Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Beschluss, 22. Sept. 2015 - 9a L 1873/15.A
Gericht
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
1
Die Antragstellerin ist Nigerianerin. Sie reiste am 11. Mai 2015 in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland ein. Am 27. Mai 2015 beantragte sie die Gewährung von Asyl.
2Nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - Daten der Antragstellerin in der Datenbank EURODAC gefunden hatte, richtete es unter dem 17. Juli 2015 ein Übernahmeersuchen an Ungarn. Das Bundesamt nimmt die stillschweigende Zustimmung der Republik Ungarn an.
3Mit Bescheid vom 28. August 2015 lehnte das Bundesamt daraufhin den Antrag der Antragstellerin als unzulässig ab, ordnete ihre Abschiebung nach Ungarn an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 0 Tage.
4Dieser Bescheid ging der Antragstellerin nach eigenen Angaben am 4. September 2015 zu.
5Die Antragstellerin erhob am 9. September 2015 hiergegen Klage (Az: 9a K 3897/15.A), über die noch nicht entschieden ist, und hat am selben Tag im vorliegenden Verfahren um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
6Zur Begründung ihres Eilantrages führt die Antragstellerin im Wesentlichen aus: Sie habe als von einer Unzulässigkeitsentscheidung nach Dublin III Verordnung Betroffene ein subjektives Recht darauf, die Entscheidung nach den Vorschriften der Dublin III Verordnung überprüfen zu lassen. Es lägen außergewöhnliche humanitäre Gründe vor, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen müssten, ihr Selbsteintrittsrecht auszuüben. In Ungarn lägen systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vor. In diesem Zusammenhang müsse zunächst berücksichtigt werden, dass zum 1. Juli 2013 in Ungarn eine neue Regelung des Asylverfahrensrechts in Kraft getreten sei. Diese neue Regelung sehe unter anderem vor, dass die Asylbewerber zur Feststellung ihrer Identität oder Nationalität in Haft genommen werden könnten, außerdem dann, wenn Gründe für die Annahme bestünden, dass der Asylsuchende das Asylverfahren verzögere oder vereitele. Ferner dann, wenn bei ihm Fluchtgefahr bestehe. Aufgrund der erheblich gestiegenen Asylanträge sei bei der ungarischen Regierung ein Gefühl der Bedrängnis ausgelöst worden. In Anwendung des seit dem 1. Juli 2013 geltenden Rechts komme es zu Defiziten, etwa was die Information der Asylbewerber über Rechtsschutz und Beschwerderechte gegen eine Inhaftierung angehe. Im letzten Jahr seien von rund 8000 Rechtsbeschwerden nur drei erfolgreich gewesen. Aufgrund mangelnder Wirksamkeit gesetzlich an sich vorgesehene Rechtsbehelfe gegen die Inhaftierung sowie ihre Verlängerung resultiere, dass die Haftdauer bis zu zwölf Monaten betragen könne. In der großen Aufnahmeeinrichtung in O. sei es in manchen Fällen vorgekommen, dass Asylbewerber ohne jede Berechtigung in normale Strafhaft genommen worden seien. Dies ergebe sich aus den Berichten des UNHCR und des Hungarian Helsinki Committee. Ebenso komme der Bericht von Pro Asyl zu dem Ergebnis, dass in Ungarns derzeit von systemischen Mängeln in den Aufnahmeeinrichtungen auszugehen sei. Die Gefahr werde noch größer aufgrund des massiven Anstiegs von Asylanträgen. Sollte ein Großteil der Asylantragsteller, die sich derzeit in anderen EU-Staaten aufhielten, zurück nach Ungarns überstellt werden, so wären die vorhandenen Aufnahmeeinrichtungen für Asyl Suchende keinesfalls in der Lage, eine menschenwürdige Unterbringung zu gewährleisten. Der UNHCR habe schon bereits vor dem massiven Anstieg der Flüchtlingszahlen festgestellt, dass die medizinische Versorgung unzureichend sei und dass neben den dauerhaft betriebenen Unterkünften nach Bedarf auch provisorische Einrichtungen kurzfristig zur Unterbringung von Asyl suchenden benutzt würden, die als Unterkunft für mehr als 72 Stunden ungeeignet seien und nicht einmal über ausreichende Frischluft verfügten. Mittlerweile seien zehn Personen in einem Zimmer untergebracht.
7Die Antragstellerin beantragt,
8die aufschiebende Wirkung ihrer Klage vom 9. September 2015 gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. August 2015 anzuordnen.
9Die Antragsgegnerin hat bisher keinen Antrag gestellt.
10II.
11Das Gericht entscheidet gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG durch den Einzelrichter.
12Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 9. September 2015 – 9a K 3897/15.A - ist unbegründet.
13Das Bundesamt hat den Antrag der Antragstellerin zu Recht nach § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt und geht zutreffend von der alleinigen Zuständigkeit Ungarns für deren Prüfung aus. Die Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung der Anträge ergibt sich aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III Verordnung. Die Antragstellerin wurde erstmals in Ungarn registriert. Erst anschließend gelangte sie in das Hoheitsgebiet der Antragsgegnerin. Sie hat nach ihren eigenen Angaben die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten seither nicht verlassen. In diesem Fall ist allein Ungarn für die Prüfung auf internationalen Schutz zuständig. Nach Art. 18 Abs. 1 Buchst d Dublin III Verordnung ist Ungarn verpflichtet, die Antragstellerin nach Maßgabe der Art. 23, 24, 25 und 29 der Dublin III Verordnung wieder aufzunehmen. Das Bundesamt hat Ungarn gemäß Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 der Dublin III Verordnung innerhalb von zwei Monaten nach der EURODAC-Treffermeldung im Sinne von Art. 9 Abs. 5 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 (EURODAC-Verordnung) um Wiederaufnahme der Antragstellerin ersucht. Nachdem sich Ungarn nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist hierzu verhalten hat, greift die Zustimmungsfiktion ein.
14Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf Ausübung eines Selbsteintrittsrechts der Antragsgegnerin im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Dublin III Verordnung.
15Ausgehend von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - EuGH - kann ein Mitglied- oder Vertragsstaat unter bestimmten Umständen dazu verpflichtet sein, von der Rückführung in den an sich zuständigen Mitgliedstaat abzusehen. Das ihm insofern eingeräumte Ermessen ist Teil des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und stellt ein Element des gemeinsamen europäischen Asylsystems dar. Bei der Ermessensausübung führt der Mitgliedstaat daher Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Europäischen Grundrechtecharta - EUGrdRCh - aus. Das gemeinsame europäische Asylsystem stützt sich auf eine uneingeschränkte und umfassende Anwendung nicht nur der EUGrdRCh selbst, sondern auch der Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Art. 18 EUGrdRCh und Art. 78 AEUV). Alle Mitgliedstaaten müssen bei ihrer Entscheidung, ob sie von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen, diese Grundsätze beachten.
16Vergleiche ausführlich EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u. a. -, NVwZ 2012, 417; Urteil vom 14. November 2013 - C-4/11 -, NVwZ 2014, 170; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 -, juris Rn. 18; OVG Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris Rn. 28 ff..
17Unter Berücksichtigung dessen fehlt es an einem Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen, unter denen nach der Rechtsprechung des EuGH eine Durchbrechung des den Bestimmungen der Dublin III Verordnung zugrunde liegenden Systems des gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt wäre. Denn dies würde voraussetzen, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen in Ungarn auf Grund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär wären, dass anzunehmen wäre, dass der Antragstellerin im konkreten Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
18BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6/14 -, juris.
19Systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber liegen gemessen hieran in Ungarn zur Überzeugung des Gerichts nicht vor. „Systemische" Mängel in diesem Sinne können erst angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 EUGrdRCh bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) entsprechenden Gravität nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des EuGH dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können. Die im gemeinsamen europäischen Asylsystem grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend beachtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 EUGrdRCh implizieren.
20EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 u.a. -, NVwZ 2012, 417.
21Eine Widerlegung der Vermutung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des gemeinsamen europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Das Gericht muss sich vielmehr die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass ein Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
22Vergleiche BVerwG, Urteil vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, NVwZ 2014, 1039.
23Bei der Bewertung der in Ungarn anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind dabei vorliegend diejenigen Umstände heranzuziehen, die auf die Situation der Antragstellerin zutreffen. Abzustellen ist demnach auf die Situation von Flüchtlingen in einer vergleichbaren rechtlichen oder tatsächlichen Lage, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Umständen keine unmittelbare Rolle spielt. Sie kann allenfalls ergänzend herangezogen werden, sofern sich diese Umstände auch auf die Situation der Antragstellerin auswirken können.
24Vergleiche OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12 -, juris).
25Damit ist vorliegend in erster Linie die Situation von Dublin-Rückkehren zu betrachten, die - wie die Antragstellerin - vor ihrer Ausreise aus Ungarn dort bereits einen ersten Asylantrag gestellt haben, über den materiell noch nicht entschieden worden ist.
26Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage in dem zuständigen Mitgliedstaat sind nach der Rechtsprechung des EuGH im Übrigen die regelmäßigen und übereinstimmenden Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen, Berichte der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems und Berichte des UNHCR zur Lage von Flüchtlingen und Migranten vor Ort
27Vergleiche EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C 411/10 u.a. -, NVwZ 2012, 417.
28Letzteren Informationen kommt bei der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems in dem nach der Dublin III Verordnung zuständigen Mitgliedstaat besondere Relevanz zu. Dies entspricht der Rolle, die dem Amt des UNHCR durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden ist, wobei letztere bei der Auslegung der unionsrechtlichen Asylvorschriften zu beachten ist.
29EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013 - C 528/11 -, juris.
30Für die Frage, ob in Ungarn "systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber" im Sinne der zitierten Rechtsprechung vorliegen, kommen nur solche Auskünfte und Berichte der genannten Organisationen in Betracht, die sich mit der Sach- und Rechtslage in Ungarn seit dem 1.7.2013 befassen. Denn für den Zeitraum bis zum 30.6.2013, insbesondere ab dem 1.1.2013, ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte davon auszugehen, dass die in den Jahren bis 2012 festgestellten Mängel des ungarischen Asylsystems und der Aufnahmebedingungen durch zwischenzeitliche weitreichende tatsächliche und rechtliche Verbesserungen, insbesondere die vorübergehende Abschaffung der Inhaftierungsmöglichkeiten für Asylbewerber mit Wirkung zum 1.Januar 2013, entfallen sind.
31EGMR, Urteil vom 6. Juni 2013 - 2283/12 -, juris.
32Zum 1. Juli 2013 wurde das Asylsystem Ungarns allerdings erneut verändert. Insbesondere wurden erneut umfassende Gründe für eine Inhaftierung von Asylbewerbern, sog. asylum detention - eine durch die für das Asylverfahren zuständige Behörde angeordnete Verwaltungshaft - in das Asylrecht aufgenommen.
33Der EGMR, dessen Rechtsprechung auf der Ebene des (nationalen) Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dienen kann,
34so BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 - 2 BvR 1481/04 -, juris,
35und dessen Rechtsprechung maßgeblich für die Auslegung der Menschenrechte der EMRK ist, hat das Vorliegen systemischer Mängel in Ungarn unter Berücksichtigung der veränderten Rechtslage verneint,
36siehe EGMR, Urteil vom 3. Juli 2014 - 71932/12 -, Mohammadi gegen Österreich, Rn. 68 bis 70.
37Nach Auswertung der Auskünfte des UNHCR, des Auswärtigen Amtes und von Pro Asyl - welche dem EGMR bei seiner Entscheidung nicht vorlagen - kann nicht festgestellt werden, dass in Abweichung hiervon die Antragstellerin Gefahr liefe, nach einer Abschiebung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGrdRCh bzw. im Sinne von Art. 3 EMRK zu unterfallen.
38Gemäß Art 4 EuGrdRCh und Art. 3 EMRK sind Folter und unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung untersagt. Eine Behandlung ist dann „unmenschlich", wenn sie vorsätzlich und ohne Unterbrechung über Stunden zugefügt wird und entweder körperliche Verletzungen oder intensives physisches oder psychisches Leid verursacht. Demgegenüber ist „erniedrigend", wenn eine Behandlung eine Person demütigt, sie es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt oder diese herabsetzt oder wenn in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt werden, die geeignet sind, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen. Dabei kann ausreichen, dass ein Opfer in seinen Augen erniedrigt ist, auch wenn andere das nicht so sehen. Ob es Zweck der Behandlung ist, das Opfer zu erniedrigen oder zu demütigen, ist zu berücksichtigen, aber auch wenn das nicht gewollt ist, ist eine Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK nicht zwingend ausgeschlossen,
39so EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, NVwZ 2011, 413.
40Eine solche systemisch angelegte Behandlung der Antragstellerin kann nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht festgestellt werden. Zwar mag zutreffend sein, dass eine Vielzahl von sog. „Dublin-Rückkehrer" inhaftiert werden,
41vergleiche etwa Auskunft des UNHCR an das VG Düsseldorf v. 30. September 2014 zu Frage 3; Auskunft von Pro Asyl an das VG Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 3 b.
42Jedoch begründet die Tatsache, dass das ungarische Asylrecht seit der erneuten Rechtsänderung zum 1. Juli 2013 - wieder - Inhaftierungsgründe für Asylbewerber enthält und Ungarn auf dieser Grundlage praktisch alle Dublin-Rückkehr - so der UNHCR - bzw. regelmäßig, allerdings nicht sämtliche Dublin-Rückkehrer - so Pro Asyl - inhaftiert, für sich genommen noch keinen begründeten Anhaltspunkt für das Vorliegen systemischer Mängel des Asylsystems. Vielmehr verpflichtet Art. 3 EMRK die Mitgliedstaaten, sich zu vergewissern, dass die Bedingungen der Haft mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigt, und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Haft angemessen sichergestellt sind.
