Verwaltungsgericht Düsseldorf Beschluss, 27. Aug. 2014 - 14 L 1786/14.A
Gericht
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 14 K 5088/14.A gegen die in Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2014 enthaltene Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
Die Kosten des Verfahrens, für das keine Gerichtskosten erhoben werden, trägt die Antragsgegnerin.
1
Gründe:
2Der am 05.08.2014 bei Gericht sinngemäß gestellte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 14 K 5088/14.A gegen die in Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25.07.2014 enthaltene Abschiebungsanordnung anzuordnen,
4hat Erfolg.
5Der Antrag ist zulässig.
6Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO ist – wie sich auch aus § 34a Abs. 2 Satz 1 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) ergibt – der statthafte Rechtsbehelf. Die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG stellt einen belastenden Verwaltungsakt dar, dessen Aufhebung im Hauptsacheverfahren im Wege der Anfechtungsklage von dem Betroffenen verfolgt werden kann.
7Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.03.2014 – 1 A 21/12.A –, Rn. 28 ff., juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 25.08.2014 – 14 L 1853/14.A –; VG Düsseldorf, Urteil vom 17.04.2014– 14 K 482/14.A –, Rn. 20 ff., juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 23.04.2013 – 17 K 4548/12.A –, Rn. 15 ff., juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 14.07.2014 – 17 L 1193/14.A –, Rn. 5, juris.
8Der in der Hauptsache erhobenen Anfechtungsklage kommt gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylVfG kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung zu.
9Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wurde auch fristgemäß im Sinne von § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe gestellt. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 25.07.2014 wurde dem Antragsteller ausweislich der vorliegenden Postzustellungsurkunde unter der von ihm mitgeteilten Anschrift gemäß § 10 Abs. 5 AsylVfG, § 3 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG), § 181 Zivilprozessordnung (ZPO) am 30.07.2014 ordnungsgemäß im Wege der Ersatzzustellung zugestellt und damit bekanntgegeben (§ 2 Abs. 1 VwZG). Die Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG wurde folglich durch den am 05.08.2014 gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gewahrt.
10Der Antrag ist auch begründet.
11Das Gericht geht vorliegend davon aus, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der fristgemäß erhobenen Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unzulässig oder unbegründet gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Denn eine derartige Einschränkung der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis hat der Gesetzgeber für die Fälle des § 34a Abs. 2 AsylVfG gerade nicht normiert.
12Vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 25.08.2014 – 14 L 1853/14.A –; VG Düsseldorf, Beschluss vom 16.06.2014 – 13 L 141/14.A –, Rn. 7, juris, m.w.N.; VG Trier, Beschluss vom 18.09.2013– 5 L 1234/13.TR –, Rn. 5 ff., juris; VG Göttingen, Beschluss vom 17.10.2013 – 2 B 844/13 –, Rn. 7, juris.
13Die danach vorzunehmende Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers hat sich maßgeblich an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren, wie diese sich bei summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren abschätzen lassen.
14Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zu Gunsten des Antragstellers aus. Denn im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) kann bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung nicht abschließend festgestellt werden, ob die angegriffene Entscheidung des Bundesamtes, den Asylantrag des Antragstellers gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abzulehnen und gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG seine Abschiebung nach Ungarn anzuordnen, rechtmäßig ist oder nicht. Die Erfolgsaussichten der in der Hauptsache erhobenen Klage sind aus den nachfolgenden Gründen vielmehr als offen zu bezeichnen. Eine Klärung muss insoweit dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Eine Abwägung der widerstreitenden Interessen, nämlich einer Gefährdung der Rechtsgüter des Antragstellers einerseits und des nur zeitlich gefährdeten Abschiebungsinteresses der Antragsgegnerin andererseits, führt aber bei offenem Ausgang der streitigen Frage zu einem Überwiegen des Aussetzungsinteresses des Antragstellers. Denn jenes Interesse hat gegenüber dem Anspruch des Antragstellers auf einen Schutz entsprechend den im Europäischen Gemeinschaftsrecht vereinbarten Mindeststandards zurückzutreten.
15Vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 16.06.2014 – 13 L 141/14.A –, Rn. 9, juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 28.05.2014 – 13 L 172/14.A –, Rn. 9, juris.
16Rechtsgrundlage für die angegriffene Entscheidung des Bundesamtes ist § 27a AsylVfG, wonach ein in Deutschland gestellter Asylantrag als unzulässig abzulehnen ist, wenn die Zuständigkeit eines anderen Staates aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens vorliegt. In einem solchen Fall prüft die Antragsgegnerin den Asylantrag nicht, sondern ordnet gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung in den zuständigen Staat an.
17Die Antragsgegnerin ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass Ungarn vorliegend der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Mitgliedstaat ist.
18Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates ist die Dublin-III-VO,
19Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Neufassung, ABl. L 180 vom 29. Juni 2013, S. 31,
20da sowohl der Asylantrag vom 30.01.2014 als auch das an Ungarn gerichtete Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin vom 08.04.2014 nach dem 01.01.2014 (erster Tag des sechsten Monats nach Inkrafttreten der Dublin-III-VO am 19.07.2013 als dem 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung am 29.06.2013, Art. 49 Abs. 1 Dublin-III-VO), dem gemäß Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO für die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Dublin-III-VO maßgeblichen Zeitpunkt, gestellt worden sind.
