Verwaltungsgericht Augsburg Urteil, 12. März 2019 - Au 6 K 17.33883

bei uns veröffentlicht am12.03.2019

Gericht

Verwaltungsgericht Augsburg

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Zuerkennung von Flüchtlings- und subsidiärem Schutz sowie die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei.

Der seinem vorgelegten Nüfus zu Folge am ... 1996 in ... in der Türkei geborene ledige Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit muslimischer Religionszugehörigkeit und hielt sich vor seiner Ausreise in der Stadt, Ortsteil, auf (BAMF-Akte Bl. 41). Er reiste seinen Angaben zu Folge auf dem Landweg per Lkw aus der Türkei am 4. Januar 2017 aus und mit dem Zug am 7. Januar 2017 unerlaubt nach Deutschland ein (ebenda Bl. 41), wo er Asyl beantragte.

In seiner auf Türkisch geführten Anhörung vor dem Bundesamt am 6. März 2017 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 40 ff.), er habe im Heimatland einen Personalausweis und einen Reisepass gehabt; den Reisepass habe der Schleuser einbehalten, den falschen bulgarischen Reisepass sowie seinen Nüfus habe ihm die Polizei in Deutschland abgenommen (ebenda Bl. 42). Er habe zuletzt in der Stadt ... /, mit den Eltern gewohnt (ebenda Bl. 42). Sein Vater habe eine Nussfarm. Er habe neun Jahre lang die Schule besucht, wegen schlechter Noten das Gymnasium abgebrochen und als Bäcker sowie auf dem Bau gearbeitet (ebenda Bl. 42). Er sei Wehrdienstflüchtling, da er Kurde sei (ebenda Bl. 42). Seine Reise habe 6.000 Euro mit Schleuser gekostet; er habe das aus seiner Arbeit gespart und sein Bruder habe ihm geholfen (ebenda Bl. 42).

Auf Frage nach seinen Fluchtgründen gab der Kläger an, er müsse sonst jetzt den Wehrdienst leisten. Im Februar 2016 habe er für zwei Monate in ... auf dem Bau gearbeitet. Eines Abends habe er auf dem Heimweg auf Kurdisch telefoniert. Das hätten drei junge Männer gesehen und ihn gefragt, ob er Kurde sei, was er bejaht habe. Da hätten sie gleich versucht, ihn zu schlagen, aber er habe entwischen können (ebenda Bl. 42).

In einem Dorf in ihrer Nähe sei ein junger Mann zum Wehrdienst gegangen. Vier Monate später habe seine Familie die Nachricht bekommen, dass er von einem Panzer gefallen und an Gehirnblutungen gestorben sei. Als sein Vater die Leiche zur Beisetzung holte, hätten seine Freunde ihm dort gesagt, dass er nicht gestorben sondern getötet worden sei (ebenda Bl. 43). Aus Angst habe der Kläger dann die Türkei verlassen müssen (ebenda Bl. 43).

Da nach den Nachrichten viele HDP-Funktionäre verhaftet wurden, könne das jedem in der Türkei passieren. Es habe auch in ... ein 90-tägiges Ausgangsverbot gegeben und 278 Menschen seien dort getötet worden, davon waren 66 YPS-Mitglieder. Auch in dem Dorf ... seien viele Einwohner und auch ihre Tiere getötet worden. Seit Erdogan Angst habe, dass die HDP zu viele Stimmen bekomme, gebe es die Hetze gegen Kurden (ebenda Bl. 43).

Ihm selbst sei in der Türkei sonst nichts passiert, er habe Angst vor dem Wehrdienst und was ihm dort passieren könnte. Außer, dass er einmal in ... von drei jungen Männern angepöbelt worden sei, sei ihm also in der Türkei nichts passiert (ebenda Bl. 43). Der Tod des jungen Mannes, der beim Militär gestorben sei, sei im Sommer 2016 gewesen (ebenda Bl. 43).

Auf Vorhalt, ob er aus der Türkei fliehen musste, weil ein junger Kurde aus einem Nachbardorf, einer von zigtausenden beim Militär, dort umkam, weil HDP-Funktionäre verhaftet wurden und der Kläger auch Angst hatte, verhaftet zu werden oder beim Militär zu sterben, bejahte er (ebenda Bl. 43).

Auf Frage, ob er selbst irgendeine Aufforderung, zum Militär zu gehen, gehabt habe, erläuterte der Kläger, an den Bezirksbürgermeister in ... sei im letzten Oktober ein Brief vom Militär gelangt. Der Kläger habe den Brief abgeholt und gelesen, dass er sich melden muss. Deshalb habe er beschlossen zu fliehen. Den Brief habe er bei seiner Familie zurückgelassen, die habe ihn inzwischen verloren. Er hätte sich melden müssen bis spätestens Ende 2016, seit Anfang 2017 gelte er damit als Flüchtiger (ebenda Bl. 43). Auf Frage, ob er nicht zum Militär wolle, wie es jeder andere junge Türke müsse, nur aus Angst, dass ihm dort etwas passieren könnte, bejahte der Kläger, derzeit würden 400.000 Menschen zum Wehrdienst gezwungen (ebenda Bl. 43) .

Auf Frage, ob er weder Mitglied von HDP, noch einer anderen Partei sei und einfach Angst habe, verhaftet zu werden, wenn auch deren Funktionäre verhaftet werden können, gab der Kläger an, er habe auch einen Facebook Account, unter dem er zu HDP-Veranstaltungen gepostet habe, unter anderem Bilder von Veranstaltungen, bei denen er gewesen sei, oder Bilder von einem PKK Märtyrer, der 2014 getötet wurde. Den Account habe er abgemeldet (ebenda Bl. 43).

Auf Frage, ob es gegen ihn eine Anklage oder eine Fahndung in der Türkei gebe, verneinte er, nur die Tatsache, dass er nicht zum Militär angetreten sei. Es sei nicht nach ihm gesucht worden, auch nicht bei seinen Eltern. Es sei auch keine Post dazu gekommen (ebenda Bl. 43).

Bei einer Rückkehr in die Türkei fürchte er, er würde zunächst ins Gefängnis kommen, weil er vom Militärdienst geflohen sei. Was ihm dort genau passiere, wisse er nicht. Anschließend müsste er dann den Militärdienst leisten. Er würde wohl direkt bei der Landung in ... verhaftet werden (ebenda Bl. 43).

Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 27. Juni 2017 den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) sowie auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG ab (Nr. 4). Die Abschiebung in die Türkei wurde androht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).

Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen, weil der Kläger eine Verfolgung im Herkunftsstaat nicht habe glaubhaft machen können. Als Kurde sei er nicht landesweit gruppenverfolgt und habe zudem im Westen der Türkei eine sichere Ausweichmöglichkeit. Die Wehrpflicht als solche und die türkische Wehrpflichtpraxis stellten grundsätzlich keine flüchtlingsrelevante Verfolgung dar; Wehrdienstentziehung werde gleichmäßig mit Geld- oder in Geldstrafen umgewandelten Haftstrafen belegt. Seit Änderung von Art. 63 tMilStGB sei nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Geldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich. Kurden seien als solche im Militär nicht diskriminiert. Eine konkrete Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal habe er nicht erlitten und auch nicht wegen seiner Ausreise im Fall seiner Rückkehr zu befürchten. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen daher ebenfalls nicht vor. Auch Abschiebungsverbote seien nicht ersichtlich. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in der Türkei würden nicht zu der Annahme führen, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sei angemessen. Schutzwürdige Belange seien nicht vorgetragen worden.

Gegen diesen seinen Bevollmächtigten am 29. Juni 2017 zugestellten Bescheid ließ der Kläger am 13. Juli 2017 Klage erheben mit dem Antrag,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheids vom 27. Juni 2017 zu verpflichten, die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen,

hilfsweise subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen,

weiter hilfsweise festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.

Zur Begründung wurde neben einem Antrag auf Prozesskostenhilfe u.a. ausgeführt, dass dem Kläger in der Türkei Bestrafung wegen Wehrdienstflucht drohe und ihm als Kurden eine oppositionelle Haltung im Dunstkreis der HDP unterstellt werde. Erst in der mündlichen Verhandlung gab der Kläger an, wegen aktiver Unterstützung der PKK bereits zwei Mal zu Hause gesucht worden zu sein.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Die Regierung von ... als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat auf jegliche Zustellungen mit Ausnahme der Endentscheidung verzichtet.

(Mit Beschluss vom 8. November 2018 wurde die Streitsache zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen. Mit der Ladung übersandte das Gericht eine aktuelle Erkenntnismittelliste.)

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die von der Beklagten vorgelegte Behördenakte sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG113 Abs. 5 VwGO. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 27. Juni 2017 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.

Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen - den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG - muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).

Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.

Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25/10 - juris) entspricht.

Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 32).

Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.

a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:

Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der - im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte - Staatspräsident hat eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führt der Ministerpräsident. Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan die zahlenstärkste Fraktion darstellt, allerdings bei den regulären Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 erstmals seit Übernahme der Regierung die absolute Mehrheit verpasste. In der nachfolgenden Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Erdoğans ist ein Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 5, 7 - im Folgenden: Lagebericht). Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Erdoğan ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl die Mehrheit (vgl. N.N., Bestätigung der Wahlkommission: Erdoğan gewinnt Präsidentenwahl in der Türkei, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018). Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wird Staatspräsident Erdoğan zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. N.N., Präsidialsystem in der Türkei: Noch mehr Macht für Erdogan, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018).

In der Nacht vom 15/16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdoğan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegen stellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdoğan und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung für den Putsch verantwortlich. Diese wurde daher als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 103.000 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 86.000 Personen in Polizeigewahrsam genommen, darunter 41.000 Personen in Untersuchungshaft (ca. 7.500 Polizisten, 6.700 Militärangehörige, 2.400 Richter und Staatsanwälte). Über 76.000 Beamte wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen; in etwa 20.000 Fällen wurde die Suspendierung mittlerweile beendet. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumt, mehrfach verlängert wurde und bis heute andauert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 4 f. - im Folgenden: Lagebericht; Zahlen zu Suspendierten und Verhafteten auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 12 f.).

Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 9). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.

Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der Türkei, in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 - (GASP) 2017/1426, Anhang Nr. II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/de/ arbeitsfelder/af-auslaenderextremismus-ohne-islamismus/was-ist-auslaenderextremismus/ arbeiterpartei-kurdistans-pkk, Abfrage vom 26.4.2018). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKK-Ideologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).

b) Eine Verfolgung allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden hat der Kläger nicht zu befürchten. Er gehört zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor.

Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht.

Kurdische Volkszugehörige zählen etwa 13 Mio. bis 15 Mio. Menschen auf dem Gebiet der Türkei und stellen noch vor Kaukasiern und Roma die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 13 - im Folgenden: Lagebericht); sie unterliegen demnach aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel - sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden - nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt und wurde seither stufenweise bei entsprechender Nachfrage erlaubt; Dörfer im Südosten können ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13 f.). Seit der Verhängung des Notstands aber hat sich die Lage verändert: Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender, darunter auch IMC TV und die Tageszeitung „Özgür Gündem“ unter dem Vorwurf, „Sprachrohr der PKK“ zu sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 14).

Kurdische Volkszugehörige unterliegen damit in Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 - 1 B 31/14 - juris). Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass eine Verfolgung kurdischer türkischer Staatsangehöriger jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweist, die zu einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds führt (im Ergebnis wie hier VG Aachen, U.v. 5.3.2018 - 6 K 3554/17.A - juris Rn. 51 m.w.N.). Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U.v. 7.4.2016 - 3 A 557/13.A; BayVGH, B.v. 22.9.2015 - 9 ZB 14.30399, alle juris). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Keine Ausweichmöglichkeiten hingegen bestehen, soweit eine Person Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen wird, da die türkischen Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben (Lagebericht ebenda S. 22).

Dies gilt auch für den nicht ortsgebundenen Kläger, der sich nach eigenen Angaben auch eine Zeit lang in ... aufgehalten haben will.

c) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung droht dem Kläger nicht.

Für den Fall einer Rückkehr in die Türkei fürchtet der Kläger, bestraft und zwangsweise zum Militär geschickt zu werden sowie dort schlecht behandelt zu werden und in Lebensgefahr zu geraten. Das aber knüpft allein an die staatsbürgerliche Wehrdienstpflicht an (dazu sogleich). Eine Diskriminierung kurdisch-stämmiger Wehrdienstleistender ist nach dem Erkenntnisstand nicht beachtlich wahrscheinlich. Im Gegenteil ist es eher unwahrscheinlich, dass der Kläger gerade im Südosten der Türkei oder in Syrien eingesetzt würde, um keine Loyalitätskonflikte als Kurde heraufzubeschwören.

Dass dem Kläger eine Haftstrafe wegen Wehrdienstentziehung droht, erscheint derzeit nicht hinreichend wahrscheinlich. Im Gegenteil hat er angegeben, er habe einen Gestellungsbefehl erhalten, gemustert aber und damit für wehrtauglich befunden ist er noch nicht, wie er in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage einräumte. Wird die Einberufung aber vorläufig unterstellt, liegt dennoch keine politische Verfolgung im Fall des Klägers bei einer etwaigen Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung vor:

aa) Eine etwaige Strafverfolgung oder Bestrafung des Klägers wegen Verweigerung des Militärdienstes bedeutet - so sie dem Kläger drohte - hier keine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG.

Nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden.

Zwar unterliegt ein Mann grundsätzlich der gesetzlichen Wehrpflicht, die in der Türkei ab dem 20. Lebensjahr beginnt. Der Wehrdienst wird in den Streitkräften oder der Jandarma abgeleistet. Söhne und Brüder gefallener Soldaten können vom Wehrdienst befreit werden; im Ausland lebende Türken können sich gegen ein Entgelt freikaufen, das mit Änderung des Wehrgesetzes im Januar 2016 von 6.500 Euro auf 1.000 Euro gesenkt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 20 - im Folgenden: Lagebericht), und sogar eine bis zum 3. November 2018 befristete Freikaufsmöglichkeit für in der Türkei lebende Türken eröffnete (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 41). Insgesamt werden jährlich etwa 300.000 Wehrpflichtige eingezogen; rund 1,9 Mio. Wehrpflichtige haben wegen Studiums und weitere rund 3 Mio. Wehrpflichtige aus anderen Gründen den Wehrdienst aufgeschoben; ca. 650.000 wehrpflichtige entziehen sich der Dienstpflicht (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 27 f.).

Wer wehrpflichtig ist, aber sich der Musterung entzieht, gilt als „Musterungsflüchtiger“, was eine Ordnungswidrigkeit darstellt und mit Geldstrafen geahndet wird. Die Verjährung richtet sich nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht und greift proportional zur Höhe der Geldbuße nach drei, vier oder fünf Jahren Verjährungsfrist. Wer sich nach erfolgter Musterung und Einberufung dem Wehrdienst entzieht, gilt als „Wehrdienstflüchtiger“, was eine Straftat darstellt und mit Geldstrafen geahndet wird, die in der Höhe von der Dauer der Wehrdienstentziehung sowie davon sind, ob der Wehrdienstflüchtige sich stellt oder gefasst wird. Die Verjährung richtet sich nach Art. 66 tStGB und greift, wenn der Wehrdienstflüchtige sich stellt oder gefasst wird (zum Ganzen Deutsche Botschaft Ankara, Auskunft vom 1.6.2017 an das BAMF, S. 2).

In der Türkei gibt es kein Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes oder einen Anspruch auf Ableistung eines Ersatzdienstes. Musterungsverweigerer, Wehrdienstverweigerer und Fahnenflüchtige werden strafrechtlich verfolgt. Seit Änderung von Art. 63 tMilStGB ist bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Geldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich, insbesondere nach Art. 67 tStGB bei Flucht ins Ausland. Die Verjährungsfrist richtet sich nach Art. 66e tStGB und beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtlinge werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen (vgl. Lagebericht ebenda S. 20; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 44). Soweit bis zum Jahr 2009 Personen die türkische Staatsangehörigkeit aberkannt wurde, die sich dem Wehrdienst entzogen hatten, können sie mittlerweile unabhängig von ihrem Wohnsitz wieder die Staatsangehörigkeit erhalten (vgl. Lagebericht ebenda S. 21). Nach der Verbüßung einer wegen Wehrdienstverweigerung verhängten Haftstrafe erfolge normalerweise die Befreiung von der Dienstpflicht (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 43).

Im Fall des Klägers ist dies nicht anders zu sehen; insbesondere hat er eingeräumt, eine Freikaufsmöglichkeit nicht näher erwogen zu haben; möglicherweise sei er zu jung dafür. Andere Gründe für seine Wehrdienstentziehung als die Volkszugehörigkeit als Kurde und als die Angst vor Verletzungen im Wehrdienst wie ein junger Mann aus dem Nachbardorf hat er auch in der mündlichen Verhandlung nicht angegeben. Der Kläger unterscheidet sich daher nicht von tausenden anderen jungen Kurden, die für den türkischen Staat keinen Wehrdienst leisten wollen. Dass er härter bestraft würde als sie, ist also nicht hinreichend wahrscheinlich.

Soweit im vorliegenden Fall eine Strafverfolgung wegen Wehrdienstentziehung möglich ist, droht keine Beteiligung an Kriegsverbrechen; besondere Umstände, aus denen sich ergibt, dass Strafmaßnahmen nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht gelten, sind nicht ersichtlich (vgl. EuGH, U.v. 20.11.2013 - C-472/13; BVerwG, U.v. 24.4.1990 - 9 C 4/89 - NVwZ 1990, 876). Insbesondere gibt es keine belastbaren Erkenntnisse, dass die Heranziehung zum Militärdienst an gruppenbezogenen Merkmalen bzw. persönlichen Merkmalen i.S.v. § 3b AsylG orientiert ist. Im Gegenteil können homosexuelle Wehrpflichtige auf Antrag und nach Begutachtung grundsätzlich als für den Wehrdienst untauglich eingestuft werden; die aktuelle Handhabung ist offen (vgl. Lagebericht ebenda S. 18 f.). Die Heranziehung zum Wehrdienst und die Bestrafung wegen seiner Verweigerung stellen daher keine politische Verfolgung dar (wie hier VG München, B.v. 5.4.2018 - M 1 S 17.46575 - juris Rn. 13 m.w.N.).

Kurden werden bei der Heranziehung zum Militärdienst ebenso wie bei einer Bestrafung wegen Militärdienstentziehung nicht aufgrund ihres Volkstums in asylerheblicher Weise benachteiligt. Die Heranziehung zum Militärdienst in der Türkei und die Bestrafung ihrer Nichtbefolgung stellen keine Form politischer Verfolgung dar, da sie allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt werden. Auch eine Militärdienstverweigerung durch Flucht ins Ausland wird ohne weitere Verdachtsmomente nicht als Sympathie für separatistische Bestrebungen ausgelegt. Es liegen schließlich auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass Militärdienstpflichtige, die ihre Strafe wegen Dienstentziehung oder Fahnenflucht verbüßen, misshandelt werden oder in der vorausgehenden Polizei- oder Militärhaft generell Folter zu erleiden haben. Das gilt sowohl dann, wenn sich ein Militärdienstflüchtiger im Inland stellt oder er ergriffen wird, als auch insbesondere dann, wenn er bei der Einreise aus Deutschland von den Sicherheitsbeamten an der Grenze als solcher erkannt und festgenommen wird (zum Ganzen VG Aachen, U.v. 5.3.2018 - 6 K 3554/17.A - juris Rn. 44 m.w.N.).

Die türkischen Streitkräfte setzen Wehrpflichtige gezielt in anderen Landesteilen als ihrer Herkunftsregion ein; nach kurdischen Angaben würden kurdischstämmige Rekruten gezielt in den Konfliktgebieten im Südosten eingesetzt, um den Alleinvertretungsanspruch der PKK für Kurden zu diskreditieren; für eine systematische Diskriminierung kurdischer oder alevitischer Minderheitenangehöriger in der Armee fehlten aber Anhaltspunkte (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 42 f.).

Dies gilt auch für den Kläger.

bb) Eine etwaige Strafverfolgung oder Bestrafung des Klägers wegen Verweigerung des Militärdienstes - so sie dem Kläger doch drohte - knüpft auch nicht an ein Verfolgungsmerkmal nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG (Religion) AsylG an.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen Sanktionen wegen Wehrdienstentziehung, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.2017 - 1 B 22/17 - juris Rn. 14 m.w.N.). So wurde die Ausbürgerung eines türkischen Staatsangehörigen, der der Aufforderung zur Ableistung des Wehrdienstes nicht nachgekommen war, als nicht asylerheblich gewertet (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.2017 - 1 B 22/17 - juris Rn. 14 m.w.N.).

Eine Anknüpfung an ein religiöses Merkmal - hier: die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen eines Klägers - nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfolgt nicht:

Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für das türkische System, das keinen Ersatzdienst und kein Verfahren vorsieht, in dem dargelegt werden kann, ob die Voraussetzungen einer Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen vorliegen, eine Verletzung der von Art. 9 EMRK garantierten Gewissensfreiheit angenommen, weil es keinen gerechten Ausgleich zwischen dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft und jenem von Wehrdienstverweigern trifft (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.2018 - 1 VR 12/17 - juris Rn. 87 unter Verweis auf EGMR, U.v. 12.6.2012 - 42730/05), Eine Verletzung von Art. 9 EMRK setzt aber voraus, dass der Betroffene glaubhaft machen kann, dass er den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert. Eine solche Gewissensentscheidung setzt eine sittliche Entscheidung voraus, die der Kriegsdienstverweigerer innerlich als für sich bindend erfährt und gegen die er nicht handeln kann, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten. Erforderlich ist eine Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung. Sie muss absolut sein und darf nicht situationsbezogen ausfallen (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.2018 - 1 VR 12/17 - juris Rn. 87 m.w.N.). Daran fehlt es hier.

Zu seinen Weigerungsgründen befragt, gab der Kläger beim Bundesamt u.a. an, er lehne ab, weil er Kurde sei (BAMF-Akte Bl. 42). In einem Dorf in ihrer Nähe sei ein junger Mann zum Wehrdienst gegangen. Vier Monate später habe seine Familie die Nachricht bekommen, dass er von einem Panzer gefallen und an Gehirnblutungen gestorben sei. Als sein Vater die Leiche zur Beisetzung holte, hätten seine Freunde ihm dort gesagt, dass er nicht gestorben sondern getötet worden sei (ebenda Bl. 43). Aus Angst habe der Kläger dann die Türkei verlassen müssen (ebenda Bl. 43). Auf Frage, ob er nicht zum Militär wolle, wie es jeder andere junge Türke müsse, nur aus Angst, dass ihm dort etwas passieren könnte, bejahte der Kläger, derzeit würden 400.000 Menschen zum Wehrdienst gezwungen (ebenda Bl. 43). Diese Motive hat er in der mündlichen Verhandlung bestätigt.

Dies zusammen genommen hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht, dass er den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert. Eine Verletzung von Art. 9 EMRK liegt daher nicht vor: Hier hat der Kläger keine Gewissensgründe angegeben, sondern den Militärdienst als Kurde allgemein und wegen Gefahren für Leib und Leben von sich gewiesen, d.h. aus dem Motivbündel des Klägers treten also extrinsische Motive wie die Ablehnung der Kurden-Politik der Türkei hervor. Es geht dem Kläger in erster Linie darum, den Wehrdienst nicht für den türkischen Staat leisten zu müssen. Intrinsische Motive wie eine Gewissensentscheidung liegen nicht vor und beziehen sich erkennbar auf die vorgenannten äußeren Umstände und inneren Einstellungen, aber nicht tragfähig und überzeugend auf eine kategorische Ablehnung jedweder Gewaltanwendung in Krieg und Frieden, wie sie für eine o.g. Gewissensentscheidung nach Art. 9 EMRK erforderlich wäre. Dass seine Weigerung auf einer gegenüber der allgemeinen und natürlichen Tötungshemmung eines Menschen tieferen, mit einer solchen Konfliktsituation sich bewusst auseinandersetzenden moralischen Haltung beruht, wie sie eine Gewissensentscheidung voraussetzt, ist nicht erkennbar geworden. Es ist für das Verwaltungsgericht glaubhaft, dass der Kläger den Wehrdienst in den türkischen Streitkräften ablehnt und dafür individuelle Motive hat; eine absolute und nicht situationsbezogen ausfallende Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.2018 - 1 VR 12/17 - juris Rn. 87 m.w.N.), liegt darin aber nicht.

cc) Eine etwaige Strafverfolgung oder Bestrafung des Klägers wegen Verweigerung des Militärdienstes - so sie dem Kläger doch drohte - knüpft auch nicht an ein Verfolgungsmerkmal nach § 3b Abs. 1 Nr. 3 (Ethnie) AsylG an.

Eine Anknüpfung an ein ethnisches Merkmal - hier: die kurdische Volkszugehörigkeit des Klägers - nach § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG erfolgt bei der Wehrdienstleistung in der Türkei nicht; Kurden werden bei der Heranziehung zum Militärdienst ebenso wie bei einer Bestrafung wegen Militärdienstentziehung nicht aufgrund ihres Volkstums in asylerheblicher Weise benachteiligt (vgl. oben).

d) Der Kläger konnte auch mit seinem individuellen Vortrag sonst nicht glaubhaft machen, dass ihm in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht.

Hierbei ist der Bescheidsbegründung der Beklagten zu folgen, wonach der Kläger keine an ihn individuell gerichteten Bedrohungen oder gar Übergriffe geschildert habe, denn solche haben nach seinem Vorbringen nicht konkret und ausreiserelevant stattgefunden. Auf Nachfrage bestätigte der Kläger noch beim Bundesamt, außer wegen des Militärs sonst keine Probleme mit dem türkischen Staat zu haben, es sei auch nicht nach ihm gesucht worden (BAMF-Akte Bl. 43). Auch in der mündlichen Verhandlung räumte er auf Nachfrage zunächst ein, sich nur für die HDP engagiert zu haben, aber kein Mitglied gewesen zu sein. Staatliche Sanktionen deswegen hat er nicht konkret geschildert.

Erst in der mündlichen Verhandlung trugt der Kläger vor, er habe in seinem Heimatdort aktiv PKK-Guerilla mit Obdach und Lebensmitteln unterstützt, ihnen den Weg in Nachbardörfer gewiesen und dies nur aus Angst, das Bundesamt gebe die Daten an die Türkei weiter, dort nicht gesagt. Er habe dies zu viert mit Freunden zusammen getan, von denen zwei inhaftiert und gefoltert worden seien, er und ein anderer Freund hätten fliehen können. Bei der Angabe, ob diese verurteilt worden seien, widersprach er sich, da er einmal angab, sie seien verurteilt, ein anderes Mal, es gebe keinen Haftbefehl und kein Strafurteil, sie seien auch erst festgenommen worden, nachdem er die Türkei verlassen habe. Sie seien seit eineinhalb Jahren in Untersuchungshaft (Niederschrift vom 12.3.2019).

Hierbei handelt es sich um eine wesentliche Steigerung des Vorbringens gegenüber dem Bundesamt: Hatte der Kläger dort noch als Grund für seine Ausreise die Angst vor dem Wehrdienst und als Anlass den Gestellungsbefehl genannt, hielt er dies vor Gericht zunächst aufrecht und ließ auch eineinhalb Jahren seit Klageerhebung nichts Anderes vortragen. Erst in der mündlichen Verhandlung behauptete er nun, sich für die PKK aktiv engagiert zu haben und deswegen habe die Jandarma zwei Mal - 2016 und (auf gerichtlichen Vorhalt, erst länger danach ausgereist zu sein) nach seiner Ausreise 2017 - bei seinen Eltern nach ihm gefragt. Als Erklärung, weshalb er dies nicht schon längst hat vortragen lassen, gab er Angst vor einer Datenweitergabe an die Türkei an.

Dem Einzelrichter scheint dies nicht plausibel: Der Gesamteindruck ist, dass der Kläger vor dem Bundesamt seine Motive für die Wehrdienstentziehung genannt, sich nach Ablehnung seines Asylantrags durch das Bundesamt aber eine neue und aus seiner Sicht aussichtsreichere Geschichte zurecht gelegt hat. Selbst wenn er Angst vor einer Datenweitergabe an die Türkei gehabt hätte, hätte ihm diese - so seine Geschichte stimmte - nicht mehr schaden können: Entweder weiß die Türkei nichts von seiner angeblichen PKK-Aktivität, der Kläger fürchtet aber Verfolgung deswegen, dann hätte es nahe gelegen, spätestens im Klageverfahren unter anwaltlicher Beratung dies offenzulegen, denn eine Bedrohung geht aus seiner Sicht von der Türkei und nicht von Deutschland aus. Oder die Türkei weiß von seiner angeblichen PKK-Aktivität, sucht ihn deswegen und nicht wegen der Wehrdienstentziehung, dann hätte es erst recht nahe gelegen, spätestens im Klageverfahren unter anwaltlicher Beratung dies offenzulegen, denn der Kläger hätte nichts mehr zu verlieren. Insgesamt überzeugen daher weder die neue Geschichte des Klägers noch seine Erklärung hierfür. Der Kläger kann daher nur als unglaubhaft angesehen werden.

e) Schließlich ist der Kläger auf eine interne Fluchtalternative in der Westtürkei und insbesondere in Istanbul zu verweisen (§ 3e AsylG).

Das Gericht ist der Überzeugung, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei in der Westtürkei und insbesondere in Istanbul unbehelligt leben könnte, dies daher als innerstaatliche Fluchtalternative noch geeignet und zumutbar ist, so dass erwartet werden kann, dass er sich dort vernünftigerweise niederlässt.

Dem Kläger ist die Westtürkei wirtschaftlich zumutbar. Ihm droht erst recht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben wegen der allgemeinen Versorgungslage dort (dazu sogleich zu § 60 Abs. 5 AufenthG). Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt in der Westtürkei durch einfache Arbeiten sicherstellen kann. Auch wenn hierfür mehr zu fordern ist als ein kümmerliches Einkommen zur Finanzierung eines Lebens am Rande des Existenzminimums (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris Rn. 20), ist doch vernünftigerweise zu erwarten, dass der Kläger sich dort aufhält und seinen Lebensunterhalt dort sicherstellt, wie er es bis zu seiner Ausreise auch getan hat. Es ist zu erwarten, dass der Kläger als gesunder und arbeitsfähiger Mann auch ohne nennenswertes Vermögen, erst recht aber mit familiären bzw. sonstigen Kontakte dort seinen Lebensunterhalt sicherstellen kann.

Er findet dort auch hinreichende Sicherheit, denn Ziel administrativer oder gar polizeilicher Maßnahmen ist er dort nicht geworden; sollte er dort wehrrechtlich erfasst und einberufen werden, stellt die Wehrdiensteinberufung bzw. eine Sanktion wegen Wehrdienstverweigerung für ihn keine Verfolgung dar (vgl. oben), muss also für die Betrachtung hinreichender Sicherheit - insbesondere vor individuellen Übergriffen türkischer Sicherheitsorgane und Amtswalterexzessen im Südosten des Staatsgebiets - außer Betracht bleiben.

2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht. Hierzu ist nichts Näheres vorgetragen oder ersichtlich; auf die die nicht menschenrechtswidrige Strafpraxis bei Wehrdienstentziehung wird verwiesen (vgl. oben).

3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:

a) Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285 - Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.

aa) Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor, denn der erwachsene, gesunde und erwerbsfähige Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert (in std. Rspr. VG Augsburg, U.v. 9.10.2018 - Au 6 K 17.33922 - juris Rn. 89 ff.).

bb) Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).

Aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums dürfen keine Suchvermerke (insbesondere für Wehrdienstflüchtlinge oder zur Fahndung ausgeschriebene Personen) mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden; vorhandene Suchvermerke sollen Angaben türkischer Behörden zufolge im Jahr 2005 gelöscht worden sein (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).

