die sich Prof. Dr. L. für den Ausschluss einseitiger Thalidomidschäden stützt, kommt die Kammer zu dem Schluss, dass jedenfalls die bei der Klägerin anzutreffende Form der Einseitigkeit der Annahme eines Thalidomidschadens nicht entgegensteht. Ihre Fehlbildungen an der rechten Hand und am rechten Ohr sind dadurch gekennzeichnet, dass sie extrem milde ausfallen. Den Stellungnahmen von Prof. Dr. L. und Dr. X1. ist zu entnehmen, dass die Ausformung der rechten Ohrmuschel der Klägerin nur gering auffällig erscheint, wobei die Grundstruktur mit Helix, Antehelix, Ohrläppchen und Eingang zum äußeren Gehörgang erhalten ist, die Größe der Muschel nicht nennenswert vom Normalmaß abweicht und innere Bereiche des Ohrs nicht betroffen sind. Bei der Hypoplasie des rechten Daumens handelt es sich ebenfalls um eine geringfügige Ausprägung einer Fehlbildung der oberen Extremität. Der Daumentyp ist die mildeste Form der Dysmelie, d.h. der Extremitätenfehlbildung (vgl. Henkel/Willert, Dysmelia, A classification and a Pattern of Malformation in an Group of Congenital Defects of the Limbs, 1969). Eine wissenschaftliche Quelle, die derart geringfügige einseitige Fehlbildungen Thalidomid als Ursache ausdrücklich ausschließt, hat die Kammer nicht finden können. Soweit Prof. Dr. L. sich auf Smithells/Newman, Recognition of thalidomid defects, J Med Genet 1992, 29: 716 - 719 bezieht, ist dort lediglich ausgeführt, dass bei der Ausbildung paariger Körperteile die rechte und die linke Seite sich „mehr oder weniger parallel“ entwickelten; obwohl es schwierig sei sich vorzustellen, dass ein Stoff, der den Embryo über den Blutstrom erreiche, nur auf einer Seite wirke, und man daher erwarten würde, dass zweiseitige Strukturen mehr oder weniger symmetrisch betroffen wären, seien Variationen anzutreffen. Bezogen auf die oberen Extremitäten weisen Smithell/Newman nur darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit einer stofflichen Ursache (wie Thalidomid) mit der Zunahme der Unterschiede zwischen beiden Seiten abnehme, ohne dass klare Grenzen gezogen werden könnten. Auch Lenz/Knapp, Die Thalidomid-Embryopathie, Deutsche medizinische Wochenschrift 1962, S. 1232 ff. und Nowack, Die sensible Phase bei der Thalidomid-Embryopathie, Humangenetik 1, 1965, S. 516 ff. schließen Fälle milder Einseitigkeit von der Thalidomidembryopathie an keiner Stelle aus. Ihre Arbeiten werten einige hundert Fälle fehlgebildeter Kinder aus, die zu Beginn der sechziger Jahre auffielen und bei denen die Thalidomideinnahme durch die Mutter einschließlich deren Zeitpunktes noch konkret erhoben werden konnten. Diese Auswertung war die maßgebliche Grundlage für die Entdeckung der Thalidomidembryopathie und prägt bis heute das Wissen über Missbildungen infolge Thalidomideinnahme durch die Mutter. Gerade in diesen Arbeiten sind jedoch nicht nur eine Mehrzahl deutlich asymmetrischer Fehlbildungen an den oberen Extremitäten (Bsp. Fall 61 10 23 M.W. „Linker Arm Stummel mit 3 Fingern. Rechter Arm verkürzt, Klumphandstellung 4 Finger...“) erwähnt. Es sind dort auch einzelne Fälle einseitiger Daumen- oder Ohrfehlbildungen dokumentiert (Bsp. Fall 61 11 28 U.P. „Anotie beidseits. Daumenagenesie rechts. Facialisparese rechts“; Fall 62 05 28 K.S. Linke Ohrmuschel nicht richtig ausgebildet...“, Fall 62 03 14 R.S. „Missbildung der rechten Ohrmuschel...“; Fall 61 06 00 „...Missbildung des rechten Daumens und Zeigefingers“). Auch die an anderer Stelle von der Beklagten angeführte Arbeit von Henkel/Willert, Dysmelia, S, 410, 411 fand bei 287 Kindern mit Extremitätenschäden die Fälle oberer Extremitätenfehlbildungen zweiseitig vor mit Ausnahme von 14 Personen, die geringgradige einseitige radiale Schäden aufwiesen.
50Vor diesem Hintergrund vermag sich die Kammer nicht davon zu überzeugen, dass die denkbar milde ausgeprägte Ohrmuschel- und Daumenfehlbildung auf der einen Seite bei normaler Ausprägung der anderen Seite, wie sie bei der Klägerin vorliegt, eine Thalidomidembryopathie ausschließt. Vielmehr ist hier der Unterschied zwischen beiden Seiten derart geringfügig und deutlich kleiner als bei zahlreichen anerkannten asymmetrischen Thalidomidschäden, dass bei Berücksichtigung des herabgesetzten Kausalitätsmaßstabs hierin kein Ausschlussgrund zu sehen ist, wenn andere Merkmale des Erscheinungsbilds eine Typik für die Thalidomidembryopathie aufweisen.
51Auch der an der rechten Hand der Klägerin ursprünglich vorhandene sechste Finger passt in das Bild einer aus der Daumenhypoplasie abgeleiteten Annahme eines wahrscheinlichen Thalidomidschadens. Entgegen der ursprünglichen Stellungnahme von Prof. Dr. L. und der Äußerung von Prof. Dr. G. sind solche Fälle von Polydaktylien der Hände in der Fachliteratur beschrieben. Lenz/Knapp a.a.O. und Nowack a.a.O. erwähnen bereits in ihren grundlegenden Arbeiten zur Thalidomidembryopathie mehrere Fälle derartiger Polydaktylie (Bsp. Fall 60 12 13 „Links sechs Finger...“; Fall 61 12 13 J:H: „...links 6 Finger; Fall 61 05 11 W.H. „... Rechts 6 Finger...“) Nowack beschreibt Polydaktylie der Finger allgemein als eine mögliche Ausprägung von Strahldefekten der Arme (a.a.O. S. 527). Mit dieser Quellenlage in Einklang steht, dass sowohl die Diagnosetabelle für die Bewilligungsbescheide unter 093 und 094 den überzähligen Finger einseitig bzw. beidseitig erfasst als auch die Medizinische Punktetabelle, die den Richtlinien der Beklagten für die Gewährung von Leistungen wegen Contergan-Schadensfällen als Anlage beigefügt ist, unter 1.3.1 den überzähligen dysplastischen Finger berücksichtigt. Zwar kann die Punktetabelle keine Auskunft darüber geben, ob eine Schädigung – insbesondere ohne gleichzeitiges Auftreten von thalidomidtypischen Fehlbildungen – stets als Conterganschaden anzusehen ist,
52vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.12.2015 - 16 A 750/15 -.
53Sie lässt jedoch erkennen, dass aus Sicht der Beklagten Polydaktylien an den Händen mit einem aus anderen Fehlbildungen abgeleiteten Thalidomidschaden mitunter einhergehen können. In Konsequenz dieses Umstands hat die Beklagte mehrere Fälle, bei denen - einseitige oder beidseitige - Mehrfingrigkeit weitere Fehlbildungen begleitete, ursächlich einer Thalidomidembryopathie zugeordnet.
54Die Vereinbarkeit des überzähligen Fingers mit der Annahme eines Thalidomidschadens wird auch nicht schlüssig durch die Aussage von Prof. Dr. L. in Frage gestellt, zumindest sei die Kombination eines zusätzlichen radialseitigen „Krallenfingers“ mit der einseitigen Hypoplasie des Daumens bei Thalidomidgeschädigten nicht beschrieben. Die bei der Klägerin anzutreffende Fehlbildung an der Hand ähnelt zumindest derjenigen zweigliedrigen Daumenschädigung mit überzähligem Finger, die die Beklagte bereits als thalidomidbedingt anerkannt hat. Lässt sich aber der einseitige Daumenschaden der Klägerin mit einer Thalidomideinnahme in Verbindung bringen und hat die Beklagte bereits Fälle einseitiger Polydaktylie der Finger wie auch die Kombination einer zweigliedrigen Daumenhypoplasie mit Mehrfingrigkeit bei Thalidomidgeschädigten beobachtet, ist weder durch die sachverständige Stellungnahme plausibel gemacht noch sonst für die Kammer erkennbar, aus welcher wissenschaftlichen Erwägung heraus die bei der Klägerin anzutreffende Zusammensetzung dieser Elemente einer Handfehlbildung nicht mit einer Thalidomidschädigung einhergehen kann. Insbesondere hat keiner der Sachverständigen den Standpunkt vertreten, die Fehlbildungssymptomatik sei mit einer Thalidomidembryopathie nicht in Einklang zu bringen, weil sie ihr innewohnenden Schädigungsmustern bzw. sonstigen Gesetzmäßigkeiten zuwiderlauft. Angesichts der erheblichen Vielfalt, mit der einzelne Fehlbildungen bereits in den von Lenz/Knapp und Nowack dokumentierten Fällen miteinander kombiniert sind, sieht die Kammer keinen Grund, weshalb ein komplexes Schadensbild bis in jede Einzelheit so schon anderweitig beobachtet und beschrieben worden sein muss, um es mit einer Thalidomideinnahme in Verbindung bringen zu können.
553. Schließlich vermag die Kammer auch keinen Aspekt im Gesamtschadensbild zu erkennen, der die Thalidomideinnahme als wahrscheinliche Ursache für die Fehlbildungen der Klägerin ausschließt.
56Insbesondere hat die Kammer keine eindeutigen Anhaltspunkte dafür, dass die Lage der Blockwirbel an der Halswirbelsäule ein solches Ausschlusskriterium darstellt. Dr. H. sieht Blockwirbel als relativ typisch für Conterganschäden an, ohne diesen Befund auf bestimmte Bereiche der Wirbelsäule zu beschränken. Die von der Klägerin angeführte Übersicht von Dr. Peters weist Blockwirbel an der Halswirbelsäule ausdrücklich den Thalidomidschäden zu, ohne dies wissenschaftlich zu untermauern. Prof. Dr. G. und Prof. Dr. L. gehen davon aus, dass thalidomidbedingte Blockwirbelbildungen an der Halswirbelsäule nicht beschrieben sind. Die von ihnen herangezogenen Fachquellen äußern sich überwiegend nicht dazu, inwieweit die Lage von Blockwirbeln Thalidomid als deren ursächlichen Faktor nahelegt oder ausschließt. Marquardt, The total treatment of the limb deficient child, 1969, S.19 sowie Edwards/Nichols, The spinal abnormalities in Thalidomide, Acta orthop 48, 273, 275 sprechen die Fusion von Wirbelkörpern an, ohne die Halswirbelsäule auszunehmen. Smithells/Newman a.a.O. S. 720 stellen angeborenen Schäden am Kreuzbein „spätere Veränderungen“ der Wirbelsäule, wie etwa Verknöcherungen von Wirbelkörpern, die grundsätzlich den unteren Brust- und Lendenwirbelbereich beträfen, gegenüber. Rathke/Rompe, Untersuchungen über angeborene Formveränderungen in der Wirbelkörperreihe und ihre Beziehungen zu Wirbelsäulenverbiegungen, S. 559 haben bei 100 röntgenologischen Beobachtungen in 26 Fällen Wirbelverblockungen gesehen, die sich über 78 Wirbel erstreckten; an 21 Wirbelsäulen wurden Halbwirbel gefunden, die zwischen dem 7. Halswirbel und dem 5. Lendenwirbel vorkamen. Diese Quelle verhält sich allgemein zu angeborenen Veränderungen der Wirbelsäule und weist keinen Bezug zu Thalidomid als Schadensursache auf. Ausdrücklich äußern sich Rathke/Rompe noch nicht einmal zu der Lage angeborener Blockwirbel. Sollten Prof. Dr. G. und Prof. Dr. L. diese Quelle zitiert haben, weil die Verortung von Halbwirbeln im Brust- und Lendenwirbelbereich wegen deren Verschmelzungstendenz mittelbar auch auf eine entsprechende Lage von Blockwirbeln hinweist, wäre damit allenfalls die Aussage verbunden, dass angeborene Blockwirbel generell, also unabhängig von ihrer Genese nur unterhalb des 7. Halswirbels auftreten. Dann würde jedoch die Lage der Blockwirbel keinen Rückschluss darauf zulassen, dass gerade Thalidomid als Ursache in Betracht kommt oder auszuschließen ist, sondern lediglich darauf, ob diese Wirbelmissbildung angeboren oder erworben ist. Dies würde wiederum die Aussagekraft der weiteren von Prof. Dr. G. und Prof. Dr. L. zitierten Quelle relativieren. Soweit Ruffing a.a.O. S.406 Wirbelverblockungen auf den Bereich zwischen D6/D7 und L4/L5 begrenzt, wäre dies ein Indikator für das Angeborensein, nicht aber für die Art der kongenitalen Entstehungsursache.
57Sollten die zitierten Arbeiten dahin zu verstehen sein, dass angeborene Blockwirbel nur im Brust- und Lendenwirbelbereich vorkommen, wäre für die Klägerin in den Raum zu stellen, dass ihre Blockwirbel nicht angeboren, sondern erworben sind. Dann ließe sich aber aus der Lage der Blockwirbel weder etwas für noch gegen die Annahme eines wahrscheinlichen Thalidomidschadens herleiten. Insgesamt lässt sich dem zusammengetragenen Quellenmaterial keine belastbare eindeutige Aussage dahin entnehmen, dass die Blockwirbel an der Halswirbelsäule der Klägerin die aus der thalidomidtypischen Daumenfehlbildung abgeleitete Annahme einer Thalidomidembryopathie durchgreifend erschüttert.
58Schließlich ist auch eine andere wahrscheinliche Ursache für das bei der Klägerin vorliegende Schadensbild, die geeignet wäre, die Indizwirkung der thalidomidtypischen Fehlbildung am rechten Daumen zu entkräften, nicht ersichtlich.
59Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 188 Satz 2 VwGO.
60Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
ra.de-Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Köln Urteil, 15. Nov. 2016 - 7 K 4333/14
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Urteil einreichenVerwaltungsgericht Köln Urteil, 15. Nov. 2016 - 7 K 4333/14 zitiert oder wird zitiert von 6 Urteil(en).
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 25. März 2013 geändert. Dem Kläger wird für das erstinstanzliche Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Q. U. aus X. beigeordnet.
Das Beschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
1
Gründe
2Die Beschwerde des Klägers ist begründet. Der Kläger, der nach den von ihm dargelegten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, kann für die Durchführung des erstinstanzlichen Klageverfahrens die Bewilligung von Prozesskostenhilfe einschließlich der Beiordnung eines Rechtsanwalts beanspruchen (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1, Satz 1, den §§ 115 und 117, § 119 Abs. 1 und § 121 Abs. 2 Alt. 1 ZPO). Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass die Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg böte. Denn es kommt nach summarischer Prüfung in Betracht, dass seine Klage mit dem Antrag,
3die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 27. Februar 2012 und des Widerspruchsbescheides vom 3. September 2012 zu verpflichten, ihn, den Kläger, als Contergangeschädigten anzuerkennen,
4entgegen der Einschätzung des Verwaltungsgerichts doch Aussicht auf Erfolg hat.