43Vergleiche EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, juris, und vom 15. Juli 2002 - 47095/99 -, juris.
44Die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (AufnahmeRL), enthält für die Inhaftierung von Asylbewerbern Mindeststandards, zu denen auch die Benennung von Haftgründen gehört. Anhaltspunkte dafür, dass diese Mindeststandards ihrerseits nicht genügen, um die Asylbewerber vor einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zu schützen, liegen dem Gericht nicht vor. Danach darf Haft nicht allein deswegen angeordnet werden, weil der Betroffene einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes gestellt hat, sondern nur in Ausnahmefällen, insbesondere zur Überprüfung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit, im Falle notwendiger Beweissicherung, insbesondere bei Fluchtgefahr, zur Prüfung des Einreiserechts, zur Durch- oder Fortführung eines Abschiebeverfahrens, wenn die Gefahr der Verzögerung oder der Vereitelung durch den Betroffenen besteht und bei Gefahr für die nationale Sicherheit und Ordnung (Art. 8 Abs. 1 und 3 AufnahmeRL). Die Inhaftierung darf nur für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange, wie die Gründe gemäß Art. 8 Abs. 3 AufnahmeRL bestehen, angeordnet werden (Art. 9 Abs. 1 Satz 1 AufnahmeRL). Die Haftanordnung ist zu begründen (Art. 9 Abs. 2 AufnahmeRL); bei einer Anordnung durch eine Verwaltungsbehörde ist eine zügige Überprüfung durch ein Gericht herbeizuführen (Art. 9 Abs. 3 AufnahmeRL). In diesem Fall soll dem Betroffenen unentgeltlicher Rechtsbeistand zur Verfügung stehen (Art. 9 Abs. 6 AufnahmeRL). Auch im Übrigen ist eine turnusmäßige Haftüberprüfung von Amts wegen vorzusehen (Art. 9 Abs. 5 AufnahmeRL). Die Schutzsuchenden sind in speziellen Hafteinrichtungen unterzubringen, auf jeden Fall aber getrennt von gewöhnlichen Strafgefangenen (Art. 10 Abs. 1 AufnahmeRL). Die Inhaftierung von besonders schutzbedürftigen Personen ist nur im Ausnahmefall und unter weiteren sehr eingeschränkten Bedingungen zulässig (Art. 11 AufnahmeRL). So darf etwa gemäß § 31/B Abs. 1 Asylum Act Hungary eine Inhaftierung nicht alleine deswegen erfolgen, weil ein Antragsteller einen Asylantrag gestellt hat. Die in § 31/A Abs. 1 Asylum Act Hungary genannten Haftgründe entsprechen ganz überwiegend denen des Art. 8 Abs. 3 der AufnahmeRL; insbesondere wird auch die Fluchtgefahr als ein Haftgrund genannt (Buchstabe c). Dabei darf entsprechend den Vorgaben der AufnahmeRL nach § 31/A Abs. 3 Asylum Act Hungary eine Inhaftierung nur aufgrund einer individuellen Ermessensentscheidung erfolgen und nur, wenn nicht durch andere Maßnahmen sichergestellt werden kann, dass der Asylbewerber sich dem Asylverfahren nicht entzieht. Unbegleitete Minderjährige dürfen gemäß § 31/B Absatz 2 Asylum Act Hungary nicht inhaftiert werden; Familien mit Minderjährigen dürfen nur als letzte Möglichkeit inhaftiert werden, wobei das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist. Gemäß § 31/A Abs. 10 Asylum Act Hungary soll Asylhaft nur in speziellen Einrichtungen vollzogen werden. Dabei soll die Inhaftierung von Männern und Frauen sowie Familien mit Minderjährigen jeweils getrennt erfolgen (§ 31/F Abs 1 Asylum Act Hungary). Die zulässige Höchstdauer von Asylhaft regelt § 31/A Abs 7 Asylum Act Hungary. Danach soll die Haft maximal sechs Monate dauern; bei Familien mit Kindern nicht länger als 30 Tage. Gemäß § 31/A Abs 6 Asylum Act Hungary kann die Flüchtlingsbehörde innerhalb von 24 Stunden seit der Haftanordnung die Verlängerung der Inhaftierung auf mehr als 72 Stunden bei dem örtlich zuständigen Amtsgericht beantragen. Das Gericht kann die Haftdauer sodann auf höchstens 60 Tage verlängern. Eine Verlängerung auf weitere 60 Tage ist nach einem erneuten Antrag der Flüchtlingsbehörde durch das zuständige Amtsgericht möglich. Hieraus folgt, dass eine Überprüfung der Inhaftierung von Amts wegen nach 72 Stunden und anschließend nach 60 Tagen erfolgt. Darüber hinaus besteht gemäß § 31/C Abs. 3 Asylum Act Hungary die Möglichkeit gegen die Inhaftierung Einspruch einzulegen. Gemäß § 31/E Abs. 1 Asylum Act Hungary sollen inhaftierte Asylbewerber über ihre Rechte und Pflichten in ihrer Muttersprache oder einer anderen Sprache, die sie verstehen können, informiert werden. Gemäß § 31/D Abs. 4 Asylum Act Hungary soll das Gericht einen Vormund bestellen, wenn der Asylbewerber kein ungarisch spricht und nicht in der Lage ist seine Vertretung durch einen Bevollmächtigten sicherzustellen. § 31/A Abs. 8 Asylum Act Hungary zählt schließlich auf, in welchen Fällen die Inhaftierung unverzüglich zu beenden ist. Danach endet die Haft unter anderem, wenn der Haftgrund entfallen ist,
45so auch VG Düsseldorf, Beschluss vom 15. April 2015 - 13 L 1259/15.A -, juris.