In der Türkei finden Ausreisekontrollen für alle Personen statt. Türkischen Staatsangehörigen, gegen welche ein vom türkischen Innenministerium oder von einer Staatsanwaltschaft verhängtes Ausreiseverbot vorliegt und die auf einer entsprechenden Liste stehen, wird die Erteilung eines Reisepasses versagt oder sie werden bei Besitz eines Reisepasses an der Ausreise gehindert. Bei bestehendem Ausreiseverbot kann ein Reisepass auch durch Bestechung kaum erlangt werden, denn seine Ausstellung erfordert, dass ein vorhandener Listeneintrag zuvor auf amtliche Veranlassung durch richterlichen Beschluss oder Beschluss des Innenministeriums gelöscht wird (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 11.6.2018, S. 1 f.) sowie der Antragsteller zwecks Abnahme von Fingerabdrücken persönlich vorspricht (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.10.2018 an das BAMF, S. 1). Nach Regierungsangaben seien im Zuge der Ermittlungen gegen die Gülen-Bewegung über 234.000 Reisepässe annulliert worden für dieser Bewegung zugerechnete Personen und ihre Ehepartner; für einen Teil der Betroffenen sei die Annullierung nach Ende des Ausnahmezustandes widerrufen worden (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 79). Ausreisesperren wurden im Juli 2016 für rund 200.000 Personen verhängt und im Juli 2018 für rund 150.000 Personen unter ihnen wieder aufgehoben; Auskünfte über bestehende Ausreisesperren können über die Datenbanken eDevlet des türkischen Innenministeriums und UYAP des türkischen Justizministeriums vom Betroffenen oder einem von diesem bevollmächtigten Rechtsanwalt sowie sogar durch Nachfragen bei der örtlichen Polizeistation durch bevollmächtigte Verwandte ersten Grades erlangt werden (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.10.2018 an das BAMF, S. 2; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11.10.2018 an das BAMF, S. 2).

Bei dem eDevlet System (e-Devlet Sistemi) handelt es sich um ein staatlich betriebenes Online-Portal, in das staatliche Institutionen mit ihren Datenbanken integriert sind. Türkische Staatsbürger erhalten, nachdem sie sich durch Hinterlegung ihrer persönlichen Daten zur Teilnahme am System angemeldet haben, durch Einloggen mit einem Passwort Zugang zu allen freigegebenen Daten, die die eigene Person betreffen. Mit Hilfe des e-Devlet Systems können türkische Staatsbürger u.a. diverse behördliche Dienstleistungen im Online-Verfahren in Anspruch nehmen, ohne persönlich bei den Behörden vorsprechen zu müssen. Haftbefehle und andere Eintragungen aus dem Justizbereich sind im sog. UYAP-System erfasst. Über einen Link im eDevlet System kann sich jeder türkische Staatsbürger - nach Hinterlegung seiner persönlichen ID-Daten für die Zugangsberechtigung - auch im UYAP-System anmelden (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11.10.2018 an das BAMF, S. 1 f.).

Das UYAP-System ist eine vom Justizministerium betriebene Online Plattform, zu der jeder türkische Staatsbürger den Zugang beantragen kann. In diesem System kann der Privatnutzer schlagwortartig seine eigene Person betreffende Übersichten aus dem justiziellen Bereich, z.B. Art der (Straf)-Verfahren, Aktenzeichen, Gerichtsbezeichnung, Verhandlungstage einsehen. Zugang zu (Volltext-)Akteninhalten der einzelnen Verfahren wie z.B. Anklageschriften, Urteile u.a., besteht für Privatnutzer nicht. Eingesehen und ausgedruckt werden kann von Privatnutzern lediglich die o. g. Kurzübersicht. Einträge über ihre Mandanten sind für Anwälte, die den Justizbehörden die Bevollmächtigung ihrer Mandatsgeber nachgewiesen haben, auch auf elektronischen Weg zugänglich. Die Justizbehörden erteilen bevollmächtigten Rechtsanwälten den Zugang auf die im UYAP-System erfassten Eintragungen ihrer Mandanten. Bevollmächtigte Rechtsanwälte haben außer auf die oben beschriebenen Kurzübersichten dann auch Zugriff auf Volltexte und können diese herunterladen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11.10.2018 an das BAMF, S. 2).

In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Lagebericht ebenda S. 32). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden; hat er sich in Deutschland für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. regelmäßig an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen, erhöht dies das Risiko (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).

b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers nicht vor. Atteste hierzu sind auch nicht vorgelegt.

4. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Augsburg Urteil, 12. März 2019 - Au 6 K 17.33883

Urteilsbesprechung schreiben

0 Urteilsbesprechungen zu Verwaltungsgericht Augsburg Urteil, 12. März 2019 - Au 6 K 17.33883

Referenzen - Gesetze

Verwaltungsgericht Augsburg Urteil, 12. März 2019 - Au 6 K 17.33883 zitiert 18 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 113


(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag au

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 167


(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs. (2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungskl

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60 Verbot der Abschiebung


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

Gesetz


Aufenthaltsgesetz - AufenthG

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 4 Subsidiärer Schutz


(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt: 1. die Verhängung oder Vollstreckung der To

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 11 Einreise- und Aufenthaltsverbot


(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen n

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3 Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft


(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich1.aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 83b Gerichtskosten, Gegenstandswert


Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 77 Entscheidung des Gerichts


(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefä

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3a Verfolgungshandlungen


(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen n

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3e Interner Schutz


(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er 1. in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und2. sicher und legal in diesen Landesteil r

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3b Verfolgungsgründe


(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen: 1. der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;2. der Begrif

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3c Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann


Die Verfolgung kann ausgehen von 1. dem Staat,2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließl

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3d Akteure, die Schutz bieten können


(1) Schutz vor Verfolgung kann nur geboten werden 1. vom Staat oder2. von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen,sofern sie willens und in d

Referenzen - Urteile

Urteil einreichen

Verwaltungsgericht Augsburg Urteil, 12. März 2019 - Au 6 K 17.33883 zitiert oder wird zitiert von 8 Urteil(en).

Verwaltungsgericht Augsburg Urteil, 12. März 2019 - Au 6 K 17.33883 zitiert 8 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Verwaltungsgericht Augsburg Urteil, 09. Okt. 2018 - Au 6 K 17.33922

bei uns veröffentlicht am 09.10.2018

Tenor I. Die Klage wird abgewiesen. II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen. III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch di

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Urteil, 21. Nov. 2014 - 13a B 14.30285

bei uns veröffentlicht am 21.11.2014

Tenor I. Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 15. April 2014 wird der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Februar 2014 hinsichtlich Nummer 4 und 5 aufgehoben. Die Beklagte wird verp

Verwaltungsgericht München Beschluss, 05. Apr. 2018 - M 1 S 17.46575

bei uns veröffentlicht am 05.04.2018

Tenor I. Der Antrag wird abgelehnt. II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Gründe I. Der Antragsteller ist nach seinen Angaben türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkei

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 22. Sept. 2015 - 9 ZB 14.30399

bei uns veröffentlicht am 22.09.2015

Tenor I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gründe Der Antrag auf Zulassung der Berufung (§ 78 Abs. 4 AsylVfG) hat keinen E

Bundesverwaltungsgericht Beschluss, 16. Jan. 2018 - 1 VR 12/17

bei uns veröffentlicht am 16.01.2018

Gründe I 1 Der Antragsteller, ein in Deutschland geborener und aufgewachsener 28-jähriger türki

Bundesverwaltungsgericht Beschluss, 24. Apr. 2017 - 1 B 22/17

bei uns veröffentlicht am 24.04.2017

Gründe 1 Die Beschwerde, mit der eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und eine Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) geltend gemacht wir

Bundesverwaltungsgericht Urteil, 31. Jan. 2013 - 10 C 15/12

bei uns veröffentlicht am 31.01.2013

Tatbestand 1 Der Kläger erstrebt Abschiebungsschutz wegen ihm in Afghanistan drohender Gefahren. 2

Bundesverwaltungsgericht Urteil, 01. Juni 2011 - 10 C 25/10

bei uns veröffentlicht am 01.06.2011

Tatbestand 1 Der Kläger, ein 1960 geborener algerischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung.

Referenzen

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. § 74 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(2) Das Gericht kann außer in den Fällen des § 38 Absatz 1 und des § 73b Absatz 7 bei Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hierauf sind die Beteiligten von dem Gericht hinzuweisen.

(3) Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt oder soweit die Beteiligten übereinstimmend darauf verzichten.

(4) Wird während des Verfahrens der streitgegenständliche Verwaltungsakt, mit dem ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, durch eine Ablehnung als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Das Bundesamt übersendet dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts. Nimmt der Kläger die Klage daraufhin unverzüglich zurück, trägt das Bundesamt die Kosten des Verfahrens. Unterliegt der Kläger ganz oder teilweise, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. § 74 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(2) Das Gericht kann außer in den Fällen des § 38 Absatz 1 und des § 73b Absatz 7 bei Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hierauf sind die Beteiligten von dem Gericht hinzuweisen.

(3) Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt oder soweit die Beteiligten übereinstimmend darauf verzichten.

(4) Wird während des Verfahrens der streitgegenständliche Verwaltungsakt, mit dem ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, durch eine Ablehnung als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Das Bundesamt übersendet dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts. Nimmt der Kläger die Klage daraufhin unverzüglich zurück, trägt das Bundesamt die Kosten des Verfahrens. Unterliegt der Kläger ganz oder teilweise, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Schutz vor Verfolgung kann nur geboten werden

1.
vom Staat oder
2.
von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen,
sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß Absatz 2 zu bieten.

(2) Der Schutz vor Verfolgung muss wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Absatz 1 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

(3) Bei der Beurteilung der Frage, ob eine internationale Organisation einen Staat oder einen wesentlichen Teil seines Staatsgebiets beherrscht und den in Absatz 2 genannten Schutz bietet, sind etwaige in einschlägigen Rechtsakten der Europäischen Union aufgestellte Leitlinien heranzuziehen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein 1960 geborener algerischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung.

2

Er stellte im Oktober 1992 einen Asylantrag. Nachdem er unbekannt verzogen war, lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) - den Antrag mit Bescheid vom 8. November 1993 als offensichtlich unbegründet ab. Einen weiteren Asylantrag unter einem Aliasnamen lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 24. September 1993 ab.

3

Im November 1994 wurde der Kläger von den französischen Behörden wegen des Verdachts der Vorbereitung terroristischer Aktionen in Algerien festgenommen. Das Tribunal de Grande Instance de Paris verurteilte ihn am 22. Januar 1999 u.a. wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu einer Gefängnisstrafe von acht Jahren.

4

Nachdem der Kläger im März 2001 aus französischer Haft entlassen worden war, stellte er im Juli 2001 in Deutschland einen Asylfolgeantrag, den er auf die überregionale Berichterstattung über den Strafprozess in Frankreich und die daraus resultierende Verfolgungsgefahr in Algerien stützte. Er gab an, nie für eine terroristische Vereinigung aktiv gewesen zu sein; der Prozess in Frankreich sei eine Farce gewesen. Mit Bescheid vom 15. Oktober 2002 lehnte das Bundesamt die Anerkennung als Asylberechtigter ab, stellte jedoch das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Algeriens fest. Angesichts der Berichterstattung über den Strafprozess müsse davon ausgegangen werden, dass der algerische Auslandsgeheimdienst den Prozess beobachtet habe und der Kläger in das Blickfeld algerischer Behörden geraten sei. Bei einer Rückkehr nach Algerien bestehe deshalb die beachtliche Gefahr von Folter und Haft.

5

Mit Bescheid vom 1. Juni 2005 nahm das Bundesamt den Anerkennungsbescheid vom 15. Oktober 2002 mit Wirkung für die Zukunft zurück. Die Feststellung sei von Anfang an fehlerhaft gewesen, da das Vorliegen der Ausnahmetatbestände in § 51 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 und Satz 2 Alt. 3 AuslG verkannt worden sei. Angesichts der rechtskräftigen Verurteilung in Frankreich stehe fest, dass der Kläger eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Das Verwaltungsgericht hat den Rücknahmebescheid mit rechtskräftigem Urteil vom 27. Oktober 2006 aufgehoben, da das Bundesamt die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG versäumt habe.

6

Mit Schreiben vom 10. Juli 2007 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein, in dessen Verlauf der Kläger bestritt, dass sich die Verhältnisse in Algerien entscheidungserheblich geändert hätten. Mit Bescheid vom 21. Dezember 2007 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 15. Oktober 2002 getroffene Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG. Darüber hinaus stellte es fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Durch die im September 2005 per Referendum angenommene "Charta für Frieden und nationale Aussöhnung" sowie die zu deren Umsetzung erlassenen Vorschriften habe Algerien weitgehende Straferlasse für Mitglieder islamistischer Terrorgruppen eingeführt. Die Amnestieregelungen würden konsequent und großzügig umgesetzt und fänden auch nach Ablauf des vorgesehenen Stichtags weiter Anwendung. Der Kläger habe daher im Falle seiner Rückkehr nach Algerien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politisch motivierte Verfolgung zu befürchten.

7

Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid durch Urteil vom 20. Mai 2008 aufgehoben, da dem Widerruf bereits die Rechtskraft des Urteils vom 27. Oktober 2006 entgegenstehe. Der angefochtene Widerruf erweise sich im Ergebnis als eine die Rücknahme vom 1. Juni 2005 ersetzende Entscheidung.

8

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 15. Dezember 2009 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zwar stehe die Rechtskraft des die Rücknahme aufhebenden Urteils dem Widerruf nicht entgegen, denn die Streitgegenstände dieser beiden Verwaltungsakte seien nicht identisch. Dennoch erweise sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Ergebnis als richtig, da die Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nicht vorlägen. Dieser sei gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nur möglich, wenn der Betroffene wegen zwischenzeitlicher Veränderungen im Heimatstaat vor künftiger Verfolgung hinreichend sicher sei. Das sei beim Kläger nicht der Fall. Er falle nicht unter die Stichtagsregelung der Amnestieregelung; ob die Anwendungspraxis auch den Fall des Klägers erfasse, sei unsicher. Angesichts der weiterhin bestehenden Repressionsstrukturen seien ausreichende Anhaltspunkte für eine allgemeine Liberalisierung in Algerien nicht vorhanden.

9

Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte, das Berufungsgericht sei zu Unrecht von dem abgesenkten Wahrscheinlichkeitsmaßstab ausgegangen. Unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie würde selbst ein Vorverfolgter nur durch die widerlegbare Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie privilegiert. Auch nach der Rechtsprechung des EuGH sei beim Widerruf eines nicht Vorverfolgten der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen.

10

Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil aus den Gründen der Ausgangsentscheidung. Darüber hinaus macht er geltend, dass einem anerkannten Flüchtling aufgrund seines Aufenthalts in der Bundesrepublik und des Vertrauens auf seinen gefestigten Status ein größerer Schutz zu gewähren sei als einem Asylbewerber bei der Entscheidung über seine Anerkennung.

Entscheidungsgründe

11

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet, denn das Berufungsurteil beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Zwar hat das Berufungsgericht den Widerrufsbescheid zu Recht sachlich geprüft und nicht bereits wegen des aus der Rechtskraft folgenden Wiederholungsverbots aufgehoben (1.). Es hat aber der Verfolgungsprognose, die es bei Prüfung der Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung gestellt hat, einen unzutreffenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt (2.). Mangels der für eine abschließende Entscheidung notwendigen tatsächlichen Feststellungen kann der Senat in der Sache weder in positiver noch in negativer Hinsicht selbst entscheiden. Die Sache ist daher an den Verwaltungsgerichtshof zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

12

1. Dem Erlass des streitgegenständlichen Widerrufsbescheids steht nicht entgegen, dass die zuvor verfügte Rücknahme der Flüchtlingsanerkennung im Vorprozess rechtskräftig aufgehoben worden ist. Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Soweit der personelle und sachliche Umfang der Rechtskraft reicht, ist die im Vorprozess unterlegene Behörde bei unveränderter Sach- und Rechtslage daran gehindert, einen neuen Verwaltungsakt aus den vom Gericht missbilligten Gründen zu erlassen (vgl. Urteile vom 8. Dezember 1992 - BVerwG 1 C 12.92 - BVerwGE 91, 256 <257 f.> = Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 63 und vom 28. Januar 2010 - BVerwG 4 C 6.08 - Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 99). Das Wiederholungsverbot erfasst aber nur inhaltsgleiche Verwaltungsakte, d.h. die Regelung desselben Sachverhalts durch Anordnung der gleichen Rechtsfolge (Urteil vom 30. August 1962 - BVerwG 1 C 161.58 - BVerwGE 14, 359 <362> = Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 4 und Beschluss vom 15. März 1968 - BVerwG 7 C 183.65 - BVerwGE 29, 210 <213 f.>).

13

In Anwendung dieser Kriterien erweisen sich Rücknahme einer Flüchtlingsanerkennung wegen Nichtbeachtung zwingender Ausschlussgründe und deren Widerruf wegen Wegfalls der sie begründenden Umstände nicht als inhaltsgleich. Zwar erfolgte die Rücknahme im Fall des Klägers nur mit Wirkung für die Zukunft, so dass die beiden Verwaltungsakte auf dieselbe Rechtsfolge gerichtet waren (vgl. aus einer anderen Perspektive Urteil vom 24. November 1998 - BVerwG 9 C 53.97 - BVerwGE 108, 30 <35>). Aber die den beiden Aufhebungsakten zugrunde liegenden rechtlichen Voraussetzungen und die hierbei zu berücksichtigenden Tatsachen unterscheiden sich: Während die Rücknahme auf einer anderen rechtlichen Beurteilung eines vergangenen Sachverhalts beruht, stützt sich der Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG auf eine nach der Anerkennung eingetretene Sachverhaltsänderung. Daher greift das Wiederholungsverbot im vorliegenden Fall nicht.

14

2. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Widerrufs ist § 73 AsylVfG in der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - am 28. August 2007 geltenden Fassung (Bekanntmachung der Neufassung des Asylverfahrensgesetzes vom 2. September 2008, BGBl I S. 1798). Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

15

Mit § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; berichtigt ABl EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Daher sind die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - orientieren. Dies gilt auch für Fälle, in denen die zugrunde liegenden Schutzanträge - wie hier - vor dem Inkrafttreten der Richtlinie gestellt worden sind (vgl. Urteil vom 24. Februar 2011 - BVerwG 10 C 3.10 - juris Rn. 9; zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE vorgesehen).

16

Der angefochtene Bescheid erweist sich nicht deshalb als rechtswidrig, weil das Bundesamt bei seiner Widerrufsentscheidung kein Ermessen ausgeübt hat. Durch die klarstellende Neuregelung in § 73 Abs. 7 AsylVfG ist geklärt, dass in den Fällen, in denen - wie vorliegend - die Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar geworden ist, die Prüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG spätestens bis zum 31. Dezember 2008 zu erfolgen hat. Damit hat der Gesetzgeber eine Übergangsregelung für vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar gewordene Altanerkennungen getroffen und festgelegt, bis wann diese auf einen Widerruf oder eine Rücknahme zu überprüfen sind. Daraus folgt, dass es vor einer solchen Prüfung und Verneinung der Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen in dem seit dem 1. Januar 2005 vorgeschriebenen Verfahren (Negativentscheidung) keiner Ermessensentscheidung bedarf (Urteil vom 25. November 2008 - BVerwG 10 C 53.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 31 Rn. 13 ff.).

17

Das Berufungsurteil ist aber hinsichtlich der materiellen Widerrufsvoraussetzungen und speziell mit Blick auf den der Verfolgungsprognose zugrunde gelegten Wahrscheinlichkeitsmaßstab nicht mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG zu vereinbaren, der im Lichte der Richtlinie 2004/83/EG auszulegen ist. Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie). Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.

18

a) Diese unionsrechtlichen Vorgaben hat der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 2. März 2010 (Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. - NVwZ 2010, 505) dahingehend konkretisiert, dass der in Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie angesprochene "Schutz des Landes" sich nur auf den bis dahin fehlenden Schutz vor den in der Richtlinie aufgeführten Verfolgungshandlungen bezieht (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 67, 76, 78 f.). Dazu hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass sich die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft wegen Veränderungen im Herkunftsland grundsätzlich spiegelbildlich zur Anerkennung verhält. Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG sieht - ebenso wie Art. 1 C Nr. 5 GFK - vor, dass die Flüchtlingseigenschaft erlischt, wenn die Umstände, aufgrund derer sie zuerkannt wurde, weggefallen sind, wenn also die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht mehr vorliegen (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 65). Nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie ist Flüchtling, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, außerhalb des Landes seiner Staatsangehörigkeit befindet, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Ändern sich die der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände und erscheint die ursprüngliche Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG deshalb nicht mehr als begründet, kann der Betreffende es nicht mehr ablehnen, den Schutz seines Herkunftslands in Anspruch zu nehmen (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 66), soweit er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor "Verfolgung" im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie haben muss (ebd. Rn. 76). Die Umstände, die zur Zuerkennung oder umgekehrt zum Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft führen, stehen sich mithin in symmetrischer Weise gegenüber (so EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 68).

19

Mit Blick auf die Maßstäbe für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 der Richtlinie hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sein muss, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 72). Dafür muss feststehen, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung führten, beseitigt sind und diese Beseitigung als dauerhaft angesehen werden kann (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 73).

20

aa) Eine erhebliche Veränderung der verfolgungsbegründenden Umstände setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland mit Blick auf die Faktoren, aus denen die zur Flüchtlingsanerkennung führende Verfolgungsgefahr hergeleitet worden ist, deutlich und wesentlich geändert haben. In der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Sachlage muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben. Die Neubeurteilung einer im Kern unveränderten Sachlage reicht nicht aus, denn reiner Zeitablauf bewirkt für sich genommen keine Sachlagenänderung. Allerdings sind wegen der Zeit- und Faktizitätsbedingtheit einer asylrechtlichen Gefahrenprognose Fallkonstellationen denkbar, in denen der Ablauf einer längeren Zeitspanne ohne besondere Ereignisse im Verfolgerstaat im Zusammenhang mit anderen Faktoren eine vergleichsweise höhere Bedeutung als in anderen Rechtsgebieten zukommt (vgl. Urteile vom 19. September 2000 - BVerwG 9 C 12.00 - BVerwGE 112, 80 <84> und vom 18. September 2001 - BVerwG 1 C 7.01 - BVerwGE 115, 118 <124 f.>).

21

Wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft kann seit Umsetzung der in Art. 11 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der bisherigen, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 AsylVfG nicht festgehalten werden. Danach setzte der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung voraus, dass sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist (Urteile vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 277 <281> und vom 12. Juni 2007 - BVerwG 10 C 24.07 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 28 Rn. 18; so auch das Berufungsgericht in der angefochtenen Entscheidung). Dieser gegenüber der beachtlichen Wahrscheinlichkeit abgesenkte Maßstab ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht für Fälle der Vorverfolgung entwickelt worden. Er wurde dann auf den Flüchtlingsschutz übertragen und hat schließlich Eingang in die Widerrufsvoraussetzungen gefunden, soweit nicht eine gänzlich neue oder andersartige Verfolgung geltend gemacht wird, die in keinem inneren Zusammenhang mehr mit der früheren steht (Urteil vom 18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 Rn. 26).

22

Dieses materiellrechtliche Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose ist der Richtlinie 2004/83/EG fremd. Sie verfolgt vielmehr bei einheitlichem Prognosemaßstab für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er bei der Nachweispflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 und der tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zum Ausdruck kommt (Urteile vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 20 ff. und vom 7. September 2010 - BVerwG 10 C 11.09 - juris Rn. 15). Das ergibt sich neben dem Wortlaut der zuletzt genannten Vorschrift auch aus der Entstehungsgeschichte, denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Demzufolge gilt unionsrechtlich beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung erlitten hat. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192 ; Urteil vom 27. April 2010 a.a.O. Rn. 22).

23

Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass sich der Maßstab der Erheblichkeit für die Veränderung der Umstände danach bestimmt, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 84 ff., 98 f.). Die Richtlinie kennt nur diesen einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zur Beurteilung der Verfolgungsgefahr unabhängig davon, in welchem Stadium - Zuerkennen oder Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft - diese geprüft wird. Es spricht viel dafür, dass die Mitgliedstaaten hiervon in Widerrufsverfahren nicht nach Art. 3 der Richtlinie zugunsten des Betroffenen abweichen können. Denn die zwingenden Erlöschensgründe dürften zu den Kernregelungen zählen, die in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen sind, um das von der Richtlinie 2004/83/EG geschaffene System nicht zu beeinträchtigen (vgl. EuGH, Urteil vom 9. November 2010 - Rs. C-57/09 und C-101/09, B und D - NVwZ 2011, 285 Rn. 120 zu den Ausschlussgründen). Das kann aber hier dahinstehen, da keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass der deutsche Gesetzgeber mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 bei der Flüchtlingsanerkennung an den oben dargelegten unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstäben des nationalen Rechts festhalten wollte. Vielmehr belegt der neu eingefügte § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG, demzufolge für die Feststellung einer Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ergänzend anzuwenden ist, dass der Gesetzgeber sich den beweisrechtlichen Ansatz der Richtlinie zu eigen gemacht hat.

24

bb) Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründen und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 72 ff.). Für den nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie dem Mitgliedstaat obliegenden Nachweis, dass eine Person nicht länger Flüchtling ist, reicht nicht aus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt kurzzeitig keine begründete Furcht vor Verfolgung (mehr) besteht. Die erforderliche dauerhafte Veränderung verlangt dem Mitgliedstaat vielmehr den Nachweis der tatsächlichen Grundlagen für die Prognose ab, dass sich die Veränderung der Umstände als stabil erweist, d.h. dass der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare Zeit anhält. Der Senat hat in einem Fall, in dem ein verfolgendes Regime gestürzt worden ist (Irak), bereits entschieden, dass eine Veränderung in der Regel nur dann als dauerhaft angesehen werden kann, wenn im Herkunftsland ein Staat oder ein sonstiger Schutzakteur im Sinne des Art. 7 der Richtlinie 2004/83/EG vorhanden ist, der geeignete Schritte eingeleitet hat, um die der Anerkennung zugrunde liegende Verfolgung zu verhindern (Urteil vom 24. Februar 2011 a.a.O. Rn. 17). Denn der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nur gerechtfertigt, wenn dem Betroffenen im Herkunftsstaat nachhaltiger Schutz geboten wird, nicht (erneut) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. So wie die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung im Rahmen der Verfolgungsprognose eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung aus der Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen nicht zuletzt unter Einbeziehung der Schwere des befürchteten Eingriffs verlangt und damit dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Rechnung trägt (Urteil vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>; Beschluss vom 7. Februar 2008 a.a.O. juris Rn. 37), gilt dies auch für das Kriterium der Dauerhaftigkeit. Je größer das Risiko einer auch unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit verbleibenden Verfolgung ist, desto nachhaltiger muss die Stabilität der Veränderung der Verhältnisse sein und prognostiziert werden können. Sind - wie hier - Veränderungen innerhalb eines fortbestehenden Regimes zu beurteilen, die zum Wegfall der Flüchtlingseigenschaft führen sollen, sind an deren Dauerhaftigkeit ebenfalls hohe Anforderungen zu stellen. Unionsrecht gebietet, dass die Beurteilung der Größe der Gefahr von Verfolgung mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen ist, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 a.a.O. Rn. 90). Eine Garantie der Kontinuität veränderter politischer Verhältnisse auf unabsehbare Zeit kann indes nicht verlangt werden.

25

b) Das Berufungsgericht hat vorliegend bei seiner Verfolgungsprognose den Maßstab der hinreichenden Sicherheit zugrunde gelegt. Damit hat es § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG verletzt; auf dieser Verletzung beruht die Berufungsentscheidung. Da das Berufungsgericht seine tatsächlichen Feststellungen unter einem - wie dargelegt - rechtlich unzutreffenden Maßstab getroffen hat, ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Denn es ist Aufgabe des Berufungsgerichts als Tatsacheninstanz, die Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer Gesamtschau zu würdigen und mit Blick auf die Umstände, die der Flüchtlingsanerkennung des Betroffenen zugrunde lagen, eine Gefahrenprognose unter Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zu erstellen.

Tenor

I.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung (§ 78 Abs. 4 AsylVfG) hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor. Es liegt weder ein gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 VwGO erheblicher Verfahrensmangel vor noch kommt der Rechtssache eine grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) zu. Die beantragte Zulassung der Berufung wegen Abweichung von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts scheitert bereits daran, dass eine Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) lediglich benannt wird, inhaltlich aber hierzu nichts ausgeführt wird, so dass dieser Zulassungsgrund nicht in einer dem Darlegungserfordernis des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG genügenden Weise ausgeführt wird.

1. Die geltend gemachte Versagung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor.

Der Kläger macht geltend, dass das Verwaltungsgericht fehlerhaft von der Widersprüchlichkeit seines Vortrags ausgegangen sei, verkannt habe, dass sein Verfolgungsschicksal bereits über fünf Jahre zurückliege, den weiteren Geschehensverlauf falsch bewertet habe und zu Unrecht eine Gruppenverfolgung abgelehnt habe. Darüber hinaus sei das Verwaltungsgericht fehlerhaft davon ausgegangen, dass nicht ableitbar sei, worauf die Verwundungen, die augenscheinlich festgestellt worden seien, zurückzuführen seien und insoweit ein Sachverständigengutachten einzuholen gewesen wäre. Schließlich habe das Verwaltungsgericht wegen fehlerhafter Annahme der Unglaubwürdigkeit des Klägers zu Unrecht eine ernsthafte Gefahr für Leib und Leben des Klägers verneint. Auch die Annahme, es bestehe kein bewaffneter Konflikt in der kurdischen Herkunftsregion des Klägers sei fehlerhaft. Aus diesem Vorbringen ergibt sich jedoch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs.

Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden. Das Gericht hat sich mit den wesentlichen Argumenten des Klagevortrags zu befassen, wenn sie entscheidungserheblich sind. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann allerdings nur dann festgestellt werden, wenn sich aus besonderen Umständen klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (BayVGH, B. v. 16.7.2015 - 13a ZB 15.30028 - juris Rn. 4; Kraft in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 138 Rn. 31 f). Das Verwaltungsgericht setzt sich hier jedoch in den Urteilsgründen mit sämtlichen vom Kläger vorgetragenen Aspekten auseinander. Es ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass ein entscheidungserheblicher Vortrag des Klägers unberücksichtigt geblieben oder nicht gewürdigt worden ist. Auch mit den Ausführungen, es bestehe aufgrund der aktuellen Entwicklungen ein bewaffneter Konflikt im kurdischen Herkunftsgebiet des Klägers, wird insoweit nur die Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils angezweifelt. Mit seinem Vortrag wendet sich der Kläger daher in Wirklichkeit im Gewand einer Gehörsrüge gegen die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, was auch aus den Formulierungen im Zulassungsvorbringen eindeutig zum Ausdruck kommt. Das Asylverfahrensrecht kennt jedoch in § 78 Abs. 3 AsylVfG - im Gegensatz zu § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO - den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit einer Entscheidung nicht (BayVGH, B. v. 24.7.2015 - 9 ZB 14.30457 - juris Rn. 13).

Soweit im Zulassungsvorbringen angeführt wird, das Verwaltungsgericht hätte zur Frage, worauf die Verwundungen zurückzuführen sind, ein Sachverständigengutachten einholen müssen, ergibt sich daraus ebenfalls keine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Denn das Verwaltungsgericht hat über die sichtbaren Verletzungen des Klägers Beweis durch Augenscheinnahme erhoben und - unabhängig von der Frage, woher die Verletzungen stammen - die Erkenntnisse im Rahmen der Beweiswürdigung und der Würdigung des Aussageverhaltens bewertet. Abgesehen davon, dass der anwaltlich vertretene Kläger insoweit keinen Beweisantrag gestellt hat und damit nicht alle ihm eröffneten prozessualen und faktischen Möglichkeiten genutzt hat, sich rechtzeitig Gehör zu verschaffen (Kraft in Eyermann, a. a. O., § 138 Rn. 35), wird auch insoweit nur die freie Beweiswürdigung (Art. 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) des Gerichts angegriffen. Dies stellt jedoch keinen Zulassungsgrund gemäß § 78 Abs. 3 AsylVfG dar. Es ist auch nicht ersichtlich oder dargelegt, weshalb sich dem Verwaltungsgericht eine weitere Sachverhaltsaufklärung auch ohne entsprechendes Beweisbegehren des anwaltlich vertretenen Klägers hätte aufdrängen müssen.

2. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG).

Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine klärungsfähige und klärungsbedürftige Rechtsfrage aufgeworfen wird. Erforderlich ist die Formulierung einer konkreten Tatsachen- oder Rechtsfrage und das Aufzeigen, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich und klärungsbedürftig ist, sowie weshalb dieser Frage eine allgemeine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung zukommt (vgl. BayVGH, B. v. 12.9.2013 - 9 ZB 10.30236 - juris Rn. 7; BayVGH, B. v. 30.3.2015 -13a ZB 15.30052 - juris Rn. 2). Dem wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht. Die als grundsätzlich klärungsbedürftig bezeichnete Frage, ob kurdische Volkszugehörige, die in einer ausweglosen Situation aus ihrer Heimatregion fliehen mussten, um nicht weiter den ständigen Übergriffen der türkischen Sicherheitsbehörden ausgesetzt zu sein, tatsächlich keiner Verfolgung ausgesetzt sind und eventuell im Westen eine inländische Fluchtalternative haben und ob ihnen im Falle einer Rückkehr in der Türkei die Gefahr droht, unmenschlich behandelt und inhaftiert zu werden, ist maßgeblich von den Umständen des Einzelfalls abhängig und im Übrigen durch die obergerichtliche Rechtsprechung geklärt (vgl. SächsOVG, U. v. 22.11.2014 - A 3 A 519/12 - juris; VGH BW, U. v. 27.8.2013 - A 12 S 2023/11 - juris; OVG NW, U. v. 2.7.2013 - 8 A 2632/06.A - juris; BayVGH, U. v. 27.4.2012 - 9 B 08.30203 - juris). Darüber hinausgehenden Klärungsbedarf zeigt das Zulassungsvorbringen nicht auf, so dass von einem Berufungsverfahren daher kein weiterer Ertrag zu erwarten ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylVfG.

Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.

II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.

Der Antragsteller ist nach seinen Angaben türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste im Jahr 1996 mit dem Flugzeug nach Deutschland ein. Wegen einer Vielzahl teilweise schwerer Straftaten aus dem Drogen- und Rockerbandenmilieu (auch illegaler Umgang mit einer schussfähigen Maschinenpistole) wurde er mit Bescheid der Landeshauptstadt München vom 10. März 2016 ausgewiesen. Der Bescheid ist seit dem 15. April 2016 bestandskräftig; er ist noch nicht vollzogen.

Am 19. Mai 2017 stellte der Antragsteller Asylantrag. In seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) trug der Antragsteller im Wesentlichen vor, dass ihn in der Türkei Folter und Tod erwarten würden. Er werde als Kurde den türkischen Wehrdienst verweigern, was ihn der Verfolgung durch den türkischen Staat aussetzen werde. Außerdem könne er, selbst wenn er den Wehrdienst überleben werde, als aufgefallener Kurde kaum in der Türkei überleben. Seine Familie in der Türkei sei auf einer Liste und der Verfolgung ausgesetzt. Im Jahr 2012 sei er in Deutschland in einem alevitisch-kurdischen Zentrum tätig gewesen.

Mit Bescheid vom 11. Juli 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, den Antrag auf Asylanerkennung und den Antrag auf subsidiären Schutz jeweils als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen und forderte den Antragsteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Sollte der Antragsteller die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er in die Türkei abgeschoben. Der Antragsteller könne auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 60 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.

Auf die Begründung des Bescheides wird verwiesen.

Am 19. Juli 2017 erhob der Antragsteller über seine Bevollmächtigte Klage gegen den Bescheid (M 1 K 17.46574) und beantragte außerdem,

die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.

Klage und Antrag wurden nicht begründet.

Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen.

II.

Der Antrag, die kraft Gesetzes gemäß § 75 AsylG ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung im streitgegenständlichen Bescheid gemäß § 36 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen, bleibt ohne Erfolg.

Nach dem Willen der Verfassung (Art. 16a Abs. 4 GG) und des einfachen Gesetzes (§ 36 Abs. 4 AsylG) darf das Gericht die Aussetzung der Abschiebung nur anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens ist die unter Setzung einer Ausreisefrist von einer Woche ausgesprochene Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG und § 36 Abs. 1 i.V.m. § 30 AsylG. Das Gericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen dieser Abschiebungsandrohung zu prüfen, insbesondere das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamts, also dessen Einschätzung, dass der Asylantrag (siehe zur Definition § 13 Abs. 2 AsylG) nach § 30 AsylG offensichtlich unbegründet ist.

Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung.

Zu Recht lehnt das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unbegründet ab. Die vom Antragsteller geschilderten Befürchtungen im Fall seiner Rückkehr in die Türkei begründen nicht die Furcht vor politischer Verfolgung im Sinne des Asylgrundrechts nach Art. 16a GG oder einer asylrelevanten Verfolgung im Sinne der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG und begründen keinen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 AsylG. Das hat das Bundesamt ebenso ausführlich wie zutreffend im Bescheid herausgearbeitet, § 77 Abs. 2 AsylG.

Insbesondere der Umstand, dass der Antragsteller als kurdischer Volkszugehöriger in der Türkei der Wehrpflicht unterfällt, bislang aber keinen Wehrdienst geleistet hat, verhilft seinem Begehren nicht zum Erfolg. Der Wehrpflicht unterliegt jeder männliche türkische Staatsangehörige ab dem 20. Lebensjahr. Das Wehrdienstalter beginnt am 1. Januar des Jahres, in dem der Betreffende das 19. Lebensjahr vollendet und endet am 1. Januar im Jahr des 41. Geburtstags. Der Antragsteller unterfällt somit der Wehrpflicht. Ein Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes oder der Ableistung eines Ersatzdienstes besteht nicht. Wehrdienstverweigerer und Fahnenflüchtige werden strafrechtlich verfolgt. Auslandstürken können sich jedoch gegen Entgelt von der Wehrpflicht freikaufen. Mit Änderung des Wehrgesetzes vom 14. Januar 2016 wurde das Entgelt von 6.500 Euro auf 1.000 Euro gesenkt. Seit der Änderung von Art. 63 tMilStGB ist bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Geldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben zwar Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtlinge werden aber seit Ende 2004 nicht mehr in Personenstandsregister eingetragen (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.2.2017, S.18). Selbst wenn der Antragsteller infolge seines nicht angetretenen Wehrdienstes als wehrdienstflüchtig angesehen würde, wird er dadurch nicht asylerheblich berührt. Die Heranziehung zum Wehrdienst in der Türkei stellt keine Form politischer Verfolgung dar, da sie nach den vorstehenden Ausführungen allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt wird (vgl. SächsOVG, U.v. 22.11.2014 – A 3 A 519/12 – juris Rn. 41). Auch eine etwaige Sanktionierung der Wehrdienstentziehung weist keine verfolgungsrelevanten Elemente auf (SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557/13.A – juris Rn. 30).

Die vom Antragsteller nur angedeutete Mitarbeit in einem alevitisch-kurdischen Zentrum begründet ebenso nicht sein Begehren. Die Glaubensgemeinschaft der Aleviten hat zwar in der Türkei – wie die der katholischen und evangelischen Christen – keinen eigenen Rechtsstatus. Die individuelle Religionsfreiheit ist jedoch weitgehend gewährleistet (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.2.2017, S. 14 f.). Eine Verfolgungsfurcht wegen seines Glaubens macht der Antragsteller überdies selbst nicht geltend.

Auch ein Anspruch des Antragstellers auf die Gewährung von subsidiärem Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG besteht nicht, weil er keine stichhaltigen Gründe dafür vorgebracht hat, dass ihm in der Türkei ernsthafter Schaden im Sinne dieser Vorschrift droht. Es ist nicht zu erwarten, dass dem Antragsteller bei einer Rückkehr in die Türkei die Verhängung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AsylG) drohen. Die Furcht vor unmenschlicher oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung wegen der Wehrdienstentziehung deutet der Antragsteller zwar an. Diese Furcht ist aber aus den oben dargestellten Gründen unbegründet und rechtfertigt auch keinen subsidiären Schutz. Ein bewaffneter Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG besteht in der Türkei nicht.

Zu Recht hat das Bundesamt den unbegründeten Asylantrag gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylG als offensichtlich unbegründet abgewiesen, weil der Antragsteller den Asylantrag gestellt hat, um eine drohende Aufenthaltsbeendigung abzuwenden, obwohl er zuvor ausreichend Gelegenheit hatte, einen Asylantrag zu stellen. Der Kläger hätte nach seiner im Jahr 1996 erfolgten Einreise nach Deutschland 20 Jahre lang Gelegenheit gehabt, einen Asylantrag zu stellen. Es ist offensichtlich, dass die nunmehrige Asylantragstellung im Zusammenhang mit der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung steht, deren Vollzug er damit abwenden möchte. Außerdem ist der Asylantrag nach § 30 Abs. 3 Nr. 6 AsylG als offensichtlich unbegründet abzulehnen, weil der Antragsteller nach den §§ 53, 54 AufenthG vollziehbar ausgewiesen ist.

Abschiebungsverbote nach § 34 Abs. 1 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG bestehen ebenfalls nicht, wie das Bundesamt im Bescheid zutreffend ausführt.

Da der Antragsteller schließlich auch über keinen Aufenthaltstitel (mehr) verfügt (§ 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG), besteht die Abschiebungsandrohung zu Recht.

Der Antrag war deshalb mit der Kostenfolge nach § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

Gründe

1

Die Beschwerde, mit der eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und eine Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) geltend gemacht wird, ist unzulässig, weil sie bezüglich beider Zulassungsgründe nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt.

2

1. Die Revision ist nicht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

3

1.1 Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - AuAS 2014, 110 und vom 10. März 2015 - 1 B 7.15 - juris).

4

Für die Zulassung der Revision reicht, anders als für die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO/§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG (BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 - BVerwGE 70, 24 <26>), eine Tatsachenfrage grundsätzlicher Bedeutung nicht aus. Die Klärungsbedürftigkeit muss vielmehr in Bezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab, nicht die richterliche Tatsachenwürdigung und -bewertung bestehen; auch der Umstand, dass das Ergebnis der zur Feststellung und Würdigung des Tatsachenstoffes berufenen Instanzgerichte für eine Vielzahl von Verfahren von Bedeutung ist, lässt für sich allein nach geltendem Revisionszulassungsrecht eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu. Der Gesetzgeber hat insoweit auch für das gerichtliche Asylverfahren an den allgemeinen Grundsätzen des Revisionsrechts festgehalten und für das Bundesverwaltungsgericht keine Befugnis eröffnet, Tatsachen(würdigungs)fragen grundsätzlicher Bedeutung in "Länderleitentscheidungen", wie sie etwa das britische Prozessrecht kennt, zu treffen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 28 - zur Feststellung einer extremen Gefahrenlage) haben sich allerdings die Berufungsgerichte nach § 108 VwGO (erkennbar) mit abweichenden Tatsachen- und Lagebeurteilungen anderer Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe auseinanderzusetzen.

5

Anderes folgt auch nicht aus dem Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 2016 (2 BvR 31/14 - InfAuslR 2017, 75). Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Beschluss nicht entschieden, dass in Fällen, in denen Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe auf der Grundlage (weitestgehend) identischer Tatsachenfeststellungen zu einer im Ergebnis abweichenden rechtlichen Beurteilung kommen, stets und notwendig eine (klärungsbedürftige) Rechtsfrage des Bundesrechts vorliegt, welche eine Rechtsmittelzulassung gebietet, um den Zugang zur Rechtsmittelinstanz nicht in einer durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigenden Weise zu erschweren. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr als Grund der bei als identisch angenommener Tatsachengrundlage im Ergebnis unterschiedlichen Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen einerseits, des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg andererseits eine unterschiedliche Rechtsauffassung zur Rechtsfrage bezeichnet, ob der Asylbewerber tatsächlich politisch aktiv war oder ob es ausreicht, dass die Behörden des Heimatstaates von einer solchen Betätigung ausgingen. Für Tatsachenfragen - und damit auch für Unterschiede bei der tatsächlichen Bewertung identischer Tatsachengrundlagen - hat es vorab ausdrücklich bestätigt, dass wegen der Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) eine weitergehende Vereinheitlichung der Rechtsprechung durch das Bundesverwaltungsgericht ausscheidet. Auch in Fällen (weitgehend) identischer Tatsachengrundlagen ist für die Revisionszulassung mithin eine Darlegung erforderlich, dass die im Ergebnis abweichende Bewertung der Tatsachengrundlage eine klärungsbedürftige Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, und diese Frage hinreichend klar zu bezeichnen.

6

Im Ergebnis unterschiedliche Bewertungen von Tatsachen bei (weitgehend) identischer Tatsachengrundlage weisen auch nicht auf rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftige Fragen zur Auslegung und Anwendung des § 108 VwGO hin; im Übrigen sind (mögliche) Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung nach ständiger Rechtsprechung revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen. Ein - hier nicht geltend gemachter - Verfahrensfehler kann ausnahmsweise dann gegeben sein, wenn die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen die Denkgesetze verstößt oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet (BVerwG, Beschlüsse vom 25. Juni 2004 - 1 B 249.03 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 284 und vom 23. September 2011 - 1 B 19.11 - juris, jeweils m.w.N.). Ein Verfahrensmangel bei der Beweiswürdigung liegt aber nur dann vor, wenn sich der gerügte Fehler hinreichend eindeutig von der materiellrechtlichen Subsumtion, d.h. der korrekten Anwendung des sachlichen Rechts abgrenzen lässt und der Tatrichter den ihm bei der Tatsachenfeststellung durch den Grundsatz freier Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffneten Wertungsrahmen verlassen hat.

7

1.2 Nach diesen Grundsätzen ist eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache schon nicht dargelegt.

8

a) Die Beschwerde hält zunächst - unter Hinweis auf den Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 2016 - 2 BvR 31/14 - (InfAuslR 2017, 75) - für grundsätzlich klärungsbedürftig,

"ob auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen beim Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz zu einem Urteil vom 16.12.2016 nur subsidiärer Schutz, wie das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz meint, zu gewähren ist, oder aber der Flüchtlingsstatus gemäß Artikel 3 AsylG, z.B. der VGH Baden-Württemberg vom 19.06.2013, AZ A 11 S 927/13, der bei der gleichen Tatsachengrundlage abweichend rechtlich gelangt ist."

9

Mit diesem und dem weiteren Vorbringen wird eine grundsätzliche Bedeutung nicht dargelegt. Von einer grundsätzlichen Bedeutung ist regelmäßig auszugehen, wenn eine bundesrechtliche Rechtsfrage in der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte uneinheitlich beantwortet wird und es an einer Klärung des für die materiellrechtliche Subsumtion sowie die Tatsachenfeststellung und -würdigung heranzuziehenden rechtlichen Maßstabes durch das Bundesverwaltungsgericht fehlt.

10

Dass sich vor diesem Hintergrund im vorliegenden Verfahren eine grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage stellt, wird von der Beschwerde nicht substantiiert dargelegt. Der bloße Hinweis darauf, dass zwei Obergerichte - bei als identisch angenommener Tatsachengrundlage - zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen seien, weist gerade nicht auf eine (klärungsfähige) Rechtsfrage des Bundesrechts, wenn und weil es an Darlegungen zur Frage fehlt, auf welchem (klärungsbedürftigen) Unterschied in den der Tatsachenbewertung zugrunde liegenden Rechtsauffassungen die im Ergebnis abweichende Beurteilung beruht. Es fehlen schon nähere Darlegungen, inwiefern mit Blick auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg aus dem Jahre 2013 weiterhin von einer identischen Tatsachengrundlage auszugehen ist. Soweit die Beschwerde behauptet, das Berufungsgericht gehe davon aus, dass sich die Umstände bis in das Jahr 2016 hinein nicht geändert hätten (UA S. 28), bezieht sich diese Feststellung auf den Umgang der syrischen Behörden mit Personen in Syrien, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (UA S. 27). Hinsichtlich der Situation von Syrern, die nach illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt nach Syrien zurückkehren, ist das Berufungsgericht hingegen unter Einbeziehung neuerer Erkenntnisquellen und im Einklang mit der aktuellen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. OVG Münster, Urteil vom 21. Februar 2017 - 14 A 2316/16.A - juris Rn. 47 ff.; OVG Saarlouis, Urteil vom 2. Februar 2017 - 2 A 515/16 - juris Rn. 21 ff.; VGH München, Urteil vom 12. Dezember 2016 - 21 B 16.30364 - juris Rn. 62 ff.; OVG Schleswig, Urteil vom 23. November 2016 - 3 LB 17/16 - juris Rn. 37) zu dem Ergebnis gekommen, es gebe keine zureichenden tatsächlichen Erkenntnisse, dass die syrischen Sicherheitsbehörden letztlich jeden Rückkehrer, der Syrien verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten habe, ohne weitere Anhaltspunkte der Opposition zurechneten. Dabei hat es insbesondere berücksichtigt, dass inzwischen fast fünf Millionen Menschen und damit knapp ein Viertel der Bevölkerung aus Syrien geflohen ist. Insoweit sei auch dem syrischen Staat bekannt, dass der Großteil der Ausgereisten das Land nicht als Ausdruck politischer Gegnerschaft zum Regime, sondern aus Angst vor dem Bürgerkrieg verlassen habe (UA S. 15 f.).

11

Dessen ungeachtet formuliert die Beschwerde auch keine einer grundsätzlichen Klärung bedürftige Maßstabsfrage zum Flüchtlingsrecht. Insbesondere legt sie nicht näher dar, inwiefern in Fällen, in denen ein Staat Rückkehrer nicht generell einer regimefeindlichen Gesinnung verdächtigt, sondern - wie vom Berufungsgericht tatrichterlich und mangels durchgreifender Verfahrensrügen das Bundesverwaltungsgericht bindend (§ 137 Abs. 2 VwGO) festgestellt - in ihnen allenfalls "potentielle" Gegner und "potentielle" Informationsquellen zur Exilszene sieht, auf die er möglicherweise wahllos routinemäßig zugreift (UA S. 21), um nach möglicherweise verwertbaren Informationen über regimegegnerische Bestrebungen zu "fischen" (UA S. 23), von der Zuschreibung eines Verfolgungsgrundes nach § 3b Abs. 2 AsylG und damit von der nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen einer möglichen Verfolgungshandlung und einem flüchtlingsrelevanten Verfolgungsgrund auszugehen ist. Der Hinweis auf den "wahllosen" Zugriff des Regimes macht auch deutlich, dass das Berufungsgericht - ungeachtet der Verwendung der Bezeichnung "potentielle" Gegner oder "potentielle" Informationsquellen - nicht im rechtlichen Ansatz verkannt haben könnte, dass für die Verknüpfung von (möglicher) Verfolgungshandlung mit dem Verfolgungsgrund hinreicht, dass das Regime einem Rückkehrer eine bestimmte politische Überzeugung bzw. Regimegegnerschaft lediglich zuschreibt (§ 3b Abs. 2 AsylG) und auch sonst "unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist" (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG).

12

b) Ein Klärungsbedarf wird auch nicht hinsichtlich der Frage aufgezeigt,

"ob [dem Kläger] ..., zumal nach längerem Auslandsaufenthalt und Asylanerkennung im Ausland, wegen der Flucht ins Ausland vor der drohenden Einberufung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgungsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes drohen."

13

Abgesehen von dem Umstand, dass dem Kläger im Ausland kein Asyl, sondern lediglich subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, zeigt die Beschwerde auch insoweit keine einer grundsätzlichen Klärung bedürftige Maßstabsfrage auf, sondern wendet sich lediglich gegen die den Tatsachengerichten vorbehaltene Sachverhalts- und Beweiswürdigung. Eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung folgt insoweit auch nicht aus der von der Beschwerde herangezogenen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs.

14

aa) Das Berufungsgericht geht bei der Beurteilung der Frage, ob dem Kläger wegen der durch seine Flucht möglicherweise bewirkten Wehrdienstentziehung Verfolgung wegen eines in § 3b AsylG normierten Verfolgungsgrundes droht, zutreffend von den in der höchstrichterlichen Rechtsprechung hierzu entwickelten Maßstäben aus. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (vgl. BVerwG, Urteile vom 19. August 1986 - 9 C 322.85 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 54 = DVBl 1987, 47, vom 6. Dezember 1988 - 9 C 22.88 - BVerwGE 81, 41 <44> und vom 25. Juni 1991 - 9 C 131.90 - Buchholz 402.25 § 2 AsylVfG Nr. 21 = InfAuslR 1991, 310 <313>; allgemein zur Anknüpfung an die politische Überzeugung als Grundlage eines zielgerichteten Eingriffs in ein flüchtlingsrechtlich geschütztes Rechtsgut s.a. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <335>; BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 <60 f.>). Auch für andere Fallgestaltungen wurde eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung dann verneint, wenn die verhängte Sanktion an eine alle Staatsbürger gleichermaßen treffende Pflicht anknüpft. So hat das Bundesverwaltungsgericht die Ausbürgerung eines türkischen Staatsangehörigen, der der Aufforderung zur Ableistung des Wehrdienstes nicht nachgekommen war, als nicht asylerheblich gewertet (BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 1995 - 9 C 3.95 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 180 S. 63 f.). Es hat sich dabei auf eine Vorschrift des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes gestützt, wonach der Ministerrat denjenigen die türkische Staatsangehörigkeit aberkennen kann, die sich im Ausland aufhalten und ohne triftigen Grund drei Monate lang der amtlichen Einberufung zur Ableistung des Militärdienstes nicht nachkommen. Diese Rechtsprechung hat das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung bestätigt und konkretisiert, in der es um eine Ausbürgerung aufgrund der fehlenden Registrierung in einer ehemaligen Sowjetrepublik ging. Auch hier wurde hervorgehoben, dass eine ordnungsrechtliche Sanktion für die Verletzung einer alle Staatsbürger gleichermaßen treffenden Pflicht nicht als flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung angesehen werden kann (BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2009 - 10 C 50.07 - BVerwGE 133, 203 Rn. 24).

15

bb) Von diesen rechtlichen Maßstäben geht auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in dem von der Beschwerde angeführten Urteil vom 12. Dezember 2016 - 21 B 16.30372 - (juris) aus. Seine im Ergebnis von jener des OVG Rheinland-Pfalz abweichende Bewertung, dass Rückkehrern im militärdienstpflichtigen Alter (Wehrpflichtige, Reservisten), die sich durch Flucht ins Ausland einer in der Bürgerkriegssituation drohenden Einberufung zum Militärdienst entzogen haben, bei der Einreise im Zusammenhang mit den Sicherheitskontrollen von den syrischen Sicherheitskräften in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle Gesinnung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine menschenrechtswidrige Behandlung, insbesondere Folter, droht (Rn. 72), gründet in der in Auswertung der Erkenntnislage gefundenen Überzeugung, dass die Sicherheitskräfte zurückkehrende Personen Maßnahmen nicht wahllos oder allein wegen der Nichterfüllung einer alle Staatsbürger männlichen Geschlechts und einer bestimmten Altersgruppe (wehrfähige Männer) gleichermaßen treffenden Pflicht unterziehen, sondern ihnen durchweg eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellen; diese Einschätzung beruht mit der Zuschreibung einer bestimmten Handlungsmotivation an das syrische Regime und seine Sicherheitskräfte auf einer den Tatsachengerichten vorbehaltenen Sachverhaltswürdigung.

16

cc) Weder die mit der Beschwerde aufgeworfene Frage selbst noch das sie stützende Vorbringen führt in Bezug auf die unterschiedliche Bewertung der Rückkehrgefährdung nach Syrien zurückkehrender wehrpflichtiger Personen die im Ergebnis unterschiedlichen Bewertungen auf unterschiedliche Rechtsauffassungen zur Verknüpfung der (möglicherweise) drohenden Verfolgungshandlung (§ 3a AsylG) mit einem Verfolgungsgrund (§ 3b AsylG) zurück, die einer grundsätzlichen revisionsgerichtlichen Klärung zugänglich sein könnten.

17

c) Auch die weiter aufgeworfenen Fragen, insbesondere

"ob Syrern, die aus einer vermeintlichen regierungsfeindlichen Zone ... stammen, in jedem Fall der hypothetischen Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht"

und

"ob aufgrund den vom OVG festgestellten Tatsachengrundlage die genannten Umstände in ihrer Gesamtschau rechtlich als politische Verfolgung zu qualifizieren sind."

rechtfertigen keine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung, weil die Beschwerde auch insoweit keine einer grundsätzlichen Klärung bedürftige Rechtsfrage aufzeigt, sondern sich in der Sache lediglich gegen die ihrer Auffassung nach unzutreffende Tatsachen- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts wendet.

18

2. Die Revision ist auch nicht wegen der geltend gemachten Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zuzulassen.

19

2.1 Eine Divergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts oder eines anderen in der Vorschrift genannten Gerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat. Die nach Auffassung des Beschwerdeführers divergierenden Rechtsätze müssen einander präzise gegenübergestellt werden (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 17. Dezember 2010 - 8 B 38.10 - ZOV 2011, 45 und vom 17. Februar 2015 - 1 B 3.15 - juris Rn. 7). Allein das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen eines der in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten Gerichte genügt den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenzrüge nicht.

20

2.2 Auch diesen Anforderungen wird die Beschwerde nicht gerecht. Insbesondere werden die sich angeblich widersprechenden Rechtssätze nicht konkret herausgearbeitet. In dem herangezogenen Kammerbeschluss vom 22. November 1996 (- 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) hatte das Bundesverfassungsgericht - zu Art. 16a GG - dahin erkannt, dass politische Verfolgung auch dann vorliegen kann, wenn der oder die Betroffene lediglich der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist; auch wenn sich die Sicherheitskräfte vom Beschwerdeführer in erster Linie Informationen über seine Verwandten und andere PKK-Mitglieder erhofft haben sollten, hätte er doch die ihm zugefügten Misshandlungen und Erniedrigungen wegen seiner Beziehungen zu den Gesuchten, mithin wegen des asylerheblichen Merkmals der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, erdulden müssen. Dem wird aber kein hiervon abweichender, vom Berufungsgericht aufgestellter Rechtssatz gegenübergestellt. Den Ausführungen des Berufungsgerichts ist vielmehr zu entnehmen, dass es von einem wahllosen Zugriff der Sicherheitsbehörden ausgeht, der gerade nicht an ein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal, etwa die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, anknüpft; allenfalls geht das Berufungsgericht, ohne insoweit von dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts abzuweichen, implizit davon aus, dass die Gruppe der nach illegaler Ausreise und Schutzbegehren zurückkehrenden Personen oder doch die Untergruppe der zurückkehrenden wehrfähigen Männer keine "bestimmte soziale Gruppe" im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bilden. Im Übrigen erging die von der Beschwerde in diesem Zusammenhang zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. November 1996 - 2 BvR 1753/96 - (AuAS 1997, 6) zum Begriff der politischen Verfolgung in Art. 16a Abs. 1 GG, während es vorliegend um die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylG geht.

21

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG; Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

Gründe

I

1

Der Antragsteller, ein in Deutschland geborener und aufgewachsener 28-jähriger türkischer Staatsangehöriger, begehrt einstweiligen Rechtsschutz im Hinblick auf die Anordnung seiner Abschiebung in die Türkei.

2

Mit Verfügung vom 16. Oktober 2017, dem Antragsteller anlässlich seiner Festnahme am 18. Oktober 2017 ausgehändigt, ordnete das Ministerium für Inneres, ländliche Räume und Integration des Landes Schleswig-Holstein - gestützt auf § 58a AufenthG - die Abschiebung des Antragstellers in die Türkei an. Es begründete seine Entscheidung damit, dass der Antragsteller dem jihadistischen Salafismus zuzurechnen sei und mit der terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat (IS)" zumindest sympathisiere. Regelmäßig besuche er salafistisch geprägte Moscheen und Seminare von "C. Y.". Er unterhalte engen Kontakt zu weiteren phänomenrelevanten Personen. Auf diversen Speichermedien des Antragstellers seien zahlreiche phänomenrelevante Audio-, Video- und Bilddateien vorhanden. Der Antragsteller bewerbe und verbreite seine ideologische Überzeugung mittels sozialer Netzwerke, insbesondere "Facebook". Letztlich habe er auch einen Hang zu Waffen aller Art. Daraus ergebe sich die auf Tatsachen gestützte Prognose, dass von dem Antragsteller eine terroristische Gefahr ausgehe, weil er die öffentliche Gewalt gegen "Ungläubige" befürworte und zu Anschlägen aufrufe. Diese Handlungen seien geeignet, andere Personen zu Anschlägen zu motivieren. Auch sei davon auszugehen, dass der Antragsteller zu denjenigen Personen gehöre, die die "Hijra (Auswanderung)" nicht vollzögen und sich daher verpflichtet sähen, selbst Anschläge zu verüben. Von dem Antragsteller gehe überdies eine besondere Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland aus. Aufgrund des Verhaltens des Antragstellers und der sich daraus ergebenden besonderen Gefährdungslage für die Bundesrepublik Deutschland überwiege bei der zutreffenden Ermessensentscheidung das Interesse an der Ausreise das Bleibeinteresse des Antragstellers. Abschiebungsverbote seien nicht ersichtlich.

3

Am 25. Oktober 2017 hat der Antragsteller beim Bundesverwaltungsgericht Klage gegen die Abschiebungsanordnung erhoben und zugleich einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt, wobei er diesen Antrag mit Schriftsatz vom 12. Dezember 2017 um einen Hilfsantrag ergänzt hat. Von ihm gehe keine Gefahr aus. Er beschäftige sich aus Gründen des persönlichen Interesses und der Klärung religiöser und philosophischer Fragen mit der muslimischen Religion. Er habe sich in keiner Weise mit dem Kampf gegen "Ungläubige" identifiziert, hierzu aufgerufen oder konkrete Vorbereitungen dazu getroffen. Die hierzu ermittelten Tatsachen seien nicht belastbar. Es gehe um Handlungen, welche er unbedarft und aus naivem Interesse für den Islam getätigt habe. Die Audio-, Video- und Bilddateien habe er auf sein Mobiltelefon geladen, um diese später im Hinblick auf die Glaubensausrichtung der Personen, die diese Texte verfasst haben, zu analysieren. Auch bei den über Facebook geteilten Texten handele es sich nicht um eigene Texte, sondern ausschließlich um Texte, die er auf der Suche nach der richtigen Auslegung des Islams habe lesen und einschätzen wollen. Die Abschiebungsanordnung verstoße ferner gegen Art. 41 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963. Auch dürfe eine Abschiebung aus generalpräventiven Gründen nicht automatisch, sondern nur aufgrund einer Ermessensentscheidung erlassen werden. Eine solche sei in der Abschiebungsanordnung nicht enthalten. Diese stütze sich ersichtlich nicht auf belastbare Tatsachen. Im Übrigen stünden seiner Abschiebung die in der Türkei zu erwartenden Haftbedingungen entgegen. Es sei zu erwarten, dass er als "Gefährder" eingestuft und deshalb inhaftiert werde. Zudem drohe ihm im Falle der Abschiebung die Einberufung zum türkischen Militärdienst, den er trotz entgegenstehender Überzeugung nicht verweigern könne; auch deshalb müsse er mit einer Inhaftierung rechnen. Letztlich drohe ihm als mutmaßlichen "Gefährder" - nach der in der Türkei beabsichtigen Wiedereinführung - auch die Todesstrafe. In L. unterhalte er eine Lebenspartnerschaft zu einer jungen Frau, mit der er die Ehe eingehen wolle, mit der er bereits nach islamischem Ritus verheiratet sei und die zudem ein Kind von ihm erwarte.

4

Der Antragsgegner verteidigt die angegriffene Verfügung.

5

Der Senat hat eine Liste mit Erkenntnismitteln über die abschiebungsrelevante Lage in der Türkei erstellt. Die in der Liste aufgeführten Erkenntnismittel wurden den Beteiligten zur Kenntnis gebracht.

II

6

Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung des Ministeriums für Inneres, ländliche Räume und Integration des Landes Schleswig-Holstein vom 16. Oktober 2017 anzuordnen, ist zulässig (§ 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO), auch ist das Bundesverwaltungsgericht als Gericht der Hauptsache zuständig (§ 50 Abs. 1 Nr. 3 VwGO).

7

Der Antrag ist aber unbegründet. Bei der gebotenen Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers, bis zum Abschluss des Klageverfahrens in Deutschland zu bleiben, und dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung überwiegt das öffentliche Interesse. An der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Abschiebungsanordnung bestehen keine ernstlichen Zweifel (1.). Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote, die einer Abschiebung des Antragstellers in die Türkei entgegenstehen könnten, liegen nicht vor (2.).

8

1. Die Abschiebungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 58a Abs. 1 AufenthG. Danach kann die oberste Landesbehörde gegen einen Ausländer aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen.

9

Diese Regelung ist formell und materiell verfassungsgemäß (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 - juris und vom 26. Juli 2017 - 2 BvR 1606/17 - juris; BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - juris Rn. 16).

