Verwaltungsgericht Hamburg Beschluss, 10. Feb. 2014 - 19 AE 5415/13
Gericht
Tenor
Der auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gerichtete Antrag wird abgelehnt.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.
Gründe
I.
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Der Antragsteller, nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkszugehörigkeit, begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen einen Bescheid der Antragsgegnerin, der sich u.a. auf die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (im Folgenden: Dublin II-VO) stützt.
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Am 22. Mai 2013 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Gewährung von Asyl. Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung durch die Antragsgegnerin gab er an, er sei von Afghanistan mit dem Bus nach Teheran und von dort in die Türkei gefahren. Mit einem Schlauchboot sei er mit weiteren Flüchtlingen nach Griechenland gelangt. Mit gefälschten griechischen Papieren sei er sodann von Griechenland nach Deutschland geflogen. Hierauf konfrontierte die Antragsgegnerin den Antragsteller mit einem EURODAC-Treffer für Ungarn. Der Antragsteller erklärte nunmehr, er sei in Griechenland von Paschtunen verfolgt worden. Er habe deshalb zunächst auf dem Landweg ausreisen wollen und sei irgendwo festgenommen worden. Die Antragsgegnerin brach daraufhin die Anhörung ab.
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Am 26. November 2013 richtete die Antragsgegnerin hinsichtlich des Antragstellers ein Wiederaufnahmeersuchen an Ungarn gemäß Art. 16 Abs. 1 Buchst. c Dublin II-VO (vgl. Bl. 59 bis 62 der Asylakte). Diesem Wiederaufnahmeersuchen entsprach Ungarn mit Schreiben vom 2. Dezember 2013 (vgl. Bl. 64 der Asylakte).
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Mit Bescheid vom 12. Dezember 2013, dem Antragsteller persönlich zugestellt am 18. Dezember 2013, stellte die Antragsgegnerin fest, dass der Asylantrag des Antragstellers unzulässig sei und ordnete seine Abschiebung nach Ungarn an. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die sie zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts veranlassen könnten, bestünden nicht.
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Am 20. Dezember 2013 hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Klage erhoben und den vorliegenden Eilantrag gestellt: Es sei nicht ersichtlich, ob er in Ungarn als Asylberechtigter oder Flüchtling anerkannt worden sei oder Abschiebungsverbote festgestellt worden seien. Daher sei im Verfahren des Eilrechtsschutzes davon auszugehen, dass sein Asylverfahren in Ungarn noch nicht abgeschlossen sei. Die Antragsgegnerin habe die Einhaltung der 3-Monats-Frist nach Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO mit der Folge versäumt, dass sie nunmehr gemäß Satz 2 der Bestimmung selbst für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. In Ungarn sei er überdies der Gefahr der Obdachlosigkeit und mangelnder Versorgung ausgesetzt. Eine Bescheidung seines Asylantrages nach Maßgabe der unionsrechtlichen Verfahrensgarantien sei in Ungarn nicht gewährleistet.
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Der Antragsteller beantragt „gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu beschließen“,
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der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, Maßnahmen zu seiner Abschiebung nach Ungarn vorläufig bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren auszusetzen und der zuständigen Ausländerbehörde unverzüglich mitzuteilen, dass seine Abschiebung nach Ungarn vorläufig bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht durchgeführt werden darf.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid.
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Der Einzelrichter hat den Rechtsstreit - nach vorheriger Anhörung der Beteiligten unter Hinweis auf die Wiedereinführung eines Haftregimes in Ungarn zum 1. Juli 2013 (vgl. hierzu das gerichtliche Schreiben vom 8. Januar 2014) - mit Beschluss vom 23. Januar 2014 gemäß § 76 Abs. 4 Satz 2 Alt. 1 AsylVfG auf die Kammer übertragen.
II.