5Das Begehren des Klägers dürfte nicht an Ausschlussfristen für die Geltendmachung des Anerkennungsbegehrens scheitern. Die vormalige Bestimmung des § 13 des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung "Hilfswerk für behinderte Kinder" vom 17. Dezember 1971 (BGBl. I S. 2018; im folgenden: Errichtungsgesetz) in der zuletzt geltenden Fassung ist für das Begehren des Klägers nicht mehr maßgeblich. Nach dieser Bestimmung konnten Leistungen wegen Fehlbildungen, die mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Firma D. H. GmbH in T. durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können, (nur) gewährt werden, wenn die Leistungen bis zum 31. Dezember 1983 bei der Stiftung geltend gemacht worden sind, was in Bezug auf den Kläger offensichtlich nicht der Fall gewesen ist. Demgegenüber sieht § 12 Abs. 2 des Conterganstiftungsgesetzes (ContStifG) in der nunmehr geltenden Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des ContStifG vom 25. Juni 2009 vor, dass die Conterganrente und eine Kapitalentschädigung für die Zeit ab 1. Juli 2009 beantragt werden können, wenn Leistungen nach § 13 des Errichtungsgesetzes nicht innerhalb der dort vorgesehenen Frist geltend gemacht wurden. Das trifft, wie schon erwähnt, auf den Kläger zu, dessen Eltern zwar frühzeitig Ansprüche wegen einer möglichen Conterganschädigung erhoben haben, aber nicht (mehr) tätig geworden sind, nachdem die o. g. Stiftung gegründet worden ist. Diesen Fall regelt § 12 Abs. 2 ContStifG. Das Normverständnis des Verwaltungsgerichts, wonach § 12 Abs. 2 ContStifG nur dann die Möglichkeit der Leistungsbeantragung mit Wirkung für die Zeit ab dem 1. Juli 2009 ermöglicht, wenn Leistungen nach § 13 des Errichtungsgesetzes nicht innerhalb der dort vorgesehenen Frist geltend gemachtwerden konnten, findet im Wortlaut dieser Bestimmung keinen Niederschlag und ergibt sich auch nicht bei der zusätzlichen Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien zum Zweiten Gesetz zur Änderung des ContStifG. Soweit es etwa im Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom 24. März 2009 (BT‑Drucks. 16/12413) heißt, die "bisher von der Ausschlussfrist betroffenen" contergangeschädigten Menschen sollten die Möglichkeit erhalten, künftig Leistungen geltend zu machen, zwingt das nicht zu der vom Verwaltungsgericht für zutreffend gehaltenen Wertung, nur solche Personen seien von der Ausschlussfrist betroffen, die bisher keinen Antrag stellen konnten. Vielmehr sind alle diejenigen von der bisherigen Ausschlussfrist betroffen, die einen Leistungsantrag ‑ warum auch immer ‑ nicht gestellt haben. Abgesehen davon gab es auch im Fall des Klägers Gründe für die Nichtantragstellung vor dem Stichtag des 31. Dezember 1983, die zwar nicht zwingend eine rechtzeitige Antragstellung ausgeschlossen haben, dies aber doch als nachvollziehbar erscheinen lassen. Dazu gehört insbesondere, dass den Eltern des Klägers schon im zeitlichen Vorfeld der Schaffung der Stiftung "Hilfswerk für behinderte Kinder" bedeutet worden war, eine Anerkennung der Behinderungen des Klägers als Conterganschädigung komme aus medizinischen Gründen nicht in Betracht, sie also, möglicherweise sachlich zu Unrecht, mit der Aussichtslosigkeit einer Antragstellung bei der Stiftung konfrontiert worden sind und deshalb resigniert haben.
6Dem Anerkennungsbegehren des Klägers steht auch nicht entgegen, dass er bzw. sein Vater im Jahr 1989 die Wiederaufnahme eines vor Jahren abgelehnten Anerkennungsverfahrens beantragt hat und die Stiftung seinerzeit ‑ durch erneute Befragung des schon zuvor in Erscheinung getretenen Gutachters Prof. Dr. Dr. X1. M. ‑ aus Sachgründen mit Bescheiden vom 20. August 1990 sowie vom 7. Mai 1992 bzw. mit Widerspruchsbescheid vom 25. November 1992 die Anerkennung des Klägers abgelehnt hat. Denn in dem sich anschließenden (zivil‑)gerichtlichen Verfahren ist die sachliche Frage, worauf die multiplen Körperschäden des Klägers zurückzuführen sind, nicht abschließend gewürdigt worden. Vielmehr beruhen die Urteile des Landgerichts Bonn vom 13. Juli 1993 sowie des OLG Köln vom 25. Oktober 1994 auf der Einschätzung, dass der als "unstreitig erstmalige" bezeichnete Leistungsantrag "des Jahres 1990" mit Blick auf die Ausschlussfrist des § 13 des Errichtungsgesetzes und auf die Unmöglichkeit einer Wiedereinsetzung in die versäumte Ausschlussfrist keiner sachlichen Entscheidung zugänglich gewesen sei. Damit fehlt es an einer abschließenden ‑ die gerichtliche Überprüfung umfassenden ‑ sachlichen Würdigung der bis damals vorliegenden medizinischen Befunde, und dies im Ergebnis mit der Begründung, dass die Ausschlussfrist des § 13 des Errichtungsgesetzes diese Überprüfung ausschließe. Das ist gerade der Sachverhalt, der nunmehr durch § 12 Abs. 2 ContStifG in dem Sinne geregelt wird, dass für die Zukunft unabhängig von der Versäumung einer Antragstellung vor dem 1. Januar 1984 Ansprüche auf Hilfen für Contergangeschädigte geprüft und gegebenenfalls zuerkannt werden.
7Schließlich ist auch die Frage der sachlichen Berechtigung des Anerkennungsbegehrens des Klägers als Contergangeschädigter nicht mit einer Eindeutigkeit zu verneinen, die schon eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe ausschließt. Sowohl in § 2 ContStifG (Stiftungszweck) als auch in § 12 Abs. 1 ContStifG (Leistungsberechtigte Personen) ist der Kreis der anspruchsberechtigten Personen weit gefasst (behinderte Menschen, deren Fehlbildungen mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der H. GmbH, B. , durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können), um zugunsten etwaiger Betroffener der Unmöglichkeit einer über jeden Zweifel erhabenen Kausalitätsfeststellung Rechnung zu tragen.
8Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 2. Dezember 2011 ‑ 16 E 723/11 ‑, juris, Rn. 2, und vom 25. März 2013 ‑ 16 E 1139/12 ‑, juris, Rn. 2.
9Eine Conterganeinnahme durch die Mutter des Klägers während der Schwangerschaft hat nach ihren glaubhaften, auch eidesstattlich versicherten Einlassungen stattgefunden. So hat bereits kurz nach der Geburt des Klägers am 18. April 1962, nämlich am 28. April 1962, ein namentlich nicht bekannter Arzt des Krankenhauses, in dem die Geburt stattgefunden hatte, dem Hausarzt der Familie des Klägers mitgeteilt, wie die Geburt vonstattengegangen ist und welche Missbildungen beim Kläger vorliegen. Er hat insoweit ausgeführt: "Interessanterweise hat Pat. in den ersten Schwangerschaftsmonaten Contergan forte eingenommen; ein ursächlicher Faktor, der ja heute viel diskutiert wird." Da erst im November 1961 erstmals in der Presse über den Conterganverdacht berichtet worden war und nachfolgend die strafrechtlichen Ermittlungen aufgenommen wurden,
10vgl. im Einzelnen Kirk, Der Contergan‑Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid (1999), S. 85 ff.,
11handelte es sich seinerzeit noch um eine neue und ungesicherte Verdachtslage. Daher liegt es fern, dass die frühzeitige und offensichtlich spontane Angabe der Mutter des Klägers über den Tablettenkonsum im Sinne einer Förderung oder Sicherung etwaiger Regressansprüche zielgerichtet gewesen sein könnte. Aus dem Gutachten von Prof. Dr. Dr. M. an das Treuhändergremium vom 23. September 1971 geht überdies hervor, dass auf der Grundlage der ‑ nach seiner Einschätzung allerdings unbelegten ‑ Angaben der Mutter des Klägers die Einnahme von Contergan bei normaler Dauer der Schwangerschaft zum Teil in die "sensible Phase" gefallen sei.
12Nach den Gutachten, die seit 1967 über die mögliche Ursache der Missbildungen beim Kläger erstellt worden sind, kann mit hinlänglicher Sicherheit nur ausgeschlossen werden, dass die Veränderungen an den Gliedmaßen des Klägers, insbesondere des linken Unterschenkels, mit der Einnahme von Thalidomid in Verbindung gebracht werden können. Dagegen spricht vor allem das Vorhandensein von Abschnürungsfurchen, die für amniotische (von sich ablösenden Bändern der Fruchtblase, die sich um den Fötus legen können, herrührende) Schädigungen, nicht aber für thalidomidbedingte Missbildungen charakteristisch sind. Allerdings gehört zu den Missbildungen des Klägers auch eine doppelseitige Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte (sog. Wolfsrachen), die zumindest vereinzelt auch im Zusammenhang mit der Einnahme von Thalidomid während der Schwangerschaft der Mutter festgestellt worden ist; das folgt etwa aus dem Gutachten von Prof. Dr. Dr. M. vom 4. Dezember 1967, wobei dieser aber zugleich betont, das könne "keinesfalls als typisch angesehen werden". Soweit Prof. Dr. Dr. M. , der gemeinhin als der "Entdecker" des Zusammenhangs zwischen den um das Jahr 1960 gehäuft aufgetretenen spezifischen Missbildungsfällen und der Einnahme von Thalidomid durch die Mütter der geschädigten Kinder während der Schwangerschaft gilt und wesentlichen Anteil an der wissenschaftlichen Erforschung der Contergan‑Problematik hatte, in dem genannten Gutachten darauf hinweist, dass Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalten häufig zusammen mit den übrigen ‑ nicht thalidomidbedingten ‑ Schädigungen, wie sie beim Kläger vorliegen, auftreten und sich daher "für die Gesamtheit der [beim Kläger festgestellten] Mißbildungen … eindeutig feststellen [lasse], daß sie in keiner Weise typisch für Mißbildungen nach Thalidomideinnahme sind", liegt dem offenkundig eine monokausale Betrachtung zugrunde, die sich an typischen Erscheinungsformen multipler Missbildungen orientiert, aber nicht erkennbar der Frage nachgeht, ob sich im Einzelfall ausnahmsweise mehrere ursächliche Faktoren ‑ amniogene und thalidomid-bedingte Schädigungen ‑ nebeneinander ausgewirkt haben könnten bzw. was dagegen sprechen könnte, dass es sich beim Kläger ausnahmsweise so verhalten hat. In seiner weiteren Stellungnahme vom 28. Mai 1990 verweist Prof. Dr. Dr. M. auf seine früheren Gutachten und benennt Literaturstellen, die sich mit amniogenen Fehlbildungen vor allem der Lippen und des Gaumens befassen; auf seine vormalige Einschätzung, dass Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalten auch als Thalidomid-Schädigungsfolge aufgetreten seien, geht der Gutachter indessen ebenso wenig ein wie auf die Möglichkeit einer "doppelten Kausalkette".
13Das Gutachten von Prof. Dr. X2. , Direktor des Instituts für Humangenetik der Universität C. , vom 20. April 1971 beschreibt die einzelnen Fehlbildungen beim Kläger, wobei er auch noch die Möglichkeit eines linksseitigen Enophthalmus (Einsinken des Augapfels in die Augenhöhle) erwähnt, und kommt abschließend zu der Einschätzung, dass es eine derartige Fehlbildungskombination im Rahmen einer Thalidomid-Embryopathie nicht gebe. Er erörtert demgegenüber nicht die Frage, ob die Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte ‑ gegebenenfalls auch der Enophthalmus ‑ isoliert betrachtet auf Thalidomid zurückzuführen sein könnte und nimmt folglich auch die Möglichkeit einer Doppelkausalität nicht in den Blick.
14Auch das im laufenden Anerkennungsverfahren erstattete Gutachten von Frau Prof. Dr. L. , Universität N. , vom 1. August 2012 kommt zu dem Ergebnis, dass an der schon in der Vergangenheit gestellten Diagnose einer ‑ von ihr so bezeichneten ‑ "Amnionbänder Sequenz" auch aus heutiger Sicht nicht zu zweifeln sei. Die amniotischen Abschnürungen (Schnürfurchen) an den Fingern, Unterschenkeln und Füßen seien auf vorliegenden Fotos gut zu erkennen; auch die Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte gehöre zu diesem Fehlbildungskomplex. In der humangenetischen Literatur seien unzählige Patienten dokumentiert, die dem Phänotyp des Klägers ähnelten. Hingegen handele es sich nicht um ein teratogenes (u.a. durch Chemikalien hervorgerufene Einwirkungen auf den Embryo) Krankheitsbild, schon gar nicht um einen thalidomidbedingten Fehlbildungskomplex. Im Zusammenhang mit Thalidomidschädigungen seien die beim Kläger vorzufindenden Hand‑ und Fußfehlbildungen mit Syndaktylien (Verwachsungen bzw. Nichttrennung von Finger‑ oder Zehengliedern) und Schnürfurchen nie aufgetreten. Vielmehr seien für eine Conterganschädigung je nach dem Zeitpunkt der Einnahme spezifische und relativ symmetrisch angelegte Missbildungen an Händen, Füßen und Unterschenkeln charakteristisch, wie sie beim Kläger gerade nicht vorlägen. Aus diesen gutachterlichen Äußerungen geht mithin hervor, dass ‑ wie schon oben festgehalten ‑ die Schädigungen an den äußeren Extremitäten des Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mit der Conterganeinnahme durch seine Mutter während der Schwangerschaft zusammenhängen. Indessen beschränken sich die Angaben der Gutachterin zu der seit der Geburt des Klägers vorliegenden Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte darauf, dass auch diese zu dem Fehlbildungskomplex "Amnionbänder Sequenz" gehöre. Eine klare Abgrenzung zu einer möglichen teratogenen Schädigung wird ‑ anders als in Bezug auf die Missbildungen an den Gliedmaßen ‑ mit Blick auf die Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte hingegen nicht gezogen. Nach Auffassung des Senats bleibt damit im Anschluss an die Auffassung von Prof. Dr. Dr. M. , dass eine Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte ‑ wenngleich wohl eher selten ‑ auch in Conterganfällen angetroffen worden sei, die Frage einer "doppelten Kausalität" offen. Allein der von Frau Prof. Dr. L. erneut hervorgehobene Umstand, dass Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalten häufig ‑ und ohne Anhaltspunkte für teratogene Ursachen ‑ im Zusammenhang mit amniogenen Schädigungsbildern auftrete, widerlegt nicht die aufgrund der sicheren Conterganeinnahme durch die Mutter des Klägers mehr als nur rein theoretische Möglichkeit, dass im Fall des Klägers eine Kombination aus einer teratogenen und einer amniogenen Schädigung gegeben ist. Eine solche Möglichkeit könnte nur dann ausgeschlossen werden, wenn entweder auch in Hinblick auf die Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte des Klägers Spezifika vorlägen, die eindeutig auf eine amniotische Verursachung hinweisen, oder aber wenn verdeutlicht worden wäre, dass im Zusammenhang mit der Einnahme von Thalidomid nie ausschließlich eine Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte festgestellt worden wäre. Daran fehlt es aber auch mit Blick auf das Gutachten von Frau Prof. Dr. L. nach wie vor.