46Es fehlt an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass die ungarischen Behörden diese Vorgaben bei ihrer Entscheidung über die Inhaftierung von Asylbewerbern - speziell Dublin-Rückkehrern - nicht nur in Einzelfällen, sondern systemisch nicht beachten und sich hieraus eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im oben genannten Sinne ergibt.
47Die Antragstellerin hat solche Anhaltspunkte vorliegend auch nicht substantiiert vorgetragen, sondern sich - unter Bezugnahme auf verschiedene Entscheidungen anderer bundesdeutscher Verwaltungsgerichte - darauf beschränkt, ihnen drohe als „Dublin-Rückkehrer" eine willkürliche und unverhältnismäßige Inhaftierung. Auf Grund der vorhergehenden Darlegungen vermag dies nicht zu überzeugen.
48Soweit zuletzt in asylverfahrensrechtlichen Eilentscheidungen systemische Mängel des ungarischen Asylverfahrens im Hinblick auf aktuelle Äußerungen ungarischer Politiker, insbesondere des ungarischen Ministerpräsidenten, angenommen wurden,
49vergleiche nur VG Saarbrücken, Beschluss vom 12. August 2015 - 3 L 776/15 -; VG Kassel, Beschluss vom 7. August 2015 - 3 L 1303/15.KS.A -, VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 - 3 K 2005/15.A -, jeweils juris,
50fällt zunächst auf, dass in diesen die oben zitierte Rechtsprechung im Wesentlichen ignoriert wird und ein anderer Maßstab für die Annahme systemischer Mängel den Entscheidungen zugrunde gelegt wird. Teilweise wird auf eine Begründung hierfür sogar gänzlich verzichtet. Es wird insbesondere verkannt, dass systemische Mängel erst bei einer reellen Unfähigkeit des gesamten Verwaltungsapparats zur Beachtung des Art. 4 EuGrdRCh bestehen, was gleichbedeutend ist mit strukturellen Störungen, die ihre Ursache im Gesamtsystem des nationalen Asylverfahrens haben. Die im jeweiligen nationalen Asylsystem festzustellenden Mängel müssen so gravierend sein, dass sie nicht lediglich singulär oder zufällig sind, sondern in einer Vielzahl von Fällen zu der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen. Dies kann einerseits darauf beruhen, dass die Fehler bereits im System selbst angelegt sind, andererseits aber auch daraus folgen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Asylsystem - mit Blick auf seine empirisch feststellbare Umsetzung in der Praxis - in weiten Teilen auf Grund größerer Funktionsstörungen regelhaft defizitär ist und funktionslos wird,
51so zuletzt zutreffend VG Augsburg, Urteil vom 3. August 2015 - Au 5 K 15.50347 -, juris, unter Verweis auf BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, juris, und Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 - juris; VGH Baden–Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 - A 11 S 1778/14 - juris; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris; OVG Rheinland–Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 - 10 A10656/13 - juris.
52Dieser Auffassung schließt sich die Kammer an.
53Gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG bestehen ebenfalls keine Bedenken, insbesondere ist für ein innerstaatliches Abschiebungshindernis nichts dargetan.
54Durch die Befristungsentscheidung ist die Antragstellerin nicht belastet.
55Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei.
56Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
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Annotations
(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.
(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.