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Das als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (19 A 5414/13) verstandene Rechtsschutzbegehren hat keinen Erfolg. Der Antrag ist zwar zulässig (dazu unter 1.), aber unbegründet (dazu unter 2.).
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1. Der gegen die erlassene Abschiebungsanordnung (vgl. § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG) und damit auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 20. Dezember 2013 gerichtete Eilantrag ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft. Die aufschiebende Wirkung ist vorliegend gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylVfG kraft Gesetzes entfallen. Nach Änderung von § 34a Abs. 2 AsylVfG durch Art. 1 Nr. 27 Buchst. b des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3474) ist die Stellung eines Eilantrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO nicht mehr ausgeschlossen, sondern gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG (n.F.). ausdrücklich zulässig. Diese neue Bestimmung ist auch anwendbar. Sie ist nach Maßgabe von Art. 7 Satz 2 des Gesetzes am Tage nach der Verkündung in Kraft getreten. Die Verkündung des Gesetzes erfolgte am 5. September 2013.
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Der Antrag ist auch fristgemäß gestellt. Die in § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG normierte Wochenfrist hat der Antragsteller gewahrt.
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2. Der Antrag hat indes in der Sache keinen Erfolg. Der in der Hauptsache erhobenen Klage sind die erforderlichen Erfolgsaussichten abzusprechen. Damit bleibt es beim Vorrang des öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehbarkeit des streitgegenständlichen Bescheids vor dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Die Antragsgegnerin dürfte zu Recht die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn angeordnet haben.
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Die Abschiebungsanordnung findet ihre Grundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Danach ordnet das Bundesamt, sofern der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht, § 34a Abs. 1 Satz 3 AsylVfG. Hiernach ist der Erlass der Abschiebungsanordnung nicht zu beanstanden. Die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn ist rechtlich zulässig und tatsächlich möglich.
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a) Für die Durchführung des Asylverfahrens ist aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft (vgl. § 27a AsylVfG), der Vorschriften der Dublin II-VO, nicht die Antragsgegnerin, sondern Ungarn zuständig. Die Dublin II-VO findet auf den vorliegenden Fall noch Anwendung. Sie ist zwar inzwischen durch Art. 48 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-VO), aufgehoben worden. Bei dem Antrag des Antragstellers vom 22. Mai 2013 handelt es sich jedoch um einen „Altantrag“ im Sinne des Art. 49 Dublin III-VO, auf den die Kriterien der Dublin II-VO zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats weiterhin Anwendung finden.
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Nach Art. 13 Dublin II-VO ist, sofern sich anhand der Kriterien dieser Verordnung nicht bestimmen lässt, welchem Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrags obliegt, der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig. Vorliegend sind die vorrangig (vgl. Art. 5 Abs. 1 Dublin II-VO) zu prüfenden Zuständigkeitskriterien gemäß Art. 6 bis Art. 12 Dublin II-VO nicht einschlägig. Folglich verbleibt es bei der Zuständigkeit Ungarns, wo der Antragsteller ausweislich des Schreibens der ungarischen Dublin Coordination Unit vom 2. Dezember 2013 am 26. März 2013 einen – am 9. September 2013 abgelehnten – Asylantrag gestellt hat (vgl. Bl. 64 d. Asylakte).