10

Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl. 1972 II S. 385) - ZP - steht der Anwendbarkeit von § 58a AufenthG unabhängig davon nicht entgegen, ob der Antragsteller sich (noch) auf den Schutz dieser Regelung berufen kann. Gemäß Art. 41 Abs. 1 ZP werden die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen. Selbst bei unterstellter Anwendbarkeit des Art. 41 Abs. 1 ZP auf den Antragsteller und der Annahme, dass es sich bei § 58a AufenthG um eine "neue Beschränkung" im Sinne von Art. 41 Abs. 1 ZP handelt, wäre eine daraus resultierende Verschlechterung der rechtlichen Situation des Antragstellers jedenfalls gerechtfertigt. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die Schaffung einer "neuen Beschränkung" nämlich dann nicht verboten, wenn diese "durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und geeignet ist, die Erreichung des angestrebten legitimen Ziels zu erreichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht" (EuGH, Urteil vom 10. Juli 2014 - C 138/13 [ECLI:EU:C:2014:2066], Dogan - Rn. 37). Dies ist vorliegend der Fall. § 58a AufenthG dient dem Schutz höchster Schutzgüter, ist geeignet das angestrebte Ziel zu erreichen und geht nicht über das notwendige Maß hinaus. Entsprechendes gilt hinsichtlich der Vereinbarkeit von § 58a AufenthG mit der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80, da § 58a AufenthG jedenfalls als Beschränkung nach Art. 14 ARB 1/80 (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - C-225/12 [ECLI:EU:C:2013:725], Demir - NVwZ-RR 2014, 115 Rn. 40) gerechtfertigt ist (BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 7.17 - NVwZ 2017, 1798 Rn. 45; s.a. - zu der mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz vom 9. Januar 2002 erfolgten Einführung des Regelausweisungstatbestands des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung - BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017 - 1 C 3.16 - BVerwGE 157, 325 Rn. 64.).

11

a) Die angegriffene Abschiebungsanordnung ist bei der hier gebotenen umfassenden Prüfung (BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 - 1 VR 1.17 - NVwZ 2017, 1057 Rn. 13) nicht zu beanstanden.

12

Der formellen Rechtmäßigkeit der Verfügung steht nicht entgegen, dass der Antragsteller vor Erlass der Verfügung nicht angehört worden ist, denn eine Anhörung war vorliegend jedenfalls entbehrlich.

13

aa) Nach nationalem Verfahrensrecht war eine Anhörung hier jedenfalls entbehrlich. § 58a AufenthG schreibt eine Anhörung weder ausdrücklich vor, noch verbietet er eine solche, so dass § 87 des Allgemeinen Verwaltungsgesetzes für das Land Schleswig-Holstein (Landesverwaltungsgesetz - LVwG -) anzuwenden ist. Nach dieser Regelung ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (Abs. 1). Nach § 87 Abs. 2 LVwG kann von der Anhörung abgesehen werden, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalles nicht geboten ist, insbesondere wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint (Nr. 1).

14

Danach konnte hier auf eine Anhörung verzichtet werden, weil eine sofortige Entscheidung zumindest im öffentlichen Interesse notwendig war (§ 87 Abs. 2 Nr. 1 LVwG). § 58a AufenthG zielt auf die Bewältigung von beachtlichen Gefahren für hochrangige Rechtsgüter. Bei der mit einer Anhörung verbundenen "Vorwarnung" bestünde regelmäßig die Gefahr, dass sich der Betroffene durch Untertauchen der Abschiebung entzieht oder sonst den mit der kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Abschiebungsanordnung verfolgten Zweck vereitelt. Der Gesetzgeber selbst trägt dem in § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG Rechnung. Danach ist ein Ausländer zur Sicherung der Abschiebung auf richterliche Anordnung in Haft zu nehmen, wenn eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG ergangen ist, diese aber nicht unmittelbar vollzogen werden kann; auch ist bei einer Abschiebungsanordnung eine freiwillige Ausreise nicht zu ermöglichen. Unabhängig davon war eine sofortige Entscheidung auch deshalb im öffentlichen Interesse notwendig, weil von dem Antragsteller eine terroristische Gefahr ausgeht, die sich jederzeit aktualisieren kann (siehe näher unten). Besondere atypische Umstände, die hier eine Anhörung ohne Gefährdung des Zwecks der Abschiebungsanordnung oder zumindest eine eingehendere Begründung der Ermessensentscheidung für den Verzicht auf eine Anhörung erfordert hätten, liegen nicht vor (BVerwG, Beschlüsse vom 31. Mai 2017 - 1 VR 4.17 - juris Rn. 13 und vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - NVwZ 2017, 1531 Rn. 17). Soweit eine Anhörung zumindest im zeitlichen Zusammenhang mit der Bekanntgabe angezeigt sein sollte (offenlassend Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - NVwZ 2017, 1531 Rn. 22), ist hier auf die Einlassungen des Antragstellers im Rahmen des Abschiebehaftverfahrens hinzuweisen, die dem Antragsgegner zeitnah zur Kenntnis gebracht und gewürdigt worden sind (s. Vermerk vom 23. Oktober 2017, Bl. 451 f. Verwaltungsvorgang).

15

bb) Auch nach Unionsrecht bedurfte es nicht zwingend einer Anhörung des Antragstellers vor Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung. Selbst wenn man unterstellt, dass die Abschiebungsanordnung eine dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98) unterfallende Rückkehrentscheidung darstellt, ist sie mit den sich hieraus dann ergebenden unionsrechtlichen Vorgaben zu vereinbaren.

16

Die Richtlinie 2008/115/EG enthält selbst nicht ausdrücklich ein Anhörungsgebot vor Erlass einer Rückkehrentscheidung. Dieses gilt aber als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts (vgl. näher EuGH, Urteil vom 5. November 2014 - C-166/13 [ECLI:EU:C:2014:2336], Mukarubega - Rn. 40 - 45). Das Recht auf Anhörung garantiert jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird, sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen. Die Regel, wonach der Adressat einer beschwerenden Entscheidung in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt vorzutragen, bevor die Entscheidung getroffen wird, soll der zuständigen Behörde erlauben, alle maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen. Werden mit der Beendigung der Legalität des Aufenthalts, die die Verpflichtung zum Verlassen Deutschlands begründet (§ 51 Abs. 1 Nr. 5a i.V.m. § 50 Abs. 1 AufenthG), der Rückkehrentscheidung und der Entscheidung über die Abschiebung drei verschiedene Regelungen in einer Entscheidung zusammengefasst (vgl. zur Zulässigkeit dieses Vorgehens Art. 6 Abs. 6 Richtlinie 2008/115/EG), muss dem Betroffenen nicht ermöglicht werden, speziell und gesondert zur Rückkehrentscheidung Stellung zu nehmen. Ausreichend ist vielmehr, wenn der Betroffene die Möglichkeit hatte, seinen Standpunkt zur Rechtswidrigkeit seines Aufenthalts und solche Gründe sachdienlich und wirksam vorzutragen, die es nach dem nationalen Recht rechtfertigen können, dass die Behörde vom Erlass einer Rückkehrentscheidung absieht (vgl. EuGH, Urteil vom 5. November 2014 - C-166/13). Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sind Grundrechte wie das Recht auf Beachtung der Verteidigungsrechte aber nicht schrankenlos gewährleistet, sondern können Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen, die mit der fraglichen Maßnahme verfolgt werden, und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2014 - C-249/13 [ECLI:EU:C:2014:2431], Boudjlida - Rn. 43). Dabei ist auch das Ziel der Richtlinie, nämlich die wirksame Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in ihr Herkunftsland, zu berücksichtigen (EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2014 - C-249/13 - Rn. 45).

17

Danach bedurfte es auch unionsrechtlich nicht zwingend einer Anhörung des Antragstellers vor Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung. Mit der grundsätzlichen Entbehrlichkeit einer Anhörung vor Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG wird u.a. bezweckt zu verhindern, dass sich die vorausgesetzte besondere Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder terroristische Gefahr (die hier auch tatsächlich besteht, s.u.), in der Zwischenzeit realisiert (BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - NVwZ 2017, 1531 Rn. 21). Dies wäre bei Durchführung einer vorherigen Anhörung durch die zuständige Behörde - wie oben ausgeführt - nicht hinreichend sicher gewährleistet.

18

b) Die Verfügung ist auch materiell nicht zu beanstanden. Die Abschiebungsanordnung ist gegenüber der Ausweisung nach den §§ 53 ff. AufenthG eine selbstständige ausländerrechtliche Maßnahme der Gefahrenabwehr. Sie zielt auf die Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und/oder einer terroristischen Gefahr.

19

aa) Der Begriff der "Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland" ist - wie die wortgleiche Formulierung in § 54 Abs. 1 Nr. 2 und § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG - nach der Rechtsprechung des Senats enger zu verstehen als der Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne des allgemeinem Polizeirechts. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umfasst die innere und äußere Sicherheit und schützt nach innen den Bestand und die Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. Das schließt den Schutz vor Einwirkungen durch Gewalt und Drohungen mit Gewalt auf die Wahrnehmung staatlicher Funktionen ein (BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <120> = juris Rn. 17). In diesem Sinne richten sich auch Gewaltanschläge gegen Unbeteiligte zum Zwecke der Verbreitung allgemeiner Unsicherheit gegen die innere Sicherheit des Staates (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - juris Rn. 21).

20

Der Begriff der "terroristischen Gefahr" knüpft an die neuartigen Bedrohungen an, die sich nach dem 11. September 2001 herausgebildet haben. Diese sind in ihrem Aktionsradius nicht territorial begrenzt und gefährden die Sicherheitsinteressen auch anderer Staaten. Im Aufenthaltsgesetz findet sich zwar keine Definition, was unter Terrorismus zu verstehen ist, die aufenthaltsrechtlichen Vorschriften zur Bekämpfung des Terrorismus setzen aber einen der Rechtsanwendung fähigen Begriff des Terrorismus voraus. Auch wenn bisher die Versuche, auf völkerrechtlicher Ebene eine allgemein anerkannte vertragliche Definition des Terrorismus zu entwickeln, nicht in vollem Umfang erfolgreich gewesen sind, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts doch im Grundsatz geklärt, unter welchen Voraussetzungen die - völkerrechtlich geächtete - Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln anzunehmen ist. Wesentliche Kriterien können insbesondere aus der Definition terroristischer Straftaten in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus vom 9. Dezember 1999 (BGBl. 2003 II S. 1923), aus der Definition terroristischer Straftaten auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft im Beschluss des Rates Nr. 2002/475/JI vom 13. Juni 2002 (ABl. L 164 S. 3) sowie dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates Nr. 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Dezember 2001 (ABl. L 344 S. 93) gewonnen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114 <129 f.>). Trotz einer gewissen definitorischen Unschärfe des Terrorismusbegriffs liegt nach der Rechtsprechung des Senats eine völkerrechtlich geächtete Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln jedenfalls dann vor, wenn politische Ziele unter Einsatz gemeingefährlicher Waffen oder durch Angriffe auf das Leben Unbeteiligter verfolgt werden (BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2011 - 1 C 13.10 - BVerwGE 141, 100 Rn. 19 m.w.N.). Entsprechendes gilt bei der Verfolgung ideologischer Ziele. Eine terroristische Gefahr kann nicht nur von Organisationen, sondern auch von Einzelpersonen ausgehen, die nicht als Mitglieder oder Unterstützer in eine terroristische Organisation eingebunden sind oder in einer entsprechenden Beziehung zu einer solchen stehen. Erfasst sind grundsätzlich auch Zwischenstufen lose verkoppelter Netzwerke, (virtueller oder realer) Kommunikationszusammenhänge oder "Szeneeinbindungen", die auf die Realitätswahrnehmung einwirken und die Bereitschaft im Einzelfall zu wecken oder zu fördern geeignet sind (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - juris Rn. 22).

21

Das Erfordernis einer "besonderen" Gefahr bei der ersten Alternative bezieht sich allein auf das Gewicht und die Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter sowie das Gewicht der befürchteten Tathandlungen des Betroffenen, nicht auf die zeitliche Eintrittswahrscheinlichkeit. In diesem Sinne muss die besondere Gefahr für die innere Sicherheit aufgrund der gleichen Eingriffsvoraussetzungen eine mit der terroristischen Gefahr vergleichbare Gefahrendimension erreichen. Dafür spricht auch die Regelung in § 11 Abs. 5 AufenthG, die die Abschiebungsanordnung in eine Reihe mit Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit stellt. Geht es um die Verhinderung schwerster Straftaten, durch die im "politischen/ideologischen Kampf" die Bevölkerung in Deutschland verunsichert und/oder staatliche Organe der Bundesrepublik Deutschland zu bestimmten Handlungen genötigt werden sollen, ist regelmäßig von einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und jedenfalls von einer terroristischen Gefahr auszugehen. Da es um die Verhinderung derartiger Straftaten geht, ist es nicht erforderlich, dass mit deren Vorbereitung oder Ausführung in einer Weise begonnen wurde, die einen Straftatbestand erfüllt und etwa bereits zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen geführt hat (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - juris Rn. 23).

22

Die für § 58a AufenthG erforderliche besondere Gefahrenlage muss sich aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ergeben. Aus Sinn und Zweck der Regelung ergibt sich, dass die Bedrohungssituation unmittelbar vom Ausländer ausgehen muss, in dessen Freiheitsrechte sie eingreift. Ungeachtet ihrer tatbestandlichen Verselbstständigung ähnelt die Abschiebungsanordnung in ihren Wirkungen einer für sofort vollziehbar erklärten Ausweisung nebst Abschiebungsandrohung. Zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung ist sie aber mit Verkürzungen im Verfahren und beim Rechtsschutz verbunden. Insbesondere ist die Abschiebungsanordnung kraft Gesetzes sofort vollziehbar (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 AufenthG). Da es keiner Abschiebungsandrohung bedarf (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 AufenthG), erübrigt sich auch die Bestimmung einer Frist zur freiwilligen Ausreise. Zuständig sind nicht die Ausländerbehörden, sondern grundsätzlich die obersten Landesbehörden (§ 58a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AufenthG). Die Zuständigkeit für den Erlass einer Abschiebungsanordnung begründet nach § 58a Abs. 3 Satz 3 AufenthG zugleich eine eigene Zuständigkeit für die Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG ohne Bindung an hierzu getroffene Feststellungen aus anderen Verfahren. Die gerichtliche Kontrolle einer Abschiebungsanordnung und ihrer Vollziehung unterliegt in erster und letzter Instanz dem Bundesverwaltungsgericht (§ 50 Abs. 1 Nr. 3 VwGO), ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes muss innerhalb einer Frist von sieben Tagen gestellt werden (§ 58a Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Die mit dieser Ausgestaltung des Verfahrens verbundenen Abweichungen gegenüber einer Ausweisung lassen sich nur mit einer direkt vom Ausländer ausgehenden terroristischen und/oder dem gleichzustellenden Bedrohungssituation für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigen (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - juris Rn. 24).

23

Die vom Ausländer ausgehende Bedrohung muss aber nicht bereits die Schwelle einer konkreten Gefahr im Sinne des polizeilichen Gefahrenabwehrrechts überschreiten, bei der bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des geschützten Rechtsguts zu erwarten ist. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut der Vorschrift, die zur Abwehr einer besonderen Gefahr lediglich eine auf Tatsachen gestützte Prognose verlangt. Auch Sinn und Zweck der Regelung sprechen angesichts des hohen Schutzguts und der vom Terrorismus ausgehenden neuartigen Bedrohungen für einen abgesenkten Gefahrenmaßstab, weil seit den Anschlägen von 11. September 2001 damit zu rechnen ist, dass ein Terroranschlag mit hohem Personenschaden ohne großen Vorbereitungsaufwand und mit Hilfe allgemein verfügbarer Mittel jederzeit und überall verwirklicht werden kann. Eine Abschiebungsanordnung ist daher schon dann möglich, wenn aufgrund konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte ein beachtliches Risiko dafür besteht, dass sich eine terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik in der Person des Ausländers jederzeit aktualisieren kann, sofern nicht eingeschritten wird (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - juris Rn. 25).

24

Diese Auslegung steht trotz der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Einklang mit dem Grundgesetz. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht von vornherein für jede Art der Aufgabenwahrnehmung auf die Schaffung von Eingriffstatbeständen beschränkt, die dem tradierten sicherheitsrechtlichen Modell der Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren entsprechen. Vielmehr kann er die Grenzen für bestimmte Bereiche der Gefahrenabwehr mit dem Ziel schon der Straftatenverhinderung auch weiter ziehen, indem er die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs reduziert. Dann bedarf es aber zumindest einer hinreichend konkretisierten Gefahr in dem Sinne, dass tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr bestehen. Hierfür reichen allgemeine Erfahrungssätze nicht aus, vielmehr müssen bestimmte Tatsachen im Einzelfall die Prognose eines Geschehens tragen, das zu einer zurechenbaren Verletzung gewichtiger Schutzgüter führt. Eine hinreichend konkretisierte Gefahr in diesem Sinne kann schon bestehen, wenn sich der zum Schaden führende Kausalverlauf noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehen lässt, aber bereits bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen. In Bezug auf terroristische Straftaten, die oft von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, kann dies schon dann der Fall sein, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, jedoch das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird. Angesichts der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist eine Verlagerung der Eingriffsschwelle in das Vorfeldstadium dagegen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, wenn nur relativ diffuse Anhaltspunkte für mögliche Gefahren bestehen, etwa allein die Erkenntnis, dass sich eine Person zu einem fundamentalistischen Religionsverständnis hingezogen fühlt (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - juris Rn. 26.). Allerdings kann in Fällen, in denen sich eine Person in hohem Maße mit einer militanten, gewaltbereiten Auslegung des Islam identifiziert, den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung dieser radikal-islamischen Auffassung für gerechtfertigt und die Teilnahme am sogenannten "Jihad" als verpflichtend ansieht, von einer hinreichend konkreten Gefahr auszugehen sein, dass diese Person terroristische Straftaten begeht (BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 8.17 - juris Rn. 18).

25

Für diese "Gefahrenprognose" bedarf es - wie bei jeder Prognose - zunächst einer hinreichend zuverlässigen Tatsachengrundlage. Der Hinweis auf eine auf Tatsachen gestützte Prognose dient der Klarstellung, dass ein bloßer (Gefahren-)Verdacht oder Vermutungen bzw. Spekulationen nicht ausreichen. Zugleich definiert dieser Hinweis einen eigenen Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Abweichend von dem sonst im Gefahrenabwehrrecht geltenden Prognosemaßstab der hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit mit seinem nach Art und Ausmaß des zu erwartenden Schadens differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab muss für ein Einschreiten nach § 58a AufenthG eine bestimmte Entwicklung nicht wahrscheinlicher sein als eine andere. Vielmehr genügt angesichts der besonderen Gefahrenlage, der § 58a AufenthG durch die tatbestandliche Verselbstständigung begegnen soll, dass sich aus den festgestellten Tatsachen ein beachtliches Risiko dafür ergibt, dass die von einem Ausländer ausgehende Bedrohungssituation sich jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umschlagen kann (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - juris Rn. 27).

26

Dieses beachtliche Eintrittsrisiko kann sich auch aus Umständen ergeben, denen (noch) keine strafrechtliche Relevanz zukommt, etwa wenn ein Ausländer fest entschlossen ist, in Deutschland einen mit niedrigem Vorbereitungsaufwand möglichen schweren Anschlag zu verüben, auch wenn er noch nicht mit konkreten Vorbereitungs- oder Ausführungshandlungen begonnen hat und die näheren Tatumstände nach Ort, Zeitpunkt, Tatmittel und Angriffsziel noch nicht feststehen. Eine hinreichende Bedrohungssituation kann sich aber auch aus anderen Umständen ergeben. In jedem Fall bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Ausländers, seines bisherigen Verhaltens, seiner nach außen erkennbaren oder geäußerten inneren Einstellung, seiner Verbindungen zu anderen Personen und Gruppierungen, von denen eine terroristische Gefahr und/oder eine Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeht sowie sonstiger Umstände, die geeignet sind, den Ausländer in seinem gefahrträchtigen Denken oder Handeln zu belassen oder zu bekräftigen. Dabei kann sich - abhängig von den Umständen des Einzelfalls - in der Gesamtschau ein beachtliches Risiko, das ohne ein Einschreiten jederzeit in eine konkrete Gefahr umschlagen kann, auch schon daraus ergeben, dass sich ein im Grundsatz gewaltbereiter und auf Identitätssuche befindlicher Ausländer in besonderem Maße mit dem radikal-extremistischen Islamismus in seinen verschiedenen Ausprägungen bis hin zum ausschließlich auf Gewalt setzenden jihadistischen Islamismus identifiziert, über enge Kontakte zu gleichgesinnten, möglicherweise bereits anschlagsbereiten Personen verfügt und sich mit diesen in "religiösen" Fragen regelmäßig austauscht (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - juris Rn. 28).

27

Der obersten Landesbehörde steht bei der für eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG erforderlichen Gefahrenprognose aber keine Einschätzungsprärogative zu. Als Teil der Exekutive ist sie beim Erlass einer Abschiebungsanordnung - wie jede andere staatliche Stelle - an Recht und Gesetz, insbesondere an die Grundrechte, gebunden (Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG) und unterliegt ihr Handeln nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG der vollen gerichtlichen Kontrolle. Weder Wortlaut noch Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen für einen der gerichtlichen Überprüfung entzogenen behördlichen Beurteilungsspielraum. Auch wenn die im Rahmen des § 58a AufenthG erforderliche Prognose besondere Kenntnisse und Erfahrungswissen erfordert, ist sie nicht derart außergewöhnlich und von einem bestimmten Fachwissen abhängig, über das nur oberste (Landes-)Behörden verfügen. Vergleichbare Aufklärungsschwierigkeiten treten auch in anderen Zusammenhängen auf. Der hohe Rang der geschützten Rechtsgüter und die Eilbedürftigkeit der Entscheidung erfordern ebenfalls keine Einschätzungsprärogative der Behörde (BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - juris Rn. 29).

28

bb) In Anwendung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass von dem Antragsteller derzeit aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ein beachtliches Risiko im Sinne des § 58a AufenthG ausgeht, auch wenn ihm noch kein konkreter Plan zur Ausführung einer terroristischen Gewalttat (im Stadium der Anklageerhebung) vorgeworfen wird. Es besteht ein zeitlich und sachlich beachtliches Risiko, dass er einen terroristischen Anschlag begeht oder sich an einem solchen beteiligt, bei dem Unbeteiligte ums Leben kämen.

29

(1) Für die Beurteilung des Senats sind vor allem folgende Umstände maßgeblich, die sich aus der Ausländerakte des Antragstellers (AA), der Akte des Ministeriums für Inneres, ländliche Räume und Integration des Landes Schleswig-Holstein (MI), den beigezogenen Ermittlungsakten sowie dem Vorbringen des Antragstellers und des Antragsgegners im vorliegenden Verfahren ergeben.

30

Nach den Feststellungen der Landesbehörde für Verfassungsschutz Schleswig-Holstein hat der Antragsteller, wie er selbst einräumt (Schriftsatz vom 25. Oktober 2017 S. 10), seit dem Jahr 2014 regelmäßig die salafistisch geprägte F. C. Moschee in N. besucht (Bl. 161 MI). Soweit er vorträgt, diese Moschee unabhängig von deren Ausrichtung auf eine bestimmte islamische Glaubensrichtung besucht zu haben, weil er dort aufgrund der 24-Stunden-Öffnung zu jeder Zeit einkehren könne (Schriftsatz vom 25. Oktober 2017 S. 10), erscheint dies in Zusammenschau mit den weiteren im Folgenden angeführten Erkenntnissen und Wertungen nicht glaubhaft, zumal der Antragsteller nach den Feststellungen der Verfassungsschutzbehörde zu den maßgeblichen Akteuren im Umfeld der Moschee zählt und darüber hinaus gelegentlich auch die ebenfalls salafistisch geprägte Moschee Islamisches Zentrum L. besucht hat (Bl. 161 MI).

31

Zudem reiste der Antragsteller mindestens zweimal nach H. zum Deutschsprachigen Islamkreis H. (...) und nahm im Zeitraum 31. Dezember 2015 bis 1. Januar 2016 sowie 25. bis 28. März 2016 an Seminaren des bundesweit bekannten sogenannten Hasspredigers C. C. alias "C. Y." teil. Dieser war Imam in der Moschee des zwischenzeitlich rechtskräftig verbotenen Vereins ..., der unter anderem eine Anlaufstelle für jihadistische Salafisten darstellte, aus dessen Umfeld mehrere Personen zum "IS" in das Kriegsgebiet nach Syrien ausreisten (Bl. 162 MI, vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30. August 2017 - 1 VR 5.17 - juris Rn. 37). Gegen "C. Y." wurde am 10. Juli 2017 Anklage unter anderem wegen Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung "IS" (§ 129a Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 129b StGB) und öffentlicher Aufforderung zu Straftaten (§ 111 Abs. 1 StGB) erhoben (Bl. 161 MI). Einer der Teilnehmer des Seminars im März 2016 war nach den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden auch der spätere Attentäter Anis Amri, der am 19. Dezember 2016 einen Anschlag auf Besucher eines Weihnachtsmarktes in Berlin verübte (Bl. 161 MI). Den Besuch der Seminare räumt der Antragsteller ein (Schriftsatz vom 25. Oktober 2017 S. 10). Soweit er dabei behauptet, ihm sei Anis Amri dort weder aufgefallen, noch habe er mit diesem persönlichen Kontakt gehabt, ist dies unerheblich, weil die Seminarteilnahme unabhängig von diesem Kontakt die Zugehörigkeit des Antragstellers zur jihadistischen-salafistischen Szene in Deutschland belegt.

32

Der Kontakt des Antragstellers zu "C. Y." ging über die bloße Seminarteilnahme hinaus. So ergab die Auswertung des vom Antragsteller genutzten iPhones 5s, dass zwischen dem von ihm genutzten Telegram-Account und dem von "C. Y." genutzten Telegram-Account von Februar bis Mai 2016 und im Juli 2016 ein Chat-Kontakt bestand. Neben religiösen Fragestellungen fragte der Antragsteller im Rahmen dieser Kommunikation bei "C. Y." am 16. April 2016 an, ob dieser zum Freitagsgebet "bei uns" predigen kommen könne, was dieser jedoch ablehnte, weil er bis zu dem am 10. Mai 2016 endenden Seminar "leider" nicht könne. Am 7. Mai 2016 wiederholte der Antragsteller seine Anfrage (Ermittlungsbericht vom 21. Dezember 2017 S. 9 = Anlage 1 zum Schriftsatz vom 3. Januar 2018; Bl. 372 MI; Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 SB Datenträgerauswertung II Bl. 11 und 52 f.). Diese Erkenntnisse widerlegen die zunächst vom Antragsteller aufgestellte (Schriftsatz vom 25. Oktober 2017 S. 10), später von diesem selbst revidierte Behauptung (Schriftsatz vom 17. November 2017 S. 12), er habe keinen persönlichen Kontakt bzw. persönliche Chat-Korrespondenz zu "C. Y." unterhalten, und belegen zugleich die von den Verfassungsschutzbehörden festgestellte Rolle des Antragstellers als Akteur im Umfeld der F. C. Moschee in N. Der Einwand des Antragstellers, er habe zum Zeitpunkt der Kommunikation nicht um die Rolle des "C. Y." als Hassprediger gewusst (Schriftsatz vom 17. November 2017 S. 12), erscheint angesichts des hohen Bekanntheitsgrades des "C. Y." in der Salafistenszene und der Tatsache, dass die Kommunikation nach der Seminarteilnahme des Antragstellers stattfand, unglaubhaft. Hinzu kommt, dass der Antragsteller am 8. Mai 2016 gegenüber "C. Y." im Rahmen der Chat-Kommunikation äußerte, er habe gehört, dass [bei dem Seminar des "C. Y."] "viele Bullen" dagewesen seien (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 SB Datenträgerauswertung II Bl. 52), was verdeutlicht, dass er die Rolle des "C. Y." richtig einordnen konnte. Dass der Antragsteller seine Sympathiebekundungen gegenüber "C. Y." auch noch nach dessen Verhaftung und der gegen ihn erfolgten Anklageerhebung uneingeschränkt aufrechterhalten hat, geht aus einem Eintrag des Antragstellers vom 26. September 2017 in der Facebook-Gruppe "Free our sisters - Fukuu Akhwatina" hervor. In der Gruppe postete er auf einen Beitrag, der den Beginn des Gerichtsprozesses gegen "C. Y." zum Gegenstand hatte, den Wunsch: "Möge Allah jeden einzelnen V-Mann verräter Heuchler die für die kuffar arbeiten sehr schlimm im Diesseits & jenseits bestrafen [...] die dawa geht hinter Gitter weiter [Fehler im Original]" (Bl. 440 f. MI).

33

Überdies stand der Antragsteller nach den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden in Kontakt zu weiteren radikal-islamistischen Personen. So ergab die Auswertung seines Mobiltelefons iPhone 5s, dass er im Zeitraum August 2016 bis Juni 2017 wiederholt mit einer Person in Kontakt stand, die sich im Kriegsgebiet aufhielt und von dort berichtete (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 SB Datenträgerauswertung II Bl. 46 - 50; Bl. 315 MI). Diese Person konnte im Zuge der Ermittlungen als R. P. identifiziert werden, der im April 2016 nach Syrien ausreiste und sich dort der Nusra-Front (= Terrororganisation, die sich mit dem "IS" verbündet hat) angeschlossen hat (Ermittlungsbericht vom 21. Dezember 2017 S. 8 = Anlage 1 zum Schriftsatz vom 3. Januar 2018; Ermittlungsvermerk vom 4. Januar 2018 S. 1 - 3, Bl. 368 ff. Gerichtsakte). Der Antragsteller räumte zwar ein, dass er R. P. in der N.er Moschee getroffen und ihm gestattet habe, einmal in seiner Wohnung zu übernachten, behauptete aber, über dessen weiteren Verbleib nichts zu wissen und keinen Kontakt zu ihm zu haben (Schriftsätze vom 25. Oktober 2017 S. 12 und vom 17. November 2017 S. 12), was jedoch durch die zuvor angeführten Erkenntnisse und mehrere auf dem Mobiltelefon des Antragstellers sichergestellte Bildaufnahmen des R. P., davon eine Aufnahme, auf der beide gemeinsam mit ausgestrecktem Zeigefinger abgebildet sind (eine häufig von den Anhängern des "IS" verwendete Geste), widerlegt ist (Bl. 313 - 314 MI).

34

Des Weiteren steht der Antragsteller in engem Kontakt zu O. W., der 2012 im Zusammenhang mit einer gewalttätigen salafistischen Demonstration in B. wegen Landfriedensbruchs sowie Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz verurteilt und im August 2013 an der Ausreise in das syrische Kriegsgebiet gehindert wurde (Schriftsatz vom 3. Januar 2018 S. 4). Zuletzt wurden der Antragsteller und O. W. zusammen am 12. Mai 2017 als Beschuldigte in der Tatortnähe eines Wohnungseinbruchdiebstahls (Bl. 18 - 22 MI) und am 7. Juli 2017 anlässlich eines Geschwindigkeitsverstoßes als Beifahrer und Fahrer in einem Fahrzeug festgestellt (Bl. 45 f. MI). Nach der Festnahme des Antragstellers informierte O. W. die nach islamischem Ritus angetraute Frau des Antragstellers von dessen Inhaftierung (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 SB Verdeckte Maßnahmen Bl. 61).

35

Des Weiteren stand der Antragsteller mit einer Person namens "W. O." in Kontakt, die durch die Ermittlungsbehörden als V. W. C. identifiziert werden konnte, der von den niedersächsischen Sicherheitsbehörden als islamistischer Gefährder eingestuft wird (Schriftsatz vom 3. Januar 2018 S. 4; Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Hauptakte Bd. II Bl. 736). Mit diesem tauschte er sich im Zeitraum 20. bis 22. Oktober 2016 über die Kampfhandlungen des "IS" im Bereich der nordirakischen Stadt Kirkuk aus, wobei die Kämpfer des "IS" heroisiert wurden, und teilte am 29. Mai 2017 den Wunsch nach der Freilassung des "C. Y." (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 SB Datenträgerauswertung II Bl. 259 - 261 und 308).