15Die Stellungnahme von Privatdozent Dr. H1. aus O. ‑ Facharzt für Orthopädie/Unfallchirurgie/Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sportmedizin/Kinder-orthopädie ‑ vom 29. Dezember 2011 verhält sich ausschließlich zu den Missbildungen des Klägers an den Händen bzw. am linken Bein und kommt wie die vorherigen Gutachter und nachfolgend Frau Prof. Dr. L. zu der Einschätzung, dass diese Befunde nicht typisch für einen Conterganschaden seien und daher insgesamt der Antrag des Klägers abzulehnen sei. Eine spezielle Auseinandersetzung mit der Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte des Klägers bzw. mit den insoweit in Frage kommenden Ursachen findet sich in dieser Stellungnahme nicht. Frau Dr. X3. aus L1. kommt schließlich in ihrer Stellungnahme vom 29. Juli 2010 ‑ wie schon Prof. Dr. Dr. M. ‑ zu der Einschätzung, dass die beim Kläger bestehende beiderseitige Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte (jedenfalls für sich betrachtet) mit einem Conterganschaden vereinbar sei und mit 25 Punkten veranschlagt werden sollte.
16Abschließend weist der Senat noch darauf hin, dass die diversen Diagnosen von den Kläger behandelnden Ärzten, die fast durchweg (insgesamt) von einer thalidomidbe-dingten Schädigung des Klägers berichten, neben den oben wiedergegebenen Fachgutachten nicht ins Gewicht fallen. Es spricht weit Überwiegendes dafür, dass diese Mediziner keine genaue und abschließende Beurteilung der Schädigungsursache abgeben wollten und mussten und sich daher auf die anamnestischen Angaben des Klägers bzw. auf einen "ersten Eindruck" verlassen haben. Erwähnenswert erscheint dem Senat in diesem Zusammenhang aber die Diagnose von Dr. M1. und Dr. X4. von der Westfälischen Wilhelms‑Universität N1. ‑ Klinik und Poliklinik für Technische Orthopädie und Rehabilitation ‑ im Arztbrief vom 19. März 1990, in dem neben der Angabe "Angeborene Fehlbildung an den Extremitäten durch Amnionabschnürungen" weiter von "Verdacht auf Thalidomidschaden" und (beziehungslos dahinterstehend) "Lippen‑, Kiefer‑, Gaumenspalte" die Rede ist. Nachfolgend wird ausgeführt, neben den Fehlbildungen an den äußeren Extremitäten, die klinisch eher einer Amnion-Abschnürung entsprächen, seien in der Folge auch Fehlbildungen am Schädel wie eine Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte, eine Fehlstellung der Zähne, eine einseitige Schwerhörigkeit sowie eine Zwerchfellhernie aufgefallen; alle diese Schäden sprächen "eher wieder für einen Conterganschaden". Damit schließen diese Mediziner die Möglichkeit von Schädigungen unterschiedlicher Genese offensichtlich nicht aus. In eine ähnliche Richtung könnte auch die ärztliche Bescheinigung des Prof. Dr. S. , Städtische Krankenanstalten C1. ‑ Chirurgische Abteilung der Kinderklinik ‑, vom 13. Februar 1965 weisen, in der die Diagnose einer doppelseitigen Lippen‑, Kiefer‑ und Gaumenspalte (und auch die bis in die Stirn hinein klaffende Sagittalnaht) den "multiplen Amnionabschnürungen" zur Seite gestellt ‑ und gerade nicht in das Bild einer insgesamt amniogenen Schädigung einbezogen ‑ werden; entsprechend verhält es sich auch in der Stellungnahme der Stationsärztin Dr. G. , Städtische Krankenanstalten C1. , vom 3. Oktober 1962 ("Es handelte sich um eine doppelseitige Lippen‑Kiefer‑Gaumenspalte; gleichzeitig bestehen multiple Amnionabschnürungen").
17Die Kostenentscheidung folgt aus § 188 Satz 2 VwGO sowie aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
18Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 23. Juni 2015 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungszulassungsverfahrens.
1
Gründe
2Der sinngemäß auf die Berufungszulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils), des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache) und des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung beruhen kann) zu beziehende Zulassungsantrag der Klägerin bleibt ohne Erfolg, weil die genannten Zulassungsgründe nicht hinreichend dargelegt sind bzw. in der Sache nicht eingreifen.
3Soweit die Klägerin einen Verfahrensmangel darin sieht, dass das Verwaltungsgericht zu der Frage der Verursachung ihrer diversen Gesundheitsbeeinträchtigungen durch thalidomidhaltige Arzneimittel kein (zusätzliches) Sachverständigengutachten eingeholt hat, führt das nicht zur Annahme des Berufungszulassungsgrundes nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO. Eine prozessrechtswidrige Verletzung der Aufklärungspflicht ist nämlich grundsätzlich nicht gegeben, wenn das Gericht von einer Beweiserhebung absieht, die eine durch einen Rechtsanwalt vertretene Partei wie hier nicht förmlich ‑ das heißt im Rahmen der mündlichen Verhandlung (§ 86 Abs. 2 VwGO) ‑ beantragt hat.
4Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. August 2015 ‑ 1 B 37.15 ‑, juris, Rn. 11; OVG NRW, Beschlüsse vom 30. Juli 2012 ‑ 16 A 1165/12 ‑, juris, Rn. 21 f., und zuletzt vom 1. Dezember 2015 ‑ 16 A 1976/12 ‑; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, Kommentar, 4. Auflage (2014), § 124 Rn. 191; Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 21. Auflage (2015), § 124 Rn. 13; Stuhlfauth, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, Kommentar, 6. Auflage (2014), § 124, Rn. 65; Dietz, in: Gärditz, VwGO, Kommentar 2013, § 124 Rn. 49.
5Ein solcher Antrag geht aus dem Sitzungsprotokoll vom 23. Juni 2015 nicht hervor. Dass während der mündlichen Verhandlung das Thema einer möglichen Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens angesprochen oder ein solches schon zuvor schriftsätzlich angeregt worden ist, ersetzt einen Beweisantrag nach § 86 Abs. 2 VwGO nicht.
6Es ist auch nicht unter Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts dargelegt, dass sich diesem eine (weitere) Beweiserhebung zu dem oben genannten Punkt aufdrängen musste. Die Klägerin hat nicht verdeutlicht, warum die im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten und insbesondere das im Widerspruchsverfahren erstellte Gutachten von Frau Prof. Dr. L., der auch Bildmaterial zur Verfügung gestanden hat, unzutreffend bzw. unvollständig sein könnten. Dass diese Gutachten nach Aktenlage, also ohne körperliche Untersuchung der Klägerin, erstellt worden sind, kann sich schon deshalb nicht zu deren Nachteil ausgewirkt haben, weil die von der Klägerin geltend gemachten Erkrankungen und körperlichen Funktionsbeeinträchtigungen als solche nicht streitig sind. Die maßgebliche Frage, ob vorhandene Leidenszustände mit der Einnahme von Thalidomid durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können, beruht demgegenüber weiten Umfangs auf Erfahrungswissen und erfordert daher keiner gesonderten körperlichen Untersuchung. Dass der Gutachter für den orthopädischen Bereich, Privatdozent Dr. H., die Ursächlichkeit von Thalidomid für die Schädigungen der Klägerin nicht ausgeschlossen habe, ergibt sich aus seiner Stellungnahme vom 26. November 2011 entgegen der klägerischen Darstellung nicht. Soweit in dieser Stellungnahme ausgeführt ist, "Ich kann in der Akte keine Hinweise auf einen Conterganschaden finden", spricht diese Feststellung vielmehr für die gegenteilige Annahme. Lediglich dem der Stellungnahme von Dr. H. vorangegangenen Gutachten des Dr. T.-I. vom 3. Juni 2011 konnte eine gewisse Ergebnisoffenheit entnommen werden, die darauf beruhte, dass die Begutachtung der orthopädischen Befunde durch Dr. H. noch ausstand und für den Fall einer positiven Bewertung durch Dr. H. offensichtlich in Betracht kam, nach Maßgabe dann noch einzuholender weiterer Gutachten auch andere körperliche Beeinträchtigungen der Klägerin in einen Gesamtkomplex teratogener Schädigungen einzubeziehen; für den Fall einer negativen Begutachtung für das orthopädische Fachgebiet ‑ wie sie dann auch erfolgte ‑ kann dem Gutachten von Dr. T.-I. indes eine solche Ergebnisoffenheit nicht mehr zugesprochen werden. Schließlich hat die Klägerin auch nicht dargelegt, inwiefern weitere körperliche Untersuchungen zu von der gegebenen Begutachtungslage abweichenden Erkenntnissen hätten führen können.
7Auch ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ergeben sich nicht. Solche Zweifel liegen vor, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angegriffenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
8Vgl. zu diesem Prüfungsmaßstab BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. März 2007 ‑ 1 BvR 2228/02 ‑, NVwZ‑RR 2008, 1 = GewArch 2007, 242 = juris, Rn. 25.
9Ernstliche Zweifel werden zunächst nicht dadurch aufgeworfen, dass das Verwaltungsgericht seiner Prüfung einen unzutreffenden Maßstab für die zu fordernde Wahrscheinlichkeit der Thalidomid‑Verursachung zugrundegelegt hätte. Das Verwaltungsgericht hat im Einklang mit der ständigen Senatsrechtsprechung hervorgehoben, dass der Kreis der Anspruchsberechtigten nach § 12 Abs. 1 ContStifG weit gefasst sei, weil angesichts der Komplexität insbesondere der medizinischen Fragestellungen eine über jeden Zweifel erhabene Kausalitätsfeststellung ‑ in die eine wie in die andere Richtung ‑ kaum jemals möglich sein dürfte. Soweit das Verwaltungsgericht weiter ausführt, für die Zuerkennung der Leistungsberechtigung könne es jedoch nicht ausreichen, dass Thalidomid als theoretische Ursache für Fehlbildungen nicht auszuschließen sei, weil sich sonst der anspruchsberechtigte Personenkreis nicht verlässlich eingrenzen lasse, stimmt das mit dem auch vom Senat eingenommenen Standpunkt überein. Denn auch bei zugunsten potenzieller Anspruchsberechtigter relativ weit gefassten Voraussetzungen muss angesichts der theoretisch durchaus vielfältigen und wohl noch nicht bis ins Letzte ergründeten Ursachen für kongenitale Missbildungen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine gerade auf Thalidomideinnahme beruhende Schädigung werdenden Lebens vorliegen.
10Eine solche Wahrscheinlichkeit hat das Verwaltungsgericht mit Gründen verneint, denen die Klägerin keine schlüssigen Argumente entgegenzusetzen vermag. Soweit sie die Notwendigkeit einer unmittelbaren körperlichen Untersuchung behauptet, ist ‑ wie auch schon im Zusammenhang mit dem Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO ‑ darauf hinzuweisen, dass die ursächliche Zuordnung des Schädigungsbildes auch aufgrund der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen und ergänzend aufgrund der vorgelegten Fotografien und Röntgenaufnahmen getroffen werden konnte und nichts dafür spricht, dass etwaige Details, die erst nach einer vertiefenden Diagnostik hervorträten, diese Zuordnung ändern könnten. Soweit die Klägerin auf eine in Eigeninitiative in die Wege geleitete Befunderhebung mit einem Untersuchungstermin am 2. September 2015 hinweist, ist sie darauf nachfolgend nicht mehr zurückgekommen.
11Nach alledem weist die Sache auch keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf.
12Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und § 188 Satz 2 VwGO.
13Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Klägerin.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1
Tatbestand
2Der am 00.00.1961 geborenen Klägerin wurden aufgrund eines Antrages vom 20.11.1972 mit Bescheid vom 04.02.1974 Leistungen nach dem Gesetz über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ bewilligt. Als conterganbedingte Fehlbildungen wurden in dem Bescheid die folgenden Körperschäden aufgeführt:
3Daumenschaden zweigliedrig, zweiseitig
4Langfingerschaden, zweiseitig
5Mittelschwerer Unterarm- mit Ellenbogenschaden, einseitig
6Schwerer Unterarm- mit Ellenbogenschaden, einseitig
7Rechte Hüfte pauschal
8Linke Hüfte pauschal
9Wirbelsäule pauschal.
10Für diese Schädigung wurde auf der Grundlage einer orthopädischen Punktebewertung von Prof. Dr. E. N. vom 21.04.1973 mit 132,5 Punkten (alte Bewertung) eine Gesamtpunktzahl von 26,50 nach der aktuellen medizinischen Punktetabelle festgesetzt.
11Im Jahr 1979 wurde im Zusammenhang mit der erforderlichen Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Überprüfung der conterganbedingten Körperschäden der Klägerin durch Prof. Dr. E. N. durchgeführt. Hierbei revidierte Prof. N. die am 21.04.1973 dokumentierten Diagnosen. Im Bereich der unteren Extremitäten (Ziff. III und IV) vermerkte Prof. N. , dass kein Hüftschaden, aber stattdessen ein Knieschaden beidseits vorliege. Dieser Beurteilung lagen u.a. aktuell gefertigte Röntgenaufnahmen des Beckens, der Wirbelsäule und der unteren Extremitäten zugrunde (vgl. Befundbericht Dr. N. , Anlage K 11 zum Schriftsatz der Kl./PB vom 11.11.2013, Bl. 78 d. A.). Im Befundbericht wurde u.a. festgestellt, dass die linke Beckenhälfte um knapp 1 cm tiefer als die rechte stehe. Krankhafte Veränderungen im Bereich des Beckens seien nicht erkennbar. Die geringe Cox valga könne noch als physiologisch angesehen werden. Da die Schwere der Körperschäden im Bereich der hauptsächlich betroffenen oberen Gliedmaßen und der Wirbelsäule (Skoliose) aber deutlich höher als im Jahr 1973 beurteilt wurde, ermittelte Prof. N. eine orthopädische Punktzahl von nunmehr 172,5 Punkten nach alter Bewertung. Eine Weiterleitung dieser neuen Begutachtung an die Conterganstiftung und eine entsprechende Änderung des Bewilligungsbescheides erfolgten 1979 nicht.
12Am 11.09.2009 stellte die Klägerin einen Revisionsantrag. Zur Begründung trug sie vor, es sei für sie nicht ersichtlich, dass ihr Schulterschaden, die überzähligen Finger beidseits sowie der Wirbelsäulenschaden (Skoliose) berücksichtigt worden seien. Ferner bat sie um eine Überprüfung, ob die festgestellten Schäden korrekt bepunktet worden seien. Mit e-mail vom 22.01.2010 bat die Klägerin um Übersendung ihrer Begutachtungsunterlagen.
