Verwaltungsgericht Köln Beschluss, 28. Apr. 2015 - 17 L 1024/15.A
Gericht
Tenor
1. Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt D. S. aus L. bewilligt.
2. Die aufschiebende Wirkung der Klage 17 K 2312/15.A gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 08.04.2015 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
1
Gründe
2Der Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 17 K 2312/15.A gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 08.04.2015 anzuordnen,
4ist als Antrag nach § 34a Abs. 2 S. 1 AsylVfG i.V.m. § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 1 VwGO zulässig und begründet.
5Die gebotene Abwägung des Interesses der Antragsteller, vorerst von einer Abschiebung nach Ungarn verschont zu bleiben, mit dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der in dem Bescheid allein verfügten Abschiebungsanordnung fällt zugunsten der Antragsteller aus.
6Zwar kann im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG) bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung nicht mit hinreichender Gewissheit festgestellt werden, ob die Anordnung der Abschiebung wegen systemischer Schwachstellen im ungarischen Asylsystem im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der sog. Dublin-III-Verordnung rechtswidrig ist. Denn es handelt sich dabei um eine in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht komplexe und schwierige Frage, deren abschließende Beantwortung dem Verfahren der Hauptsache vorbehalten bleiben muss.
7Allerdings gibt es nach derzeitigem Erkenntnisstand hierfür zumindest erhebliche Anhaltspunkte. Heranzuziehen sind dabei diejenigen Umstände, die auf die Situation der Antragsteller zutreffen, vorliegend also die Situation einer (achtköpfigen) Familie mit minderjährigen Kindern (geboren in den Jahren 2001 bis 2014), die vor ihrer Ausreise aus Ungarn dort bereits einen ersten Asylantrag gestellt hat und nunmehr im Rahmen des sog. Dublin-Systems überstellt werden soll.
8Vgl. OVG NRW, Urteil vom 07.03.2014 – 1 A 21/12 -, juris, Rn. 130.
9Maßgeblich ist insoweit das in Ungarn seit dem 01.07.2013 gültige Asylrechtssystem, das umfassende Gründe für die Inhaftierung von Asylbewerbern (sog. asylum detention) vorsieht. Nach dem Erkenntnisstand des beschließenden Gerichts wird von der gesetzlich vorgesehenen Inhaftierungsmöglichkeit bei Dublin-Rückkehrern nahezu flächendeckend und ohne eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung Gebrauch gemacht.
10Siehe UNHCR, Auskunft an das VG Düsseldorf vom 30.09.2014 zum Verfahren 13 K 501/14.A, zu Frage 3, S. 2, abrufbar unter http://www.frnrw.de/index.php/inhaltliche-themen/eu-fluechtlingspolitik/dublin-iii/item/3952-unhcr-stellungnahme-zur-inhaftierung-von-dublin-rueckkehrern-in-ungarn sowie in der Datenbank MILO des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge; Pro Asyl, Auskunft an das VG Düsseldorf vom 30.10.2014 zum gleichen Verfahren, zu Frage 3.b), S. 2, abrufbar in MILO.
11Von dieser Praxis sind nach neuesten Erkenntnissen, anders als offenbar früher, auch Familien betroffen. Die Inhaftierung von Familien mit Kindern ist nach ungarischem Recht für bis zu 30 Tage möglich und von dieser Möglichkeit wird seit September 2014 verstärkt bzw. – nach Angaben des UNHCR – routinemäßig und ohne Einzelfallprüfung Gebrauch gemacht.
12Vgl. die Stellungnahme des UNHCR gegenüber dem ungarischen Innenministerium vom 07.01.2015 “UNHCR comments and recommendations on the draft modification of certain migration, asylum-related and other legal acts for the purpose of legal harmonization”, S. 16, abrufbar unter http://www.unhcr-centraleurope.org/pdf/resources/legal-documents/unhcrs-views-on-central-europes-national-asylum-laws/unhcr-comments-and-recommendations-to-draft-legal-amendments.html; Pro Asyl, a.a.O., zu den Fragen 2.a), S. 1, 3.b), S. 2, 5.c), S. 4; Asylum Information Database (Aida), Country Report Hungary, Stand: 17.02.2015, S. 9; ferner schon Aida, „update on detention of families” vom 04.11.2014, beide abrufbar über die Seite www.asylumineurope.org.