36

Weitere - für die Gefährderprognose relevante - Erkenntnisse folgen aus den beim Antragsteller sichergestellten Gegenständen. Im Rahmen einer richterlich angeordneten Durchsuchungsmaßnahme wurde am 9. Juni 2017 in der Wohnung des Antragstellers unter anderem eine schwarze Flagge, auf der auf Arabisch in weißen Buchstaben das islamische Glaubensbekenntnis gezeigt wird, aufgefunden. Diese Flagge ist ein Symbol für den offensiv verstandenen Jihad und kennzeichnet die Verwender als Anhänger eines wieder zu errichtenden Kalifats, mithin des durch den "IS" verfolgten Ziels (Bl. 89 MI; Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Durchsuchungsband Bl. 38 f.). Eine solche Flagge wurde bereits anlässlich einer Wohnungsdurchsuchung am 21. Januar 2016 zusammengefaltet im Wohnzimmerschrank des Antragstellers aufgefunden und beschlagnahmt (Bl. 50 - 52 MI). Außerdem wurden bei der Durchsuchung am 9. Juni 2017 eine Mütze mit "IS"-Symbolik (Bl. 84 und 93 MI; Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Durchsuchungsband Bl. 36) und ein bei "IS"-Sympathisanten beliebter Prophetensiegelring (Bl. 91 MI; Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Durchsuchungsband Bl. 37 f.) aufgefunden. Der Einwand des Antragstellers, er habe den Siegelring und die Flagge schon jahrelang in seinem Besitz, ohne dass ihm bewusst gewesen sei, dass es sich um dem "IS" zugehörige Symbole handele (Schriftsatz vom 25. Oktober 2017 S. 12 f.), ist im Hinblick auf die festgestellten zahlreichen weiteren Erkenntnisse, welche die Sympathie des Antragstellers mit dem "IS" belegen, nicht glaubhaft. Entgegen der Darstellung des Antragstellers befand sich die Flagge (zumindest am 9. Juni 2017) auch nicht etwa zusammengefaltet im Schrank, so dass sie für Besucher seiner Wohnung nicht sichtbar war (Schriftsatz vom 25. Oktober 2017 S. 13), sondern hing - wie auf einem Lichtbild von der Wohnungsdurchsuchung erkennbar - offen sichtbar an der Wand des Wohnzimmers (Bl. 89 MI). Mit dem Siegelring an der Hand wurde der Antragsteller am 24. März 2017 anlässlich einer Verkehrsunfallaufnahme angetroffen (Bl. 53 - 56 MI).

37

Auf dem vom Antragsteller verwendeten, im Rahmen der Wohnungsdurchsuchung ebenfalls sichergestellten iPhone 5s wurden zahlreiche Mediendateien mit jihadistisch-salafistischen Inhalten festgestellt. Auf dem Handy wurden nach der vorläufigen Auswertung der Sicherheitsbehörden 133 Audiodateien mit radikal-islamistischen Inhalten, insbesondere sogenannte Naschids, welche mit der Bezeichnung "IS" versehen sind, sichergestellt (Ermittlungsbericht vom 21. Dezember 2017 S. 2 = Anlage 1 zum Schriftsatz vom 3. Januar 2018). Dabei handelt es sich um Propaganda- und Kampflieder für den gewaltsamen Jihad, welche der Antragsteller auch regelmäßig - wie im Rahmen der PKW-Innenraumüberwachung festgestellt werden konnte - gehört hat (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Hauptakte Bd. II Bl. 326 f.).

38

Insgesamt wurden im Rahmen der vorläufigen Auswertung auf dem iPhone 5s 81 als relevant eingestufte Videos gesichert, worunter sich neben "IS"-Propaganda-Videos auch Amateuraufnahmen aus den Kampfgebieten befanden. Dass es sich dabei um besonders extremistische Inhalte handelt, wird etwa dadurch deutlich, dass in einem der Videos das Selbstmordattentat eines 11-jährigen Kindes verherrlicht wird, in einem anderen zur Tötung des bekannten deutschen salafistischen Predigers R. X. aufgerufen wird, nachdem dieser Terroranschläge als "unislamisch" bezeichnet hatte, und in weiteren Videos mit Kampf- und grausamen Hinrichtungsszenen für den Anschluss an den "IS" geworben wird und Selbstmordanschläge abgebildet sind. In einigen Videos wird F. E. dargestellt, ein Deutscher, der sich im April 2014 dem "IS" angeschlossen hat, der u.a. in einem der Videos Deutschland mit Anschlägen bedroht ("Die deutschen Schläfer warten."; Ermittlungsbericht vom 21. Dezember 2017 S. 1 f. = Anlage 1 zum Schriftsatz vom 3. Januar 2018; Islamwissenschaftliche Bewertung von mehreren auf dem Handy des Antragstellers gespeicherten Videos = Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 SB Datenträgerauswertung II Bl. 169 ff.).

39

Ferner stellten die Ermittlungsbehörden auf dem Mobiltelefon mehr als 25 000 als relevant eingestufte Bilder fest, darunter jihadistisch-salafistische und "IS"-Propagandaaufnahmen, Hinrichtungsbilder, Selbstaufnahmen des Antragstellers (u.a. mit "IS"-Mütze und Prophetensiegelring sowie in Kämpferpose), Bilder von Waffen und Kampfkleidung, Screenshots von Nachrichtenmeldungen über Terroranschläge in Europa (z.B. Paris, Berlin, Nizza, Ansbach). Auf einer Abbildung, auf der ein am Boden liegendes Opfer des Terroranschlags von London zu sehen ist, ist ein Tränen lachender Smiley und der Kommentar "Parr besoffene Hunde von London Eine Kreuzler Turirist am Sterben LACH MINUTE AN DIE OPFER [Fehler im Original]" eingefügt worden, wodurch zum Ausdruck gebracht wird, dass man sich über die Opfer des Terroranschlags lustig macht (Ermittlungsbericht vom 21. Dezember 2017 S. 2 = Anlage 1 zum Schriftsatz vom 3. Januar 2018; Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 SB Datenträgerauswertung II Bl. 66 ff., 120 und 148 ff.).

40

Die Einwände des Antragstellers, er bestreite die Anzahl der Bild-, Video- und Audiodateien, weil sein Handy nur 16 GB Speicher habe, zudem kenne er die Vielzahl der Inhalte nicht und vermute, dass diese aus dem "Hintergrundspeicher" des Mobiltelefons stammen könnten (Schriftsätze vom 25. Oktober 2017 S. 11 und vom 17. November 2017 S. 16 f.), wird zum einen durch das Ergebnis der Auswertung des Mobiltelefons widerlegt, wonach die Dateien auf dem Gerät gesichert wurden, und erscheint zum anderen als bloße Schutzbehauptung, weil es unglaubhaft erscheint, dass jemand auf seinem täglich genutzten Mobiltelefon eine solche Anzahl von Mediendateien mit sich führt, ohne diese - und sei es im Rahmen von Chats - angesehen bzw. angehört zu haben. Dass dem Antragsteller bewusst war, dass sich auf seinem Mobilfunkgerät für die Ermittlungsbehörden relevante Daten befinden, wird auch aus einem Telegram-Chat vom 11. August 2016 deutlich, in dem sich der Antragsteller nach Möglichkeiten erkundigte, ein Handy bzw. WhatsApp-Verläufe zu löschen, wenn ein Mobiltelefon beschlagnahmt wurde (Ermittlungsbericht vom 21. Dezember 2017 S. 7 = Anlage 1 zum Schriftsatz vom 3. Januar 2018).

41

Nur drei Wochen nach der Sicherstellung des iPhones 5s wurde am 30. Juni 2017 erneut ein vom Antragsteller genutztes Mobiltelefon beschlagnahmt. Auf diesem Gerät, einem iPhone 7, wurden wiederum relevante Inhalte festgestellt. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um drei verschiedene Banner bzw. Flaggen von terroristischen Organisationen ("Al-Qaida" in Nord-Algerien, "Kaukasisches Emirat" und "Al-Nusra-Front"), sechs Videos mit Naschid-Gesängen mit jihadistischem Inhalt und ein "IS"- Propaganda-Video mit Kampfszenen und 18 aus der Luft aufgenommenen, heroisch dargestellten Selbstmordattentaten. Außerdem ergab die Auslesung des Mobiltelefons, dass der Antragsteller Webseiten mit Hinrichtungsvideos besucht hat (Ermittlungsbericht vom 21. Dezember 2017 S. 12 ff. = Anlage 1 zum Schriftsatz vom 3. Januar 2018).

42

Darüber hinaus verbreitete und bewarb der Antragsteller nach den Erkenntnissen der schleswig-holsteinischen Landesbehörde für Verfassungsschutz über ein von ihm genutztes Facebook-Profil über einen längeren Zeitraum und mit zunehmender Radikalisierung jihadistisch-salafistische Inhalte bzw. Inhalte islamistisch-terroristischer Gruppierungen, insbesondere des "IS", und rief dabei offen zu Gewalt gegen "Ungläubige" auf (Bl. 160 ff. MI). So postete er am 21. Oktober 2015 als Profilbild einen anscheinend gottesfürchtigen Kämpfer mit dem Spruch "Ich werde mit Männern kommen, die den Tod mehr lieben wie ihr das Leben." Dabei handelt es sich ausweislich der nachvollziehbaren islamwissenschaftlichen Einschätzung, die sich der Senat aus eigener Überzeugung zu eigen macht, um ein beliebtes Motiv bei jihadistischen Salafisten, mit dem die Jihadisten propagandistisch heroisiert und als Vorbild präsentiert werden, da sie als "wahre" Muslime bereit seien, sich Gott und dem Islam zu opfern (Bl. 78, 168 MI). Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass ein Facebook-Nutzer mit seinem Profilbild unter Facebook agiert, z.B. damit bei Veröffentlichungen oder Postings in Facebook-Gruppen visuell in Erscheinung tritt, da zusammen mit dem eingestellten Beitrag jeweils der Name und (in kleinem Format) das Profilbild des Verfassers angezeigt wird, wodurch auch die über das Profilbild transportierte Nachricht weiterverbreitet wird.

43

Am 19. November 2015 stellte der Antragsteller unter seinem Facebook-Profil einen Beitrag in die Facebook-Gruppe "Konvertierte Muslime" ein, in welchem drei aneinandergereihte übersetzte Koran-Verse (Sure 2, Vers 191; Sure 4, Vers 89 und Sure 8, Vers 12), denen gemein ist, dass sie - zumindest wenn man allein den Wortlaut der übersetzten Fassungen betrachtet - zur Tötung von "Ungläubigen" aufrufen, mit dem Resümee verbunden sind:

"Durch die eben zitierten Verse lässt sich über die zwei Arten von Muslimen folgendes feststellen:

Die friedlichen Moslems lügen

Die gewalttätigen Muslime verhalten sich genau so, wie es ihnen zweifelsfrei vorgeschrieben wird und sind damit die 'wahren' Gläubigen [Fehler im Original]" (Bl. 166 f. MI mit zugehörigem Beleg auf Bl. 198 MI).

44

In einem am 23. November 2015 unter seinem Profil veröffentlichten Beitrag bringt der Antragsteller seine unmissverständliche Sympathie mit dem "IS" zum Ausdruck. Dieser stehe im Einklang mit dem Islam ("so sieht man NICHTS was dem Islam widerspricht", "Entweder man stand zu ihnen und steht jetzt immer noch zu ihnen oder man teilte NIE mit Ihnen den selben Gedanken. Aber bitte keine Heuchelei!!! Ja3ni es sind Muslime zu 100 %!" [Fehler im Original]), wobei er auch die Ermordung eines jordanischen Piloten, der durch den "IS" in einem Käfig gesperrt bei lebendigem Leib verbrannt wurde, als legitim erachtet ("... dass die Art und Weise wie der Pilot getötet wurde, eine Grundlage im Islaam hat." [Fehler im Original] Bl. 169 - 171 mit den zugehörigen Belegen auf Bl. 200 - 204 MI).

45

Am 2. Januar 2016 - mithin nur einen Tag nach der Teilnahme an dem Seminar des "C. Y." - stellte der Antragsteller unter seinem Profil eine Grafik ein, auf der in der Reihenfolge von oben nach unten in arabischer Schrift das islamische Glaubensbekenntnis (Schahada), ein Ritter mit einem Schwert in der rechten Hand haltend, der Schriftzug "Fisabilillah" (übersetzt: "Auf dem Wege Gottes") und ein Schwert abgebildet sind. Nach der nachvollziehbaren islamwissenschaftlichen Einschätzung, die sich der Senat aus eigener Überzeugung zu eigen macht, stellen diese Motive den Jihad im Sinne des bewaffneten Kampfes im Namen der Religion dar (Bl. 76, 173 MI).

46

Der Antragsteller brachte seine radikal-islamische Überzeugung ferner dadurch zum Ausdruck, dass er über sein Facebook-Profil am 17. Juni 2016 in einer Facebook-Gruppe einen Link zum Telegram-Kanal und in einem Beitrag vom 14. Juli 2016 einen Link zur Internetseite des bereits oben erwähnten Hasspredigers "C. Y." veröffentlichte, damit bewarb und zu einer möglichen weitergehenden Radikalisierung anderer Nutzer beitrug (Bl. 179 mit den zugehörigen Belegen auf Bl. 226 - 227 MI).

47

Im Jahr 2017 ist eine weitere Zunahme der Radikalisierung des Antragstellers zu verzeichnen. Am 28. Mai 2017 stellte er unter seinem Facebook-Profil ein Foto ein, welches er zeitweise auch als Profilbild verwendete, auf dem eine Person abgebildet ist, die offenbar unmittelbar vom Gebet kommend zu einem Sturmgewehr greift (Bl. 168 MI). Die entgegenstehende Behauptung des Antragstellers, es handele sich nicht um sein eigenes Profilbild (Schriftsatz vom 17. November 2017 S. 13), ist dadurch widerlegt, dass dieses Bild bei der Auswertung des vom Antragsteller genutzten Facebook-Profils sichergestellt worden ist, wobei das Bild mehrfach auch als Profilbild neben dem vom Antragsteller verwendeten Nutzernamen zu erkennen ist (Bl. 167 f. MI). In einem Beitrag vom 3. Juni 2017, den der Antragsteller unter anderem in den jeweils über 20 000 Mitglieder zählenden Facebook-Gruppen "Islam" und "Geschwister im Islam" veröffentlichte, verbreitete er zunächst in Form eines Bittgebets (arab. "Douaa"), in dem er die "IS"-Kämpfer (als Mudschahedin bezeichnet) heroisiert, die Aufforderung für diese Kämpfer zu beten:

"[...] Schämt euch nicht Douaa für die Mujaheddin zu machen, für diejenigen die Ihre Heimat und Familien verließen um dieser Religion und der Ummah zum Sieg zu verhelfen.

Die Sterne sind Ihre Decke und der Kalte harte Boden ist Ihre Matratze. Sie stehen den Feinden ALLAHs Tag und Nacht gegenüber. Sie ertragen den ekelhaften Sound der Jets über Ihnen und deren Bombadierungen. Es gibt niemanden Heute der wie Sie ist!!!

Bittet ALLAH ta ALA das er den Mujaheddin den Sieg gibt und bittet ALLAH azza wa jall das die Frauen der Kuffar Witwen werden, so wie unsere Schwestern Witwen wurden!! Bittet ALLAH azza wa jall das Ihre Kinder Weisen werden sowie unsere Kinder Weisen wurden !!! Schämt euch nicht ALLAH darum zu bitten und tut es mit YAQIN! [Fehler im Original]"

48

Unmittelbar daran schließt sich im Rahmen dieses Bittgebets eine Sympathiebekundung zu terroristischen Anschlägen des "IS" gegen die "Ungläubigen" (arab. kuffār) in verschiedenen Städten der arabischen und westlichen Welt an:

"Bittet ALLAH ta ALA das die Mujaheddin das Blut der Kuffar in den Straßen von Bagdad, Mossul, Fallujah, Aleppo, Raqqa, London, New York, Rom, Berlin fließen lassen !!! Macht die Douaa mit Yaqin und wisset das noch bevor Ihr die Hände runter macht ALLAH irgendwo auf der Welt Antworten wird! [Fehler im Original]"

49

Es folgt ein Aufruf an diejenigen, die nicht in die Kriegsgebiete des "IS" reisen können ("Hijra" bzw. "Hidschra" = Auswanderung), einen terroristischen Anschlag vor Ort zu verüben und die nächsten "Ungläubigen", die ihnen über den Weg laufen, zu töten:

"[...] Ya Akhil Muslim wenn du nicht die Hijra in den Islamischen Staat machen kannst, sodann leg dein ganzes Vetrauen in ALLAH. Sag LA ILAHA ILA ALLAH und beseitige die nächsten Kuffar denen du über den Weg läufst. [...] [Fehler im Original]" (Bl. 164 - 166 MI mit den zugehörigen Belegen auf Bl. 192 - 195 MI).

50

Am 6. Juni 2017 stellte der Antragsteller in die Facebook-Gruppe "Islam" das folgende Zitat als Graphik ein:

"Es ist eine komische Ummah, in der niemand den Jihad führt, ausser die Khawarij. Und es ist eine komische Ummah, in der niemand die Scharia gründen will, ausser die Khawarij. Und es ist eine komische Ummah, in der niemand den Ungläubigen Angst einjagt, außer die Khawarij. Und es ist eine komische Ummah, in der niemand beim sterben lächelt, ausser die Khawarij. [Fehler im Original]" (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Hauptakte Bd. I Bl. 5 und 13).

51

Durch dieses Zitat wird die muslimische Gemeinschaft ("Ummah") kritisiert, weil mit Ausnahme der "Khawarij" (Bezeichnung für Mitglieder eines extremistischen Islam-Verständnisses) niemand bereit sei, den Jihad zu führen und nach der Scharia zu leben.

52

Der Antragsteller räumt ein, die Texte über das Facebook-Profil unter dem Fantasienamen "O. R." eingestellt zu haben (Schriftsatz vom 25. Oktober 2017 S. 13 f.).

53

Hinzu kommt, dass der Antragsteller zahlreiche radikale Beiträge anderer Facebook-Nutzer mit "gefällt mir" gekennzeichnet hat. So markierte er ein Bild als "gefällt mir", auf dem 4 Reiter zu sehen sind. Das Bild ist - wie auch das bereits oben dargestellte Profilbild vom 21. Oktober 2015 - überschrieben mit: "Ich werde mit Männern kommen, die den Tod mehr lieben, als ihr das Leben" (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Hauptakte Bd. II Bl. 448). Auch markierte der Antragsteller ein Bild, welches mit dem Namen R. X. überschrieben ist und den folgenden Text enthält: "Wir rechnen mit allem, man muss aber eins wissen, wir gehen keinen Millimeter zurück, egal was es kostet, auch wenn es das Leben kostet" (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Hauptakte Bd. II Bl. 449).

54

Der Antragsteller warb für seine Einstellung nicht nur über die sozialen Netzwerke, sondern auch in persönlichen Gesprächen. Dabei beließ er es nicht bei einem bloßen Werben, sondern kritisierte die eigene Untätigkeit mit Blick auf die vielen durch "Ungläubige" getöteten Muslime. Im Rahmen einer gemeinsamen Autofahrt mit mehreren türkischsprachigen Personen am 1. September 2017, sagte (vermutlich) der Antragsteller beispielsweise:

"Die Ungläubigen haben voll viele Muslime verbrannt und umgebracht ... da zählt jede Sekunde und wir sitzen hier ..." (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 SB Wohnraum- und Fahrzeuginnenraumüberwachung II Bl. 190).

55

Als Grundlage der "Gefährdereinschätzung" ist des Weiteren zu berücksichtigen, dass der Antragsteller wiederholt Waffen bzw. gefährliche Gegenstände mit sich geführt und zu Hause aufbewahrt hat.

56

Anlässlich einer Verkehrskontrolle am 11. September 2013 in N. wurde der Antragsteller mit einem Einhandmesser, einem Teleskopschlagstock und einem Tierabwehrspray angetroffen (Bl. 26 - 27 MI). Am 14. April 2014 wurde bei einer Verkehrskontrolle im vom Antragsteller geführten Fahrzeug eine Machete mit einer Klingenlänge von 55 cm festgestellt (Bl. 28 - 29 MI). Am 10. März 2015 transportierte er in seinem Fahrzeug (dieses Mal in einem verschlossenen Behältnis) einen Teleskopschlagstock und ein "Pfefferspray" (Bl. 30 - 32 MI). Auch am 8. November 2015 wurde er mit einem Teleskopschlagstock angetroffen (Bl. 33 - 34 MI). Anlässlich einer Wohnungsdurchsuchung am 21. Januar 2016 wurde in der Wohnzimmerschrankwand des Antragstellers ein Schreckschussrevolver der Marke Röhm aufgefunden, weshalb die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kiel mit Datum vom 27. Januar 2017 Anklage wegen unerlaubten Besitzes einer Schusswaffe erhoben hat (Bl. 35 - 36 MI; Anklageschrift im Verfahren 588 Js 12162/16 vom 27. Januar 2017, Anlage zum Schriftsatz vom 3. Januar 2018). Im Zusammenhang mit der Aufklärung eines Wohnungseinbruchdiebstahls, bei dem der Antragsteller als Beschuldigter geführt wird und in der Nähe des Tatorts festgestellt wurde, fand man bei ihm am 12. Mai 2017 ein Gürtelschnallenmesser. Dabei handelt es sich um eine sogenannte "Tarnwaffe" in Form eines Gürtels, dessen Gürtelschnalle aus einem feststehenden Messer mit einer Klingenlänge von 5,5 cm besteht (Bl. 37 - 39 MI). Ein ebensolches Gürtelschnallenmesser wurde - obwohl am 12. Mai 2017 eine Sicherstellung des dort aufgefundenen Messers erfolgte - auch im Rahmen der Wohnungsdurchsuchung am 9. Juni 2017 aufgefunden. Daneben wurden diverse Messer in der Anbauwand und eine Machete im Wohnzimmer festgestellt. Im Spalt der Klappe des neben der Wohnungseingangstür befindlichen Sicherungskastens steckte griffbereit ein Messer (Bl. 83 ff. MI).

57

Relevant ist weiterhin, dass der Antragsteller sich bereits einmal wegen einer von ihm hervorgerufenen Bedrohungslage im Gewahrsam befand. Am Nachmittag des 9. Juni 2017 kam es zu einem Disput zwischen dem Antragsteller und einem Polizeibeamten, der im Rahmen der Observation des Antragstellers von diesem aufgedeckt worden war. Der Antragsteller beendete den Disput mit der Äußerung, dass er noch am Abend zur "..." (ein Stadtfest, das zu diesem Zeitpunkt in N. stattfand) gehen wolle und es dort "richtig krachen" werde. Aufgrund dieser Ankündigung, die zusammen mit den zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnissen von radikal-islamistischen Äußerungen des Antragstellers im Internet von den Ermittlungsbehörden als ernsthafte Ankündigung eines möglichen Terroranschlags auf das Stadtfest aufgefasst wurde, kam es noch am Abend desselben Tages zur richterlich angeordneten Ingewahrsamnahme des Antragstellers und zur Durchsuchung seiner Wohnung. Nach Beendigung des Stadtfestes wurde der Antragsteller am Abend des 11. Juni 2017 wieder aus dem Gewahrsam entlassen (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Hauptakte Bd. I Bl. 40 f.).

58

(2) Angesichts der vorstehend festgestellten Tatsachen, die sich auf Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden stützen, hält es der Senat für hinreichend wahrscheinlich, dass der Antragsteller seinen über einen langen Zeitraum gebildeten und bekundeten Überzeugungen auch Taten folgen lässt und einen - ohne großen Vorbereitungsaufwand möglichen - Terroranschlag in Deutschland begeht. Die von ihm ausgehende Bedrohungssituation kann sich jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umschlagen.

59

Die Gesamtschau der den Antragsteller betreffenden Erkenntnisse ergibt, dass sich der Antragsteller seit 2014 zunehmend islamistisch radikalisiert hat und dem jihadistischen Salafismus zuzurechnen ist sowie mit der terroristischen Vereinigung "IS" sympathisiert.

60

Die auf den Mobiltelefonen des Antragstellers gefundenen unzähligen "IS"-Propaganda und grausame Gewalttaten darstellenden Bilder, Videos und Texte, zeigen in aller Deutlichkeit, dass der Antragsteller dem jihadistisch-salafistischen Spektrum zuzuordnen ist und eine sehr ausgeprägte Sympathie für den "IS" hegt. Zu diesem Ergebnis kommen auch die islamwissenschaftlichen Bewertungen der auf den Mobiltelefonen gespeicherten Bilder (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Hauptakte Bd. III Bl. 683 ff.), Videos (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Hauptakte Bd. III Bl. 697 ff.) und Textdokumente (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Hauptakte Bd. III Bl. 718 ff.), die sich der Senat aus eigener Überzeugung zu eigen macht. Darüber hinaus war auf den Mobiltelefonen des Antragstellers eine sehr große Anzahl an Naschids gespeichert, welche er auch fortwährend gehört hat. Soweit der Antragsteller behauptet, er könne die Inhalte und Bedeutung dieser Lieder nicht verstehen und mithin keine Wertung damit verbinden, weil er der arabischen Sprache nicht mächtig sei (Schriftsatz vom 25. Oktober 2017 S. 11 f.), handelt es sich nach Wertung des Senats um eine Schutzbehauptung. Es kann dabei dahinstehen, ob der Antragsteller der arabischen Sprache - wie er behauptet - nicht mächtig ist, da ihm die grundlegende Ausrichtung der Naschids bekannt ist. Hierfür spricht bereits, dass diese Audio-Dateien mit der Bezeichnung "IS" versehen waren. Zudem befanden sich auf den Mobiltelefonen des Antragstellers auch Videos mit "IS"-Propaganda, die ebenfalls mit Naschids hinterlegt waren, so dass jedenfalls in der Zusammenschau von bewegten Bildern und Gesängen die jihadistische Bedeutung der Naschids als solche ohne Weiteres erkennbar war. Auch die Regelmäßigkeit, mit der der Antragsteller Naschids hört, spricht ganz maßgeblich dafür, dass er um deren Bedeutung weiß. Die tiefe Verwurzelung des Antragstellers im jihadistischen Salafismus wird auch dadurch eindrucksvoll belegt, dass der Antragsteller, nachdem sein iPhone 5s im Rahmen der Wohnungsdurchsuchung am 9. Juni 2017 beschlagnahmt worden ist, binnen weniger Wochen erneut diverse phänomenrelevante Bild- und Videodateien auf sein neues Mobiltelefon (iPhone 7) geladen hatte (Ermittlungsbericht vom 21. Dezember 2017 S. 12 ff. = Anlage 1 zum Schriftsatz vom 3. Januar 2018). Dass der Antragsteller mit dem "IS" sympathisiert, bestätigt auch der Umstand, dass auf seinem Mobiltelefon Bilder vorhanden sind, die den Antragsteller mit "IS"-Mütze und einem Siegelring zeigen (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Hauptakte Bd. III Bl. 685; Bl. 437 MI).

61

Der Antragsteller belässt es nicht bei einer innerlichen Identifikation mit dem jihadistischen Salafismus und "IS", sondern trägt seine extreme ideologische Überzeugung bewusst nach außen. Die zahlreichen Facebook-Einträge des Antragstellers - die im Laufe der Zeit immer radikalere Tendenzen aufweisen - belegen dies. Wer, wie der Antragsteller, den Bereich einer rein innerlichen Identifikation mit einer Ideologie verlässt, die seine Anhänger zum Handeln ("Jihad") auffordert, hat einen großen Schritt dahin getan, seiner Einstellung auch eigene Taten folgen zu lassen, was im Rahmen der Gefährderprognose zu berücksichtigen war. Den Einwand des Antragstellers, es handele sich bei den Facebook-Einträgen nicht um eigene Meinungen, die er damit habe kundtun oder anderen mitteilen wollen, sondern um ein Sammelsurium von Texten, die ihn interessierten und die er auf der Suche nach der richtigen Auslegung des Islam habe lesen und einschätzen wollen (Schriftsatz vom 25. Oktober 2017 S. 13 f.), wertet der Senat als Schutzbehauptung. Das Facebook-Profil des Antragstellers enthält zahlreiche Einträge, die dem militanten Salafismus zuzurechnen sind (vgl. auch Islamwissenschaftliche Bewertung des Facebook-Profils vom 19. Mai 2017 = Bl. 73 ff. MI). Ein nur beiläufiges Interesse wird allein hierdurch widerlegt. Hinzu kommt, dass der Antragsteller zahlreiche radikale Beiträge anderer Facebook-Nutzer mit "gefällt mir" gekennzeichnet hat und so eindeutig zu verstehen gibt, dass er sich mit diesem Gedankengut identifiziert und dies in dieser Weise auch nach außen kenntlich machen will. So markierte er ein Bild als "gefällt mir", auf dem vier Reiter zu sehen sind. Das Bild ist überschrieben mit: "Ich werde mit Männern kommen, die den Tod mehr lieben, als ihr das Leben" (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Hauptakte Bd. II Bl. 448); dieses Bild postete er im Übrigen auch als eigenes Profilbild. Auch markierte der Antragsteller ein Bild mit "gefällt mir", welches mit dem Namen R. X. überschrieben ist und den folgenden Text enthält: "Wir rechnen mit allem, man muss aber eins wissen, wir gehen keinen Millimeter zurück, egal was es kostet, auch wenn es das Leben kostet".

62

Dass sich der Antragsteller - im Laufe seiner Radikalisierung - mittlerweile nicht mehr damit zufrieden gibt, für seine ideologische Einstellung zu werben, sondern (indirekt) zu Anschlägen auffordert, verstärkt die von ihm ausgehende Gefahr einer eigenen Tat erheblich. Seine Entwicklung schlägt von einer einstmals passiven Ausrichtung zunehmend ins Aktive um. So belassen es einzelne Facebook-Einträge nicht mehr bei einem Werben für den jihadistischen Salafismus, sondern enthalten Aufrufe. Der Antragsteller stellte beispielsweise in die Facebook-Gruppe "Islam" das folgende Zitat als Graphik am 6. Juni 2017 ein:

"Es ist eine komische Ummah, in der niemand den Jihad führt, ausser die Khawarij. Und es ist eine komische Ummah, in der niemand die Scharia gründen will, ausser die Khawarij. Und es ist eine komische Ummah, in der niemand den Ungläubigen Angst einjagt, ausser die Khawarij. Und es ist eine komische Ummah, in der niemand beim sterben lächelt, ausser die Khawarij. [Fehler im Original]".

63

Bereits am 3. Juni 2017 postet der Antragsteller in der Gruppe "Islam" einen als Kopie gekennzeichneten Beitrag, in dem es u.a. heißt:

"Ya Akhil Muslim wenn du nicht die Hijra in den Islamischen Staat machen kannst, sodann leg dein ganzen Vertrauen in Allah. Sag LA ILAHA ILA ALLAH und beseitige den nächsten Kuffar denen du über den Weg läufst [Fehler im Original]" (Bl. 164 - 166 MI mit den zugehörigen Belegen auf Bl. 192 - 195 MI).

64

Darüber hinaus ruft der Antragsteller auch im persönlichen Gespräch indirekt zu Gewalttaten gegen "Ungläubige" auf, wie die PKW-Innenraumüberwachung vom 1. September 2017 eindrücklich gezeigt hat. Danach soll der Antragsteller im Beisein weiterer Personen geäußert haben:

"Die Ungläubigen haben voll viele Muslime verbrannt und umgebracht ... da zählt jede Sekunde und wir sitzen hier ..." (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 SB Wohnraum- und Fahrzeuginnenraumüberwachung II Bl. 190).

65

Selbst wenn der Senat zu Gunsten des Antragstellers unterstellt, dass diese Äußerung nicht von ihm stammt, so ist zumindest zu berücksichtigen, dass der Antragsteller, in dessen Fahrzeug das Gespräch stattfand, dem in keiner Weise entgegengetreten ist.

66

Die auf den Mobiltelefonen des Antragstellers festgestellten Bilder und Videos mit grausamen Inhalt (Hinrichtungen, getötete Zivilisten) lassen den Schluss zu, dass der Antragsteller - aufgrund des Konsums dieser Medien - eine emotionale Abstumpfung erfahren hat, die die Gefahr einer Begehung terroristischer Anschläge weiter erhöht. Diese Gefahr wird durch den Kontakt zu bekannten Salafisten (z.B. "C. Y.", R. P., O. W.) noch verstärkt. Diese Kontakte versetzen den Antragsteller in die Lage, Gleichgesinnte und damit mutmaßliche Unterstützer für etwaige Anschläge zu finden und sich in der Gesinnung und in ihren Taten gegenseitig zu bestärken.