13Im Änderungsbescheid vom 30.03.2010 wurde die Beurteilung der conterganbedingten Körperschäden auf der Grundlage der geänderten Bewertung von Prof. N. aus dem Jahr 1979 revidiert. Der bisher zuerkannte Hüftschaden wurde dementsprechend nunmehr verneint, die Punkte nach der medizinischen Punktetabelle für den Schaden „rechte Hüfte pauschal“ und „linke Hüfte pauschal“ (4 Punkte) wurden abgezogen. Dafür wurden der Klägerin 4 Punkte für die bisher nicht anerkannten Knieschäden angerechnet. Insgesamt erhöhte sich die Gesamtpunktzahl jedoch wegen der höher bewerteten Körperschäden im Bereich von oberen Extremitäten und Wirbelsäule auf 34,50 Punkte nach der medizinischen Punktetabelle. Mit dem Änderungsbescheid wurden der Klägerin daher eine höhere Kapitalentschädigung einschließlich Zinsen, sowie rückwirkend eine höhere Rente und eine höhere jährliche Sonderzahlung bewilligt. Der Nachzahlungsbetrag belief sich auf 27.891,14 Euro.
14Der Bescheid war mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen und wurde am 03.04.2010 mit Einschreiben/Rückschein zugestellt.
15Mit Schreiben der Beklagten vom 21.06.2010 wurden der Klägerin die von ihr gewünschten Kopien der ärztlichen Unterlagen übersandt. Mit e-mail vom 21.08.2010 wandte sich die Klägerin sodann an die Beklagte und bat um Überprüfung der Berechnung ihrer Schadenspunkte im Bescheid vom 30.03.2010, insbesondere im Hinblick auf den Abzug der Punkte für den Hüftschaden. Mit Schreiben vom 25.01.2012 und vom 03.12.2012 erläuterte die Beklagte die Vergabe der Punkte im Änderungsbescheid vom 30.03.2010.
16Mit Schreiben vom 09.03.2012 stellte die Klägerin einen weiteren Revisionsantrag. Sie beanstandete im Wesentlichen, dass ihr die bisher für den Hüftschaden anerkannten Punkte (4 Punkte) gestrichen worden seien und bat um Mitteilung der Rechtsgrundlage. Außerdem sei ihr durch das Verschulden der Conterganstiftung bisher zu wenig Rente gezahlt worden, ohne dass die Nachzahlung nunmehr verzinst werde. Leider habe sie seinerzeit den Widerspruch gegen den Revisionsbescheid nicht fristgerecht einlegen können, weil sie sämtliche Unterlagen, die sie von der Stiftung angefordert habe, nicht rechtzeitig erhalten habe.
17Mit einem Nachtrag vom 19.03.2012 machte sie darüber hinaus geltend, dass sie ausweislich einer Röntgenuntersuchung vom 31.08.1979 an der Uniklinik Heidelberg an einem Beckenschiefstand leide; die linke Beckenhälfte stehe knapp 1 cm tiefer als die rechte. Ferner seien die Dysplasien beider Schulter- und Ellenbogengelenke bisher nicht zutreffend berücksichtigt.
18Mit Bescheid der Conterganstiftung vom 14.03.2013 wurde dem Revisionsantrag teilweise stattgegeben. Der Bescheid wurde am 15.03.2013 bei der Post aufgegeben. Die Anerkennung der Dysplasien beider Schulter- und Ellenbogengelenke führte zu einer Erhöhung der Gesamtpunktezahl von 34,50 auf 38,50 und einer entsprechenden rückwirkenden Erhöhung der Rente.
19Hinsichtlich des geltend gemachten Hüftschadens (Beckenschiefstand) wurde der Antrag abgelehnt. Zur Begründung wurde angegeben, beide Hüftgelenke seien ohne Hinweis auf eine Dysplasie.
20Im Hinblick auf die Aufhebung der Anerkennung des Hüftschadens durch den Änderungsbescheid vom 30.03.2010 wurde ausgeführt, es habe sich hierbei nur um eine Änderung in der Begründung des Bewilligungsbescheides gehandelt, nicht um eine Änderung im regelnden Teil des Bescheides. Die aberkannten Punkte für den Hüftschaden seien mit den Punkten für die zusätzlich festgestellten Knie-Schäden verrechnet worden. Da im Ergebnis die Gesamtpunkte sowie die bewilligten Leistungen gestiegen seien, liege auch kein Widerruf oder Teilwiderruf des ursprünglichen Bewilligungsbescheides nach § 49 VwVfG vor. Jedenfalls habe die Klägerin keinen Widerspruch gegen den Bescheid vom 30.03.2010 eingelegt. Dieser sei somit bestandskräftig.
21Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben ihrer früheren Prozessbevollmächtigten am 16.04.2013 Widerspruch ein, den sie mit Schreiben vom 25.04.2013 ergänzend begründete.
22Am 26.07.2013 hat die Klägerin Untätigkeitsklage erhoben, nachdem die Beklagte in der Zwischenzeit nicht über den Widerspruch entschieden hatte.
23Mit Widerspruchsbescheid vom 07.10.2013 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. In der Begründung wurde ausgeführt, ein thalidomidbedingter, nach den Richtlinien anzuerkennender Hüftschaden oder eine Hüftfehlbildung habe bei der Klägerin zu keinem Zeitpunkt vorgelegen. Beide Hüftgelenke seien radiologisch völlig unauffällig. Dies habe Herr Prof. N1. bereits in seiner Begutachtung 1979 festgestellt und Herr Prof. G. in seinem Gutachten vom 02.02.2013 bestätigt.
24Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens habe sich Herr Dr. O. erneut mit der Frage befasst und in seiner Stellungnahme vom 09.06.2013 festgestellt, dass keine Fehlbildung der Hüfte vorliege. Es sei allenfalls eine leichte Beinlängendifferenz zu verzeichnen, die sich aber innerhalb der Spanne bewege, die auch bei gesunden Menschen ohne conterganbedingte Schädigung möglich sei. Die medizinische Punktetabelle sehe hierfür keine Schadenspunkte vor.
25Die Klägerin vertritt weiterhin die Auffassung, dass ihr die 4 Punkte für den pauschalen Hüftschaden zu Unrecht aberkannt worden seien. Ein Beckenschiefstand liege ausweislich der vorliegenden Röntgenbilder und ärztlichen Gutachten seit 1968 vor und sei im Bescheid von 1974 bestandskräftig anerkannt worden. Die Änderung der Beurteilung im Jahr 1979 sei nicht nachvollziehbar. Das Conterganstiftungsgesetz sehe vor, dass im Zweifel eine Thalidomidschädigung angenommen werden müsse.
26Die Aberkennung des Hüftschadens sei weder gemäß § 49 VwVfG noch gemäß § 48 VwVfG zulässig. Diese Vorschriften könnten auch nicht durch eine Verrechnung der Punkte umgangen werden. Bei der Aberkennung des Hüftschadens handele es sich um einen selbständigen, belastenden Verwaltungsakt. Bei der Anerkennung der Punkte für den Knieschaden handele es sich um einen davon unabhängigen, begünstigenden Verwaltungsakt. Eine andere Sichtweise würde die Klägerin rechtsschutzlos stellen und gegen das Rechtsstaatsprinzip und das rechtliche Gehör verstoßen. Die Klägerin sei nämlich vor Erlass des Änderungsbescheides entgegen § 28 VwVfG nicht angehört worden.
27Eine Änderung der Sachlage nach § 49 Abs. 2 Satz 1 VwVfG liege nicht vor, da der Beckenschiefstand bereits seit der Geburt bestehe. Es komme jedoch auch eine Rücknahme des Bescheides von 1974 gemäß § 48 VwVfG nicht in Betracht, da der ursprüngliche Bewilligungsbescheid rechtmäßig gewesen sei. Die Beklagte habe den Sachverhalt des Hüftschiefstandes seinerzeit zutreffend ermittelt und als pauschalen Hüftschaden mit 4 Punkten bewertet. Selbst im Fall einer Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides von 1974 stehe einer Rücknahme § 48 Abs. 2 VwVfG entgegen, da die Klägerin auf die Rechtmäßigkeit des Bescheides vertraut und im Vertrauen darauf die gewährte Geldleistung verbraucht habe. Darüber hinaus sei die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG bereits abgelaufen gewesen.
28Die Verrechnung mit dem Punktwert für den Knieschaden sei nicht zulässig gewesen. Hierdurch habe die Beklagte eine „unrechtmäßige Rentenrückforderung“ bei der Klägerin vollzogen. Eine Rückforderung für die Vergangenheit scheide aber aus Rechtsgründen aus, wie sich auch aus dem von der Beklagten eingeholten Rechtsgutachten der Kanzlei Himmelreich vom 09.01.2013 ergebe, das von der Klägerin in Auszügen vorgelegt wird.
29Der Änderungsbescheid vom 30.03.2010 stehe einer Geltendmachung der Rechte der Klägerin nicht entgegen. Der Revisionsantrag stelle einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 VwVfG dar, dem mit Bescheid vom 14.03.2013 stattgegeben worden sei. Außerdem seien mit Bescheid vom 14.03.2013 der Bescheid vom 04.02.1974, aber auch der Änderungsbescheid vom 30.03.2010 abgeändert worden. Daher handele es sich um eine neue Beschwer.
30In der mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten übereinstimmend mitgeteilt, dass der Klägerin zwischenzeitlich durch die Beklagte weitere 4 Schadenspunkte für ein Carpaltunnelsyndrom zuerkannt worden sind, sodass die bisher festgestellte Gesamtpunktzahl nunmehr bei 42 Punkten liegt.
31In der mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
32- 33
1. die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 14.03.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2013 zu verpflichten, ihr eine Rente nach dem Conterganstiftungsgesetz auf der Basis einer Gesamtpunktzahl von 46,00 in gesetzlicher Höhe zu gewähren,
- 35
2. der Klägerin rückwirkend zum 01.10.1972 eine monatliche Rente auf dieser Basis in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Nach der mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit einem Schriftsatz, der am 24.02.2015 um 18.43 bei Gericht einging, über die in der mündlichen Verhandlung gestellten Anträge hinaus zusätzlich die rückwirkende Bewilligung einer Jahressonderzahlung sowie die rückwirkende Bewilligung einer Kapitalentschädigung zuzüglich Zinsen auf der Grundlage einer Gesamtpunktzahl von 46, hilfsweise 42 Punkten und ferner die Zahlung von Prozesszinsen auf die Nachzahlungsbeträge beantragt.
37Die Beklagte beantragt,
38die Klage abzuweisen.
39Die Klage sei unbegründet. Die medizinischen Sachverständigen der Beklagten seien seit 1979 übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, dass Schäden an den Hüftgelenken im Sinne von Nr. 1.A.3. lit a) bis d) der Medizinischen Punktetabelle nicht vorlägen. Bei der Klägerin sei weder eine präarthrotische Deformität der Hüftgelenke zu verzeichnen, noch eine Hüftgelenksluxation oder –aplasie. Dies bestreite die Klägerin auch nicht.
40Bei der Klägerin bestehe auch keine sonstige, nach Ziff. III. Unterabsatz 2. der Richtlinien zu bewertende thalidomidbedingte Fehlbildung der Hüfte. Insbesondere stehe aufgrund der Gutachten von Prof. G. und Dr. O. fest, dass ein Beckenschiefstand für sich genommen keine Hüftfehlbildung darstelle, da Ursache für den Beckenschiefstand eine Verkürzung des linken Beines sei und eine Thalidomidbedingtheit der Beinverkürzung nicht festgestellt werden könne. Vielmehr sei der bei der Klägerin vorliegende geringfügige Beckenschiefstand ein auch in der Normalbevölkerung nicht selten vorkommendes Phänomen, welches nicht auf die Einnahme von Thalidomid zurückgeführt werden könne. Dies habe auch Prof. N1. im Jahr 1979 so gesehen, da er zwar den Beckenschiefstand festgestellt habe, die zuvor für einen Hüftschaden angesetzten Schadenspunkte aber gestrichen habe. Ein Zweifelsfall, in dem die Anerkennung eines thalidomidbedingten Schadens möglich sei, liege also gerade nicht vor. Im Übrigen werde mit Nichtwissen bestritten, ob der Beckenschiefstand tatsächlich bereits bei der Geburt vorgelegen habe.
41Schließlich halte die Beklagte daran fest, dass es sich bei der im Bescheid vom 30.03.2010 enthaltenen Aberkennung von 4 Punkten für den Hüftschaden lediglich um eine Änderung der Begründung handele. Diese habe sich auch nicht zum Nachteil der Klägerin ausgewirkt, da sie durch die Zuerkennung des Knieschadens mit 4 Punkten ausgeglichen worden sei. Die Vorschriften für die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten in §§ 48, 49 VwVfG fänden daher keine Anwendung. Eine Anhörung der Klägerin vor Erlass des begünstigenden Änderungsbescheides sei entbehrlich gewesen.
42Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
43E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
44Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung beantragt hat, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.03.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2013 zu verpflichten, ihr auf der Grundlage einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten eine höhere Conterganrente – auch rückwirkend – zu bewilligen, ist die Klage als Verpflichtungsklage zulässig. Die Bewilligung von Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz erfolgt gemäß § 16 Abs. 6 ContStifG in Form eines begünstigenden Verwaltungsakts. Daher ist die Ablehnung eines Antrags auf Erhöhung der Leistungen (Revisionsantrag) ebenfalls ein Verwaltungsakt. Die statthafte Klageart ist somit die Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 2. Alt. VwGO.
45Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer höheren Conterganrente auf der Grundlage einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten. Der Bescheid der Beklagten vom 14.03.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2013 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO. Die Beklagte hat die Anerkennung von 4 zusätzlichen Punkten für einen Beckenschiefstand oder einen sonstigen Hüftschaden, die zur Berechnung einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten erforderlich wäre, zu Recht abgelehnt.
46Anspruchsgrundlage für die begehrte Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin eine höhere Rente nach dem ContStifG zu gewähren, ist § 12 Abs. 1 ContStifG i.d.F. der Bekanntmachung vom 25.06.2009 (BGBl. I 1537), zuletzt geändert durch das Dritte Gesetz zur Änderung des ContStifG vom 26.06.2013 (BGBl. I 1847) i.V.m. § 13 Abs. 2 ContStifG. Nach diesen Vorschriften setzt die Gewährung von Leistungen nach § 12 ContStifG voraus, dass der Antragsteller Fehlbildungen aufweist, die mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH durch die Mutter in der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können.
47Der Kreis der Anspruchsberechtigten ist bewusst weit gefasst, um zugunsten etwaiger Betroffener der Unmöglichkeit einer über jeden Zweifel erhabenen Kausalitätsfeststellung Rechnung zu tragen,
48vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 02.12.2011 - 16 E 723/11 - , vom 25.03.2013 - 16 E 1139/12 - und vom 14.01.2015 - 16 E 435/13 - .
49Aus Sicht der Kammer muss es jedoch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gerade die Einwirkung von Thalidomid während der Embryonalentwicklung gewesen sein, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit den Fehlbildungen des Antragstellers steht. Würde es dagegen ausreichen, dass Thalidomid als theoretische Ursache für Fehlbildungen nicht auszuschließen ist, ließe sich der anspruchsberechtigte Personenkreis, der nach dem Willen des Gesetzgebers von Leistungen aus dem Stiftungsvermögen profitieren soll, nicht verlässlich eingrenzen,
50vgl. Urteile der Kammer vom 20.01.2015 - 7 K 7276/12 - und 7 K 1942/13 - .