21Nach den Vorschriften der Dublin-III-VO ist Ungarn der zuständige Staat für die Prüfung des durch den Antragsteller gestellten Asylantrags. Der Antragsteller hat ausweislich seiner Angaben gegenüber dem Bundesamt anlässlich der Befragungen am 30.01.2014 und 04.02.2014 angegeben, sich vor seiner Einreise nach Deutschland u.a. in Ungarn aufgehalten zu haben. Die Angaben des Antragstellers zu seinem Aufenthalt in Ungarn werden bestätigt durch die vom Bundesamt unter dem 27.02.2014 durchgeführte Eurodac-Anfrage. Denn diese ergab für Ungarn einen Eurodac-Treffer der Kategorie „1“ (Kennzeichnung für illegal Eingereiste mit Status des Asylbewerbers).
22Vgl. zur Eurodac-Kategorisierung: Entscheiderbrief 1/2012, S. 1 f.
23Wie der Übernahmeerklärung der ungarischen Behörden (Office of Immigration and Nationality) vom 10.04.2014 zu entnehmen ist, hat der Antragsteller bereits am 12.05.2013 in Ungarn einen Asylantrag gestellt.
24Die Antragsgegnerin richtete im Hinblick auf die Eurodac-Treffermeldung innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO bestimmten Frist von zwei Monaten am 08.04.2014 gemäß Art. 23 Abs. 1 Dublin-III-VO ein Wiederaufnahmegesuch an Ungarn. Diesem Wiederaufnahmegesuch der Antragsgegnerin wurde seitens der ungarischen Behörden mit Schreiben vom 10.04.2014 auf Grundlage von Art. 25 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1 lit. b) Dublin-III-VO entsprochen und die Wiederaufnahme akzeptiert. Damit ist Ungarn grundsätzlich verpflichtet, den Antragsteller nach Maßgabe der in Art. 29 Dublin-III-VO geregelten Modalitäten und Fristen wieder aufzunehmen.
25Ungeachtet der grundsätzlichen Zuständigkeit Ungarns für die Durchführung des Asylverfahrens ist es jedoch derzeit als offen anzusehen, ob der Antragsteller deshalb nicht nach Ungarn abgeschoben werden darf, weil systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) bzw. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgesetzt zu werden.
26Hierzu hat die 13. Kammer des erkennenden Gerichts mit Beschlüssen vom 16.06.2014 und 28.05.2014,
27vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 16.06.2014 – 13 L 141/14.A –, Rn. 24 ff., juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 28.05.2014 – 13 L 172/14.A –, Rn. 24 ff., juris,
28folgendes ausgeführt:
29„[…] Allerdings bedarf es vorliegend weiterer - dem Hauptsacheverfahren vorbehaltener - Aufklärung, ob die Antragsgegnerin deshalb an der Überstellung des Antragstellers nach Ungarn gehindert ist, weil das ungarische Asylsystem systemische Mängel im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs aufweist,
30EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C/411/10 et al. -, juris Rn 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, NVwZ 2011, 413.
31Zwar besteht kein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch die Bundesrepublik Deutschland. Denn die Dublin-Verordnungen sehen ein nach objektiven Kriterien ausgerichtetes Verfahren der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten vor. Sie sind im Grundsatz nicht darauf ausgerichtet, Ansprüche von Asylbewerbern gegen einen Mitgliedstaat auf Durchführung des Asylverfahrens durch ihn zu begründen. Ausnahmen bestehen allenfalls bei einzelnen, eindeutig subjektiv-rechtlich ausgestalteten Zuständigkeitstatbeständen (vgl. etwa Art. 7 Dublin II-VO zugunsten von Familienangehörigen). Die Zuständigkeitsvorschriften der Dublin II-VO begründen zum Zwecke der sachgerechten Verteilung der Asylbewerber vor allem subjektive Rechte der Mitgliedstaaten untereinander. Die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an einen bestimmten Staat hindert daher nur die Überstellung dorthin; sie begründet kein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Antragsgegnerin,
32vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013 - C 4/11-, juris Rn 37; Schlussanträge des GA Jääskinnen vom 18. April 2013 - C 4/11-, juris Rn 57 f..
33Eine Rückführung von Asylbewerbern in einen anderen Mitgliedstaat im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens ist aber - unabhängig von der Frage der Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Artikel 3 Absatz 2 Dublin II-VO - dann unzulässig, wenn systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass Asylbewerber tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Artikel 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden,
34EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris Rn 94.
35Die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend achtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Artikel 4 GrCh implizieren,
36EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris Rn 86.
37Systemische Mängel in diesem Sinne können erst angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK entsprechenden Gravität nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können,
38EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris Rn 94.