67

Besondere Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch der Waffenaffinität des Antragstellers beizumessen. Bei diesem wurden über Jahre hinweg und wiederholt zahlreiche Waffen und gefährliche Gegenstände (z.B. Pfefferspray, Klappmesser, Machete, Gürtel mit verstecktem Messer, Schreckschusspistole, Teleskopschlagstock) aufgefunden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich unter den festgestellten Gegenständen auch solche befanden, die typischerweise als Angriffsmittel Verwendung finden. Die beim Antragsteller aufgefundene Machete ist beispielsweise bereits aufgrund ihrer Größe (Klingenlänge von 55 cm) und den damit verbundenen Transportschwierigkeiten ersichtlich nicht zur Selbstverteidigung bestimmt. Auch ein Teleskopschlagstock ist eher eine Angriffs- als eine Selbstverteidigungswaffe. Damit wird deutlich, dass der Antragsteller auch im Zusammenhang mit Waffen den Rahmen einer (in bestimmten Kreisen noch als gewöhnlich zu bezeichnenden) Ausstattung verlassen hat, ohne dass hierfür Gründe - wie beispielsweise eine besondere Bedrohungslage des Antragstellers - ersichtlich wären. Da sich dieser mit Waffen und gefährlichen Gegenständen ausstattet und diese bei sich führt, obwohl hierfür objektiv keine Notwendigkeit besteht, lässt auf eine erhebliche Gewaltbereitschaft und auf eine hiermit einhergehende erhöhte Gefährlichkeit des Antragstellers schließen.

68

Der vom Landeskriminalamt Schleswig-Holstein angefertigte Bericht zur Risikoanalyse des Antragstellers vom 24. November 2017 (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Hauptakte Bd. III Bl. 725 ff.) kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller ein "erhöhtes Potenzial zur Begehung von Gewaltstraftaten" aufweist.

69

Relevante Schutzfaktoren, welche die von dem Antragsteller ausgehende Gefahr für einen Anschlag verringern, sind nicht ersichtlich. Das Risiko eines terroristischen Anschlags wird auch nicht durch die geltend gemachte Bindung an seine ihm nach islamischem Ritus angetraute, die russische Staatsbürgerschaft besitzende Frau und deren ungeborenes Kind gemindert. Eine derartige Beziehung wirkt allzumal dann nicht deeskalierend, wenn der Partner das Weltbild teilt; ein mäßigender Einfluss der Frau auf den Antragsteller wird nicht substantiiert geltend gemacht und erschließt sich auch nicht aus deren Eingabe an den Senat. Ungeachtet dessen hält es der Senat für unglaubhaft, dass die Beziehung zu seiner Frau noch besteht und der Antragsteller der Vater des ungeborenen Kindes ist. Im Rahmen eines Telefonates zwischen dem Antragsteller und seiner Frau am 8. Oktober 2017 räumte diese ein, dass sie nicht von dem Antragsteller schwanger sei (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 SB TKÜ III Bl. 31). Dies bestätigte sie in einem Telefonat am 21. November 2017 gegenüber ihrer Betreuerin, in welchem sie abermals ausführte, nicht zu wissen, wer der Vater des Kindes sei (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Hauptakte Bd. III Bl. 750). Aufgrund dieser Erkenntnis lehnte der Antragsteller in einem Telefonat am 13. Oktober 2017 einen Besuch durch seine Frau ab und erklärte, dass die Freundschaft zwischen ihnen nunmehr beendet sei (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 SB TKÜ III Bl. 56).

70

Soweit der Antragsteller erklärt, dass er sich "von gewaltsamen Aktionen distanzier[e] und ... das Angebot des in Schleswig-Holstein bestehenden Vereins R. und M" annehme (Schriftsatz vom 11. Januar 2018 S. 2), bewirkt dies keine im Ergebnis beachtliche Minderung der vom Antragsteller ausgehenden Gefährdung. Der Senat verkennt dabei nicht, dass entsprechende Treffen bereits stattgefunden haben und nicht sicher auszuschließen ist, dass der Antragsteller an diesen Treffen aus mehr als nur "taktischen" Gründen teilgenommen hat. Indes fehlen bereits positive Anhaltspunkte für die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit der Bereitschaft des Antragstellers, sich auf einen Deradikalisierungsprozess einzulassen; auch sind - jenseits des durch die Abschiebungsanordnung und die Inhaftierungssituation geschaffenen äußeren Drucks, der für sich allein nicht ausreicht - keine nachvollziehbaren Anstöße für einen derart gravierenden Wandel vorgetragen oder ersichtlich, die dem Senat eine positive Prognose des Erfolges dieser Bemühungen ermöglichten. Solcher Anhaltspunkte bedarf es angesichts der bereits über Jahre hinweg bestehenden und stetig wachsenden Verwurzelung des Antragstellers im radikalen Gedankengut. Diese spricht gegen einen, aufgrund von (bislang) lediglich zwei Besuchen von PROvention erfolgten, ernstzunehmenden und grundlegenden Einstellungswandel beim Antragsteller. Der Antragsteller zeigte sich zudem auch ersichtlich unbeeindruckt von einer erfolgten mehrtägigen Ingewahrsamnahme und Wohnungsdurchsuchung am 9. Juni 2017 im Zusammenhang mit der Festveranstaltung "...". Auf dem ab diesem Zeitpunkt durch den Antragsteller genutzten Mobiltelefon "iPhone 7" konnten bereits wenige Wochen später erneut phänomenrelevante Bild- und Videodateien festgestellt werden (Ermittlungsbericht vom 21. Dezember 2017 S. 12 ff. = Anlage 1 zum Schriftsatz vom 3. Januar 2018). Dies unterstreicht die tiefe Verwurzelung des Antragstellers im radikalen Gedankengut und die damit einhergehenden Hürden, die mit einem ernsthaften Einstellungswandel verbunden sind. Hinzu kommt, dass der Antragsteller sich im Rahmen eines am 8. Dezember 2017 geführten Telefonats mit seiner ihm nach islamischem Ritus angetrauten Frau darüber lustig macht, dass er an dem "Deradikalisierungsprogramm" von R. teilnehmen "soll" (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 SB TKÜ III Bl. 137). Auch das - von ihm vorgetragene, durch zahlreiche Eingaben seiner Mutter bekräftigte - gute Verhältnis zu seiner Familie, insbesondere zu seiner Mutter, hat den Antragsteller nicht von der festgestellten fortschreitenden Radikalisierung abgehalten.

71

Die Gesamtschau der den Antragsteller betreffenden Erkenntnisse, seiner Persönlichkeit, seines Verhaltens, seiner nach außen erkennbaren Einstellung und der Verbindung zu anderen radikal-islamischen Personen ergibt nicht lediglich eine radikal-religiöse Einstellung. Vielmehr ergibt diese Gesamtschau, dass der Antragsteller inzwischen einen Grad der Radikalisierung erreicht hat, der konkret besorgen lässt, dass er bereit ist, seiner islamistischen Überzeugung auch durch gewaltsame oder terroristische Methoden Ausdruck zu verleihen. Dies hat der Antragsteller selbst schon zu Beginn seines Radikalisierungsprozesses bestätigt, auch wenn es aufgrund der vorstehenden Ausführungen hierauf nicht mehr entscheidungserheblich ankommt. Ausweislich der Angaben von Herrn C. T. vom 16. Dezember 2015 äußerte der Antragsteller diesem gegenüber, dass er - der Antragsteller - es "gut finden würde, wenn Ungläubige sterben würden, er fände den 'IS' gut und werde sich Waffen und Schwerter besorgen, um zu kämpfen, man werde schon sehen, was passiert" (Strafanzeige vom 8. Juni 2017 S. 4 = Bl. 14 MI).

72

cc) Auch bei unterstellter Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115/EG musste dem Antragsteller keine Frist zur freiwilligen Ausreise eingeräumt werden, da von ihm eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und die nationale Sicherheit ausgeht (Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG; vgl. BVerwG, Urteil vom 22. August 2017 - 1 A 3.17 - juris Rn. 35).

73

dd) Die Abschiebungsanordnung ist auch nicht ermessensfehlerhaft. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner dem öffentlichen Interesse an der Abwehr der von dem Antragsteller ausgehenden terroristischen Gefahr ein höheres Gewicht beimisst als dessen Interesse am Verbleib in Deutschland. Der Schutz der Allgemeinheit vor Terroranschlägen gehört zu den wichtigsten öffentlichen Aufgaben und kann auch sehr weitreichende Eingriffe in die Rechte Einzelner rechtfertigen (BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09 u.a. - BVerfGE 141, 220 Rn. 96, 132; Beschluss vom 18. Juli 1973 - 1 BvR 23/73, 1 BvR 155/73 - BVerfGE 35, 382 <402 f.>).

74

Der Antragsgegner hat bei seiner Entscheidung gewürdigt, dass der Antragsteller in Deutschland geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen ist und die getrenntlebenden Eltern sowie der Bruder des Antragstellers in Deutschland leben. Auch hat der Antragsgegner berücksichtigt, dass der Antragsteller bei Erlass der Abschiebungsanordnung im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG war und - was zu seinen Gunsten unterstellt worden ist - über seine Mutter besondere Aufenthaltsrechte nach dem Abkommen EWG-Türkei ableitet, indem er sich auf Art. 7 ARB 1/80 berufen kann. Damit kann der Aufenthalt des Antragstellers nur unter den Voraussetzungen des Art. 14 ARB 1/80 beendet werden, d.h. sein persönliches Verhalten muss gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Aufenthaltsbeendigung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 [ECLI:EU:C:2011:809], Ziebell - NVwZ 2012, 422 Rn. 80 ff.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor, da der von dem Antragsteller ausgehenden Gefahr eines jederzeit möglichen terroristischen Anschlags nicht auf andere Weise gleich wirksam begegnet werden kann wie durch die Beendigung des Aufenthalts. Das nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu erfüllende Erfordernis einer gegenwärtigen "konkreten Gefährdung" der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 - NVwZ 2012, 422 Rn. 84 f.) bedeutet, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht auf vergangenes strafbares Verhalten gestützt werden dürfen, sondern gegenwärtig noch eine konkrete Bedrohung für hochrangige Rechtsgüter vorliegen muss. Eine "konkrete Gefahr" im Sinne des deutschen Polizeirechts wird damit nicht gefordert, vielmehr reicht eine terroristische Gefahr im Sinne von § 58a Abs. 1 AufenthG aus, die gegenwärtig ist und sich jederzeit realisieren kann.

75

Es stellt sich auch nicht als ermessensfehlerhaft dar, dass der Antragsgegner im Rahmen der streitgegenständlichen Verfügung die vermeintliche Beziehung des Antragstellers zu seiner nach islamischem Ritus angetrauten Frau und das nach seinen Angaben gemeinsame - aber noch ungeborene - Kind unberücksichtigt gelassen hat. Wie der Senat bereits ausgeführt hat, ist es nicht glaubhaft, dass eine Beziehung zwischen dem Antragsteller und seiner nach islamischem Ritus angetrauten Frau noch besteht, weshalb diese Beziehung auch nicht (mehr) dem Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK unterfällt. Weiterhin ist nicht glaubhaft vorgetragen, dass der Antragsteller der leibliche Vater des ungeborenen Kindes seiner nach islamischem Ritus angetrauten Frau ist. Mithin waren diese Aspekte in die Abwägung nicht einzustellen.

76

2. Dem Vollzug der Abschiebungsanordnung stehen auch keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote entgegen. Das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG hindert den Erlass einer Abschiebungsanordnung nicht, es führt aber dazu, dass der Betroffene nicht in diesen Staat abgeschoben werden darf (§ 58a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 59 Abs. 2 und 3 AufenthG in entsprechender Anwendung). Aus diesem Grund hat die zuständige Behörde beim Erlass einer Abschiebungsanordnung in eigener Verantwortung zu prüfen, ob der beabsichtigten Abschiebung ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG entgegensteht. Dies umfasst sowohl die Frage, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz als Flüchtling (§ 60 Abs. 1 AufenthG) oder als subsidiär Schutzberechtigter (§ 60 Abs. 2 AufenthG) vorliegen, als auch die Prüfung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG.

77

a) Für eine Verfolgung des Antragstellers wegen dessen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG liegen keine Anhaltspunkte vor. Selbst eine Bestrafung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder terroristischer Betätigung würde keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG darstellen. Der Antragsteller selbst trägt eine solche Gefahr im Übrigen auch nicht vor.

78

b) Es besteht auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG oder nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Weder drohen dem Antragsteller in der Türkei die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung.

79

Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen werden Anhänger des sogenannten "Islamischen Staats" in der Türkei zwar grundsätzlich strafrechtlich verfolgt. Aus der Antwort des Auswärtigen Amtes vom 5. September 2017 auf Fragen des Senats in dem Verfahren 1 A 7.17 - als Erkenntnismittel in das hiesige Verfahren eingeführt - ergibt sich, dass sich im Februar 2017 nach Angaben des türkischen Justizministeriums insgesamt 498 ausländische "IS"-Anhänger in türkischen Haftanstalten befunden haben sollen, davon 470 in Untersuchungshaft und 28 im Strafvollzug. Zahlen zu türkischen Staatsangehörigen liegen dem Auswärtigen Amt nicht vor. Es verfügt auch nicht über offizielle Angaben zu den angewandten Strafvorschriften und zur Strafhöhe. Nach Pressemeldungen zu Einzelfällen seien Artikel 309 tStGB und Artikel 314 tStGB angewandt worden. Amnesty International hat auf eine Anfrage des Senats in dem Verfahren 1 A 7.17 mit Schreiben vom 29. August 2017 - als Erkenntnismittel in das hiesige Verfahren eingeführt - mitgeteilt, sie verfügten über keine eigenen Erkenntnisse darüber, in welchem Ausmaß, mit welcher Konsequenz und ab welchem Grad der Unterstützungsaktivität "IS"-Anhänger in der Türkei verfolgt würden. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes geht der Senat allerdings davon aus, dass eine Strafverfolgung auch wegen Aktivitäten außerhalb der Türkei grundsätzlich möglich erscheint.

80

Im Falle des Antragstellers besteht bereits keine beachtliche Wahrscheinlichkeit ("real risk") dafür, dass gegen den Antragsteller bei Rückführung in die Türkei aufgrund des in Deutschland gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen ein Strafverfahren geführt oder es über eine Befragung hinaus sonst zu einer Inhaftierung kommen wird.

81

Zwar interessieren sich die türkischen Behörden ausweislich der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 5. September 2017 für Strafverfahren gegen eigene Staatsangehörige, die Terrorismusvorwürfe zum Gegenstand haben. Auch wird gegen den Antragsteller in Deutschland aktuell ein Ermittlungsverfahren wegen Straftaten nach § 89a StGB (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat), § 89b StGB (Aufnahme von Beziehungen zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) und § 129a Abs. 5 StGB (Unterstützung und Bildung einer terroristischen Vereinigung) geführt. Nach derzeitiger Einschätzung des Senats ist jedoch nicht damit zu rechnen, dass das Ermittlungsverfahren zu einer Verurteilung des Antragstellers führen wird. Weder ist eine Anklageerhebung bislang erfolgt, noch künftig damit zu rechnen, weil die zuständige Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen zur Abschiebung gemäß § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erteilt hat (Bl. 363 MI), so dass es mit Vollzug der Abschiebung zu einer Einstellung des Verfahrens nach § 154b Abs. 3 StPO kommen wird. Abgesehen davon ergeben sich nach der vorläufigen Wertung des Senats, die mit der Einschätzung des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof vom 12. Juli 2017 (Ermittlungsakte 107 Js 12051/17 Hauptakte Bd. II Bl. 358 ff.) übereinstimmt, mit der dieser die Übernahme des Verfahrens von der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Flensburg abgelehnt hat, bereits erhebliche Zweifel, ob sich die im Rahmen des Anfangsverdachts gegen den Antragsteller aufgeworfenen Vorwürfe im Ergebnis der Ermittlungen mit dem für eine Anklageerhebung erforderlichen hinreichenden Tatverdacht gemäß § 170 Abs. 1 StPO bestätigen lassen.

82

Auch aus der Mitteilung des Auswärtigen Amtes, wonach sich die türkischen Behörden für die Gründe der Abschiebungen interessierten, ergibt sich keine andere Einschätzung, weil durch die deutschen Behörden auf Nachfrage der türkischen Behörden keine näheren Angaben zu den Gründen erfolgen, die über die Feststellung des unrechtmäßigen Aufenthalts hinausgehen (Mitteilung des Auswärtigen Amtes vom 5. September 2017), so dass insbesondere davon auszugehen ist, dass Einzelheiten über die hier vorliegenden Ermittlungserkenntnisse und Beweismittel nicht an die türkischen Behörden weitergegeben werden. Unabhängig davon weisen die gegen den Antragsteller erhobenen Vorwürfe keinen unmittelbaren Bezug zur Republik Türkei auf; namentlich hat er bislang spezifisch türkische Interessen nicht verletzt. Weder bestehen Erkenntnisse, dass er Kontakte zu jihadistisch-salafistisch geprägten Personen in der Türkei unterhält, noch dass er von Deutschland aus den "IS" oder andere Terrororganisationen unterstützende Tätigkeiten mit konkretem Bezug zur Türkei ausgeübt hat. Sofern er nach seiner Rückkehr in die Türkei den "IS" oder andere Terrororganisationen unterstützende Aktivitäten entfalten bzw. Terroranschläge planen oder unterstützen sollte, wäre dieses erst künftige Verhalten nicht geeignet, ein aktuelles Abschiebungsverbot zu begründen.

83

Abgesehen davon, droht dem Antragsteller auch deshalb nicht die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, weil diese in der Türkei nicht vorgesehen ist. Seit dem Jahr 2004 ist in Art. 38 der Verfassung der Republik Türkei verankert, dass die Todesstrafe unzulässig ist. Zudem hat die Türkei die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ebenso wie das Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe unterzeichnet und ratifiziert. Zwar gibt es seit dem Putschversuch im Juli 2016 eine Debatte um die Wiedereinführung der Todesstrafe. Jedoch ist derzeit weder erkennbar, welchen Ausgang die Debatte haben wird. Hinzu kommt, dass die Republik Türkei auch an das in Art. 7 EMRK manifestierte strafrechtliche Rückwirkungsverbot gebunden ist, welches zugleich in Art. 38 der türkischen Verfassung garantiert wird.

84

Dem Antragsteller droht auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung. Dies bereits deshalb, weil nach dem Vorstehenden nicht damit zu rechnen ist, dass der Antragsteller nach seiner Abschiebung in den Fokus der türkischen Sicherheitsbehörden geraten wird.

85

Fehlt es damit auch an der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Inhaftierung des Antragstellers nach seiner Abschiebung, bedarf es der hilfsweise von diesem beantragten Zusicherung bezüglich der Gestaltung der Haftbedingungen und der Ermöglichung von Besuchen eines Rechtsbeistandes nicht. Insofern ergibt sich auch unter Berücksichtigung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Dezember 2017 (2 BvR 2259/17) kein weiterer Aufklärungsbedarf zu den Haftbedingungen in der Türkei.

86

c) Auch aus der nicht auszuschließenden Möglichkeit, dass der Antragsteller bei seiner Rückkehr in die Türkei mit seiner Einberufung zum noch nicht abgeleisteten Wehrdienst rechnen müsste, den er nach der von ihm behaupteten entgegenstehenden Überzeugung nicht verweigern könnte, weshalb ihm die Inhaftierung drohe, folgt daraus für ihn kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1, 2 oder 5 AufenthG i.V.m Art. 9 EMRK. Die Heranziehung zum Wehrdienst in der Türkei stellt keine Form politischer Verfolgung dar, da sie allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt wird (vgl. OVG Bautzen, Urteil vom 7. April 2016 - 3 A 557/13.A - juris Rn. 33). Auch eine eventuell drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung ist für sich genommen keine politische Verfolgung (zu den Kriterien: BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1991 - 9 C 131.90 - Buchholz 402.25 § 2 AsylVfG Nr. 21 S. 63 = juris Rn. 19 m.w.N.). Abgesehen davon bestehen schon keine Anhaltspunkte für eine bereits bestehende Wehrdienstverweigerung, welche eine drohende Bestrafung nach sich ziehen könnte. Denn dass der Antragsteller bereits gemustert worden wäre oder ihm schon ein Einberufungsbescheid zugestellt worden sei oder er sogar schon gegenüber den türkischen Behörden erklärt habe, den Wehrdienst zu verweigern, trägt er selbst nicht vor.

87

Auch aus der möglichen Annahme einer künftigen, erst nach der Rückkehr des Antragstellers in die Türkei erklärten Wehrdienstverweigerung und der damit einhergehenden Möglichkeit einer Bestrafung, ergibt sich nichts anderes. Zwar kann sich aus einem erst künftig zu erwartenden Geschehen ein Abschiebungsverbot ergeben, wenn bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung ein Kausalverlauf in Gang gesetzt worden ist, der bei ungehindertem Ablauf zwingend dazu führt, dass die Gründe für ein Abschiebungsverbot eintreten werden. Davon ist vorliegend aber nicht auszugehen. Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für das türkische System, das keinen Ersatzdienst und kein Verfahren vorsieht, in dem dargelegt werden kann, ob die Voraussetzungen einer Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen vorliegen, eine Verletzung der von Art. 9 EMRK garantierten Gewissensfreiheit angenommen, weil es keinen gerechten Ausgleich zwischen dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft und jenem von Wehrdienstverweigern trifft (EGMR, Urteil vom 12. Juni 2012 - Nr. 42730/05, Sawda/Türkei). Jedoch kommt eine Verletzung von Art. 9 EMRK nur dann in Betracht, wenn der Betroffene glaubhaft machen kann, dass er den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert. Daran fehlt es beim Antragsteller. Eine Gewissensentscheidung in diesem Sinne ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine sittliche Entscheidung, die der Kriegsdienstverweigerer innerlich als für sich bindend erfährt und gegen die er nicht handeln kann, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Oktober 1972 - 8 C 46.72 - BVerwGE 41, 53 <55> = juris Rn. 9 und vom 1. Februar 1989 - 6 C 61.86 - BVerwGE 81, 239 <240 f.> = juris Rn. 11 f.). Erforderlich ist eine Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung. Sie muss absolut sein und darf nicht situationsbezogen ausfallen (vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 5. Februar 2016 - 9 B 16/16 - juris Rn. 30). Der Antragsteller hat jedoch nur pauschal behauptet, er lehne den türkischen Militärdienst und den damit verbundenen möglichen Einsatz in Krisengebieten, in den kurdischen Siedlungsgebieten oder an der türkisch-syrischen Grenze entschieden ab. Abgesehen davon, dass dies den nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an die Glaubhaftmachung einer Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg zu stellenden Anforderungen nicht genügt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Oktober 1972 - 8 C 46.72 - BVerwGE 41, 53 <56> = juris Rn. 12), wird diese Behauptung auch durch die auf den beschlagnahmten Datenträgern vorgefundenen zahlreichen Aufnahmen, insbesondere von Maschinengewehren und Pistolen, Hinrichtungen und getöteten Kämpfern, sowie die im Rahmen einer Wohnungsdurchsuchung und bei Verkehrskontrollen beim Antragsteller sichergestellten Waffen widerlegt. Sollte der Antragsteller dennoch den Wehrdienst verweigern und deshalb in der Türkei zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, wäre auch dieses künftige - nicht auf einer bindenden Gewissensentscheidung beruhende - Verhalten nicht geeignet, ein aktuelles Abschiebungsverbot zu begründen.

88

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Da die Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Entscheidung in der Hauptsache praktisch vorwegnimmt, war der Streitwert auf die Höhe des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts anzuheben.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.
in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
2.
sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tatbestand

1

Der Kläger erstrebt Abschiebungsschutz wegen ihm in Afghanistan drohender Gefahren.

2

Der 1986 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Er stammt aus der Provinz Helmand (Afghanistan), ist schiitischen Glaubens und gehört dem Volk der Hazara an. Im Februar 2009 reiste er nach Deutschland ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - lehnte seinen Asylantrag mit Bescheid vom 17. März 2010 ab. Zugleich stellte es fest, dass weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen, und drohte dem Kläger die Abschiebung nach Afghanistan an.

3

Nach Rücknahme der Klage auf Asylanerkennung hat das Verwaltungsgericht die Beklagte zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG hinsichtlich Afghanistans verpflichtet und die Klage im Übrigen abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom 27. April 2012 die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Zur Begründung hat er ausgeführt, dem Kläger stehe weder unionsrechtlicher noch nationaler Abschiebungsschutz zu. Hinsichtlich eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG gebe es keine hinreichenden Anhaltspunkte, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung drohe. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 3 AufenthG sei nicht erkennbar. Die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor. Da in Afghanistan kein landesweiter bewaffneter Konflikt herrsche, komme eine individuelle Bedrohung nur in Betracht, wenn sich der Konflikt auf den tatsächlichen Zielort bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat erstrecke. Dies sei die Herkunftsregion des Ausländers, in der er zuletzt gelebt habe bzw. in die er typischerweise zurückkehren könne und voraussichtlich auch werde. Der Kläger habe glaubhaft vorgetragen, dass er in seiner Heimatregion Helmand keine aufnahmebereiten Bekannten oder Verwandten und keine Existenzgrundlage mehr habe. Zudem habe er Angst vor einer dort lebenden Privatperson, außerdem befürchte er Diskriminierungen, denen seine Volksgruppe in Helmand in besonderem Maße ausgesetzt sei. Wolle bzw. werde der Kläger keinesfalls nach Helmand zurückkehren, sei auf das derzeit einzig mögliche Abschiebungsziel Kabul abzustellen. Dort herrsche kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt mehr. Die Sicherheitslage werde in Kabul, abgesehen von einigen spektakulären Anschlägen, relativ einheitlich als stabil und weiterhin deutlich ruhiger als noch etwa vor zwei Jahren bewertet.

4

Dem Kläger stehe hinsichtlich Afghanistans auch nicht der hilfsweise begehrte nationale Abschiebungsschutz zur Seite. Es sei nicht ersichtlich, welches Menschenrecht der EMRK ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG begründen könnte. Einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen der allgemein schlechten Lebensverhältnisse in Afghanistan stehe § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG entgegen. Eine extreme Gefahrenlage, bei der aufgrund der Schutzwirkungen der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG ausnahmsweise nicht greife, liege für Kabul nicht (mehr) vor. Vielmehr sei eine gewisse Verbesserung der allgemeinen Versorgungslage in Kabul zu erkennen, die nach den strengen Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts im Rahmen einer wertenden Gesamtschau der Annahme einer alsbald nach der Abschiebung eintretenden Extremgefahr für gesunde ledige afghanische Männer auch ohne Vermögen oder Anbindung an lokale Familien- bzw. Stammesstrukturen entgegenstehe. Der Senat sehe keine hinreichenden Anhaltspunkte mehr dafür, dass bei dieser Personengruppe im Falle der Abschiebung alsbald der Tod oder schwerste gesundheitliche Beeinträchtigungen zu erwarten wären. Es sei vielmehr zu erwarten, dass Rückkehrer in Kabul durch Gelegenheitsarbeiten ein kümmerliches Einkommen erzielen und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren könnten. Zwar dürfte aufgrund der schlechten Gesamtsituation ohne schützende Familien- oder Stammesstrukturen in der Tat eine Rückkehr nach Kabul selbst für gesunde alleinstehende Männer unter humanitären Gesichtspunkten kaum zumutbar sein. Diese Zumutbarkeit sei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts jedoch kein zentraler Maßstab für die Bestimmung einer extremen Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Im Falle des Klägers seien auch keine hinreichenden individuellen Faktoren gegeben, die ausnahmsweise eine extreme Gefahrenlage begründen könnten.

5

Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 60 Abs. 2, 5 sowie 7 Satz 1 und 2 AufenthG. Außerdem macht er Verfahrensfehler geltend und regt zur weiteren Klärung des Gehalts der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 und 7 Satz 2 AufenthG eine Vorlage an den EuGH an.

6

Die Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung.

7

Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich am Verfahren beteiligt.

Entscheidungsgründe

8

Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Das Berufungsurteil verletzt hinsichtlich des vom Kläger mit seinem Hauptantrag verfolgten Begehrens auf Gewährung unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes Bundesrecht. Das Berufungsgericht hat bei der im Rahmen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gebotenen Prüfung, ob am tatsächlichen Zielort des Klägers bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein bewaffneter Konflikt besteht, nicht auf die Herkunftsregion des Klägers, sondern auf die Verhältnisse in Kabul als dem derzeit einzig möglichen Abschiebungsziel abgestellt. Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen im Berufungsurteil nicht selbst abschließend über die Gewährung unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes entscheiden kann, ist das Verfahren an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

9

1. Gegenstand des Verfahrens ist neben dem unionsrechtlichen Abschiebungsschutz weiterhin auch der vom Kläger hilfsweise begehrte nationale Abschiebungsschutz. Dem steht nicht entgegen, dass das Berufungsgericht die Zulassung der Revision allein mit der grundsätzlichen Bedeutung einer auf den unionsrechtlichen Abschiebungsschutz zugeschnittenen Frage begründet hat. Die Urteilsformel enthält keine Beschränkung der Zulassung auf den unionsrechtlichen Abschiebungsschutz. Der Umfang der Zulassung ist daher unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Rechtsmittelklarheit durch Auslegung zu ermitteln. Danach ist hier von einer uneingeschränkten Zulassung auszugehen. Die vom Kläger im Berufungsverfahren gestellten (Haupt- und Hilfs-)Anträge betreffen zwar unterschiedliche Streitgegenstände. Diese sind aber eng miteinander verflochten, insbesondere stellt sich die vom Berufungsgericht aufgeworfene Frage des maßgeblichen Anknüpfungsortes nicht nur beim unionsrechtlichen, sondern auch beim nationalen Abschiebungsschutz. Für eine uneingeschränkte Zulassung der Revision spricht im Übrigen auch die dem Berufungsurteil beigefügte Rechtsmittelbelehrung, die sich lediglich auf das Rechtsmittel der Revision bezieht.

10

2. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des klägerischen Begehrens auf Gewährung von Abschiebungsschutz ist grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 Rn. 10). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind allerdings zu beachten, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte. Maßgeblich ist daher für das Revisionsverfahren das Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften vom 21. Januar 2013 (BGBl I S. 86). Unionsrechtlich finden sowohl die Richtlinie 2004/83/EG des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikations-Richtlinie - vom 29. April 2004 (ABl EU Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; berichtigt ABl EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) Anwendung als auch die - während des Berufungsverfahrens in Kraft getretene - Neufassung durch die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EU Nr. L 337 vom 20. Dezember 2011 S. 9). Für die in der Neufassung inhaltlich geänderten Bestimmungen wurde den Mitgliedstaaten eine Umsetzungsfrist bis zum 21. Dezember 2013 eingeräumt (Art. 39 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU) und es bleibt bis zum Ablauf dieser Frist bei der Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG (vgl. Art. 41 Abs. 2 i.V.m. Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU). Hinsichtlich der unverändert übernommenen Bestimmungen gilt die Neufassung hingegen schon jetzt (vgl. Art. 41 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU).

11

3. Das Berufungsurteil verletzt in Bezug auf den vom Kläger primär begehrten unionsrechtlichen Abschiebungsschutz Bundesrecht. Die diesbezüglichen Vorgaben des Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU (früher: Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG) sind in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG - in überschießender Umsetzung - als absolute Abschiebungsverbote ausgestaltet und bilden einen eigenständigen, in sich nicht weiter teilbaren Streitgegenstand (Urteile vom 24. Juni 2008 a.a.O. Rn. 11 und vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 13 und 16).

12

3.1 Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG mit einer Begründung abgelehnt, die revisionsrechtlicher Prüfung nicht standhält. Nach dieser Vorschrift ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist.

13

Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieses - die Vorgaben des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG (inzwischen: Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU) umsetzenden - Abschiebungsverbots können auch dann erfüllt sein, wenn sich der bewaffnete Konflikt nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstreckt (Urteil vom 24. Juni 2008 a.a.O. Rn. 25). In diesem Fall ist Bezugspunkt für die Gefahrenprognose der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr. Das ist in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird (Urteil vom 14. Juli 2009 - BVerwG 10 C 9.08 - BVerwGE 134, 188 Rn. 17 unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 - Rs. C-465/07, Elgafaji - NVwZ 2009, 705 Rn. 40).