51Im vorliegenden Verfahren ist es zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Klägerin wegen einer Conterganeinnahme ihrer Mutter in der Schwangerschaft Fehlbildungen aufweist, die durch dieses Medikament verursacht worden sind. Insbesondere wurden bei der Klägerin mit den Bescheiden vom 04.02.1974, 30.03.2010 und 14.03.2013 erhebliche orthopädische Schädigungen im Bereich der oberen Extremitäten, eine Schädigung der Kniegelenke sowie eine Skoliose 1. Grades der Brustwirbelsäule anerkannt.
52Jedoch lässt sich nicht feststellen, dass die Klägerin darüber hinaus unter einer thalidomidbedingten Schädigung ihres Hüftgelenkes oder des Beckens leidet. Daher können ihr für diesen geltend gemachten Körperschaden die begehrten 4 zusätzlichen Punkte nach der Medizinischen Punktetabelle nicht angerechnet werden, die zu einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten und damit zu einer Rentensteigerung von 3.075 Euro auf 3.686 Euro gemäß der Anlage 3 der „Richtlinien für die Gewährung von Leistungen wegen Contergan-Schadensfällen“ vom 16.07.2013 führen würden.
53Der bei der Klägerin unstreitig vorliegende Beckenschiefstand ist keine Fehlbildung, die nach ihrem „Erscheinungsbild“,
54vgl. zu dessen Bedeutung für die Annahme einer ursächlichen Verbindung: Begründung des Gesetzentwurfs für die Errichtung einer nationalen Stiftung „Hilfswerk für das behinderte Kind“, BT-Drs. VI/926, S. 8 zu § 13,
55so beschaffen ist, dass sie mit Wahrscheinlichkeit auf die Einwirkung von Thalidomid während der Frühschwangerschaft der Mutter zurückzuführen ist. Diese - geringe - Fehlstellung der Hüfte gehört nicht zu den charakteristischen thalidomidbedingten Fehlbildungen, wie sie in der Medizinischen Punktetabelle und der wissenschaftlichen Literatur ihren Ausdruck gefunden haben. Sie ist auch nicht vereinzelt im Zusammenhang mit der Einnahme von Thalidomid in der Schwangerschaft festgestellt worden,
56vgl. zu diesem Kriterium: OVG NRW, Beschluss vom 14.01.2015 - 16 E 435/13 - juris.
57Hiervon ist die Kammer nach der Auswertung der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen der Mitglieder der Medizinischen Kommission der Beklagten überzeugt.
58In der Medizinischen Punktetabelle in Anlage 2 der „Richtlinien für die Gewährung von Leistungen wegen Contergan-Schadensfällen“ vom 16.07.2013 sind unter Ziff. 1. „Orthopädische Schäden“, B.3 Schäden an den Hüftgelenken aufgeführt. Die dort genannten Deformitäten des Hüftgelenks (Ziff. 3. a – c), eine Hüftgelenksluxation (Verrenkung des Hüftgelenks) oder eine Hüftgelenksaplasie (Nichtanlage des Hüftgelenks) liegen nach den vorliegenden Röntgenbildern unstreitig nicht vor.
59Dies haben Prof. Dr. N1. im Befundbericht vom 31.08.1979 (Bl. 78 d. A.), Prof. Dr. G. im Gutachten vom 02.02.2013 (Bl. 85 d. A.) und Dr. O. in der Stellungnahme vom 09.06.2013 (Bl. 154 d. A.) übereinstimmend und plausibel festgestellt. Vielmehr sind die Hüftgelenke der Klägerin radiologisch unauffällig. Sie weisen keine „Fehlbildung“, also keine geburtsbedingte Fehlgestaltung eines Organs in Form oder Größe oder das Fehlen eines Organs, im Sinne des § 12 Abs. 1 ContStifG auf.
60Es kann auch nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass eine in Zusammenhang mit der Einnahme von Thalidomid stehende atypische Fehlbildung der Hüfte oder des Beckens vorliegt, die nicht in der Punktetabelle aufgeführt ist (Ziff. III der Medizinischen Punktetabelle).
61Vielmehr ist der bei der Klägerin unstreitig vorliegende Beckenschiefstand, bei dem die linke Hälfte des Beckens ca. 1 cm tiefer steht als die rechte Hälfte, überhaupt keine „Fehlbildung“ eines Organs oder Organsystems, die durch eine Störung der Organentwicklung in der Frühschwangerschaft hervorgerufen wird. Es handelt sich um eine sehr häufig auftretende „Fehlstellung“, die auch bei ansonsten gesunden Menschen entweder seit Geburt vorliegen oder im Lauf des Lebens erworben werden kann und auf zahlreichen verschiedenen Ursachen beruhen kann.
62Laut einer Analyse der WHO aus dem Jahr 2007 liegt bei rund 70 % aller Menschen mindestens eine leichte Schiefstellung des Beckens vor, die jedoch nur selten zu ernsthaften Beschwerden führt. Damit ist ein wirklich gerades Becken also eher die Ausnahme,
63vgl. www.apotheken-umschau.de/Knochen/Was-hilft-bei-einem Beckenschiefstand?, Abruf vom 18.02.2015; www.onmeda.de/krankheiten/beckenschiefstand.html, Abruf vom 18.02.2015.
64Ein Beckenschiefstand kann auf muskulären Verspannungen der Gesäßmuskulatur und der unteren Rückenmuskulatur beruhen („funktionelle Kippung“) oder auch anatomische Ursachen haben, z.B. eine Beinlängendifferenz oder eine verkrümmte Wirbelsäule („strukturelle Kippung“),
65vgl. www.apotheken-umschau.de/Knochen/Was-hilft-bei-einem Beckenschiefstand?, Abruf vom 18.02.2015; www.onmeda.de/krankheiten/beckenschiefstand.html, Abruf vom 18.02.2015; www.apotheken-umschau.de „Skoliose“, Abruf vom 18.02.2015.
66Der Beckenschiefstand ist somit eine Folgeerscheinung anderer körperlichen Fehlfunktionen (Muskelverspannungen) oder Anomalien anderer Organe (Beinlängendifferenz, Skoliose), die auch bei nicht thalidomidgeschädigten Personen häufig auftreten. Dies spricht entscheidend dagegen, dass ein Beckenschiefstand durch eine Thalidomideinnahme während der Schwangerschaft entstehen kann.
67Diese Annahme wird bestätigt durch die wissenschaftliche Literatur zu den Erscheinungsformen der thalidomidbedingten Körperschäden, in denen ein Beckenschiefstand nicht erwähnt wird. Dort werden als thalidomidbedingte Hüftschäden beschrieben: Dysplasien der Hüftgelenke, Hüftgelenksluxationen und Perthes-ähnliche Befunde des Femurknochens, aber kein Beckenschiefstand,
68Vgl. R W Smithells/C G H Newman, Recognition of thalidomide defects, J. Med Genet 1992, 716, 719 f.; Peters, Thalidomid-Embryopathie: eine vielfältige Katastrophe, Pädiatrie hautnah 2014, 44, 46.
69Sämtliche Mitglieder der Medizinischen Kommission der Beklagten, die seit 1979 mit dem Fall befasst waren, nämlich Prof. N1. , Prof. G. und Dr. O. haben in Kenntnis des Beckenschiefstandes eine thalidomidbedingte Fehlbildung der Hüfte eindeutig und übereinstimmend verneint.
70Die Klägerin hat auch keine ärztlichen Gutachten vorgelegt, aus denen sich Anhaltspunkte dafür ergeben könnten, dass der Beckenschiefstand auf die Einnahme von Contergan zurückzuführen sein könnte. Sie kann sich allein auf die frühere Bewertung von Prof. N1. aus dem Jahr 1973 berufen, der bei der Klägerin seinerzeit einen „Hüftschaden pauschal“ diagnostiziert hat.
71Diese sehr vage Diagnose ist jedoch von Prof. N1. nicht begründet worden und aufgrund der vorliegenden medizinischen Unterlagen auch nicht nachvollziehbar. Ein konkreter Befund hinsichtlich der Hüfte oder des Beckens lässt sich aus dem Bewertungsbogen vom 21.04.1973 nicht entnehmen (vgl. Bl. 006 und 001 BA 5). Insbesondere gibt es keinerlei schriftlichen Hinweis auf einen Beckenschiefstand.
72Auch aus den übrigen ärztlichen Unterlagen und Schreiben der Eltern, die der Medizinischen Kommission im Jahr 1973 vorlagen (Bl. 061 BA 5), ergeben sich keine Anhaltspunkte für einen Hüftschaden oder Beckenschiefstand. Vielmehr ist die Klägerin bis 1973 ausweislich des Briefes ihres Vaters vom 29.08.1973 (Bl. 062 BA 5) ausschließlich wegen der deutlich sichtbaren Schäden der oberen Extremitäten untersucht und behandelt worden.
73Jedenfalls kann sich die Klägerin auf die Feststellung eines Hüftschadens durch Prof. N1. aus dem Jahr 1973 heute nicht mehr berufen, weil Prof. N1. die Diagnose im Jahr 1979 selbst widerrufen hat. Obwohl auf den neu angefertigten Röntgenbildern des Beckens, der Wirbelsäule und der unteren Extremitäten ein Beckenschiefstand sichtbar war, hat Prof. N1. einen Hüftschaden klar verneint und stattdessen einen Knieschaden festgestellt (Bl. 013 BA 5 und Bl. 78 R und 79 Gerichtsakte). Diese Änderung der Begutachtung ist – im Gegensatz zu der ursprünglichen Diagnose im Jahr 1973 – auf der Grundlage der Erkenntnisse aus den Röntgenbildern von 1979 auch nachvollziehbar und plausibel.
74Damit kann der bei der Klägerin vorliegende Beckenschiefstand mit der Einnahme von Thalidomid durch die Mutter in der Schwangerschaft nicht in Verbindung gebracht werden.
75Die Klägerin kann sich auch nicht darauf berufen, dass die im Bewilligungsbescheid vom 04.02.1974 aufgeführten 4 Punkte für einen „Hüftschaden pauschal“ bestandskräftig anerkannt sind und daher - unabhängig von einem tatsächlich bestehenden Thalidomid schaden - weiterhin angerechnet werden müssen.
76Eine bestandskräftige Anerkennung eines Hüftschadens im Umfang von 4 Punkten liegt nicht vor. Die mit der materiellen Bestandskraft eines Verwaltungsaktes verbundene Bindungswirkung bezieht sich nur auf den Entscheidungssatz, aber nicht auf die wesentlichen Gründe oder Vorfragen,
77vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG 14. Aufl. 2013, § 43, Rn. 31.
78Der Bewilligungsbescheid vom 04.02.1974 ist daher nur hinsichtlich der darin ausgesprochenen Festsetzung von Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz, hier der Festsetzung einer Rente und einer Kapitalentschädigung, in Bestandskraft erwachsen, aber nicht hinsichtlich der festgestellten Körperschäden. Dies ist aus § 16 Abs. 6 ContStifG abzuleiten, wonach der Stiftungsvorstand auf der Grundlage der Entscheidung und Bewertung der Kommission nach § 6 Abs. 2 die Leistungen nach Maßgabe der Richtlinien durch schriftlichen Verwaltungsakt festsetzt. Diese Bestimmung wird in § 9 Abs. 8 der Satzung der Conterganstiftung für behinderte Menschen vom 19.06.2013 nochmals aufgegriffen und bestätigt. Danach setzt der Stiftungsvorstand beim Verfahren nach Abschnitt 2 ContStifG die Leistungen fest, erteilt der Antrag stellenden Person einen Bescheid und entscheidet über eventuell erhobene Widersprüche.
79Die von der Medizinischen Kommission nach § 16 Abs. 2 ContStifG zu treffende Entscheidung darüber, ob ein Körperschaden nach § 12 ContStifG vorliegt und wie dieser zu bewerten ist, dient lediglich der Vorbereitung des anschließenden Leistungsbescheides. Sie dient zwar der Feststellung der wesentlichen Anspruchsvoraussetzungen und ist daher hinsichtlich des einzuhaltenden Verfahrens in § 16 Abs. 2 bis Abs. 5 ContStifG ausführlich geregelt. Es handelt sich jedoch nicht um einen selbständigen Verwaltungsakt, der dem eigentlichen Leistungsbescheid vorgelagert wäre. Ein Verwaltungsakt ist entsprechend der Definition in § 35 VwVfG jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Diese Voraussetzungen werden durch die Entscheidung der Kommission über den Schadensfall nicht erfüllt. Denn die Medizinische Kommission ist zum einen keine Behörde. Behörde ist allein der Stiftungsvorstand, der die Geschäfte der Stiftung führt, insbesondere über die Vergabe der Stiftungsmittel entscheidet sowie die Stiftung nach § 7 Abs. 5 ContStifG gerichtlich und außergerichtlich vertritt. Die Medizinische Kommission ist ein dem Stiftungsvorstand untergeordneter Ausschuss (§ 16 Abs. 2 ContStifG), der nicht mit Hoheitsrechten ausgestattet ist, sondern lediglich eine sachverständige Beurteilung einer Vorfrage des Leistungsanspruchs vornimmt. Zum anderen hat diese Entscheidung der Kommission keine Außenwirkung, da sie nicht unmittelbar Rechte des Betroffenen begründet. Dies zeigt sich bereits darin, dass die Entscheidung der Kommission über den Schadensfall dem Betroffenen gegenüber nicht als selbständiger Verwaltungsakt bekanntmacht wird. Rechte des Betroffenen werden erst durch den nachfolgenden Bescheid der Conterganstiftung über die Festsetzung der Leistungen begründet. Die darin mitgeteilten Feststellungen der Kommission zur Frage des Vorliegens eines thalidomidbedingten Geburtsschadens und seiner Schwere sind somit lediglich Teil der Begründung des Bescheides, die grundsätzlich nicht bestandskräftig wird.
80Die wesentlichen Gründe oder Vorfragen der Entscheidung nehmen nur ausnahmsweise an der Bestandskraft des Verwaltungsakts teil, wenn das Fachgesetz bestimmte Feststellungen mit einer speziellen Wirkung ausstattet,
81vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG,14. Aufl.2013, § 43 Rn. 31 und 26.
82Dies ist hier aber nicht der Fall. Aus § 16 ContStifG ergibt sich nicht, dass die Entscheidung der Kommission über den Schadensfall mit einer bestimmten Feststellungswirkung ausgestattet ist oder an der Bestandskraft des Bewilligungsbescheides teilnimmt. Dies wäre auch nicht im Interesse der Anspruchsberechtigten. Wenn die einzelnen zuerkannten Körperschäden bestandskräftige Feststellungen wären, könnte der Berechtigte eine Änderung dieser Feststellungen mit der Folge der Leistungserhöhung nicht mehr mit einem einfachen Änderungsantrag (Revisionsantrag verlangen), sondern nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 51 VwVfG für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens.