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Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist die Zuständigkeit nicht zwischenzeitlich infolge Zeitablaufs auf die Antragsgegnerin übergegangen. Soweit Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO bestimmt, dass der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist, wenn das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten unterbreitet wird, findet diese Regelung vorliegend keine Anwendung. Mit dieser Drei-Monats-Frist ist (allein) die in Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO bestimmte Frist gemeint. Danach kann ein Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag gestellt wurde und der einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig hält, sobald wie möglich, in jedem Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Einreichung des Antrags im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Dublin II-VO den anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Asylbewerber aufzunehmen. Die Regelung des Art. 17 Dublin II-VO betrifft jedoch ausschließlich sog. Aufnahmeersuchen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. a Dublin II-VO. Danach ist der Mitgliedstaat, der nach der Dublin II-VO zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, gehalten, einen Asylbewerber, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, nach Maßgabe der Art. 17 bis 19 Dublin II-VO aufzunehmen. Hierunter fallen indes nur die Fälle derjenigen Asylbewerber, die noch keinen Asylantrag in dem ersuchten Mitgliedstaat gestellt haben. Art. 17 Abs. 1 Dublin II-VO findet hingegen keine Anwendung auf den – hier vorliegenden – Fall eines Wiederaufnahmegesuchs nach bereits in einem anderen Mitgliedstaat gestellten Asylantrag. Dafür spricht zunächst der eindeutige Wortlaut der Dublin II-VO. Die Verordnung unterscheidet klar zwischen Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren (VG Berlin, Beschl. v. 7.10.2013, 33 L 403.13 A, juris Rn. 9). Dies ergibt sich schon aus der Überschrift ihres V. Kapitels „AUFNAHME UND WIEDERAUFNAHME“. Aus der Systematik der Verordnung wird ebenfalls deutlich, dass Art. 17 Dublin II-VO ausschließlich auf Aufnahmegesuche im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. a Dublin II-VO und nicht auf Wiederaufnahmegesuche nach Art. 20 Dublin II-VO Anwendung finden soll. Die für die Wiederaufnahmeverfahren allein maßgebliche Regelung des Art. 20 Dublin II-VO enthält weder eine entsprechende Fristenregelung noch nimmt sie auf die Vorschrift des Art. 17 Abs. 1 Dublin II-VO Bezug (vgl. zum Ganzen: VG Hamburg, Beschl. 18.11.2013, 10 AE 4755/13). Vor diesem Hintergrund ist der Ansicht des Verwaltungsgerichts Düsseldorf (Beschl. v. 7.8.2012, 22 L 1158/12.A, juris 24), Art. 17 Abs. 1 Dublin II-VO wolle „alle Arten von Aufnahmeanträgen“ erfassen, nicht zu folgen. Zwar sieht sich das Verwaltungsgericht Düsseldorf in seiner Auffassung durch einen „klarstellenden“ Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für eine Neufassung der Verordnung Nr. 343/2003 vom 3. Dezember 2008, Art. 20 durch Art. 23 zu ersetzen und darin ausdrücklich für die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs eine Frist von zwei bzw. drei Monaten festzulegen, bestätigt. Tatsächlich war dieser Vorschlag jedoch nicht lediglich „klarstellender“ Natur. Insoweit ist auf Seite 6 des Dokuments zu verweisen. Für die Vorlage von Wiederaufnahmegesuchen werden danach Fristen (erstmals) „eingeführt“. Es sollte also eine Rechtsänderung erfolgen.