14

Das Berufungsgericht hat dies zutreffend zu Grunde gelegt. Es hat aber nicht geprüft, ob in der Herkunftsregion des Klägers ein bewaffneter Konflikt herrscht, sondern stattdessen auf die Verhältnisse in Kabul als dem derzeit einzig möglichen Abschiebungsziel abgestellt, weil der Kläger keinesfalls nach Helmand zurückkehren wolle bzw. werde. Wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 14. November 2012 (BVerwG 10 B 22.12 - juris Rn. 7) als geklärt gesehen hat, kommt es für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, aber weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Ein Abweichen von der Regel kann insbesondere nicht damit begründet werden, dass dem Ausländer in der Herkunftsregion die Gefahren drohen, vor denen ihm § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG Schutz gewähren soll. Dies ergibt sich schon aus dem systematischen Zusammenhang der unionsrechtlichen Abschiebungsverbote mit den Bestimmungen über den internen Schutz (Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG; künftig: Art. 8 der Richtlinie 2011/95/EU). Kommt die Herkunftsregion als Zielort wegen der dem Ausländer dort drohenden Gefahr nicht in Betracht, kann er nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG auf eine andere Region des Landes verwiesen werden. Der Begriff des "tatsächlichen Zielortes der Rückkehr" ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Da es bei § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG um den Schutz vor den Gefahren eines - nicht notwendig landesweiten - bewaffneten Konflikts im Heimatstaat geht, kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer infolge eines bewaffneten Konflikts den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat, etwa weil Familienangehörige getötet worden sind oder diese Gebiete ebenfalls verlassen haben. Auch soweit die nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände begründet worden ist, die mittelbare Folgen des bewaffneten Konflikts sind (z.B. Beeinträchtigung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur, nachhaltige Verschlechterung der Versorgungslage), und es mangels Existenzgrundlage und Zukunftsperspektive eine nachvollziehbare Haltung ist, nicht in die Herkunftsregion zurückkehren zu wollen, behält diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose bei § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG aus.

15

Diese Ausdeutung des vom Gerichtshof der Europäischen Union - EuGH - (Urteil vom 17. Februar 2009 a.a.O. Rn. 40) verwandten Begriffs des tatsächlichen Zielorts der Rückkehr kann vorgenommen werden, ohne diesem die Rechtssache zur Vorabentscheidung vorzulegen. Der EuGH hat den Begriff in seinem Urteil vom 17. Februar 2009 zwar nicht abschließend definiert. Die hier entfaltete Auslegung trägt aber dem Zweck der Vorschriften über den internen Schutz Rechnung und folgt damit der Vorgabe des EuGH, die Auslegung nationalen Rechts so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Art. 249 Abs. 3 EG (inzwischen: Art. 288 AEUV) nachzukommen (EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 a.a.O. Rn. 42).

16

Das Berufungsurteil verstößt nach den vorstehenden Grundsätzen gegen Bundesrecht, weil es für das Bestehen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht die Verhältnisse in der Herkunftsregion des Klägers in den Blick genommen, sondern auf die Lage in Kabul als dem voraussichtlichen Zielort einer Abschiebung abgestellt hat. Den Feststellungen des Berufungsgerichts ist aber nicht zu entnehmen, dass der Kläger sich vor seiner Ausreise dauerhaft in einer anderen Region als Helmand niedergelassen hat. Er ist zwar zunächst mit seiner Lebensgefährtin nach Kabul (und später in den Iran zu seiner Schwester) gegangen. Dies geschah nach seinen Angaben aber allein aus Angst vor dem Vater seiner Lebensgefährtin; zur Dauer und den näheren Umständen des Aufenthalts in Kabul enthält das Berufungsurteil keine Feststellungen. Die vom Berufungsgericht angeführten Erwägungen, warum der Kläger nicht nach Helmand zurückkehren wolle bzw. werde, lassen die Relevanz der Heimatregion für die Gefahrenprognose bei einem bewaffneten Konflikt nicht entfallen.

17

3.2 Das Berufungsurteil beruht auf diesem Fehler. Das Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - keine tatsächlichen Feststellungen zur Lage in der Provinz Helmand getroffen. Ob in dieser Region ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht und dem Kläger dort die in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG definierte Gefahr droht, kann daher revisionsgerichtlich weder festgestellt noch ausgeschlossen werden.

18

3.3 Die Entscheidung erweist sich hinsichtlich des unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO) oder unrichtig, so dass der Senat in der Sache nicht abschließend entscheiden kann.

19

a) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG scheidet nicht schon deshalb aus, weil der Kläger - einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in seiner Herkunftsregion unterstellt - in Kabul internen Schutz finden könnte. Dies würde nach § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG voraussetzen, dass für den Kläger in Kabul nicht nur keine Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, sondern von ihm auch vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort aufhält.

20

Auch hierzu fehlen hinreichende tatrichterliche Feststellungen. Das Berufungsgericht hat in Bezug auf Kabul zwar festgestellt, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für die Gewährung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG nicht vorliegen, weil dort keine extreme Gefahrenlage herrsche und zu erwarten sei, dass Rückkehrer durch Gelegenheitsarbeiten ein kümmerliches Einkommen erzielen und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren könnten. Nach Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG muss beim internen Schutz die Existenzgrundlage aber so weit gesichert sein, dass vom Ausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort aufhält. Dieser Zumutbarkeitsmaßstab geht über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus; weiterhin offenbleiben kann, welche darüber hinausgehenden wirtschaftlichen und sozialen Standards erfüllt sein müssen (vgl. Urteil vom 29. Mai 2008 - BVerwG 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 Rn. 35).

21

b) Umgekehrt kann auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen auch nicht davon ausgegangen werden, dass das Berufungsurteil hinsichtlich des unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes aus anderen Gründen unrichtig ist. Das Berufungsgericht hat vor allem im Ergebnis zu Recht das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG verneint. Ein solches Abschiebungsverbot ergibt sich - entgegen der Auffassung der Revision - insbesondere nicht aus den allgemeinen humanitären Verhältnissen in Afghanistan.

22

Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Mit diesem Abschiebungsverbot wird Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG (inzwischen: Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU) umgesetzt. Die Europäische Kommission hat sich bei der Formulierung dieser Richtlinienbestimmung an Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 685) - EMRK - orientiert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - Bezug genommen (Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen vom 12. September 2001 KOM <2001> 510 endgültig S. 6, 30). Die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK ist bei der Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG auch über Art. 19 Abs. 2 der Grundrechte-Charta (ABl EU 2010 Nr. C 83, 389) - GR-Charta - zu berücksichtigen. Danach darf niemand in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn das ernsthafte Risiko der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Dies gilt nach Art. 51 Abs. 1 GR-Charta auch für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach den gemäß Art. 52 Abs. 7 GR-Charta bei ihrer Auslegung gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen (ABl EU 2007 Nr. C 303 S. 17 = EuGRZ 2008, 92) wird durch die Regelung in Art. 19 Abs. 2 GR-Charta die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen übernommen (Urteil vom 27. April 2010 a.a.O. Rn. 15 und 17).

23

Entgegen der Auffassung der Revision ist der neueren Rechtsprechung des EGMR nicht zu entnehmen, dass sich der Maßstab für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bei Abschiebungen in Staaten mit schwierigen Lebensbedingungen nach den "für alle Menschen gleich geltenden Mindeststandards einer Behandlung" bestimmt. Entsprechendes ergibt sich insbesondere nicht aus der Entscheidung des EGMR im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (Urteil vom 21. Januar 2011 - Nr. 30696/06 - NVwZ 2011, 413). Bereits in seinem Beschluss vom 25. Oktober 2012 (BVerwG 10 B 16.12 - juris Rn. 8 f.) hat der Senat dargelegt, dass der EGMR davon ausgeht, dass die Staaten - unbeschadet ihrer vertraglichen Verpflichtungen einschließlich derer aus der Konvention selbst - das Recht haben, die Einreise fremder Staatsbürger in ihr Hoheitsgebiet zu regeln (EGMR, Urteile vom 28. Mai 1985 - Nr. 15/1983/71/107-109, Abdulaziz u. a./Vereinigtes Königreich - NJW 1986, 3007 Rn. 67; vom 18. Oktober 2006 - Nr. 46410/99, Üner/Niederlande - NVwZ 2007, 1279 Rn. 54 und vom 28. Juni 2012 - Nr. 14499/09, A.A. u.a. - Rn. 71). Die Abschiebung durch einen Konventionsstaat kann aber dessen Verantwortlichkeit nach der Konvention begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. In einem solchen Fall ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung, die Person nicht in dieses Land abzuschieben (stRspr, EGMR, Urteile vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217, Soering/Vereinigtes Königreich - NJW 1990, 2183 Rn. 90 f. und vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi/Italien - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125). Allerdings können Ausländer kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach dieser Rechtsprechung allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (EGMR, Urteil vom 27. Mai 2008 - Nr. 26565/05, N./Vereinigtes Königreich - NVwZ 2008, 1334 Rn. 42). So hat der EGMR ein Abschiebungsverbot aus Art. 3 EMRK zugunsten eines im fortgeschrittenen, tödlichen und unheilbaren Stadiums an Aids Erkrankten angenommen, weil die Abschiebung seinen Tod beschleunigen würde, er keine angemessene Behandlung erreichen könne und kein Beweis für irgendeine mögliche moralische oder soziale Unterstützung im Zielstaat zu erbringen sei (EGMR, Urteil vom 2. Mai 1997 - Nr. 146/1996/767/964, D./Vereinigtes Königreich - NVwZ 1998, 161 Rn. 52 f.). Zusammenfassend führt der Gerichtshof zur Herleitung eines Abschiebungsverbots aus Art. 3 EMRK aufgrund von Krankheiten aus, dass angesichts der grundlegenden Bedeutung von Art. 3 EMRK im System der Konvention zwar eine gewisse Flexibilität notwendig sei, um eine Ausweisung (expulsion) in besonderen Ausnahmefällen zu verhindern. Doch verpflichte Art. 3 EMRK die Staaten nicht, Fortschritte in der Medizin sowie Unterschiede in sozialen und wirtschaftlichen Standards durch freie und unbegrenzte Versorgung von Ausländern ohne Bleiberecht zu beseitigen (EGMR, Urteil vom 27. Mai 2008 a.a.O. Rn. 44).

24

Wie der Senat in seinem Beschluss vom 25. Oktober 2012 (a.a.O. Rn. 9) ausgeführt hat, ist diese gefestigte Rechtsprechung durch das Urteil der Großen Kammer vom 21. Januar 2011 (a.a.O.) im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland nicht grundsätzlich revidiert worden. Dieses Urteil verhält sich - entgegen der Auffassung der Revision - erkennbar nicht zu den "für alle Menschen gleich geltenden Mindeststandards einer Behandlung". Zwar hat der EGMR eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch das Königreich Belgien als abschiebenden Staat angenommen, weil der betroffene Asylantragsteller mit seiner Überstellung an Griechenland als Signaturstaat der EMRK einer Situation äußerster materieller Armut ausgeliefert worden sei, was den belgischen Behörden bewusst gewesen sei (Rn. 263 f., 366 f.). Jedoch erstreckt diese Entscheidung den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ausdrücklich nicht allgemein auf soziale Leistungsrechte; der EGMR betont vielmehr die Fortgeltung seiner insoweit sehr zurückhaltenden Rechtsprechung (Rn. 249 m.w.N.) und begründet seine Entscheidung mit dem Schutz der Menschenwürde von Personen, die - in einem ihnen völlig fremden Umfeld - vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und behördlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (Rn. 253). Als eine hiernach in Betracht zu ziehende Personengruppe führt der EGMR die Gruppe der Asylsuchenden an, die er als besonders verletzlich und schutzbedürftig qualifiziert (Rn. 251, 259).

25

Dass damit keine generelle Erstreckung des Schutzes nach Art. 3 EMRK auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat des Betroffenen einhergeht, ergibt sich auch aus nachfolgenden Urteilen des EGMR (vgl. Beschluss vom 25. Oktober 2012 a.a.O. Rn. 9 m.w.N.). In seinem Urteil vom 28. Juni 2011 im Verfahren Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich (Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681) stellt der EGMR nochmals klar, dass in Abschiebungsfällen nur zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernstliche Gründe für die Annahme nachgewiesen worden sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergibt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (Rn. 218). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland hingegen nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind (Rn. 278). Nur soweit die schlechten humanitären Bedingungen - wie in Somalia - nicht nur oder überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen zurückzuführen sind, sondern überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen, hält der EGMR das im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (a.a.O.) entwickelte Kriterium für besser geeignet, nach dem die Fähigkeit des Beschwerdeführers berücksichtigt werden muss, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, weiter seine Verletzlichkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (Rn. 282 f.).

26

Welche Anforderungen sich aus dieser Rechtsprechung des EGMR im Einzelnen für Abschiebungen in den Herkunftsstaat bei schlechten humanitären Bedingungen ergeben, bedarf vorliegend keiner abschließenden Entscheidung. Denn selbst der EGMR geht in Bezug auf Afghanistan davon aus, dass die allgemeine Lage dort nicht so ernst ist, dass eine Abschiebung ohne Weiteres eine Verletzung des Art. 3 EMRK wäre (EGMR, Urteil vom 13. Oktober 2011 - Nr. 10611/09, Husseini/Schweden - NJOZ 2012, 952 Rn. 84). Auch auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen des Berufungsgerichts liegen die Voraussetzungen für eine allein auf die allgemeinen Lebensbedingungen im Herkunftsland gestützte Verletzung des Art. 3 EMRK ersichtlich nicht vor. Maßgeblich ist dabei die Perspektive des abschiebenden Staates, aus dessen Sicht zu prüfen ist, ob der Betroffene durch die Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Bei dieser Prüfung stellt der EGMR grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat ab und prüft zunächst, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 a.a.O. Rn. 265, 301, 309). Das gilt auch bei der Beurteilung von Umständen, die nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen, dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK aber dennoch eine Abschiebung des Ausländers verbieten.

27

Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass derzeit nur eine Abschiebung nach Kabul möglich ist (UA S. 14). Zugleich hat es sich bezüglich der allgemeinen Lebensbedingungen in Kabul - im Rahmen seiner Ausführungen zu § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG - in tatsächlicher Hinsicht der Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs angeschlossen, dass zu erwarten sei, dass Rückkehrer dort durch Gelegenheitsarbeiten ein kümmerliches Einkommen erzielen und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren könnten (UA S. 23). Die daran anschließende Bemerkung des Berufungsgerichts, aufgrund der schlechten Gesamtsituation dürfte ohne schützende Familien- und Stammesstrukturen eine Rückkehr nach Kabul selbst für gesunde alleinstehende Männer unter humanitären Gesichtspunkten "kaum zumutbar" sein, führt nicht zu einer anderen Bewertung. Sie umfasst nicht die tatsächliche Feststellung, die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Abschiebezielstaat seien so schlecht, dass nach Art. 3 EMRK von einer Abschiebung zwingend abgesehen werden müsse. Mit dieser Formulierung bringt das Berufungsgericht lediglich seine Haltung zum Ausdruck, dass die rechtlichen "Hürden" des Bundesverwaltungsgerichts für die Annahme eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG seiner Auffassung nach zu hoch sind, und lässt in der Sache sein Bedauern erkennen, dass die oberste Landesbehörde für Afghanistan keinen generellen Abschiebestopp aus humanitären Gründen gemäß § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG angeordnet hat und das Gericht diese politische Entscheidung - unterhalb der hier nicht erreichten Grenze verfassungsrechtlich gebotenen Abschiebungsschutzes - nicht zu ersetzen vermag (Beschluss vom 25. Oktober 2012 a.a.O. Rn. 5).

28

Damit liegen die tatsächlichen Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG - ungeachtet des Umstandes, dass bei § 60 Abs. 2 AufenthG und bei § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in rechtlicher Hinsicht unterschiedliche Maßstäbe gelten - ersichtlich nicht vor. Selbst bei Zugrundelegung der - vom EGMR im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland für einen gänzlich anderen Anwendungsfall entwickelten und in den Verfahren Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich auf eine ebenfalls andere Ausgangssituation im Herkunftsstaat übertragenen - abgesenkten und auf die Situation besonderer Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit bezogenen Maßstäbe ergäbe sich nach den Feststellungen des Berufungsgerichts zu den Verhältnissen in Kabul für den Kläger kein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (Beschluss vom 25. Oktober 2012 a.a.O. Rn. 10).

29

Auch insoweit bedarf es keiner Vorlage an den EuGH. Die Voraussetzungen, unter denen einen abschiebenden Staat aus Art. 3 EMRK ausnahmsweise eine Verantwortung für nicht dem Abschiebezielstaat oder anderen Akteuren zuzurechnende Umstände trifft, ergeben sich aus der Rechtsprechung des EGMR und werfen im vorliegenden Verfahren keine entscheidungserheblichen unionsrechtlichen Zweifelsfragen auf. Die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK ist bei der Auslegung des Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU zu beachten. Dass die Richtlinie in Bezug auf Art. 3 EMRK bei Umständen, die weder in die Verantwortung des Abschiebezielstaats noch eines sonstigen Akteurs fallen, keinen über die Rechtsprechung des EGMR hinausgehenden Schutz gewährt, ergibt sich schon aus Art. 6 der Richtlinie 2011/95/EU (früher: Art. 6 der Richtlinie 2004/83/EG). Denn dieser Vorschrift ist zu entnehmen, dass es nach den Vorstellungen des Richtliniengebers auch beim subsidiären Schutz grundsätzlich eines Akteurs bedarf, von dem ein ernsthafter Schaden ausgehen kann.

30

4. Kann der Senat mangels hinreichender tatrichterlicher Feststellungen weder positiv noch negativ abschließend über das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes entscheiden, so ist das Berufungsurteil schon aus diesem Grund aufzuheben und das Verfahren an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, ohne dass es auf die von der Revision fristgerecht erhobenen Verfahrensrügen ankommt. Zur Klarstellung weist der Senat allerdings darauf hin, dass die gerügten Verfahrensfehler nicht vorliegen. Insoweit wird Bezug genommen auf die Ausführungen in den Beschlüssen des Senats vom 25. Oktober 2012 - BVerwG 10 B 16.12 und 10 B 20.12 - zu vergleichbaren Verfahrensrügen des Prozessbevollmächtigten des Klägers. Das Berufungsgericht hat auch nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen, weil es den Rechtsstreit nicht dem EuGH vorgelegt hat. Ein solcher Verstoß scheidet schon deswegen aus, weil es nach Art. 267 Abs. 2 AEUV zwar zur Vorlage berechtigt, nicht aber verpflichtet ist. Unabhängig davon liegen die Voraussetzungen für eine Vorlage an den EuGH aber auch nicht vor. Die entscheidungserheblichen Fragen des Unionsrechts sind in der Rechtsprechung des EuGH geklärt bzw. unterliegen keinen Zweifeln, die eine Vorlage rechtfertigen oder gar gebieten. Insoweit wird auf die vorstehenden Ausführungen Bezug genommen.

31

5. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

32

5.1 Das Berufungsgericht wird hinsichtlich des Begehrens auf Gewährung unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes vor allem mit Blick auf § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auf aktueller Tatsachengrundlage zu klären haben, ob in der Herkunftsregion des Klägers ein bewaffneter Konflikt herrscht und ihm dort die Gefahren drohen, vor denen § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG Schutz gewährt. Ist dies der Fall, hat es weiter zu prüfen, ob der Kläger nach § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG auf die Möglichkeit internen Schutzes in einem anderen Landesteil - insbesondere Kabul - verwiesen werden kann.

33

5.2 Kommt das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, dass der Kläger keinen Anspruch auf Gewährung unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes hat, wird es auf aktueller Erkenntnislage auch erneut über den Hilfsantrag des Klägers auf Gewährung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 und 3 AufenthG zu entscheiden haben.

34

a) Dabei kann dahinstehen, wie die Aussage des Berufungsgerichts bei § 60 Abs. 5 AufenthG zu verstehen ist, dass bezüglich Art. 3 EMRK die weitergehende und unionsrechtlich aufgeladene Schutznorm des § 60 Abs. 2 AufenthG "vorrangig, d.h. im vorliegenden Falle nicht zu prüfen" sei. Sollte das Berufungsgericht damit zum Ausdruck bringen wollen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK durch § 60 Abs. 2 AufenthG verdrängt wird, wäre dies allerdings nicht mit Bundesrecht zu vereinbaren.

35

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Vorgängerregelung in § 53 Abs. 4 AuslG (Urteil vom 11. November 1997 - BVerwG 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen ("zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse).

36

Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Bei § 60 Abs. 5 AufenthG sind alle Verbürgungen der EMRK in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Soweit § 60 Abs. 5 AufenthG die völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland wiederholt, bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung zu berücksichtigen (Art. 3 EMRK), ist der sachliche Regelungsbereich zwar weitgehend identisch mit dem unionsrechtlichen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG und geht über diesen, soweit Art. 3 EMRK in Rede steht, jedenfalls nicht hinaus. Denn § 60 Abs. 2 AufenthG knüpft - wie dargelegt - an Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EG an, der seinerseits die Verantwortung des Abschiebestaats nach Art. 3 EMRK übernimmt. Auch wenn bei Anträgen auf internationalen Schutz der unionsrechtliche Abschiebungsschutz - und damit auch das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG - vor dem nationalen Abschiebungsschutz zu prüfen ist, folgt hieraus in Bezug auf eine Verletzung des Art. 3 EMRK keine (verdrängende) Spezialität des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG, die eine Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG bereits dem Grunde nach ausschließt. Die Gewährleistung nach nationalem Recht tritt vielmehr selbstständig neben die aus Unionsrecht. Eine tatbestandsausschließende Spezialität des § 60 Abs. 2 AufenthG wäre mit dem hohen Rang, den die durch Art. 3 EMRK geschützten Rechtsgüter haben, unvereinbar. Damit ist hinsichtlich des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in jedem Fall materiell zu prüfen, ob die Voraussetzungen des Art. 3 EMRK erfüllt sind. In Fällen, in denen - wie hier - gleichzeitig über die Gewährung unionsrechtlichen und nationalen Abschiebungsschutzes zu entscheiden ist, scheidet allerdings bei Verneinung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG regelmäßig aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK aus, so dass in der Sache divergierende Bewertungen kaum denkbar sind.

37

b) Schließlich soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat auch dann abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Allerdings sind Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, grundsätzlich nur nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (Sperrwirkung).

38

Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen kann, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (stRspr, vgl. Urteil vom 8. September 2012 - BVerwG 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 - Rn. 22 f. m.w.N.). Auch insoweit sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und - wie bei § 60 Abs. 2 und 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK - zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen.

39

Das Berufungsgericht hat in Anwendung dieser Maßstäbe ein Abschiebungsverbot verneint, weil in tatsächlicher Hinsicht zu erwarten sei, dass Rückkehrer in Kabul durch Gelegenheitsarbeiten ein kümmerliches Einkommen erzielen und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren könnten. Dabei hat es weder die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit, dass es infolge der problematischen Versorgungslage, die neben der Versorgung mit Lebensmitteln auch die medizinische Versorgung und die Versorgung mit Wohnraum umfasst, zur Beeinträchtigung fundamentaler Schutzgüter kommen werde, überspannt noch hat es seine tatrichterliche Überzeugung auf einer zu schmalen Tatsachenbasis gebildet. Soweit die Revision geltend macht, das Berufungsgericht habe im Rahmen der Beurteilung einer extremen Gefahrenlage die medizinische Versorgungslage nicht hinreichend berücksichtigt, verkennt sie, dass diese nur bei akut behandlungsbedürftigen Vorerkrankungen oder in Fällen von Bedeutung ist, in denen aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse mit einer entsprechend hohen Wahrscheinlichkeit eine lebensbedrohliche Erkrankung zu erwarten ist, für die dann faktisch kein Zugang zu medizinischer (Grund-)Versorgung besteht (s.a. Beschluss vom 25. Oktober 2012 - BVerwG 10 B 20.12 - Rn. 14).

40

Soweit das Berufungsgericht im Übrigen der Auffassung ist, das Bundesverwaltungsgericht stelle an das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung überzogene rechtliche Anforderungen, geben die Ausführungen dem Senat keine Veranlassung zu einer Änderung seiner Rechtsprechung. Das Berufungsgericht begründet seine Kritik damit, dass die Zumutbarkeit einer Rückkehr unter humanitären Gesichtspunkten, die es aufgrund der schlechten Gesamtsituation ohne schützende Familien- oder Stammesstrukturen selbst für gesunde alleinstehende Männer "kaum" für gegeben hält, nach der Rechtsprechung "kein zentraler Maßstab für die Bestimmung einer extremen Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG" sei. Mit diesen Erwägungen stellt es dem aus dem Verfassungsrecht abgeleiteten Rechtsbegriff der Zumutbarkeit eine eigene - mit außerrechtlichen Erwägungen begründete und enger gefasste - Zumutbarkeit gegenüber und vermischt damit die Grenze zwischen einer dem Betroffenen rechtlich (noch) zumutbaren und einer nicht (mehr) zumutbaren Rückkehr. Dabei vernachlässigt es zudem, dass es bei der verfassungskonformen Auslegung nicht um die Bestimmung eines aus Sicht des jeweiligen Gerichts "sinnvollen" und/oder "menschenrechtsfreundlichen" Abschiebungsschutzregimes geht, sondern um die Festlegung der Voraussetzungen, unter denen im gewaltenteilenden Rechtsstaat die Rechtsprechung befugt ist, über eine verfassungskonforme Auslegung ausnahmsweise die Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, allgemeine Gefahren nur im Rahmen einer Anordnung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen, unbeachtet zu lassen. Hierbei macht es in der Sache einen erheblichen Unterschied, ob ein Mensch ohne jeden Ausweg in eine Situation gebracht wird, in der er so gut wie keine Überlebensmöglichkeit hat, oder ob er bei allen - auch existenzbedrohenden - Schwierigkeiten nicht chancenlos ist, sondern die Möglichkeit hat, Einfluss auf sein Schicksal zu nehmen.

41

Die weiteren Zweifel des Berufungsgerichts, ob ein Obergericht revisionsrechtlich dazu verpflichtet werden könne, sich mit der abweichenden Einschätzung anderer Obergerichte auseinanderzusetzen, betreffen nicht den materiell-rechtlichen Maßstab für die Beurteilung einer extremen Gefahrenlage selbst. Die damit ausgedrückte Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den Anforderungen an die tatrichterliche Überzeugungsbildung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO (vgl. Urteil vom 29. Juni 2010 - BVerwG 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226 Rn. 22) vernachlässigt, dass diese Auseinandersetzung nicht als Selbstzweck gefordert wird. Sie zielt auf eine Verbesserung der Entscheidungsqualität durch Verbreiterung der erkennbar in die tatrichterliche Bewertung eingestellten Tatsachen- und Argumentationsbasis. Dies gilt namentlich in Fällen, in denen es - wie hier - im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG um eine "Korrektur" des demokratisch legitimierten Gesetzgebers geht, für die im Rahmen der Tatsachen- und Lagebeurteilung eine umfassende Gesamtwürdigung der voraussichtlichen Lebensbedingungen im Abschiebezielstaat und der damit verbundenen Gefahren erforderlich ist.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. § 74 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(2) Das Gericht kann außer in den Fällen des § 38 Absatz 1 und des § 73b Absatz 7 bei Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hierauf sind die Beteiligten von dem Gericht hinzuweisen.

(3) Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt oder soweit die Beteiligten übereinstimmend darauf verzichten.

(4) Wird während des Verfahrens der streitgegenständliche Verwaltungsakt, mit dem ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, durch eine Ablehnung als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Das Bundesamt übersendet dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts. Nimmt der Kläger die Klage daraufhin unverzüglich zurück, trägt das Bundesamt die Kosten des Verfahrens. Unterliegt der Kläger ganz oder teilweise, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

Tenor

I.

Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 15. April 2014 wird der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Februar 2014 hinsichtlich Nummer 4 und 5 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass bei den Klägern das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.

II.

Die Beklage hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Von den Kosten des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht haben die Kläger ¾ und die Beklagte ¼ zu tragen.

III.

Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Kläger, ein Vater mit zwei im Jahr 2007 und im Jahr 2011 geborenen Söhnen, sind afghanische Staatsangehörige und tadschikische Volkszugehörige. Sie reisten am 27. November 2012 von I. kommend auf dem Luftweg in das Bundesgebiet ein und stellten beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 10. Dezember 2012 Asylantrag.

Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 8. Januar 2013 gab der Kläger zu 1, der Vater, an, er spreche Dari und Farsi und sei Tadschike. Er habe nur einmal zwei Monate und einmal 40 Tage in Afghanistan gelebt und im Übrigen bis zur Ausreise in die Türkei in S. im Iran. Seine Ehefrau sei Iranerin. Vor ca. zweieinhalb Monaten sei die Familie bis zur iranischtürkischen Grenze mit dem Auto gefahren, wo sie sich bei der Flüchtlingsorganisation der UNO in Ankara gemeldet hätten. Er habe mit gefälschten Pässen nach Deutschland fliegen können, seine Frau sei jedoch aufgehalten worden. Er habe noch Verwandtschaft in Europa, in Kanada und im Iran. In Afghanistan lebten noch drei Onkel väterlicherseits, eine Tante mütterlicherseits, mehrere Cousins und Cousinen, zwei Schwestern und ein Bruder. Er habe vier Klassen Grundschule besucht. In selbstständiger Tätigkeit habe er den Beton für Hochhäuser geliefert. Für iranische Verhältnisse habe er sehr gut verdient. Auf die Frage nach seinem Verfolgungsschicksal trug der Kläger vor, sein Vater sei vor 30 Jahren wegen des Krieges in den Iran geflüchtet. Dort hätten sie zusammengelebt, bis seine Eltern vor fünf Jahren nach Afghanistan zurückgekehrt seien. Er und seine Kinder hätten keine Dokumente vom iranischen Staat erhalten. Der früher ausgehändigte Flüchtlingsausweis sei mit der Rückkehr seines Vaters nach Afghanistan ungültig geworden. Er habe seine Ehefrau traditionell geheiratet, jedoch sei die Hochzeit im Iran nicht anerkannt worden. Sein Schwager, der beim iranischen Militär arbeite, sei gegen die Hochzeit gewesen. Er sei zweimal ins Gefängnis gekommen, da sein Schwager gegen ihn ausgesagt bzw. ihn angezeigt habe. Zudem habe ihn sein Schwager erpresst und Schutzgeld verlangt, damit er ihn nicht weiter an die Behörden verraten werde. Nachdem er das erste Mal im Gefängnis gewesen sei, habe er viele seiner Kunden verloren. Das zweite Mal sei er wegen eines gefälschten iranischen Passes verhaftet worden. Nach der Entlassung sei er von seinem Schwager und den iranischen Behörden weiter schikaniert worden, so dass er keine andere Möglichkeit gesehen habe, außer den Iran zu verlassen. Nach Afghanistan könne er wegen des Kriegs in vielen Regionen nicht fliehen. Außerdem sei seine Ehefrau Iranerin.

Mit Bescheid des Bundesamts vom 13. Februar 2014 wurden die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt (1.), die Anträge auf Asylanerkennung abgelehnt (2.), der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (3.) sowie festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (4.) und die Abschiebung angedroht (5.). Nach dem Sachvorbringen bestünden keine Anhaltspunkte für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Asylanerkennung. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes lägen nicht vor, insbesondere keine ernsthafte individuelle Bedrohung aufgrund eines bewaffneten Konflikts in der Herkunftsstadt Kabul. Nationale Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor, zumal die Kläger auch keiner extremen allgemeinen Gefahr im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt seien. Sie hätten keine stichhaltigen Ausführungen gemacht, dass sie, anders als die gesellschaftlichen Verhältnisse im Herkunftsland erwarten ließen, nach einer Rückkehr mittellos und völlig auf sich gestellt wären. Sie hätten auch die Möglichkeit, Kontakt mit Familienmitgliedern in Afghanistan aufzunehmen.