83Da die Feststellungen des Leistungsbescheides vom 04.02.1974 zu den Körperschäden somit nicht an der Bestandskraft des Bescheides teilhaben, war die Beklagte an die Anerkennung des Hüftschadens mit 4 Punkten nicht gebunden. Da ein thalidomidbedingter Hüftschaden nach den obigen Ausführungen tatsächlich nicht vorliegt, war die Beklagte berechtigt, die 4 Punkte für diesen zu Unrecht anerkannten Schaden bei der Neuberechnung abzuziehen.
84Einer teilweisen Rücknahme des Bewilligungsbescheides nach § 48 VwVfG oder eines teilweisen Widerrufs der Bewilligung nach § 49 VwVfG bedurfte es hierzu nicht. Bei der Rücknahme und dem Widerruf handelt es sich um eine Aufhebung oder eine teilweise Aufhebung eines Verwaltungsakts. Gegenstand der Aufhebung kann auch in diesem Zusammenhang nur die in dem Verwaltungsakt getroffene Regelung sein, hier also der Leistungsausspruch. Werden durch einen Änderungsbescheid daher Leistungen für die Vergangenheit oder die Zukunft gekürzt, handelt es sich um eine Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes, die den Einschränkungen der §§ 48 Abs. 1 Satz 2 und 49 Abs. 2 VwVfG unterliegt. Da im vorliegenden Verfahren durch den Änderungsbescheid vom 10.03.2010 Leistungen aber nicht gekürzt oder zurückgefordert wurden, sondern nach einer Verrechnung der neu zuerkannten Punkte mit den abgezogenen Punkten die Leistungen erhöht wurden, liegt keine Rücknahme bzw. kein Widerruf eines Verwaltungsaktes vor.
85Die berechtigten Interessen der Betroffenen werden auch durch die Möglichkeit der Behörde, die Feststellung der Körperschäden ohne Bindung an den Bewilligungsbescheid zu ändern und Punkte im Rahmen der Gesamtberechnung zu verrechnen, nicht unzumutbar beeinträchtigt. Führt die Aberkennung eines Körperschadens und der Abzug der dazugehörigen Punkte zu einer Reduzierung oder Rückforderung der Leistungen, sind die Vorschriften in § 48 Abs. 2 oder § 49 Abs. 2 VwVfG anwendbar, die eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Bewilligung vorsehen und den Vertrauensschutz des Betroffenen berücksichtigen.
86Führt die Neuberechnung nicht zu einer Reduzierung, sondern zu einer Erhöhung der Leistungen oder zu gleichbleibenden Leistungen, kommen zwar die §§ 48 ff. VwVfG nicht zu Anwendung. Ein Vertrauensschutz ist auch nicht geboten, weil das Vertrauen in den Bestand und die Fortgewährung der einmal bewilligten Leistungen nicht enttäuscht wird. Jedoch ist der Änderungsbescheid mit Widerspruch und Verpflichtungsklage überprüfbar, wenn der Betroffene geltend macht, dass ihm noch höhere Leistungen zu Unrecht verweigert wurden. Im Rahmen dieser Klage kann überprüft werden, ob der - bisher anerkannte - Körperschaden zu Unrecht verneint wurde und dem Antragsteller daher höhere Leistungen zustehen.
87Ungeachtet dieser Möglichkeit, von der die Klägerin keinen Gebrauch gemacht hat, hat sie aber auch deshalb keinen Rechtsnachteil erlitten, weil die Beklagte einen Hüftschaden im Rahmen des Revisionsantrages vom 09.03.2012 im Verlauf des Widerspruchsverfahrens erneut geprüft und zu Recht verneint hat. Ein berechtigtes Interesse an der Erhöhung der zuerkannten Leistungen auf der Grundlage einer unrichtigen Schadensfeststellung ist aber nicht erkennbar.
88Soweit die Klägerin nach Schluss der mündlichen Verhandlung weitere Klageanträge gestellt hat, die als Klageänderung gemäß § 91 VwGO einzustufen wären, ist die Klage bereits unzulässig. Eine Klageerweiterung nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung ist unzulässig, wenn nicht die Stellung weiterer Anträge oder die Ergänzung der Klageanträge durch einen Schriftsatznachlass gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 283 ZPO durch Beschluss des Gerichts vorbehalten worden ist,
89vgl. BVerwG, Beschluss vom 05.11.2001 – 9 B 50/01 – juris.
90Ein derartiger Schriftsatznachlass ist nicht beschlossen und von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin auch nicht beantragt worden, obwohl die Ansprüche der Klägerin auf weitere Leistungen nach dem ContStifG (Kapitalentschädigung, Sonderzahlung) in der mündlichen Verhandlung zur Sprache gekommen sind.
91Es gab auch keine Veranlassung, die Wiedereröffnung der Verhandlung zu beschließen, um dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin die Stellung weiterer Anträge zu ermöglichen, § 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO. Ein Anspruch auf Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung besteht bei versäumten Klageanträgen nicht,
92vgl. BVerwG, Beschluss vom 05.11.2001 – 9 B 50/01 – juris.
93Dem Schriftsatz vom 24.02.2015 ist auch kein weiterer wesentlicher Sachvortrag zu entnehmen, der für die Entscheidung in der Sache erheblich wäre.
94Ungeachtet dessen wäre die Klage auf weitere Leistungen nach dem ContStifG auf der Grundlage einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten aus den oben erörterten Gründen auch unbegründet, da die Klägerin keine Zusatzpunkte für einen Hüftschaden verlangen kann. Aus diesem Grund besteht auch kein Anspruch auf Prozesszinsen auf Nachzahlungsbeträge. Soweit die Klägerin eine Erhöhung der Leistungen hilfsweise auf der Grundlage von 42 Punkten beantragt hat, ist ein Rechtsschutzinteresse nicht ersichtlich. Denn diese Punktzahl ist der Klägerin von der Beklagten bereits zuerkannt worden. Es ist bisher weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Beklagte der Klägerin die aus dieser Punktzahl zustehenden Leistungen verweigert hätte.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
Tatbestand
2Die am 00.00.1973 in München geborene Klägerin begehrt die Anerkennung als Contergangeschädigte und die Gewährung von Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz (ContStifG).
3Unter dem 09.11.2009 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Conterganrente und Kapitalentschädigung. Sie weise eine orthopädische Fehlbildung in Form der Radiusaplasie links auf. Auch sei die angeborene Analatresie auf Thalidomid zurückzuführen. Dem Antrag waren verschiedene medizinische Unterlagen und Lichtbilder sowie eine persönliche Erklärung der Klägerin beigefügt. In letzterer gab die Klägerin an, ihre Mutter habe von ihrem behandelnden Arzt in der Frauenklinik in München Tabletten bekommen gegen Übelkeit und Kopfschmerzen in der Schwangerschaft. Nach der Geburt der Klägerin sei die Mutter gefragt worden, was sie eingenommen habe. Die Mutter habe den Ärzten die Schachtel Tabletten gezeigt, woraufhin die Ärzte gesägt hätten, dass sie die Tabletten nicht hätte nehmen dürfen.
4Die Beklagte legte den Fall der medizinischen Kommission zur Beurteilung vor.
5PD Dr. H. kam aus orthopädischer Sicht in seiner Stellungnahme vom 17.04.2010 zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Fehlbildung des linken Armes wahrscheinlich um einen Conterganschaden handeln könne. Auch nicht sehr symetrische Veränderungen an den oberen Extremitäten habe es bei Contergan gegeben. Das Geburtsdatum passe hingegen überhaupt nicht. Er bitte um Nachfrage bei Kollegen anderer Fachrichtungen, ob die nicht-orthopädischen Schäden typisch oder untypisch seien.PD Dr. X. nahm auf urologischem Fachgebiet unter dem 14.09.2010 Stellung und führte aus, dass er grundsätzlich die Analatresie für einen möglichen Thalidomidschaden halte. Bezüglich der Biographie der Klägerin sei es seines Erachtens nahezu undenkbar, dass 10 Jahre nach Verkaufsende von Contergan in einem Krankenhaus ein thalidomidhaltiges Medikament verordnet worden sein soll. Die natürliche Inzidenz für die Analatresie der Klägerin sei sehr hoch und betrage 1 von 2400 bis 2600 Geburten. Aufgrund der gesamten Befundkonstellation halte er einen Conterganschaden trotz des nicht ganz untypischen Verteilungsmusters für äußerst unwahrscheinlich.Prof. Dr. L. gab unter dem 19.07.2011 an, dass die Klägerin auf der rechten Seite überhaupt keine Auffälligkeiten aufweise, während ausschließlich die linke Seite der oberen Extremitäten geschädigt sei. Eine solche streng einseitige Ausprägung einer Gliedmaßenfehlbildung spreche absolut gegen das Vorliegen einer Thalidomidembryopathie. Die Fehlbildungen der Klägerin könnten am ehesten mit einer VACTERL-Assoziation in Verbindung gebracht werden.
6Im Wesentlichen unter Wiedergabe der Ergebnisse der Stellungnahmen von PD Dr. X. und Prof. Dr. L. lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 02.04.2012 ab.
7Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und legte unter dem 08.10.2012 eine notariell beurkundete Erklärung ihrer Mutter vor. Darin erklärt diese, die Tabletten im Jahr 1972 von ihrer behandelnden Ärztin in einer Münchner Kinderklinik zur Behandlung von Übelkeit und Kopfschmerzen in der Schwangerschaft erhalten zu haben. Die Ärztin, deren Namen sie nicht kenne, habe die Tabletten aus ihrem Praxisvorrat heraus gegeben. Nach der Geburt habe sie – die Mutter der Klägerin – auf Befragen die Tabletten gezeigt und von den Ärzten erfahren, dass es sich um Contergan handele und sie die Tabletten nicht hätte einnehmen dürfen. Weitere Erklärungen seien ihr gegenüber – auch später – nicht erfolgt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Blatt 55 des Verwaltungsvorgangs (Beiakte 1) Bezug genommen.
8Die Beklagte legte den Fall Prof. Dr. G. zur fachlichen Stellungnahme aus orthopädischer Sicht vor, die dieser unter dem 24.01.2013 erstellte. Darin führt Prof. Dr. G. aus, dass bedacht werden müsse, dass die Erscheinungsbilder der Dysmelie keineswegs neu und deshalb auch kein spezifisches Merkmal der Thalidomidembryopathie seien. Die bei der Klägerin vorliegende Form der Dysmelie werde auch bei sporadisch auftretenden Fällen beobachtet und komme zudem im Rahmen bestimmter Syndrome vor. Die Thalidomid-induzierte Entwicklungsstörung der Gliedmaßen kopiere nur das Muster longitudinaler, radialer bzw. tibialer Skeletteffekte – und nur dieses. Die longitudinalen Thalidomid-induzierten Dysmelien träten jedoch in der Regel beidseitig auf und gingen weitgehend symmetrisch. Nicht zuletzt aufgrund des ungewöhnlichen Zeitraums der vorgetragenen Einnahme eines thalidomidhaltigen Präparates spreche im konkret vorliegenden Fall aufgrund der Einseitigkeit der Dysmelie der linken oberen Extremität ungleich mehr gegen eine Thalidomid-induzierte Dysmelie als dafür. Die von Prof. Dr. L. angesprochene VACTERL-Assoziation stelle zweifellos diejenige Differentialdiagnose dar, die ungleich wahrscheinlicher sei.
9Unter Hinweis auf dieses Fachgutachten wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Bescheid vom 25.02.2013 zurück.
10Hiergegen hat die Klägerin am 06.03.2013 Klage erhoben, zu deren Begründung sie im Wesentlichen Folgendes vorträgt:
11Sie weise die typischen Fehlbildungen der Thalidomidembryopathie. Zudem sei die Einnahme von Contergan durch die Mutter der Klägerin durch deren Erklärung belegt.
12Die Klägerin beantragt,
13die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 02.04.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2013 zu verpflichten, ihr Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz zu gewähren.
14Die Beklagte beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Sie tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und verweist im Wesentlichen auf die angefochtenen Bescheide.
17Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
18Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
19Entscheidungsgründe
20Das Gericht konnte über die Klage ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
21Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber nicht begründet.
22Der Bescheid der Beklagten vom 02.04.2012 in der Gestalt ihres Widerspruchsbescheides vom 25.02.2013 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem ContStifG, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
23Anspruchsgrundlage für die begehrte Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin Leistungen nach dem ContStifG zu gewähren, ist § 12 Abs. 1 ContStifG i.d.F. der Bekanntmachung vom 25.06.2009 (BGBl. I 1537), zuletzt geändert durch das dritte Gesetz zur Änderung des ContStifG (BGBl. I 1847). Nach dieser Vorschrift setzt die Gewährung von Leistungen nach § 13 ContStifG voraus, dass der Antragsteller Fehlbildungen aufweist, die mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH, Aachen, durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können. Der Kreis der Anspruchsberechtigten ist weit gefasst, um zugunsten etwaiger Betroffener der Unmöglichkeit einer über jeden Zweifel erhabenen Kausalitätsfeststellung Rechnung zu tragen.
24Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschlüsse vom 02.12.2011 – 16 E 723/11 –, vom 25.03.2013 – 16 E 1139/12 – und vom 14.01.2015 – 16 E 435/13 –, juris.
25Aus Sicht der Kammer muss jedoch mit Wahrscheinlichkeit gerade die Einwirkung von Thalidomid während der Embryonalentwicklung gegeben sein, die in ursächlichem Zusammenhang mit Fehlbildungen des Antragstellers steht. Würde es dagegen ausreichen, dass Thalidomid als theoretische Ursache für Fehlbildungen nicht auszuschließen ist, ließe sich der anspruchsberechtigte Personenkreis, der nach dem Willen des Gesetzgebers von Leistungen aus dem Stiftungsvermögen profitieren soll, nicht verlässlich eingrenzen. Die Argumente der Klägerin zielen jedoch lediglich darauf, dass eine Thalidomidschädigung nicht mit Sicherheit ausgeschlossen ist.
26Die von der Klägerin geltend gemachten Fehlbildungen können nicht mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH, Aachen, durch die Mutter der Klägerin während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden.
27Es erscheint aus Sicht des Gerichts bereits als nahezu ausgeschlossen, dass die Mutter der Klägerin während der Schwangerschaft Contergan einnahm.
28Dass der Mutter der Klägerin in dem Zeitraum zwischen dem 14.05.1972 und 01.06.1972 (in diesem Zeitraum befand sich laut Prof. Dr. L. die teratogene Phase der Schwangerschaft) während eines stationären Aufenthalts in einem Münchner Kinderklinikum von der diensthabenden Ärztin Contergan verabreicht worden sein soll, ist nicht glaubhaft. Das Arzneimittel Contergan ist bereits am 27.11.1961, begleitet von einem Informationsbrief der Firma Grünenthal an die deutschen Ärzte vom 25.11.1961 vom Markt genommen worden. Die Ärzteschaft war spätestens ab diesem Zeitpunkt über die Gefahren der Conterganeinnahme während der Schwangerschaft informiert. Es ist schon nicht anzunehmen, dass das Präparat über 10 Jahre (!) nach der Einstellung des Handels in einem deutschen Krankenhaus (!) überhaupt noch vorhanden war. Gerade in der Bundesrepublik Deutschland, in der die meisten Thalidomid-geschädigten Kinder geboren wurden und die Fa. Chemie Grünenthal ihren Sitz hat, waren Behörden, Apotheker- und Ärzteschaft, pharmazeutische Industrie, Politik, Medien und die Öffentlichkeit in besonderem Maße alarmiert und für Thalidomid als Auslöser der angeborenen Fehlbildungen sensibilisiert.