39Der hier noch nicht anzuwendende Art. 3 Absatz 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO hat diese Rechtsprechung normativ übernommen, indem er die Überstellung an den an sich zuständigen Mitgliedstaat für unmöglich erklärt, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtscharta mit sich bringen.
40Bei der Bewertung der in Ungarn anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind dabei vorliegend diejenigen Umstände heranzuziehen, die auf die Situation des Antragstellers zutreffen. Abzustellen ist demnach auf die Situation von Flüchtlingen in einer vergleichbaren rechtlichen oder tatsächlichen Lage, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Umständen keine unmittelbare Rolle spielt. Sie kann allenfalls ergänzend herangezogen werden, sofern sich diese Umstände auch auf die Situation des Antragstellers auswirken (können),
41vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12 -, juris, Rn 130.
42Damit ist vorliegend in erster Linie die Situation von Dublin-Rückkehren zu betrachten, die wie der Antragsteller vor der Ausreise aus Ungarn dort bereits einen ersten Asylantrag gestellt haben, über den materiell noch nicht entschieden worden ist.
43Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage in dem zuständigen Mitgliedstaat sind nach der Rechtsprechung des EuGH im Übrigen die regelmäßigen und übereinstimmenden Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen, Berichte der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems und Berichte des UNHCR zur Lage von Flüchtlingen und Migranten vor Ort,
44vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C 411/10 et. al. -, juris, Rn 90 ff..
45Letzteren Informationen kommt bei der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems in dem nach der Dublin II-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat besondere Relevanz zu. Dies entspricht der Rolle, die dem Amt des UNHCR durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden ist, wobei letztere bei der Auslegung der unionsrechtlichen Asylvorschriften zu beachten ist,
46vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013 - C 528/11 -, juris, Rn 44.
47Für die Frage, ob in Ungarn "systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber" im Sinne der zitierten Rechtsprechung vorliegen, kommen dabei allerdings vorliegend von vorne herein nur solche Auskünfte und Berichte der genannten Organisationen in Betracht, die sich mit der Sach- und Rechtslage in Ungarn seit dem 1. Juli 2013 befassen. Für den Zeitraum bis zum 30. Juni 2013, insbesondere ab dem 1. Januar 2013, ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte davon auszugehen, dass die in den Jahren bis 2012 festgestellten Mängel des ungarischen Asylsystems und der Aufnahmebedingungen durch zwischenzeitliche weitreichende tatsächliche und rechtliche Verbesserungen, insbesondere die vorübergehende Abschaffung der Inhaftierungsmöglichkeiten für Asylbewerber mit Wirkung zum 1. Januar 2013, entfallen sind,
48vgl. EGMR, Urteil vom 6. Juni 2013 - 2283/12-, Rn 105, Mohammed gegen Österreich, in Auszügen veröffentlicht unter asyl.net.
49Zum 1. Juli 2013 wurde das Asylsystem Ungarns allerdings erneut verändert. Insbesondere wurden erneut umfassende Gründe für die Inhaftierung von Asylbewerbern, sog. asylum detention - eine durch die für das Asylverfahren zuständige Behörde angeordnete Verwaltungshaft - in das Asylrecht aufgenommen. Pro Asyl und das Hungarian Helsinki Committee kritisierten in ihren ersten Stellungnahmen zu den am 1. Juli 2013 in Kraft getretenen Rechtsänderungen frühzeitig die Unbestimmtheit der Haftgründe und die hierdurch bestehende Gefahr erheblicher Rechtsunsicherheiten und äußerten die Befürchtung, dass in Ungarn die Inhaftierung von Asylantragstellern auf dieser Grundlage erneut zum Regelfall werde, zumal die rechtlich zur Verfügung stehenden Alternativen zur Haft, wie etwa Kautionsleistungen oder regelmäßige Meldepflichten, nach ihren Voraussetzungen so ungenau formuliert seien, dass diese voraussichtlich keine Anwendung finden würden. Ferner wurde kritisiert, dass gegen die Anordnung der Haft keine selbständigen Rechtsbehelfe zur Verfügung stünden, sondern eine Überprüfung lediglich in einem automatischen gerichtlichen Verfahren alle 60 Tage erfolge,
50vgl. Pro Asyl, bordermonitoring.eu, Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Aktualisierung und Ergänzung des Berichts vom März 2012 von Oktober 2013, abrufbar unter www.proasyl.de; Hungarian Helsinki Committee, Brief Information Note on the main asylum-related legal changes in hungary as of 1 July 2013, S. 2 und 3, abrufbar unter http://www.helsinki.hu/wp-content/uploads/HHC-udate-hungary-asylum-1-July-2013.pdf; Hungarian Helsinki Committee, Briefing Paper fort he Working Group on Arbitrary Detention, UN Commission of Human Rights vom 8. Oktober 2013, Kapitel 7 "Detention of migrants", S. 17 f., abrufbar unter http://www.helsinki.hu.