13Auch Angaben des Auswärtigen Amts lässt sich entnehmen, dass Familien mit Kindern in Haft genommen werden.
14Vgl. Auskunft an das VG Düsseldorf vom 19.11.2014 zum Verfahren 13 K 501/14.A, zu den Fragen 2.b), S. 2, 5.i) und k), S. 4, abrufbar in MILO.
15Zudem bestehen nach den Erkenntnissen des Gerichts Defizite bei den Haftbedingungen wie unzureichende hygienische Verhältnisse. Ferner werden die Betroffenen außerhalb der Hafteinrichtungen, etwa auf dem Weg zum Krankenhaus oder zur Post, offenbar in Handschellen und an einer Leine geführt. Das Sicherheitspersonal ist bewaffnet und Sozialarbeiter werden im Regelfall von bewaffneten Wärtern begleitet.
16Vgl. UNHCR, Auskunft an das VG Düsseldorf vom 30.09.2014, a.a.O., zu Frage 5.a), S. 3; Pro Asyl, a.a.O., zu Frage 5.j), S. 6; Auswärtiges Amt, a.a.O., zu den Fragen 5. g) bis f) , S. 3 f.
17Hinreichend gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass sich die Haftbedingungen bei der Inhaftierung von Kindern davon maßgeblich unterscheiden und den spezifischen Bedürfnissen Minderjähriger gerecht würden, liegen dem Gericht nicht vor.
18Angesichts dieser das ungarische Asylsystem prägenden Umstände liegt unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR der Schluss nahe, dass die Inhaftierung minderjähriger Kinder zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen würde und folglich systemische Schwachstellen bestehen. Denn die Betroffenen haben insbesondere aufgrund ihres Alters, ihrer Abhängigkeit und ihres Status als Asylsuchende spezielle Bedürfnisse, denen Rechnung getragen werden muss.
19Vgl. das Urteil des EGMR vom 19.01.2012 – Nrn. 39472/07 und 39474/07 – in der Sache Popov/Frankreich, in dem eine 15-tägige Inhaftierung von Kleinkindern in Frankreich angesichts der Haftbedingungen (Polizeipräsenz, Angst vor Abschiebung, Spannungen unter den Insassen, kein kindgerechtes Mobiliar) als Verstoß gegen Art. 3 EMRK bewertet wurde.
20Schon deswegen überwiegt im vorliegenden Verfahren im Hinblick auf die minderjährigen Antragsteller zu 3. bis 8. das Aussetzungsinteresse. Diese Bewertung erstreckt sich zugleich auf deren Eltern, die Antragsteller zu 1. und 2. Denn eine Trennung der Familieneinheit wäre gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO und gemessen an dem in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK verbürgten Schutz der Familie unzulässig. Ein solches inlandsbezogenes Abschiebungshindernis ist bei der Prüfung einer auf § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG beruhenden Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen, weil die Norm ausdrücklich bestimmt, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet, „sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“, und damit nicht nur zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse erfasst.
21OVG Niedersachsen, Beschluss vom 02.05.2012 – 13 MC 22/12 –, juris, Rn. 27, unter Bezugnahme auf OVG NRW, Beschluss vom 30.08.2011 – 18 B 1060/11 –, juris; Funke-Kaiser, in: Fritz/Vormeier (Hg.), Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz, Loseblattsammlung, Bd. II, § 34a, Rn. 20 ff.
22Hinzu kommt, dass nicht nur hinsichtlich des Verfahrens der Haftanordnung, sondern auch bezüglich der Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Haftanordnung Anhaltspunkte für eine grundrechtsverletzende, insbesondere willkürliche und nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügende Inhaftierungspraxis bestehen.
23Vgl. Aida, Country Report Hungary, a.a.O., S. 9.; Stellungnahme des UNHCR gegenüber dem ungarischen Innenministerium, a.a.O., S. 14 f.; Auskunft des UNHCR an das VG Düsseldorf vom 30.09.2014 a.a.O., zu Frage 4, S. 2, und zu Frage 11, S. 6 ff; Pro Asyl, a.a.O., zu Frage 9, S. 8, und zu Frage 11, S. 9 f.