29Vgl. hierzu ausführlich Kirk, Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid, 1999, S. 156.
30Vor diesem Hintergrund spricht nichts dafür, dass eine Ärztin trotz Kenntnis von der Schwangerschaft der Mutter der Klägerin Contergan zur Anwendung herausgegeben haben soll, obwohl sie von der Marktrücknahme und den Auswirkungen des Präparates gewusst haben muss. Dementsprechend sind auch keine Fälle bekannt, in denen Krankenhäuser mehrere Jahre nach dem Verkaufsstopp Contergan an Schwangere ausgehändigt haben.Nicht nachvollziehbar ist, dass die Mutter der Klägerin nach Aufklärung über das Verbot von Contergan keinerlei Anstrengungen unternommen haben will, um die Ärztin oder die Klinik zur Verantwortung zu ziehen. Ebenso wenig erklärlich ist, dass sie trotz des gewaltigen Medienechos aufgrund des Strafverfahrens, das am 18.12.1970 endete, und des Inkrafttretens des Stiftungsgesetzes am 31.10.1972 bis zum Ablauf der früheren Antragsfrist am 31.12.1983 nichts unternahm, um die Klägerin als Contergangeschädigte anerkennen zu lassen. Nur am Rande sei angemerkt, dass auch der vorliegende ärztliche Bericht der Frauenklinik der Universität München vom 22.05.1973 eine Schädigung aufgrund von Contergan nicht erwähnt, obwohl dort die Einnahme von Contergan durch die Mutter der Klägerin bekannt gewesen sein soll.
31Auch eine Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung des Erscheinungsbilds der geltend gemachten Fehlbildungen und den sonstigen tatsächlichen Umständen,
32vgl. zur Bedeutung dieser Parameter für die Annahme einer ursächlichen Verbindung: Begründung des Gesetzesentwurfs über die Errichtung einer nationalen Stiftung „Hilfswerk für das behinderte Kind“, BT-Drs. VI/926, S. 8 zu § 13,
33führt nicht zu der Annahme, dass die Fehlbildungen der Klägerin mit Wahrscheinlichkeit mit einer Conterganeinnahme der Mutter während der sensiblen Phase in Verbindung gebracht werden können.
34Hiervon ist das Gericht nach Auswertung sämtlicher ärztlichen Stellungnahmen, insbesondere der von der Medizinischen Kommission der Beklagten eingeholten gutachterlichen Stellungnahmen überzeugt.
35Zwar kommen die geltend gemachte Analatresie und Dysmelie des Armes und der Hand bei der Thalidomidembryopathie vor. Dementsprechend halten PD Dr. X. und PD Dr. H. die Analatresie bzw. den Schaden an der oberen linken Extremität für sich gesehen für einen möglichen Conterganschaden. Allerdings verweist PD Dr. X. auf eine sehr hohe natürliche Inzidenz der Analatresie, weshalb er mit Blick auf die gesamte Befundkonstellation das Vorliegen eines Conterganschadens für äußerst unwahrscheinlich hält. Auch PD Dr. H. vermag sich nicht für die Anerkennung des orthopädischen Schadens als Conterganschaden auszusprechen, sondern bittet um ergänzende Einschätzung zur Typik der Schäden auf nicht-orthopädischem Fachgebiet. Soweit die geltend gemachten Fehlbildungen für sich genommen bei der Thalidomidembryopathie beobachtet wurden, ist darauf hinzuweisen, dass keine dieser Fehlbildungen ausschließlich auf Thalidomid zurückzuführen ist. Die von Thalidomid hervorgerufenen angeborenen Fehlbildungen können für sich genommen auch andere Ursachen haben.
36Vgl. Smithells/Newman, Recognition of thalidomide defects, J. Med. Genet. 1992, 29, 716 f.. Zu den möglichen Ursachen angeborener Fehlbildungen vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 02.12.2011 – 16 E 723/11 –, juris Rn. 6 f.
37In dieser Weise äußert sich auch Prof. Dr. G. , der darauf hinweist, dass die Erscheinungsbilder der Dysmelie bei der Thalidomidembryopathie keineswegs neu und deshalb auch kein spezifisches Merkmal der Thalidomidembryopathie seien. Vielmehr würden die bei der Klägerin vorliegenden Formen der Dysmelie auch bei sporadisch auftretenden Fällen beobachtet und kämen zudem im Rahmen bestimmter Syndrome vor. Auch Prof. Dr. L. verneint das Vorliegen eines Conterganschadens und kann die Fehlbildungen der Klägerin am ehesten mit der VACTERL-Assoziation in Verbindung bringen. Ob diese Differentialdiagnose, die auch Prof. Dr. G. befürwortet, tatsächlich zutrifft, bedarf keiner Entscheidung. Es genügt vielmehr, dass nach den überzeugenden Ausführungen in allen sachverständigen Stellungnahmen – mit Ausnahme von PD. Dr. H. , der sich nicht festlegen wollte – ein Conterganschaden nicht wahrscheinlich bzw. äußerst unwahrscheinlich ist. Die Annahme der Wahrscheinlichkeit einer Thalidomidschädigung drängt sich schließlich auch deswegen nicht auf, weil – worauf Prof. Dr. G. und Prof. Dr. L. nachvollziehbar hinweisen – die bei der Klägerin vorliegende strenge Einseitigkeit der Fehlbildung an den oberen Extremitäten nur schwer mit einer Thalidomidembryopathie in Einklang gebracht werden kann. Dabei bedarf es hier keiner abschließenden Entscheidung, ob das Wirkprinzip von Thalidomid in jedem Fall das Vorkommen einseitiger Thalidomidschäden (an den oberen Extremitäten) ausschließt. Wie die Kammer aus verschiedenen Verfahren ersehen kann, konnte die Medizinische Kommission der Beklagten zu dieser Frage selbst offenbar noch keine einheitliche Haltung finden. Dies betrifft aber bezogen auf Extremitäten den Grad der Asymmetrie bzw. die Größe des Unterschieds zwischen der linken und rechten Extremität. Selbst wenn demnach in Betracht kommen sollte, dass die Einseitigkeit einer Dysmelie zumindest dann einem Zusammenhang mit Thalidomid nicht notwendig entgegensteht, wenn bei Vorhandensein einer normal ausgebildeten Seite die Fehlbildung auf der anderen Seite selbst nur milde ausfällt und damit lediglich ein geringfügiger Unterschied zwischen beiden Seiten besteht,
38vgl. hierzu auch Smithells/Newman, Recognition of thalidomide defects, J. Med. Genet. 1992, 29, 716 ff., wonach die Wahrscheinlichkeit einer genetischen oder stofflichen (wie Thalidomid) Ursache mit der Zunahme der Unterschiede zwischen den Seiten abnimmt,
39führt dies hier zu keiner abweichenden Bewertung. Denn die Fehlbildung der Klägerin ist an der linken oberen Extremität sehr deutlich ausgeprägt, während die rechte Seite überhaupt keine Fehlbildung aufweist. Die Dysmelie des linken Armes zeigt sich nach den übereinstimmenden sachverständigen Stellungnahmen im Wesentlichen im Fehlen des Daumens und der Speiche sowie der Verkürzung der Elle. Das Schultergelenk links weist eine geringe Dysplasie auf. Der rechte Arm hingegen zeigt keine Auffälligkeiten.
40Die vorliegenden sachverständigen Stellungnahmen sind auch hinreichend geeignet, dem Gericht die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Sie weisen keine auch für den Nichtsachkundigen erkennbaren (groben) Mängel auf, beruhen vielmehr auf dem anerkannten Wissensstand insbesondere auch zu den Fehlbildungsmustern bei der Thalidomidembryopathie. Sie gehen von zutreffenden tatsächlichen Verhältnissen aus, enthalten keine unlösbaren Widersprüche und geben keinen Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit der Sachverständigen.
41Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 06.02.2012 – 1 A 1337/10 –; BVerwG, Beschluss vom 09.08.1983 – 9 B 1024/83 –.
42Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem ärztlichen Attest der Ärzte Dr. T. und Dr. C. vom 14.01.2011. Soweit darin das Bestehen von angeborenen Fehlbildungen infolge einer Conterganschädigung bei der Klägerin bestätigt wird, fehlt es an jeglicher Begründung für diese Aussage. Es fehlen Angaben zur Schadenstypik oder zur Problematik der strengen Einseitigkeit der Fehlbildungen, die geeignet wären, die Ausführungen der übrigen Sachverständigen zu erschüttern oder durchgreifend in Zweifel zu ziehen.
43Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 15. April 2015 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungszulassungsverfahrens.
1
Gründe
2Der auf die Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils) und des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache) gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
3Ernstliche Zweifel i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind gegeben, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angegriffenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
4Vgl. zu diesem Prüfungsmaßstab BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. März 2007 ‑ 1 BvR 2228/02 ‑, NVwZ‑RR 2008, 1 = GewArch 2007, 242 = juris, Rn. 25.
5Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils ergeben sich zunächst nicht daraus, dass diesem ein unzutreffender Maßstab für die zu fordernde Wahrscheinlichkeit der Thalidomid‑Verursachung zugrundeläge. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend und im Einklang mit der ständigen Senatsrechtsprechung hervorgehoben, dass der Kreis der Anspruchsberechtigten nach § 12 Abs. 1 ContStifG weit gefasst sei, weil angesichts der Komplexität insbesondere der medizinischen Fragestellungen eine über jeden Zweifel erhabene Kausalitätsfeststellung ‑ in die eine wie in die andere Richtung ‑ kaum jemals möglich sein dürfte. Soweit das Verwaltungsgericht weiter ausführt, für die Zuerkennung der Leistungsberechtigung könne es nicht ausreichen, dass Thalidomid als theoretische Ursache für Fehlbildungen nicht auszuschließen sei, weil sich sonst der anspruchsberechtigte Personenkreis nicht verlässlich eingrenzen lasse, stimmt auch diese Annahme mit dem vom Senat eingenommenen Standpunkt überein. Denn auch bei zugunsten potenzieller Anspruchsberechtigter relativ weit gefassten Voraussetzungen muss angesichts der theoretisch durchaus vielfältigen und wohl noch nicht bis ins Letzte ergründeten Ursachen für kongenitale Missbildungen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine gerade auf Thalidomideinnahme beruhende Schädigung werdenden Lebens vorliegen.
6Eine solche Wahrscheinlichkeit hat das Verwaltungsgericht mit zutreffenden Gründen verneint, wobei vorliegend gerade die Kombination einer sehr unwahrscheinlichen Thalidomideinnahme mit einem atypischen Schädigungsbild nachgerade zu der Annahme zwingt, dass kein Fall nach § 12 Abs. 1 ContStifG gegeben ist. Die Angriffe der Klägerin gegen die Argumentation des Verwaltungsgerichts im Einzelnen führen daher jedenfalls nicht zu ernstlichen Richtigkeitszweifeln.
7Zunächst spricht nichts dafür, das Verwaltungsgericht könne übersehen haben, dass Thalidomid bis zum Verkaufsstopp Ende November 1961 nicht nur unter den Markennamen "Contergan" bzw. "Contergan forte" und auch nicht nur als Beruhigungs‑ und Schlafmittel, sondern auch unter anderen Bezeichnungen bzw. mit anderem Wirkungsspektrum auf dem Arzneimittelmarkt vertreten war. Das Verwaltungsgericht verwendet wiederholt Formulierungen wie "Einnahme thalidomidhaltiger Präparate" oder "Einnahme von Thalidomid", was nahelegt, dass der Kammer das Vorhandensein anderer thalidomidhaltiger Produkte als "Contergan" oder "Contergan forte" vor Augen stand, zumal dies zu dem Grundwissen aller gehört, die sich regelmäßig mit der juristischen Aufarbeitung dieses besonders spektakulären Arzneimittelskandals befassen.
8Vgl. dazu insbesondere die auch vom Verwaltungsgericht zitierte Monografie von Kirk, Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid, 1999, Anhang I (S. 241 f.).
9Soweit das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils daneben auch von "Contergan" spricht, erklärt sich dies zwanglos zum einen damit, dass gerade dieses Medikament in den fraglichen Jahren 1957 bis 1961 besonders oft eingenommen wurde und später dem gesamten Skandal ‑ und nicht zuletzt der beklagten Stiftung ‑ den Namen gab, und zum anderen damit, dass auch in der vorprozessualen Korrespondenz der Klägerseite und vor allem in der schriftlichen Erklärung der Mutter der Klägerin von Contergan (oder Contregan) die Rede war. Abgesehen davon ist kaum anzunehmen, dass einer Klinikärztin die sonstigen thalidomidhaltigen Arzneien (außer Contergan) unbekannt waren, sofern nicht ohnehin bei einer Medikamentenausgabe eher auf die enthaltenen Wirkstoffe (also Thalidomid) als auf den Markennamen des Präparates geachtet wird.
10Der Antrag greift auch ohne Erfolg das Argument des Verwaltungsgerichts an, wonach nicht nachvollziehbar sei, warum die Mutter der Klägerin nichts gegen die Klinik bzw. die behandelnde Ärztin unternommen habe, wenn es doch so offensichtlich gewesen sei, dass die Behinderungen der Klägerin mit der Gabe eines schädlichen Medikaments zusammengehangen hätten. Soweit die Klägerin hierzu darauf hinweist, ihre Eltern hätten kaum Deutsch gesprochen und seien kurz nach ihrer, der Klägerin, Geburt wieder in das damalige Jugoslawien zurückgekehrt, erklärt das nicht erschöpfend, warum die auch für juristische Laien naheliegende Möglichkeit einer Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen nicht ergriffen worden ist. Im Übrigen dürfte die Darstellung über die Rückkehr der Eltern in ihre Heimat im Jahr 1973 auch nicht zutreffen, denn die Klägerin hat in ihrer ausführlichen persönlichen Stellungnahme ("Biographie") vom 15. Februar 2010 ausdrücklich geschildert, dass nur sie und ihre Mutter nach Bosnien-Herzegowina zurückgekehrt seien, wohingegen ihr Vater als Gastarbeiter in Deutschland geblieben sei.