51Die genannten Berichte beruhen allerdings im Wesentlichen auf einer Auswertung der geänderten Rechtslage selbst, während Erkenntnisse zur konkreten Handhabung dieser Regelungen durch Ungarn angesichts des Zeitpunkts der Erstellung der Berichte kurz nach der Rechtsänderung naturgemäß noch nicht vorlagen. In der Folgezeit wurden seitens dieser Organisationen zunächst keine weiteren Erkenntnisse zur Rechtspraxis in Ungarn veröffentlicht.
52Dementsprechend gelangte die überwiegende verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung bislang zu der Einschätzung, dass die in diesen Erkenntnismitteln geäußerten Befürchtungen und vorläufigen Schlussfolgerungen auch unter Berücksichtigung der früheren Praxis in Ungarn noch kein hinreichender Beleg für eine systemische unionsrechtswidrige Asylpraxis in Ungarn seien und selbst dann, wenn es infolge der in Kraft getretenen Neuregelungen des Asylverfahrens nach dem 1. Juli 2013 zu einzelnen Missständen gekommen sein sollte, sich daraus jedenfalls für das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn - noch - keine "systemischen Mängel" ergeben,
53vgl. beispielhaft für die ablehnende Rechtsprechung, alle mit weiteren Nachweisen: Verwaltungsgericht Augsburg, Beschluss vom 14. Mai 2014 - Au 7 S 14.50092 -, juris, Rn 26, 31 ff. m.w.N.; Verwaltungsgericht Bremen, Urteil vom 25. April 2014 - 4 K 2131/13.A -, juris; Verwaltungsgericht Regensburg, Beschluss vom 2. Mai 2014 - RN 8 S 14.50083-, juris, Rn 20; Verwaltungsgericht Würzburg, Beschluss vom 28. März 2014 - W 1 S 14.30145 - , juris, Rn 17, m.w.N.; Verwaltungsgericht Frankfurt, Beschluss vom 25. Februar 2014 - 8 L 428/14.F.A -, juris, Rn 10 f.; die Frage als offen und aufklärungsbedürftig bezeichnend: Verwaltungsgericht Freiburg, Beschluss vom 28. August 2013 - A 5 K 1406/14 -, juris, Rn 16 ff.; Verwaltungsgericht München, Beschluss vom 23. Dezember 2013 - M 23 S 13.31303 -, juris, Rn 16 f.; Verwaltungsgericht München, Beschluss vom 11. Februar 2014 - M 24 S 13.31330 -, juris, Rn 51 ff.; Verwaltungsgericht Kassel, Beschluss vom 17. Februar 2014 - 6 L 122/14.KS.A -, n.V.
54Auf der Grundlage einer im vorliegenden Verfahren eingeholten aktuellen Auskunft des UNHCR vom 9. Mai 2014 zur Rechtsanwendungspraxis in Ungarn bezüglich der neuen Haftgründe sowie aufgrund der Angaben im aktuell veröffentlichten aida Länderbericht,
55aida, Asylum Information Database, National Country Report Hungary, Stand: 30. April 2014, abrufbar unter http://www.asylumineurope.org/files/report-download/aida_-_hungary_second_update_final_uploaded_0.pdf,
56ergeben sich bei der im vorläufigen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung allerdings ernst zu nehmende - hinsichtlich der Schwere und Offensichtlichkeit aber noch weiter aufklärungsbedürftige - Anhaltspunkte für eine mit Artikel 3 EMRK bzw. Artikel 4 GrCh nicht in Einklang stehende Inhaftierungspraxis Ungarns.
57Dabei geht das Gericht bei der Bewertung der aktuellen Erkenntnismittel von den sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergebenden Maßstäben für eine Verletzung von Artikel 3 EMRK bzw. Artikel 4 GrCh aus.
58In seinem Urteil vom 21. Januar 2011 hat der Gerichtshof eine Überstellung nach Griechenland als nicht mit Artikel 3 EMRK vereinbar angesehen, da die systematische Inhaftierung von Asylbewerbern, gerade auch solcher, die - wie der Antragsteller - nicht das Bild eines illegalen Einwanderers bieten, weil ihre Identität den griechischen Behörden aufgrund der gegenüber dem anderen Mitgliedstaat abgegebenen Übernahmezusage ersichtlich bekannt war, in Haftzentren ohne Angabe von Gründen eine weit verbreitete Praxis der griechischen Behörden darstellte,
59vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 juris, Rn 225, 234.
60Unter Berücksichtigung der zudem vorhandenen übereinstimmenden Zeugenaussagen zu den völlig unzureichenden Haftbedingungen sah der Gerichtshof bereits die vergleichsweise kurze Haftdauer im entschiedenen Fall von einmal vier Tagen und einmal einer Woche als nicht unbedeutend an. Die Gefühle der Willkür und die oft damit verbundenen Gefühle der Unterlegenheit und Angst sowie die tiefgreifenden Wirkungen auf die Würde einer Person, die solche Inhaftierungsumstände zweifellos hätten, bewertete er zusammengenommen als eine gegen Artikel 3 EMRK verstoßende erniedrigende Behandlung,
61vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - a.a.O. - Rn 233.