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b) Die Antragsgegnerin ist auch nicht mit Blick auf das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO zuständig. Danach kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum ständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin II-VO und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Entgegen der Auffassung der Antragsteller besteht vorliegend keine Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Ausübung dieses Selbsteintrittsrechts. Im Einzelnen:
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aa) Eine Verpflichtung zum Selbsteintritt ergibt sich hier nicht daraus, dass das Asylverfahren in Ungarn systemische Mängel aufweist (vgl. zu diesem Maßstab EuGH, Urt. v. 21.12.2011, C-411/10 und C-493/10, InfAuslR 2012, 108, juris Rn. 86; EuGH, Urt. v. 14.11.2013, C-4/11, NVwZ 2014, 129). Derartige Missstände sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) für Ungarn nicht anzunehmen (ebenso VGH Mannheim, Beschl. v. 6.08.2013, 12 S 675/13, juris Rn. 5; VG Magdeburg, Beschl. v. 30.09.2013, 1 B 375/13, juris Rn. 6; VG Trier, Beschl. v. 18.10.2013, 2 L 1483/13.TR, juris Rn. 21; VG Hannover, Urt. v. 7.11.2013, 2 A 4696/12, juris Rn. 30; österreichischer Asylgerichtshof, Entscheidung v. 26.11.2013, S7 438673-1/2013, Ziff. 2.7, vgl. www.ris.bka.gv.at; VG Augsburg, Beschl. v. 5.12.2013, AU 7 S 13.30454, juris Rn. 24; VG Regensburg, Kammer 5, Beschl. v. 17.12.2013, RN 5 S 13.30749, juris Rn. 18; VG Regensburg, Kammer 6, Beschl. v. 27.12.2013, RN 6 S 13.30709, juris Rn. 28; VG München, Beschl. v. 27.01.2014, M 4 S 14.30066, juris Rn. 29; VG Potsdam, Beschl. v. 29.01.2014, 6 L 29/14.A, juris Rn. 7; a.A. VG Frankfurt, Beschl. v. 24.07.2013, VG 1 L 213/13.A. juris Rn. 3). Bei Beantwortung der Frage, ob eine Abschiebung auf Grundlage der Dublin II-VO in ein anderes Land möglich ist oder dem systemische Mängel im dortigen Asylverfahren entgegenstehen, ist von Folgendem auszugehen: Die materielle Beweislast für das Vorliegen systemischer Mängel liegt beim Ausländer, nicht etwa muss das Bundesamt eine geäußerte Befürchtung, solche Mängel lägen vor, entkräften (vgl. VG Hamburg, Beschl. v. 8.01.2014, 17 AE 4953/13, juris Rn. 4; a.A. jedenfalls für das Eilverfahren VG Freiburg, Beschl. v. 28.08.2013, A 5 K 1406/13, juris Rn. 19). Einstweiliger Rechtsschutz ist auch nicht allein mit der Erwägung zu gewähren, die Klärung der vom Ausländer geäußerten Bedenken gegen die Abschiebung in ein anderes Land müsse dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben (so aber VG München, Beschl. v. 11.11.2013, M 18 S 13.31119, juris Rn. 26). Die Dublin II-VO beruht nämlich auf ähnlichen Erwägungen wie das deutsche Konzept der „normativen Vergewisserung“ hinsichtlich der Sicherheit von Drittstaaten (vgl. zu beidem VGH Mannheim, Beschl. v. 6.08.2013, 12 S 675/13, juris 3). Die Verordnung geht insbesondere von der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention aus (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, C-411/10 und C-493/10, InfAuslR 2012, 108, juris Rn. 75 ff.). Hinsichtlich der Einhaltung dieser Normen dürfen die Mitgliedstaaten einander Vertrauen entgegenbringen (EuGH a.a.O., Rn. 78 f.). Unter diesen Bedingungen muss deshalb die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht (EuGH a.a.O., Rn. 80). Eine solche Vermutung gilt allerdings nicht uneingeschränkt. Für sie besteht kein Raum mehr, wenn den Mitgliedstaaten nicht unbekannt sein kann, dass systemische Mängel des Asylverfahrens und der Bedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern in dem ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin II-VO als zuständig bestimmten Mitgliedstaat bestehen. Es müssen insoweit ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der betreffende Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden (EuGH, Urteil vom 14. November 2013, C-4/11, NVwZ 2014, 129). Von einer solchen Sachlage kann im Fall des Antragstellers nicht ausgegangen werden.
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(1) Es bestehen zunächst keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründe für die Annahme, er sei in seiner konkreten Situation in Ungarn der Gefahr der Obdachlosigkeit und mangelnder Versorgung ausgesetzt. Seine diesbezüglichen, nicht belegten Angaben bleiben unsubstantiiert. Er hat auch nicht etwa dargelegt und glaubhaft gemacht, dass er aufgrund bereits eingetretener Obdachlosigkeit und/oder mangelnder Versorgung Ungarn verlassen musste.