11Soweit es die ätiologische Einordnung der Körper‑ und Gesundheitsbeeinträchtigungen der Klägerin betrifft, dürfte deren Ansicht zutreffen, dass die in den Gutachten von Prof. Dr. L. vom 19. Juli 2011 und von Prof. Dr. G. vom 24. Januar 2013 ausdrücklich oder sinngemäß vorgenommene Einstufung der sog. VACTERL‑Asso-ziation als Differenzialdiagnose zu einer Verursachung durch Thalidomid zumindest missverständlich ist. Daraus kann aber nichts Entscheidendes in Richtung auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden, dass die Missbildungen bei der Klägerin auf Thalidomid zurückzuführen sind. Denn auch wenn die Bezeichnung "VACTERL‑Assoziation" üblicherweise lediglich eine symptombeschreibende Funktion haben und deren Feststellung ‑ d.h. das Vorliegen von mindestens drei der sieben unter dem Akronym "VACTERL" zusammengefassten Anomalien ‑ nichts über die Entstehungsursache aussagen sollte, käme nicht umgekehrt in Frage, die Bejahung einer VACTERL‑Assoziation als Hinweis auf eine hohe Wahrscheinlichkeit einer Thalidomidverursachung anzuführen. Dies ergibt sich insbesondere nicht aus dem von der Klägerin beigefügten Aufsatz von Stevenson und Hunter ("Considering the Embryopathogenesis of VACTERL Association", Molecular Syndromology 2013; 4:7‑15), in dem vielmehr neben einer Verursachung durch Thalidomid eine Anzahl weiterer teratogener sowie nicht-teratogener Entstehungsursachen diskutiert wird. Der vom Verwaltungsgericht unter Hinweis auf die Gutachten von Prof. Dr. L. und Prof. Dr. G. eingenommene Standpunkt, jedenfalls bei der vorliegend gegebenen ausgeprägten Einseitigkeit der Armfehlbildungen sei eine teratogene Schädigung durch Thalidomid unwahrscheinlich, wird weder durch den genannten Aufsatz von Stevenson und Hunter noch durch die beigebrachte Stellungnahme des sich auf Stevenson und Hunter beziehenden Internisten und Kardiologen sowie Klinischen Pharmakologen Prof. Dr. L1. vom 12. Juni 2015 erschüttert.
12Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass selbst im Falle einer Verabreichung eines thalidomidhaltigen Medikaments an die Mutter der Klägerin während der Schwangerschaft und dadurch hervorgerufener Missbildungen bei der Klägerin eine Anspruchsberechtigung nach den §§ 12 und 13 ContStifG schwerwiegenden Zweifeln ausgesetzt wäre, denen hier aber nicht abschließend nachgegangen werden muss. Denn die zur Gründung der sog. Conterganstiftung führende (Selbst‑)Verpflichtung der Fa. H. ‑GmbH und insbesondere die im Laufe der Jahre erheblichen Zuschüsse aus Bundesmitteln beruhen letztlich auf einer anerkannten fortwirkenden Verantwortlichkeit dafür, dass in den Jahren 1957 bis Ende 1961 Arzneien wie Contergan in der Bundesrepublik Deutschland ‑ weithin rezeptfrei ‑ vertrieben wurden bzw. vertrieben werden konnten. In diesem Zusammenhang ist etwa darauf hinzuweisen, dass es in Deutschland bis zum sog. Conterganskandal nicht einmal ein Arzneimittelgesetz gab, das eine Katastrophe dieses Ausmaßes zumindest deutlich unwahrscheinlicher hätte machen können; bemerkenswert ist auch, dass es in einer Reihe von Staaten, etwa den USA und der DDR, wegen frühzeitig gesehener Risiken nicht zu einer Lizenzvergabe für Thalidomid gekommen ist, während in anderen Staaten, so in Österreich und der Schweiz, von vornherein eine Rezeptpflicht bestand und daher Schädigungsfälle relativ selten blieben.
13Vgl. Kirk, a. a. O., S. 20 bis 33, 70 bis 83, 107 bis 113, 135 f. und 191 bis 203; Wikipedia unter: "Contergan-Skandal".
14Dieser ‑ vorstehend nur schlagwortartig umrissene ‑ Entstehungsgrund für die Conterganstiftung dürfte Auswirkungen auch auf den sachlichen Anwendungsbereich des Conterganstiftungsgesetzes haben, so dass dieser vermutlich nicht Fälle umfasst, die nicht in erster Linie auf dem seinerzeit legalen Vertrieb derartiger Mittel in den Jahren 1957 bis 1961 beruhten, sondern in denen ‑ Jahre später ‑ ein zusätzliches erhebliches Verschulden Dritter den unter wertenden Gesichtspunkten klar im Vordergrund stehenden Verursachungsbeitrag bildet. Ein solcher Fall wäre auf der Grundlage der klägerischen Schilderungen vorliegend anzunehmen.
15Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich zugleich, dass die Rechtssache keine tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweist.
16Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und §188 Satz 2 VwGO.
17Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 24. Februar 2015 wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Berufungszulassungsverfahrens.
1
Gründe
2Der auf die Berufungszulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils), des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache), des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache) und des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung beruhen kann) gestützte Zulassungsantrag des Klägers bleibt ohne Erfolg, weil die genannten Zulassungsgründe nicht hinreichend dargelegt sind bzw. in der Sache nicht eingreifen.
3Soweit der Kläger einen Verfahrensmangel darin sieht, dass das Verwaltungsgericht zu der Frage der Verursachung der diversen Gesundheitsbeeinträchtigungen des Klägers durch thalidomidhaltige Arzneimittel kein (zusätzliches) Sachverständigengutachten eingeholt hat, führt das nicht zur Annahme des Berufungszulassungsgrundes nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO. Eine prozessrechtswidrige Verletzung der Aufklärungspflicht ist nämlich grundsätzlich nicht gegeben, wenn das Gericht von einer Beweiserhebung absieht, die eine durch einen Rechtsanwalt vertretene Partei wie hier nicht förmlich ‑ das heißt im Rahmen der mündlichen Verhandlung (§ 86 Abs. 2 VwGO) ‑ beantragt hat.
4Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. August 2015 ‑ 1 B 37.15 ‑, juris, Rn. 11; OVG NRW, Beschlüsse vom 30. Juli 2012 ‑ 16 A 1165/12 ‑, juris, Rn. 21 f., und zuletzt vom 1. Dezember 2015 ‑ 16 A 1976/12 ‑; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, Kommentar, 4. Auflage (2014), § 124 Rn. 191; Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 21. Auflage (2015), § 124 Rn. 13; Stuhlfauth, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, Kommentar, 6. Auflage (2014), § 124, Rn. 65; Dietz, in: Gärditz, VwGO, Kommentar 2013, § 124 Rn. 49.
5Es ist auch nicht unter Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts dargelegt, dass sich diesem eine (weitere) Beweiserhebung zu dem oben genannten Punkt aufdrängen musste. Der Kläger hat nicht verdeutlicht, warum die im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten, die übereinstimmend ‑ teils sachgebietsbezogen, teils übergreifend und zusammenfassend ‑ eine Thalidomidschädigung beim Kläger verneinen, unzutreffend bzw. unvollständig sein könnten. Dass die Gutachten zumindest zum überwiegenden Teil nach Aktenlage, also ohne körperliche Untersuchung des Klägers, erstellt worden sind, kann sich schon deshalb nicht zu seinem Nachteil ausgewirkt haben, weil die von ihm geltend gemachten Erkrankungen oder körperlichen Funktionsbeeinträchtigungen als solche nicht streitig sind. Die weitergehende Frage, ob vorhandene Leidenszustände mit der Einnahme von Thalidomid durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können, beruht demgegenüber weiten Umfangs auf Erfahrungswissen und erfordert daher ‑ von zweifelsbehafteten Einzeldiagnosen abgesehen ‑ keiner gesonderten körperlichen Untersuchung. Weiter ist darauf hinzuweisen, dass die diagnostisch offen gebliebene Frage, ob vor der Operation des Klägers im Alter von 14 Jahren eine Stenose des Analganges oder aber Hämorrhoiden vorgelegen haben, nunmehr, Jahrzehnte nach dem offensichtlich fehlgeschlagenen Eingriff, auch durch eine erneute Untersuchung nicht mehr geklärt werden kann. Schließlich hat der Kläger auch nicht dargelegt, inwiefern weitere körperliche Untersuchungen zu von der gegebenen Begutachtungslage abweichenden Erkenntnissen hätten führen können.
6Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ergeben sich nicht. Solche Zweifel sind gegeben, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angegriffenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
7Vgl. zu diesem Prüfungsmaßstab BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. März 2007 ‑ 1 BvR 2228/02 ‑, NVwZ‑RR 2008, 1 = GewArch 2007, 242 = juris, Rn. 25.
8Ernstliche Zweifel werden zunächst nicht dadurch aufgeworfen, dass das Verwaltungsgericht seiner Prüfung einen unzutreffenden Maßstab für die zu fordernde Wahrscheinlichkeit der Thalidomid‑Verursachung zugrundegelegt hätte. Das Verwaltungsgericht hat im Einklang mit der ständigen Senatsrechtsprechung hervorgehoben, dass der Kreis der Anspruchsberechtigten nach § 12 Abs. 1 ContStifG weit gefasst sei, weil angesichts der Komplexität insbesondere der medizinischen Fragestellungen eine über jeden Zweifel erhabene Kausalitätsfeststellung ‑ in die eine wie in die andere Richtung ‑ kaum jemals möglich sein dürfte. Soweit das Verwaltungsgericht weiter ausführt, für die Zuerkennung der Leistungsberechtigung könne es nicht ausreichen, dass Thalidomid als theoretische Ursache für Fehlbildungen nicht auszuschließen sei, weil sich sonst der anspruchsberechtigte Personenkreis nicht verlässlich eingrenzen lasse, stimmt das mit dem auch vom Senat eingenommenen Standpunkt überein. Denn auch bei zugunsten potenzieller Anspruchsberechtigter relativ weit gefassten Voraussetzungen muss angesichts der theoretisch durchaus vielfältigen und wohl noch nicht bis ins Letzte ergründeten Ursachen für kongenitale Missbildungen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine gerade auf Thalidomideinnahme beruhende Schädigung werdenden Lebens vorliegen.
9Eine solche Wahrscheinlichkeit hat das Verwaltungsgericht mit Gründen verneint, denen der Kläger keine schlüssigen Argumente entgegenzusetzen vermag. Soweit er darauf hinweist, dass einige der im Vordergrund stehenden Schädigungen auch in der Anlage zum Conterganstiftungsgesetz (gemeint ist wohl Anlage 2 zu den Richtlinien für die Gewährung von Leistungen wegen Conterganschadensfällen ‑ Medizinische Punktetabelle) verzeichnet seien, trifft das jedenfalls nicht in der Weise zu, dass sich allein aufgrund der Erwähnung dieser Schäden in der Punktetabelle eindeutige Zuordnungen treffen ließen. So werden unter den Ziffern 2.11 die Schädigung "Analatresie oder Stenose mit Inkontinenz nach OP oder Anuspraeter" (bewertet mit 30 Schadenspunkten) und unter Ziffer 2.12 die "Analstenose oder ‑atresie ohne Insuffizienz nach OP" (fünf Punkte) genannt, wobei von den genannten Schädigungen hier nur eine Analstenose in Betracht gezogen werden könnte. Es ist aber zweifelhaft geblieben ‑ und nach Lage der Dinge auch nicht mehr ermittelbar ‑, ob ein solches Schädigungsbild unmittelbar nach der Geburt des Klägers bzw. bis zu seiner nicht zielführenden Operation im Alter von 14 Jahren vorgelegen hat. Die aus Sicht des Klägers negative Einschätzung hinsichtlich einer auf den Analbereich bezogenen Schädigung durch Thalidomid beruht indessen nicht entscheidend allein auf der (offenen) Frage, ob initial eine solche Stenose oder aber die im Kindesalter seltene Diagnose von (nachgeburtlich erworbenen) Hämorrhoiden vorgelegen hat, sondern vielmehr maßgeblich auf der vom Verwaltungsgericht als zutreffend angesehenen gutachterlichen Einschätzung, dass ‑ etwa ‑ angeborene Analstenosen nur in Zusammenhang mit Extremitätenfehlbildungen als Thalidomidschädigungsfolge beobachtet worden sind. Diesem Argument hält der Kläger nur entgegen, bei ihm verwundere die Häufung "der einzelnen Symptome", ohne dass er aber darauf eingeht, dass die weit überwiegende Mehrzahl der gesundheitlichen Einschränkungen nach der nachvollziehbaren gutachterlichen Bewertung von vornherein keinen Zusammenhang mit der Thalidomidproblematik aufweist.
10Eine ausdrückliche Nennung des beim Kläger aufgetretenen Hodenhochstandes findet sich in der Medizinischen Punktetabelle nicht. Aufgeführt werden lediglich der doppelseitige sowie der einseitige Kryptorchismus (d. h. die Verschiebung der Hoden mit der Folge der Unauffindbarkeit), die beim Kläger offensichtlich nicht gegeben sind. Außerdem ist auch insoweit darauf hinzuweisen, dass die Punktetabelle nur über die "Wertigkeit" einer Schädigung Auskunft geben kann, nicht aber dazu, ob diese ‑ insbesondere ohne gleichzeitiges Auftreten von thalidomidtypischen Fehlbildungen an den äußeren Extremitäten ‑ stets als Conterganschaden anzusehen sind. Nichts anderes ergibt sich für die vom Kläger angegebenen Sehminderungen, die im Übrigen nicht durch Atteste nachgewiesen sind und ihrer Art nach ‑ Kurzsichtigkeit ‑ in der Bevölkerung allgemein sehr häufig anzutreffen sind.
11Soweit der Kläger entgegen der gutachterlichen Stellungnahme für den orthopädischen Bereich durch Privatdozent Dr. H. vom Vorliegen von Schädigungen der Extremitäten ausgeht, begründet er dies nicht näher. Allein der Hinweis auf Probleme mit diversen Gelenken stellt nicht schlüssig in Frage, dass es sich insoweit nicht um Missbildungen bzw. die Folge von Missbildungen, sondern um den verbreitet in der Bevölkerung ‑ auch schon in der Altersgruppe des Klägers ‑ anzutreffenden "normalen" Gelenkverschleiß handelt.
12Schließlich fehlt es auch ‑ in Auseinandersetzung mit den Gründen des angefochtenen Urteils ‑ an schlüssigen Argumenten dahingehend, dass aus dem frühen Versterben des Zwillingsbruders oder gar der Conterganschädigung der jüngeren Schwester des Klägers Schlussfolgerungen im Sinne einer Thalidomidschädigung (auch) des Klägers gezogen werden können.
13Aus dem Vorstehenden folgt auch, dass die Rechtssache keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweist.
14Schließlich ist eine grundsätzlich klärungsbedürftige Frage i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht dargelegt. Der Kläger beschränkt sich mit Blick auf diesen Zulassungsgrund auf die Ansicht, der in § 12 Abs. 1 ContStifG aufgeführte Begriff "können" bedürfe der Auslegung; weiter führt er aus, das Verwaltungsgericht habe diese Formulierung "lediglich auf die freie naturwissenschaftliche Nachweisbarkeit" bezogen, wohingegen sie auch "hinsichtlich der Anerkennung von Thalidomit-Schädigungen ohne Extremitäten-Fehlbildungen von Bedeutung" sei. Aus diesen sehr allgemein gehaltenen und schwer verständlichen Ausführungen lässt sich allenfalls entnehmen, dass der genannte Begriff des "Könnens" der Auslegung bedarf und dass das Verwaltungsgericht nach Ansicht des Klägers ein zu enges bzw. schon im Ansatz unzutreffendes Begriffsverständnis zugrunde gelegt hat. Beide Aspekte führen nach dem oben zur Wahrscheinlichkeit einer Thalidomid-Verursachung Ausgeführten indessen nicht zu einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache.
15Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und § 188 Satz 2 VwGO.
16Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.
Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:
- 1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen; - 2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a; - 3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird; - 4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden; - 5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären; - 6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden; - 7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen; - 8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht; - 9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung; - 10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist; - 11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.