62Artikel 3 EMRK verpflichte die Staaten, sich zu vergewissern, dass die Haftbedingungen mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar seien und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid und Härten unterwerfe, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteige,
63EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - a.a.O. - Rn 222.
64Sind die Mitgliedstaaten noch dazu aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben zur Einhaltung bestimmter Mindeststandards der Aufnahmebedingungen verpflichtet, sind die konkreten Anforderungen an die Schwere der Schlechtbehandlung im Sinne der EMRK niedriger anzusetzen bzw. kommt umgekehrt einem Verstoß gegen diese unionsrechtlichen Verpflichtungen oder ihrer Umsetzung im nationalen Recht für die Annahme einer relevanten Grundrechtsverletzung nach Artikel 3 EMRK bzw. Art. 4 GrCH ein besonderes Gewicht zu,
65vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - a.a.O. -, Rn 250, 263; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 172/13 -, juris, Rn 40.
66Nach diesen Maßgaben lassen sich zur Inhaftierungspraxis Ungarns derzeit folgende- vorläufige - Feststellungen treffen:
67Seit der (Wieder-)Einführung der Asylhaft zum 1. Juli 2013, die erneut eine Inhaftierung von Erstantragstellern - wie dem Antragsteller des vorliegenden Verfahrens - ermöglicht, wurden im Zeitraum von Juli bis Dezember 2013 rund 25 % aller Asylantragsteller auf dieser Grundlage inhaftiert,
68vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014, Frage 1, Seite 1.
69Die Gesamtzahl der in diesem Zeitraum gestellten neuen Asylanträge belief sich auf 7.156, während die Anzahl der Inhaftierungen im gleichem Zeitraum 1.762 betrug; die Hafteinrichtungen waren in diesem Zeitraum regelmäßig voll besetzt;
70vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014, zu Frage 1 und Fußnote 1; aida, National Country Report Hungary, S. 48.
71Nach der Dublin-Verordnung nach Ungarn zurücküberstellte Asylbewerber wurden in diesem Zeitraum flächendeckend inhaftiert,
72vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014 zu Frage 3, S. 2.
73Zwar stellt der Umstand, dass das ungarische Asylrecht seit der erneuten Rechtsänderung zum 1. Juli 2013 - wieder - Inhaftierungsgründe für Asylbewerber enthält und Ungarn diese neuen Inhaftierungsvorschriften auch tatsächlich anwendet, für sich genommen noch keinen begründeten Anhaltspunkt für das Vorliegen systemischer Mängel des Asylsystems dar. Denn auch das unionsrechtliche Regelungssystem geht seinerseits davon aus, dass eine Inhaftierung von Asylbewerbern - wenn auch unter engen Voraussetzungen - im Einzelfall möglich ist. Artikel 8 und 9 der Richtlinie 2013/33 EU des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragten (Neufassung) - im Folgenden: AufnahmeRL, geben den Mitgliedstaaten hierfür ausdrücklich einen rechtlichen Rahmen vor. Auch macht Ungarn ersichtlich nicht mehr in einem so umfassenden Umfang von den neuen Haftregelungen Gebrauch wie noch im Zeitraum bis zum 1. Januar 2013 nach der früheren Rechtslage.
74Aus den aktuellen Erkenntnismitteln ergeben sich aber ungeachtet dessen sowohl hinsichtlich des Verfahrens der Haftanordnung durch die zuständige Verwaltungsbehörde (sog. Office of Immigration and Nationality - OIN) als auch mit Blick auf die gegen die Haftanordnung bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Anhaltspunkte für eine grundrechtsverletzende, insbesondere willkürliche und nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügende Inhaftierungspraxis, der die Asylbewerber rechtsschutzlos ausgeliefert zu sein scheinen.
75Den Verwaltungsentscheidungen, mit denen die Asylhaft gegenüber Erstantragstellern angeordnet wird, fehlt es regelmäßig an einer einzelfallbezogenen Begründung. Denn die haftanordnenden Entscheidungen des OIN nennen weder den konkreten Haftgrund, noch enthalten sie Angaben dazu, warum die Inhaftierung aus Sicht der zuständigen Behörde im konkreten Einzelfall erforderlich und angemessen ist und insbesondere keine anderen milderen Mittel in Betracht kommen, um eine Verfügbarkeit des Antragstellers im Asylverfahren sicherzustellen, wie etwa die Stellung einer Kaution, die Anordnung einer Residenzpflicht oder regelmäßige Meldepflichten - Alternativen zur Haft, die im neuen ungarischen Asylrecht rechtlich durchaus vorgesehen sind,
76vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014, zu Frage 3, Seite 2; aida, National Country Report Hungary, a.a.O., S. 51.
77Vielmehr werden Asylbewerber nur mündlich über die Gründe ihrer Inhaftierung informiert und erhalten die - nicht mit einer Begründung versehene - Haftanordnung noch dazu ausschließlich in ungarischer Sprache,
78vgl. aida, National Country Report Hungary, a.a.O., S. 56.
79was jedenfalls die Überprüfbarkeit der Anordnung und die Inanspruchnahme von Rechtsschutz für den Asylbewerber deutlich erschweren dürfte.