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(2) Es kann nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand ferner nicht angenommen werden, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr nach Ungarn entgegen unionsrechtlicher Verfahrensgarantien inhaftiert würde. Die Tatsache, dass Ungarn überhaupt eine Inhaftierung von Asylbewerbern in Betracht zieht, ist europarechtlich im Grundsatz nicht zu beanstanden. Inhaftierungen von Asylantragstellern sind in Ungarn nach Maßgabe der Gesetzesänderung ab Juli 2013 (nur noch) in gesetzlich bestimmten besonderen Fällen erlaubt (VG Potsdam, Beschl. v. 29.01.2014, 6 L 29/14.A, juris 9). Art. 8 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, gibt hierfür einen rechtlichen Rahmen. Dass dessen Grenzen durch das ungarische Recht überschritten werden, ist gegenwärtig nicht erkennbar.
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Eine tragfähige Grundlage für die Annahme eines möglicherweise als systemisch zu bewertenden Mangels durch eine ungerechtfertigte Freiheitsentziehung dürfte grundsätzlich erst dann gegeben sein, wenn kompetente Stellen wie etwa der UNHCR und das EASO (Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen, errichtet durch die Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 132 v. 29.5.2010, S. 11) einen solchen Mangel feststellen (vgl. VG Ansbach, Beschl. v. 3.12.2013, AN 11 S 13.31074, juris Rn. 22 unter Hinweis auf die Erwägungsgründe 22 und 23 sowie Art. 33 der Dublin-III VO; ihm folgend VG Hamburg, Beschl. v. 7.01.2014, 10 AE 5467/13). An entsprechenden Stellungnahmen fehlt es indes zum jetzigen Zeitpunkt:
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Im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld zur am 1. Juli 2013 in Kraft getretenen Gesetzesänderung in Ungarn hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Urteil vom 6. Juni 2013 (2283/12, http://www.refworld.org/pdfid/51b192004.pdf; auszugsweise inoffizielle Übersetzung abrufbar beim Informationsverbund Asyl & Migration) zu den seinerzeit vorliegenden Auskünften des UNHCR ausgeführt:
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"105. However, the Court notes that the UNHCR never issued a position paper requesting European Union Member States to refrain from transferring asylum-seekers to Hungary under the Dublin Regulation (compare the situation of Greece discussed in M.S.S. v. Belgium and Greece, cited above, § 195). Furthermore, the Court reiterates that the time of the assessment of whether the applicant would be at a real risk of suffering treatment contrary to Article 3 of the Convention upon a transfer to Hungary is that of the proceedings before it. With that in mind, the Court refers to the most recent note issued by the UNHCR in which it appreciatively acknowledges the planned changes to the law by the Hungarian Government and makes particular reference to the fact that transferees that immediately apply for asylum upon their arrival in Hungary will no longer be subject to detention. Moreover, the UNHCR also remarked on the reported intention of the Hungarian authorities to introduce additional legal guarantees concerning detention and to ensure unhindered access to basic facilities. It finally noted that the number of detained asylum-seekers declined significantly in 2012 (see paragraphs 48-50 above).
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106. Under those circumstances and as regards the possible detention of the applicant and the related complaints, the Court concludes that in view of the recent report made by the UNHCR, the applicant would no longer be at a real and individual risk of being subjected to treatment in violation of Article 3 of the Convention upon a transfer to Hungary under the Dublin Regulation."
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Die neue ungarische Vorschrift (vgl. hierzu http://helsinki.hu/wp-content/uploads/HHC-update-hungary-asylum-1-July-2013.pdf) kennt Verwaltungshaft
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- zur Überprüfung der Identität und Nationalität des Antragstellers.
- wenn der Asylsuchende untergetaucht ist oder die Durchführung des Asylverfahrens auf andere Art und Weise behindert.