24Auch vor diesem Hintergrund schließt sich das Gericht der zur Situation in Ungarn seit der Rechtsänderung vom 01.07.2013 auf der Grundlage der jüngeren Erkenntnisse ergangenen Rechtsprechung an
25– vgl. etwa VG Bremen, Beschluss vom 01.04.2015 – 3 V 145/15 –; VG München, Beschlüsse vom 20.02.2015 – M 24 S 15.50091 – und vom 04.02.2015 – M 23 S 15.50049 –; VG Stuttgart, Beschluss vom 10.02.2015 – A 13 K 444/15 –; VG Hannover, Beschluss vom 05.02.2015 – 6 B 13190/14 –; VG Berlin, Beschluss vom 23.01.2015 – 23 L 717.14 A –; alle abrufbar in juris –,
26nach der ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Asyl- und Aufnahmeverfahren in Ungarn systemische Schwachstellen aufweist mit der Folge, dass im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes das Aussetzungsinteresse der Antragsteller gegenüber dem Abschiebungsinteresse der Antragsgegnerin überwiegt.
27Angesichts dessen ist den Antragstellern gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 114 S. 1 ZPO Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
29Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.
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Annotations
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.
(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.
(1) Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Prozesskostenhilfe sowie § 569 Abs. 3 Nr. 2 der Zivilprozessordnung gelten entsprechend. Einem Beteiligten, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann auch ein Steuerberater, Steuerbevollmächtigter, Wirtschaftsprüfer oder vereidigter Buchprüfer beigeordnet werden. Die Vergütung richtet sich nach den für den beigeordneten Rechtsanwalt geltenden Vorschriften des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes.
(2) Die Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach den §§ 114 bis 116 der Zivilprozessordnung einschließlich der in § 118 Absatz 2 der Zivilprozessordnung bezeichneten Maßnahmen, der Beurkundung von Vergleichen nach § 118 Absatz 1 Satz 3 der Zivilprozessordnung und der Entscheidungen nach § 118 Absatz 2 Satz 4 der Zivilprozessordnung obliegt dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des jeweiligen Rechtszugs, wenn der Vorsitzende ihm das Verfahren insoweit überträgt. Liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe hiernach nicht vor, erlässt der Urkundsbeamte die den Antrag ablehnende Entscheidung; anderenfalls vermerkt der Urkundsbeamte in den Prozessakten, dass dem Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen Prozesskostenhilfe gewährt werden kann und in welcher Höhe gegebenenfalls Monatsraten oder Beträge aus dem Vermögen zu zahlen sind.
(3) Dem Urkundsbeamten obliegen im Verfahren über die Prozesskostenhilfe ferner die Bestimmung des Zeitpunkts für die Einstellung und eine Wiederaufnahme der Zahlungen nach § 120 Absatz 3 der Zivilprozessordnung sowie die Änderung und die Aufhebung der Bewilligung der Prozesskostenhilfe nach den §§ 120a und 124 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 der Zivilprozessordnung.
(4) Der Vorsitzende kann Aufgaben nach den Absätzen 2 und 3 zu jedem Zeitpunkt an sich ziehen. § 5 Absatz 1 Nummer 1, die §§ 6, 7, 8 Absatz 1 bis 4 und § 9 des Rechtspflegergesetzes gelten entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Rechtspflegers der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle tritt.
(5) § 87a Absatz 3 gilt entsprechend.
(6) Gegen Entscheidungen des Urkundsbeamten nach den Absätzen 2 und 3 kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe die Entscheidung des Gerichts beantragt werden.
(7) Durch Landesgesetz kann bestimmt werden, dass die Absätze 2 bis 6 für die Gerichte des jeweiligen Landes nicht anzuwenden sind.
(1) Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Für die grenzüberschreitende Prozesskostenhilfe innerhalb der Europäischen Union gelten ergänzend die §§ 1076 bis 1078.
(2) Mutwillig ist die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung, wenn eine Partei, die keine Prozesskostenhilfe beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände von der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung absehen würde, obwohl eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.