80Dass vor der Anordnung der Haft eine - lediglich nicht schriftlich dokumentierte - Einzelfallprüfung erfolgt, ergibt sich ebenfalls nicht. Nach den Angaben im aida Länderbericht soll die Asylhaft nach der ungarischen Rechtslage zwar auf der Grundlage einer Prüfung der individuellen Umstände des Einzelfalls und nur dann erfolgen, wenn - s.o. - keine weniger einschneidenden Alternativen in Betracht kommen. Die Erfahrung zeige aber, dass Haftanordnungen gerade ohne eine solche Einzelfallprüfung ergingen und Haftalternativen nicht geprüft würden. Auch würden zur Verfügung stehende Instrumente zur Überprüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Haftanordnung in der Praxis nicht angewendet,
81vgl. aida, National Country Report Hungary, a.a.O., S. 51.
82Vielmehr sei vollkommen intransparent und daher nicht vorhersehbar, welche Asylbewerber in Ungarn verhaftet würden und welche nicht und warum,
83vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014, zu Frage 3, S. 2.
84Damit sehen sich aber grundsätzlich alle Asylbewerber bei der Erstantragstellung dem nicht einschätzbaren Risiko einer willkürlichen Inhaftierung ausgesetzt.
85Soweit Dublin-Rückkehrer anders als die übrigen Asylbewerber nach ihrer Rückkehr nach Ungarn grundsätzlich inhaftiert werden,
86vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014, zu Frage 3, Seite 2,
87führt dies nicht zu einer anderen Bewertung, da es nach der Auskunftslage auch hinsichtlich dieser Personengruppe jedenfalls an jeder individuellen Prüfung der Haftvoraussetzungen und Haftgründe zu fehlen scheint.
88Soweit ausweislich des aida Länderberichts nach neuem Recht unbegleitete Minderjährige nicht inhaftiert werden dürfen und alleinstehende Frauen und Familien mit Kindern- obwohl rechtlich möglich - tatsächlich nicht in Asylhaft genommen werden,
89vgl. aida, National Country Report Hungary, a.a.O., S. 48; andererseits sind andere besonders verletzliche Personen, z.B. ältere Menschen, oder Menschen mit körperliche oder geistigen Erkrankungen/Behinderungen, nicht von der Asylhaft ausgenommen sind und es bestehen auch keine ausreichenden Mechanismen, um diese Personen im Asylverfahren rechtzeitig zu identifizieren, S. 56,
90bleibt schon offen, ob dies auch auf die Personengruppe der Dublin-Rückkehrer zutrifft, der der Antragsteller zugehört. Jedenfalls gehört der Antragsteller aber ersichtlich nicht zu diesen besonders geschützten Personengruppen, die nach der aktuellen Erkenntnislage von einer Asylhaft tatsächlich verschont bleiben.
91Es ist andererseits nicht ersichtlich, dass die vorhandenen Rechtsschutzmöglichkeiten wenigstens nachträglich eine ausreichende und wirksame rechtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierungsentscheidung bzw. ihrer Fortdauer gewährleisten könnten. Im Gegenteil bewerten die aktuellen Erkenntnismittel die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten als vollkommen ineffektiv und im Ergebnis wirkungslos. Selbständige Rechtsbehelfe stehen gegen die behördliche Anordnung der Asylhaft nicht zur Verfügung,
92vgl. aida National Country Report Hungary, a.a.O., S. 56 unten; Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014, a.a.O., zu Frage 7, Seite 6.
93Die Überprüfung der Haftanordnungen erfolgt vielmehr im Rahmen einer automatischen gerichtlichen Haftüberprüfung erstmals nach 72 Stunden, anschließend dann - weil die Behörden regelmäßig die Verlängerung der Haft um jeweils weitere 60 Tage beantragen - in einem 60-Tage-Rhythmus. Die zuständigen Gerichte setzen dabei die Überprüfungstermine im Halbstundentakt und regelmäßig für Gruppen von 5 bis 15 Inhaftierte gleichzeitig an, so dass für jeden Fall nur wenige Minuten zur Verfügung stehen.
94vgl. auch aida-report, a.a.O., S. 57; Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014 zu Frage 7, S. 7.
95Eine einzelfallbezogene Überprüfung, ob die Haftanordnung rechtmäßig war und der Haftgrund fortbesteht, dürfte - zumal die Haftgründe und sonstigen behördlichen Erwägungen wie ausgeführt in der behördlichen Anordnung nicht schriftlich fixiert sind - den Gerichten unter diesen Umständen kaum möglich sein,
96so auch Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014, zu Frage 7, Seite 7.