- um notwendige Informationen zur Durchführung des Asylverfahrens zu erhalten, wenn gewichtige Gründe für die Annahme bestehen, der Asylsuchende würde das Verfahren verzögern, behindern oder untertauchen.
- zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.
- wenn der Asylantrag am Flughafen gestellt wurde.
- wenn der Antragsteller wiederholt seinen Verpflichtungen an Verfahrenshandlungen mitzuwirken nicht nachgekommen ist und damit die Durchführung eines Dublin-Verfahrens behindert.
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Die Anwendung dieser Vorschrift in der Praxis ist Gegenstand einer Untersuchung der Working Group on Arbitrary Detention des UNHCR in Ungarn in der Zeit vom 23. September bis 2. Oktober 2013 gewesen. Die UN-Experten brachten hierbei ihre Besorgnis zum Ausdruck, die Wiedereinführung des Haftregimes könne aufgrund eines unzureichenden Rechtsschutzes zu willkürlicher Inhaftierung von Asylbewerbern und illegalen Ausländern führen (www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=13817&LangID=E). Der für das Jahr 2014 angekündigte Abschlussbericht, der die seinerzeit geäußerte Besorgnis ausräumen oder bestätigen könnte, liegt aber noch nicht vor. Diesem Bericht kommt auch deshalb besonderes Gewicht zu, weil sich die rechtlichen Rahmenbedingungen in Ungarn zum 1. Januar 2014 erneut geändert haben dürften (vgl. österreichischer Asylgerichtshof, Entscheidung v. 26.11.2013, S7 438673-1/2013, Ziff. I.8, vgl. http://www.ris.bka.gv.at).
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Eine Stellungnahme von EASO zu Ungarn liegt ebenfalls nicht vor (vgl. http://easo.europa.eu/asylum-documentation/easo-publication-and-documentation/). Das Arbeitsprogramm der EASO für 2013 enthält keine Hinweise zu Ungarn; das gleiche gilt für das Arbeitsprogramm für 2014.
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Die von der Kammer weiter ausgewerteten Stellungnahmen von Nichtregierungsorganisationen führen ebenfalls nicht weiter. Die "BRIEF INFORMATION NOTE ON THE MAIN ASYLUM-RELATED LEGAL CHANGES IN HUNGARY AS OF 1 JULY 2013" des Ungarischen Helsinki Komitees zeichnet zwar ein kritisches Bild von der gesetzlichen Neuregelung; einen Beitrag zur erforderlich gehaltenen Überwachung der ungarischen Verwaltungspraxis leistet sie selbst aber nicht. Der bordermonitoring.eu e.V. weist in seiner Schrift "UNGARN: FLÜCHTLINGE ZWISCHEN HAFT UND OBDACHLOSIGKEIT Aktualisierung und Ergänzung des Berichts vom März 2012" aus dem Oktober 2013 darauf hin, dass Asylbewerber zumindest dann, wenn sie sich in Ungarn noch in einem laufenden Verfahren befinden das Inhaftierungskriterium des „Untertauchens“ bzw. der Behinderung oder Verzögerung des Asylverfahrens allein schon durch ihre Weiterwanderung erfüllt haben dürften. Ob im Regelfall tatsächlich mit einer Inhaftierung zu rechnen ist, bleibt jedoch offen (vgl. S. 10, 35). Damit kann im Fall des Antragstellers, bei dem überdies unklar ist, ob sein Verfahren überhaupt endgültig abgeschlossen oder ein Rechtbehelf eingelegt worden ist, nicht von einer drohenden rechtswidrigen Inhaftierung ausgegangen werden.
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bb) Außergewöhnliche humanitäre Gründe, wie sie die Antragsgegnerin im angefochtenen Bescheid (S. 2) – erkennbar mit Blick auf Art. 15 Dublin II-VO – anführt, machen die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach den Umständen des Einzelfalls nicht erforderlich. Das Vorliegen solcher Gründe ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
III.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
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Annotations
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.