97Erschwerend kommt hinzu, dass inhaftierte Asylbewerber zwar Anspruch auf einen kostenlosen Rechtsbeistand haben, diese Rechtsbeistände aber in den Haftprüfungsterminen normalerweise keine Einwände gegen die Verlängerung der Haftdauer erheben und regelmäßig auch nur in der ersten Überprüfung (nach 72 Stunden Haft) von Amts wegen zur Verfügung gestellt werden. Bei den späteren, wegen der regelmäßig erfolgenden Haftverlängerungen um 60 Tage grundrechtlich noch bedeutsameren Folgeüberprüfungen steht Asylantragstellern diese rechtliche Unterstützung in der Praxis dagegen regelmäßig nicht mehr zur Verfügung,
98vgl. aida, National Country Report Hungary, a.a.O., S. 57.
99Hierzu fügt sich, dass nach einer Untersuchung, die das höchste Gericht Ungarns (Kuria) in den Jahren 2011 und 2012 durchgeführt hat, lediglich in drei von 5.000 bzw. 8.000 Fällen, die automatische Haftüberprüfung (durch dieselben Gerichte, die auch nach neuem Recht für die Überprüfung zuständig sind), tatsächlich zu einer Aufhebung der Haftanordnung geführt hat,
100vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014, zu Frage 7, Seite 7; aida National Country Report Hungary, a.a.O., Seite 57.
101Damit spricht nach den aktuellen Erkenntnissen viel dafür, dass das vorhandene Rechtsschutzsystem ungeeignet ist, um Asylbewerbern wirksamen Schutz vor einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung von regelmäßig erheblicher Dauer zu bieten.
102Soweit das ungarische Asylrecht neben der automatischen Haftprüfung vorsieht, dass der Asylbewerber gegen die Anordnung der Asylhaft eine sog. "objection", also wohl einen Einspruch, erheben kann, führt auch dies nicht zu einer anderen Beurteilung. Dem UNHCR ist seit der Wiedereinführung der Asylhaft zum 1. Juli 2013 kein einziger Fall bekannt geworden, in dem ein solcher Einspruch tatsächlich erhoben worden ist. Nach Einschätzung des UNHCR werden Asylbewerber in der Praxis überhaupt nicht über diesen Rechtsbehelf informiert bzw. seitens der zuständigen Behörden mit dem Hinweis darauf, dass dieser Rechtsbehelf ungeeignet sei, die Rechtmäßigkeit der Haftentscheidung anzugreifen, von einer Einlegung abgehalten,
103vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014, zu Frage 7, Seite 6.
104Zu alledem fügt sich schließlich, dass Asylbewerber, die inhaftiert werden, nach den vorliegenden Erkenntnismitteln mit großer Wahrscheinlichkeit die gesamte Dauer ihres Asylverfahrens inhaftiert bleiben. Die maximale Haftdauer der seit dem 1. Juli 2013 neu geregelten Asylhaft beträgt sechs Monate und auch die durchschnittliche Haftdauer wird derzeit mit 4 bis 5 Monaten angegeben, reicht also deutlich an die rechtlich zulässige Höchsthaftdauer heran,
105vgl. aida National Country Report Hungary, a.a.O., S. 51 und 49.
106Vorbehaltlich der Bestätigung und Konkretisierung dieser Erkenntnisse im Hauptsacheverfahren ist daher jedenfalls im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes davon auszugehen, dass Dublin-Rückkehrer nach ihrer Ankunft in Ungarn grundsätzlich, ohne Angabe von Gründen und ohne eine Prüfung ihrer individuellen Umstände inhaftiert werden, und sonstige Asylbewerber grundsätzlich jedenfalls dem Risiko einer willkürlichen Inhaftierung ausgesetzt sind, und beide Gruppen mangels wirksamer Rechtsschutzmöglichkeiten die Anordnung der Haft bzw. die Haftfortdauer nicht mit Aussicht auf Erfolg überprüfen lassen können. Eine solche Behandlung von Asylbewerbern, mit der sie der Willkür der zuständigen Behörden ausgesetzt werden und letztlich zum reinen Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt werden, dürfte nicht zuletzt angesichts von Inhaftierungszeiten, die im Durchschnitt mehrere Monate betragen, bereits für sich genommen die für eine Verletzung von Artikel 3 EMRK bzw. Artikel 4 EUGrdRCh erforderliche Schwere aufweisen, so dass es - jedenfalls im vorliegenden Eilverfahren - nicht mehr darauf ankommt, ob auch die konkreten Haftbedingungen selbst, inhaftierte Asylbewerber weiteren Leiden und Härten unterwerfen, die das mit einer Haft unvermeidbare Maß übersteigen.
107Für das Erreichen der erforderlichen Schwere der Grundrechtsverletzung dürfte - jedenfalls bei summarischer Prüfung - ferner sprechen, dass eine solche Inhaftierungspraxis, ungeachtet gegebenenfalls abweichender rechtlicher Vorgaben des ungarischen Asylrechts, auch nicht mit den unionsrechtlichen Mindeststandards der maßgeblichen AufnahmeRL in Einklang zu bringen ist. Schon nach den Erwägungsgründen Nr. 15 und 20 der AufnahmeRL soll die Inhaftierung von Asylbewerbern eine Ausnahme bleiben. Nach Artikel 9 Absatz 1 Satz 1 der AufnahmeRL soll der Asylbewerber nur für den kürzest möglichen Zeitraum in Haft genommen werden, was bei einer Regelverlängerung im 60-Tage-Rhythmus nicht gewährleistet scheint. In der Haftanordnung sind nach Artikel 9 Absatz 2 Satz 2 zudem die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft anzugeben. Artikel 9 Absatz 3 und 5 verlangen ferner umfassende und wirksame Überprüfungen der Rechtmäßigkeit der Haft sowie eine ausreichende Information des Asylbewerbers in einer für ihn verständlichen Sprache. Auch diese Anforderungen werden nach der derzeitigen Erkenntnislage nicht erfüllt.
108Hinzu kommt, dass der Haftgrund, der nach Einschätzung des UNHCR jedenfalls hinsichtlich der Dublin-Rückkehrer regelmäßig von den zuständigen Behörden stillschweigend angenommen wird, mit den Vorgaben der AufnahmeRL nicht in Einklang stehen dürfte. Laut UNHCR liegt der regelhaften Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern die Auffassung der zuständigen Behörden zugrunde, dass diese Asylbewerber, weil sie Ungarn bereits zuvor einmal regelwidrig verlassen haben, auch nach der Rücküberstellung erneut flüchten werden, ohne eine Entscheidung über ihren Asylantrag abzuwarten,
109vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014, zu Frage 3, S. 2.
110Dem dürfte der in Artikel 31/A Buchstabe c des ungarischen Asylgesetzes geregelte Haftgrund zugrunde liegen, wonach eine Inhaftierung erfolgen darf, um Informationen zu erhalten, die zur Durchführung des Asylverfahrens notwendig sind, wenn gewichtige Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller das Asylverfahren ansonsten verzögern oder behindern oder untertauchen würde,
111vgl. zum Wortlaut der englischen Fassung "c. there are well-founded grounds for presuming that the person seeking recognition is delaying or frustrating the asylum procedure or presents a risk for absconding, in order to establish the data required for conducting the asylum procedure;" aida National Country Report Hungary, a.a.O., S. 50, und zur hier verwendeten deutschen Übersetzung: pro asyl, bordermonitoring.eu, Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Aktualisierung und Ergänzung des Berichts vom März 2012 von Oktober 2013, a.a.O., S. 9.
112Der insoweit im Rahmen von Artikel 8 der AufnahmeRL für eine solche Umsetzung in das nationale Recht allein in Betracht kommende Haftgrund des Absatzes 3 Satz 1 Buchstabe b, wonach ein Antragsteller in Haft genommen werden darf, "um Beweise zu sichern, auf die sich ein Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht", dürfte Inhaftierungen, die - wie es der ungarische Haftgrund vorsieht - dazu dienen, jede Art der Verfahrensverzögerung seitens des Antragstellers zu sanktionieren und zu unterbinden, nicht rechtfertigen. […]“
113Dieser Bewertung hinsichtlich des Vorhandenseins systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn schließt sich der Einzelrichter vollumfänglich an. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass vorliegend– anders als in den von der 13. Kammer entschiedenen Verfahren – zur Bestimmung des für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaates nicht mehr die Dublin-II-VO, sondern nunmehr die Dublin-III-VO Anwendung findet. Denn insoweit gelten in der Sache keine abweichenden Kriterien für die Feststellung systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber (vgl. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO).
114Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG).
115Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG.
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(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
(1) Ist die Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 3 oder § 180 nicht ausführbar, kann das zuzustellende Schriftstück auf der Geschäftsstelle des Amtsgerichts, in dessen Bezirk der Ort der Zustellung liegt, niedergelegt werden. Wird die Post mit der Ausführung der Zustellung beauftragt, ist das zuzustellende Schriftstück am Ort der Zustellung oder am Ort des Amtsgerichts bei einer von der Post dafür bestimmten Stelle niederzulegen. Über die Niederlegung ist eine schriftliche Mitteilung auf dem vorgesehenen Formular unter der Anschrift der Person, der zugestellt werden soll, in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abzugeben oder, wenn das nicht möglich ist, an der Tür der Wohnung, des Geschäftsraums oder der Gemeinschaftseinrichtung anzuheften. Das Schriftstück gilt mit der Abgabe der schriftlichen Mitteilung als zugestellt. Der Zusteller vermerkt auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung.
(2) Das niedergelegte Schriftstück ist drei Monate zur Abholung bereitzuhalten. Nicht abgeholte Schriftstücke sind danach an den Absender zurückzusenden.
(1) Zustellung ist die Bekanntgabe eines schriftlichen oder elektronischen Dokuments in der in diesem Gesetz bestimmten Form.
(2) Die Zustellung wird durch einen Erbringer von Postdienstleistungen (Post), einen nach § 17 des De-Mail-Gesetzes akkreditierten Diensteanbieter oder durch die Behörde ausgeführt. Daneben gelten die in den §§ 9 und 10 geregelten Sonderarten der Zustellung.
(3) Die Behörde hat die Wahl zwischen den einzelnen Zustellungsarten. § 5 Absatz 5 Satz 2 bleibt unberührt.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.