Mit der an das Verwaltungsgericht München gerichteten Klage verfolgten die Kläger ihr Begehren weiter. In der mündlichen Verhandlung am 15. April 2014 erklärte der Kläger zu 1, wenn er nach Afghanistan zurückkehren würde, würde der Bruder fragen, ob er wegen des Besitzes käme. Sein Platz sei im Iran und nicht in Afghanistan. Außerdem sei seine Ehefrau nicht bereit, nach Afghanistan zu gehen. Die Ausreise habe er durch den Verkauf seines Hauses und seines Autos finanziert. Nachdem seine Ehefrau in der Türkei nicht in das Flugzeug gekommen sei, sei sie wieder in den Iran zurückgekehrt. Mit seinem Onkel in Afghanistan habe er Schwierigkeiten wegen einer Besitzauseinandersetzung. Sein Vater sei herzkrank und werde von seinen Brüdern finanziell unterstützt. Mit Urteil vom 15. April 2014 wurde die Klage abgewiesen.

Auf Antrag der Kläger hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Berufung hinsichtlich des Begehrens nach Feststellung eines national begründeten Abschiebungsverbots mit Beschluss vom 4. August 2014 wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage zugelassen, ob bei afghanischen Familien mit minderjährigen Kindern als Auslandsrückkehrer eine erhebliche konkrete Gefahr gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht.

Zur Begründung ihrer Berufung beziehen sich die Kläger auf ihren Zulassungsantrag, in dem sie sich der Verneinung eines national begründeten Abschiebungsverbots widersetzen.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 13. Februar 2014 und Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 15. April 2014 zu verpflichten, bei den Klägern ein national begründetes Abschiebungshindernis festzustellen.

Die Beklagte entgegnet, aufgrund der bayerischen Erlasslage dürfte es auf die Frage, ob bei einer Familie mit minderjährigen Kindern eine Extremgefahr im Sinn von § 60 Abs. 7 AufenthG bestehe, nicht ankommen. Nach den ausländerrechtlichen Verwaltungsvorschriften sei die Rückführung aller dort nicht genannten Personengruppen, zu der auch die Kläger gehörten, vorerst zurückzustellen. Unabhängig davon bestehe für Familien mit minderjährigen Kindern trotz der allgemein schwierigen humanitären Umstände nicht regelmäßig eine Extremgefahr, zumal auch die Rückkehrförderung zu berücksichtigen sei. Die einem Familienvater obliegende Aufgabe, über seine Person hinaus für die Angehörigen das Existenzminimum zu erwirtschaften, sei zudem kein sich unmittelbar auswirkender Aspekt. Das Abschiebungsschutzrecht gehe von einer gerade dem jeweiligen Schutzsuchenden konkret und individuell drohenden Gefahrenlage aus. Auf die erst mittelbare Folge der Erfüllung rechtlicher oder ethischer Verpflichtungen könne nicht abgestellt werden. Bei tatsächlicher Existenzgefährdung der vom Erwerbsfähigen abhängigen Angehörigen könne dort ein Abschiebungsverbot vorliegen, durch das dem Erwerbsfähigen als Ausfluss seiner Rechte aus Art. 6 GG dann ein Anspruch auf Fortbestand der familiären Gemeinschaft im Bundesgebiet erwachse. Zudem sei ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang zwischen Rückkehr und drohender Rechtsgutverletzung erforderlich. Schlechte humanitäre Bedingungen könnten zwar in Ausnahmefällen in Bezug Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen, aber in Afghanistan sei die allgemeine Lage nicht so ernst, dass ohne weiteres eine Verletzung angenommen werden könne. Fraglich sei schon, ob aus Sicht des Gesetzgebers der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG bei einer auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage überhaupt eröffnet sei. Angesichts des besonderen Ausnahmecharakters sei ein Gefährdungsgrad entsprechend der Extremgefahr erforderlich.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Kläger weisen darauf hin, dass nach der Erlasslage alleinstehende männliche afghanische Staatsangehörige vorrangig zurückzuführen seien. Auch wenn die Rückführung anderer Personen vorerst zurückzustellen sei, bedeute dies nicht, dass Abschiebungen ausgesetzt seien. Vielmehr sei, wie die Beklagte selbst ausführe, ein entsprechender Dringlichkeitsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Freien Wähler mit Beschluss vom 5. Februar 2014 abgelehnt worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen verwiesen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig und begründet (§ 125 Abs. 1 Satz 1, § 128 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylVfG) verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägern das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt. Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U. v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 16 und 17). Damit kommt es auch auf die Frage nicht an, ob Nr. C.3.2 der Verwaltungsvorschriften des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Bau und Verkehr zum Ausländerrecht (BayVVAuslR) vom 3. März 2014, Az. IA2-2081.13-15, für Familien eine Anordnung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG darstellt, die ihnen Schutz vor Abschiebung vermittelt und deshalb die analoge Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausschließt.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Das wäre bei den Klägern der Fall, wenn sie nach Afghanistan zurückkehren müssten. Der Kläger zu 1 als Vater von zwei minderjährigen Kindern befürchtet, aufgrund der dortigen Situation einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Damit machen die Kläger zwar nicht geltend, dass ihnen näher spezifizierte, konkrete Maßnahmen drohen würden, sondern sie berufen sich auf die allgemeine Lage. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen vorliegend aber eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.

Der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG ist auch bei einer allgemeinen, auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage eröffnet.

Von der Beklagten wird das allerdings bezweifelt, weil der (deutsche) Gesetzgeber in Kenntnis der vom Bundesverwaltungsgericht bejahten Erweiterung auf Gefährdungen, die nicht staatlich zu verantworten seien (BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 = NVwZ 2013, 1167; U. v. 13.6.2013 - 10 C 13.12 - BVerwGE 147, 8 = NVwZ 2013, 1489), am Konzept von allgemeinen Gefährdungslagen einerseits und individuell gelagerten Schutzgründen andererseits festgehalten habe. Die Formulierung des Art. 3 EMRK, niemand dürfe unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden, lässt zwar nicht erkennen, ob sich diese nur aus konkret gegen den Betroffenen gerichteten Maßnahmen oder auch aus einer schlechten allgemeinen Situation mit unzumutbaren Lebensbedingungen ergeben kann. Eine Unterscheidung zwischen konkreten und allgemeinen Gefahren wird dort jedenfalls nicht vorgenommen. Die von der Beklagten zitierte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verweist (BVerwG, U. v. 31.1.2013 a. a. O.; U. v. 13.6.2013 - 10 C 13.12 - BVerwGE 147, 8 = NVwZ 2013, 1489; EGMR, U. v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 - NVwZ 2011, 413; U. v. 28.6.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681; U. v. 13.10.2011 - Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 - NJOZ 2012, 952), hält aber eine unmenschliche Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen für möglich. Im Urteil vom 13. Juni 2013 (a. a. O.) ist das Bundesverwaltungsgericht ferner ausdrücklich von der früheren Rechtsprechung abgerückt und hält für das nationale Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK nicht länger an der zu § 53 Abs. 4 AuslG 1990 vertretenen Auffassung fest, dass die Vorschrift nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtige, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohten. Nach der zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Verfahren Sufi und Elmi, a. a. O., Rn. 278, 282 f.) verletzen humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK zum Einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ seien. Dieses Kriterium sei angemessen, wenn die schlechten Bedingungen überwiegend auf die Armut zurückzuführen sei oder auf die fehlenden staatlichen Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen. Zum Anderen könne - wenn Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führten - eine Verletzung darin zu sehen sein, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelinge, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen. Zu berücksichtigen seien dabei auch seine Verletzbarkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung seiner Lage in angemessener Zeit. Im Anschluss hieran stellt das Bundesverwaltungsgericht darauf ab, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen sei, verletze die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergebe, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden. Die sozioökonomischen und humanitären Verhältnisse seien nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend, ob der Betroffene wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention ziele hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern, mache die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK aber eine gewisse Flexibilität erforderlich.

Dass der (deutsche) Gesetzgeber in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Regelung von allgemeinen Gefahren im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG n. F. i. V. m. § 60a AufenthG unverändert beibehalten und nicht auf andere Abschiebungsverbote ausgedehnt hat, spricht bei systematischer Auslegung des Gesetzes gegen die vom Bundesamt vertretene Auffassung. Im gewaltenteilenden Rechtsstaat ist die Rechtsprechung nur ausnahmsweise befugt, die Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers unbeachtet zu lassen (BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167 zur verfassungskonformen Auslegung von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG n. F.). Im Übrigen greift das Bundesamt selbst in bestimmten Fallkonstellationen bei allgemeinen Gefahren ebenso auf § 60 Abs. 5 AufenthG zurück. So kann z. B. nach dem Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 14. November 2013, Az. M I 4 - 21004/21#5 („Information zur Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge aufgrund des Urteils des BVerwG vom 13. Juni 2013“), bei unbegleiteten minderjährigen Asylbewerbern ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt werden.

Bisher nicht geklärt ist, durch welchen Gefährdungsgrad derartige außergewöhnliche Fälle gekennzeichnet sein müssen. Schon von der Gesetzessystematik her kann der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG analog nicht herangezogen werden. Da die Sachverhalte nicht vergleichbar sind, lassen sich die erhöhten Anforderungen an eine ausreichende Lebensgrundlage im Fall einer internen Schutzalternative ebenso wenig übertragen. Die Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Verfahren Sufi und Elmi, a. a. O., Rn. 278, 282 f.) als auch des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167) macht jedoch deutlich, dass von einem sehr hohen Niveau auszugehen ist. Nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind. Wenn das Bundesverwaltungsgericht die allgemeine Lage in Afghanistan nicht als so ernst einstuft, dass ohne weiteres eine Verletzung angenommen werden könne, weist das ebenfalls auf die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation hin. Eine solche ist allerdings bei den Klägern gegeben.

Der Kläger zu 1 würde zusammen mit seinen beiden Kindern, den Klägern zu 2 und 3, zurückkehren und müsste für sich selbst sowie die Kinder sorgen. Die Ehefrau und Mutter hält sich nach den Angaben des Klägers zu 1 in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof in Italien auf, so dass er insoweit keine Hilfe hätte. Nach glaubhaftem Vortrag kann er zudem weder von seinen Eltern noch von seinen Schwiegereltern Unterstützung bekommen. Seine Eltern sind wegen Familienstreitigkeiten wieder in den Iran gezogen, sein Vater ist zudem krank und selbst hilfsbedürftig. Die Schwiegereltern stammen aus dem Iran. Den Angaben des Klägers zu 1 zufolge war er bereits zweimal im Gefängnis, nachdem ihn sein Schwager, der gegen die Hochzeit gewesen sei, wegen seines illegalen Aufenthalts im Iran angezeigt habe. In Afghanistan wird er von dem Teil seiner Familie, der dort verblieben ist, nicht akzeptiert. Außerdem gibt es Erbauseinandersetzungen. Damit könnte der Kläger zu 1 von niemandem Hilfe erwarten, sondern wäre in der Folge bei Rückkehr auf sich alleine gestellt. Angesichts der Lebensbedingungen in Afghanistan und der Tatsache, dass die Kinder noch in betreuungsbedürftigem Alter sind, würde er zur Sicherung der Existenz für die Familie nicht imstande sein. In der ständigen Rechtsprechung zur Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG analog (seitU. v. 3.2.2011 - 13a B 10.30394 - juris; zuletzt U. v. 30.1.2014 - 13a B 13.30279 - juris) hat sich der Verwaltungsgerichtshof zwar schon mit Teilaspekten der humanitären Lage in Afghanistan befasst und ist zum Ergebnis gekommen, dass für einen alleinstehenden Rückkehrer keine Extremgefahr im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht. Er wäre selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren. Bei einer Familie mit minderjährigen Kindern ist aber im Hinblick auf die zu erwartenden schlechten humanitären Verhältnisse in Afghanistan von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen.

Vorab ist festzuhalten, dass die Kinder in die Bewertung mit einzubeziehen sind. Der Senat geht davon aus, dass die Unterhaltsverpflichtungen des Klägers zu 1 nicht außer Betracht bleiben können. Soweit die Beklagte darauf hinweist, dass das Abschiebungsschutzrecht von einer gerade dem jeweiligen Schutzsuchenden konkret und individuell drohenden Gefahrenlage ausgehe, trifft das zwar insoweit zu, als das Gesetz generell eine Unterscheidung zwischen allgemeinen und individuell drohenden Gefahren vornimmt. Das schließt aber nicht aus, Unterhaltsverpflichtungen, die dem Betroffenen konkret obliegen, zu berücksichtigen. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage, ob eine gemeinsame oder getrennte Rückkehr von Familienangehörigen zugrunde zu legen ist, geht ebenfalls in diese Richtung (BVerwG, U. v. 8.9.1992 - 9 C 8.91 - BVerwGE 90, 364 = InfAuslR 1993, 28; B. v. 21.9.1999 - 9 C 12.99 - BVerwGE 109, 305 = InfAuslR 2000, 93). Unter Einbeziehung der Bedeutung, welche die deutsche Rechtsordnung dem Schutz von Ehe und Familie beimesse (Art. 6 GG), sei bei der Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle einer Abschiebung in den Heimatstaat drohten, regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr aller Familienangehörigen auszugehen. Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen - Angehörige, die Abschiebungsschutz genießen - könne eine andere Betrachtung geboten sein. Erforderlich sei eine möglichst realitätsnahe Beurteilung der Situation im hypothetischen Rückkehrfall. Für die anzunehmende Ausgangssituation, von der aus die Gefahrenprognose zu erstellen sei, komme es grundsätzlich weder auf bloße Absichtserklärungen der Betroffenen noch auf ihren ausländerrechtlichen Status an. Dies gelte für den jeweiligen Asylbewerber selbst und für die Familienmitglieder. Die Hypothese solle die Realität nur in einem Punkt ersetzen, dem nicht mehr bestehenden Aufenthalt des Asylbewerbers in seinem Heimatstaat. Im Übrigen werde durch sie an dem realen Umfeld, insbesondere den familiären Beziehungen des Asylbewerbers, seinen Rechten und Pflichten, nichts geändert. Eine andere Betrachtungsweise würde sich grundlos von der Realität entfernen. Diese Grundsätze können auf die vorliegende Konstellation übertragen werden. Es wäre ebenso wirklichkeitsfremd und stünde deshalb mit der genannten Rechtsprechung nicht in Einklang, wenn man die Unterhaltsverpflichtungen als lediglich mittelbare Folge der Erfüllung rechtlicher oder ethischer Verpflichtungen außer Betracht ließe.

Wird mithin die Notwendigkeit, dass der Kläger zu 1 für den Unterhalt der Familie aufkommen muss, zugrunde gelegt, würden die Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt. Die humanitäre Lage dort lässt für sie ein menschenwürdiges Dasein nicht zu.

Der Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 31. März 2014 (Stand: Februar 2014, S. 19 ff. - Lagebericht 2014) stellt zwar zum Einen fest, dass sich Afghanistans Bewertung im Human Development Index kontinuierlich verbessert habe. Auch wenn Afghanistan weiterhin einen sehr niedrigen Rang belege und der Entwicklungsbedarf noch beträchtlich sei, habe es sich einerseits in fast allen Bereichen positiv entwickelt. Die afghanische Wirtschaft wachse, wenn auch nach einer starken Dekade vergleichsweise schwach. Andererseits würden Investitionen aufgrund der politischen Unsicherheit weitgehend zurückgehalten. Allerdings könne nach dem Wahljahr 2014 mit einer Normalisierung des durch die starke Präsenz internationaler Truppen aufgeblähten Preis- und Lohnniveaus zu rechnen sein. Eine weitere Abwertung der afghanischen Währung könnte zu einer gestärkten regionalen Wettbewerbsfähigkeit afghanischer Produkte führen. Negativ würde sich jedoch zum anderen eine zunehmende Unsicherheit und Destabilisierung des Landes auswirken. Die Schaffung von Arbeitsplätzen sei auch bei einer stabilen Entwicklung der Wirtschaft eine zentrale Herausforderung. Für größere Impulse mangle es bisher an Infrastruktur und förderlichen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und einer umfassenden politischen Strategie. Da die Schaffung von Perspektiven auch zu Sicherheit und Stabilität beitrage, sei die Unterstützung der Privatwirtschaft einer der Schlüsselbereiche der bilateralen Zusammenarbeit. Das Gutachten des Sachverständigen Dr. D. vom 7. Oktober 2010 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof geht hinsichtlich der Arbeitsmöglichkeiten davon aus, dass am ehesten noch junge kräftige Männer, häufig als Tagelöhner, einfache Jobs, bei denen harte körperliche Arbeit gefragt sei, fänden. In der Auskunft von ACCORD (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation) vom 1. Juni 2012 wird ebenfalls auf die schwierige Arbeitssuche hingewiesen. Die meisten Männer und Jugendlichen würden versuchen, auf nahe gelegenen Märkten als Träger zu arbeiten. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update, die aktuelle Sicherheitslage vom 5. Oktober 2014, S. 19 - SFH) führt aus, dass 36% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten. Besonders die ländliche Bevölkerung sei den starken klimatischen Schwankungen hilflos ausgeliefert. Die Zahl der Arbeitslosen werde weiter ansteigen. 73,6% aller Arbeitstätigen gehörten zu den working poor, die pro Tag zwei US$ oder weniger verdienten. Nach der Stellungnahme von Dr. Karin Lutze (stellvertretende Geschäftsführerin der AGEF - Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte im Bereich der Migration und der Entwicklungszusammenarbeit i. L.) vom 8. Juni 2011 an das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (zum dortigen Verfahren A 11048/10.OVG) könne das Existenzminimum für eine Person durch Aushilfsjobs ermöglicht werden (S. 9). Damit würde der Kläger zu 1 unter den gegebenen Umständen den notwendigen Lebensunterhalt nicht erwirtschaften können. Zum Einen bedürfen seine Kinder der Betreuung. Zum Anderen wird es an Arbeitsmöglichkeiten für den Kläger zu 1 fehlen, vor allem aber an einem Verdienst, der für den Lebensunterhalt einer Familie ausreicht. Zwar war er im Iran selbstständig tätig und hat dort nach seinen Angaben sehr gut verdient, jedoch verfügt er weder über eine qualifizierte Ausbildung noch kann er in Afghanistan an die bereits ausgeübte Tätigkeit anknüpfen. Er wäre vielmehr gezwungen, für sich und seine beiden Kinder eine neue Existenz aufzubauen, ohne dass ihm dort entsprechende Kontakte und Hilfen zur Verfügung stehen.

Mit Ausnahme der medizinischen Versorgung greift der Lagebericht 2014 (S. 19 f.) keine Einzelaspekte auf, sondern stellt nur die generelle Situation für Rückkehrer und die allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dar. Es wird darauf verwiesen, dass es an grundlegender Infrastruktur fehle und die Grundversorgung nicht gesichert sei. Da somit keine grundlegende Änderung eingetreten ist, wird zu den Einzelaspekten auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Januar 2012 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, S. 28 - Lagebericht 2012) zurückgegriffen, der die Situation detaillierter beschreibt. Dieser führt hinsichtlich der Unterkunftsmöglichkeiten aus, dass die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen in den Städten nach wie vor schwierig sei. Das Ministerium für Flüchtlinge und Rückkehrer bemühe sich um eine Ansiedlung der Flüchtlinge in Neubausiedlungen für Rückkehrer. Dort erfolge die Ansiedlung unter schwierigen Rahmenbedingungen; für eine permanente Ansiedlung seien die vorgesehenen „Townships“ kaum geeignet. Der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung sei häufig nur sehr eingeschränkt möglich. Nach der Auskunft von ACCORD vom 1. Juni 2012 leben Zehntausende zurückgekehrter Familien unter schlimmen Bedingungen in Slums mit behelfsmäßigen Unterkünften in und um die afghanischen Städte. Sie müssten mit weniger als zehn Liter Wasser am Tag pro Person auskommen und hätten nicht genügend zu essen. Auch die SFH (S. 19) weist darauf hin, dass die Wohnraumknappheit zu den gravierendsten sozialen Problemen gehöre, vor allem in Kabul. Zugang zu sauberem Trinkwasser hätten nur 39% der Bevölkerung, zu einer adäquaten Abwasserentsorgung nur 7,5%. Damit kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kläger eine adäquate Unterkunft finden werden, in der auch Kinder angemessen leben können. Erschwerend kommt hinzu, dass der afghanische Staat schon jetzt kaum mehr in der Lage ist, die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Durch den enormen Bevölkerungszuwachs - etwa eine Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation - gerät er zusätzlich unter Druck (Lagebericht 2014, S. 19).

Die Grundversorgung ist nach dem Lagebericht 2014 (S. 20) für große Teile der Bevölkerung eine große Herausforderung, für Rückkehrer in besonderem Maße. Die medizinische Versorgung habe sich zwar in den letzten zehn Jahren erheblich verbessert, falle jedoch im regionalen Vergleich weiterhin drastisch zurück. Nach wie vor seien die Verfügbarkeit von Medikamenten und die Ausstattung von Kliniken landesweit unzureichend. In Kabul gebe es eine gute ärztliche Versorgung in einer deutschen und einer französischen Einrichtung. Im Übrigen sei medizinische Hilfe aber oftmals nicht zu erreichen oder könne nicht bezahlt werden (SFH S. 20). Diese Gesichtspunkte sind vorliegend im Hinblick auf die beiden kleinen Kinder von besonderer Bedeutung. Hinzu kommt, dass nach der SFH (S. 19) die Qualität der Bildungsangebote unzureichend und Gewalt im Umgang mit Kindern weit verbreitet ist. Viele Kinder seien unterernährt; 10% der Kinder würden vor ihrem 5. Geburtstag sterben. Straßenkinder seien jeglicher Form von Missbrauch und Zwang ausgesetzt.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013, S. 9 - UNHCR-Richtlinien) geht davon aus, dass es für eine Neuansiedlung grundsätzlich bedeutender Unterstützung durch die (erweiterte) Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm bedarf. Nach einer ergänzenden Darstellung (Darstellung allgemeiner Aspekte hinsichtlich der Situation in Afghanistan - Erkenntnisse u. a. aus den UNHCR-Richtlinien 2013 des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen - Vertretung in Deutschland - vom August 2014) sind 40% der Rückkehrer nicht in der Lage, sich wieder in ihre Heimatorte zu integrieren, rund 60% hätten Schwierigkeiten, sich ein neues Leben in Afghanistan aufzubauen.

Diese Auskünfte ergeben einen ausreichenden Einblick in die tatsächliche Lage in Afghanistan. Insbesondere ist auch mit den neueren Erkenntnismitteln die derzeitige Situation hinreichend abgebildet, so dass es der Einholung weiterer Auskünfte nicht bedarf. Unter den dargestellten Rahmenbedingungen, vor allem mit häufig nur sehr eingeschränktem Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung, ist die Schaffung einer menschenwürdigen Lebensgrundlage für eine Familie mit Kindern im Allgemeinen nicht möglich. Im Fall der Kläger wäre zusätzlich zu berücksichtigen, dass sie ohne die Ehefrau bzw. Mutter abgeschoben würden, somit also eine Betreuungsperson nicht zur Verfügung stünde. Bei den geschilderten Verhältnissen liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind. Für die Kläger besteht die ernsthafte Gefahr, dass sie keine adäquate Unterkunft finden würden und keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen zu hätten. Es steht zu erwarten, dass ihnen die zur Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse erforderlichen finanziellen Mittel fehlen werden. Ohne Hilfe werden sie sich weder ernähren können noch sind die einfachsten hygienischen Voraussetzungen gewährleistet. Da auch keine Aussicht auf Verbesserung der Lage besteht, ist davon auszugehen, dass die Kläger als Familie mit minderjährigen Kindern Gefahr laufen, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, die einen Mangel an Respekt für ihre Würde offenbart (siehe EGMR, U. v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 - NVwZ 2011, 413).

Dass die Rechtsprechung zur Extremgefahr für Alleinstehende nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG analog nicht auf die Frage einer unmenschlichen Behandlung von Familien im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK übertragen werden kann, sondern sich die Wertung unterscheiden muss, zeigt sich auch an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U. v. 4.11.2014 - Tarakhel/Schweiz, Nr. 29217/12 - hudoc.echr.coe.int, auszugsweise mit inoffizieller Übersetzung des Informationsverbunds Asyl und Migration in Asylmagazin 2014, 424). In der Entscheidung betreffend die Abschiebung einer Familie nach Italien hebt der Gerichtshof vor allem das Kindeswohl hervor. Eine Abschiebung verstoße gegen Art. 3 EMRK, wenn nicht sichergestellt sei, dass die Familieneinheit erhalten bleibe und eine den Bedürfnissen der Kinder entsprechende Aufnahme gewährleistet sei. Auch die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder misst Familien mit Kindern besondere Bedeutung zu. In der 199. Sitzung vom 11. bis 13. Juni 2014 wurde deshalb das Bundesministerium des Innern unter anderem um vertiefte Informationen zur spezifischen Rückkehrsituation von Familien gebeten. Nach Nr. C.3.2 der Verwaltungsvorschriften des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Bau und Verkehr zum Ausländerrecht (BayVVAuslR) vom 3. März 2014, Az. IA2-2081.13-15, ist die Rückführung von Familien vorerst ebenfalls zurückgestellt. Dass das Existenzminimum für eine Familie nicht erwirtschaftet werden kann, wird auch durch die Stellungnahme von Dr. K. L. vom 8. Juni 2011 an das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz bestätigt. Danach könne durch Aushilfsjobs allenfalls das Existenzminimum für eine Person ermöglicht werden (S. 9). Ferner bekräftigt der UNHCR (Richtlinien vom 6.8.2013, S. 9) das grundsätzliche Erfordernis bedeutender Unterstützung. Die einzige Ausnahme seien alleinstehende leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne festgestellten Schutzbedarf, die unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semiurbanen Umgebungen leben könnten, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung böten, und die unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle ständen. Damit hat sich die Lage nach der Einschätzung des UNHCR eher verschärft, denn die Richtlinien aus dem Jahr 2010 (S. 15 der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 24.3.2011 - zusammenfassende Übersetzung der UNHCR Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan vom 17.12.2010, S. 40) gingen noch davon aus, dass alleinstehende Männer und Kernfamilien (single males and nuclear family units) unter gewissen Umständen ohne Unterstützung von Familie oder Gemeinschaft leben könnten.

Soweit die Beklagte auf die gewährten Unterstützungsleistungen verweist, gibt es diese zwar für die erste Zeit nach der Rückkehr. Danach allerdings bestehen Probleme bei der Koordinierung zwischen humanitären Akteuren und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit sowie - mangels entsprechender Strukturen - dem afghanischen Staat (Lagebericht 2014, S. 20; Auskunft von ACCORD vom 1.6.2012). Aufgrund dieser verwaltungstechnischen Schwierigkeiten kommt die erforderliche Hilfe deshalb oft nicht dort an, wo sich die Rückkehrer niedergelassen haben. Noch schwieriger gestaltet sich die Lage für Familien. Über eine gewisse Starthilfe hinaus ist es nicht möglich, dauerhaft Unterstützung für die gesamte Familie zu bekommen (Auskunft von amnesty international vom 29.9.2009 an den BayVGH im Verfahren 6 B 04.30476). Damit mögen die Leistungen zwar einen vorübergehenden Ausgleich schaffen, sind aber nicht dazu geeignet, auf Dauer eine menschenwürdige Existenz zu gewährleisten, insbesondere weil die Grundversorgung schon generell für einen Großteil der afghanischen Bevölkerung eine enorme Herausforderung bedeutet.

Die Beklagte war deshalb unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 15. April 2014 und Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Februar 2014 insoweit (Ablehnung Nr. 4 und Abschiebungsandrohung Nr. 5) zu verpflichten, festzustellen, dass bei den Klägern das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der ausweislich seines Nüfus am ... 1998 in ... in der Türkei geborene Kläger ist - seit dem 30. Mai 2017 in Deutschland mit einer deutschen Staatsangehörigen türkischer Abstammung verheirateter und nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung auch bereits wieder geschiedener - türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit muslimischer Religionszugehörigkeit und hielt sich vor seiner Ausreise bis zuletzt in der Türkei in, Straße:, Viertel: ... auf (BAMF-Akte Bl. 41), reiste von dort nach eigenen Angaben am 8. März 2017 aus der Türkei aus und u.a. über ihm unbekannte Länder mit dem Lastwagen am 11./12. März 2017 unerlaubt nach Deutschland ein (ebenda Bl. 42), wo er Asyl beantragte.

Der Kläger wurde bereits am 2. Juni 2014 und am 19. Februar 2016 bei der deutschen Botschaft in Ankara erkennungsdienstlich für Anträge auf ein nationales Visum behandelt (BAMF-Akte Bl. 4).

In seiner auf Türkisch geführten Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 8. April 2017 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 40 ff.), er habe seinen Personalausweis abgegeben, zudem einen Reisepass und einen Mitgliedsausweis der HDP (ebenda Bl. 41). Seine Eltern lebten mittlerweile in Deutschland, ebenso zwei Geschwister des Klägers; sein Großvater und seine Großfamilie lebten an seinem Heimatort (ebenda Bl. 42). Er habe die Schule neun Jahre lang besucht und abgeschlossen, aber die Zeugnisse weggeworfen, weil die Noten so schlecht gewesen seien; er habe Friseur gelernt und als solcher gearbeitet, keinen Wehrdienst geleistet (ebenda Bl. 43). Die 7.000 Euro für den Schleuser habe sein Onkel in der Türkei bezahlt, der ein Teppichgeschäft habe (ebenda Bl. 42).

Zu seinen Ausreisegründen gab er an, er habe die Türkei verlassen, weil er eine Morddrohung von der Polizei erhalten habe. Er habe mit Parteifreunden der HDP in ... eine „Nein“-Kampagne gegen Erdogan geführt und sie sei 10 bis 15 Tage gegangen; das sei so ungefähr 1 ½ - 2 Monate her. Von der Partei seien sie in Dreier-Gruppen eingeteilt worden und hätten unter anderem auch Flyer in den Vierteln und Dörfern verteilt mit den Parolen „NEIN zu der Politik von Erdogan“, „NEIN zum Präsidialsystem“ sowie „Freiheit für die Kurden“. Am 5. März 2017 seien sie zu dritt unterwegs gewesen. Dann seien vier Polizisten mit einem Fahrzeug gekommen, hätten sie in einer Nebenstraße in ... angehalten und festgenommen, weil sie die Flyer verteilt hätten. Sie seien zur Polizeiwache gebracht und am Anfang alle in einem Raum geschlagen und bedroht worden. Danach habe man sie getrennt. Dem Kläger sei eine Pistole an den Kopf gehalten worden mit der Drohung, wenn er an der Kampagne weiter teilnehme, werde er ermordet. Sie seien einen Tag in einem kleinen Raum festgehalten, nicht befragt oder verhört, aber dauernd mit Fäusten und Schlagstock geschlagen, mit den Füßen getreten, bedroht worden und es sei mit der Waffe auf sie gezielt worden. Darüber habe er aber keine Nachweise oder Unterlagen und auch keinen Flyer mehr (ebenda Bl. 43 f.).

Nach seiner Freilassung habe sein Großvater ihm geraten, dass er das Land verlassen soll. Am 8. März 2017 habe er sich dann mit seinem Onkel im Auto auf den Weg nach Istanbul gemacht. Batman und Istanbul seien ungefähr 27 Stunden auseinander. Er habe dann mit seinem Onkel in Istanbul einen Fahrer organisiert und sei auf die Reise gegangen (ebenda Bl. 44).

Auf Frage erläuterte er, er sei seit ungefähr einem Jahr Mitglied der HDP, seit ungefähr 28. April 2016. Er sei Mitglied geworden wegen seiner Familie; sein Vater sei früher schon Mitglied, als er noch in der Türkei gewesen sei. Er wisse nicht, ob er jetzt noch Mitglied sei. Außerdem sei er wegen der Politik und Unterdrückung gegen sein Volk der Partei beigetreten (ebenda Bl. 44).

Der Mitgliedsausweis der HDP sei noch bei seinen Eltern; der Kläger wurde aufgefordert, den Mitgliedsausweis bis 24. April 2017 dem Bundesamt in A. noch vorzulegen (ebenda Bl. 44), was nicht erfolgte.

Ob seine Eltern eine besondere Funktion oder Position in der HDP hatten, wisse er nicht; er selbst sei nur normales Mitglied (ebenda Bl. 44).

In der Türkei sei er nicht persönlich bedroht worden und auch nicht konkret in Gefahr gewesen; in der Türkei habe er bei der Polizei oder den Behörden nicht nach Schutz oder Hilfe nachgefragt (ebenda Bl. 44). Seine einzige Schwierigkeit sei die Festnahme und Bedrohung gewesen (ebenda Bl. 45).

Schutz oder Arbeit in einer anderen Stadt oder anderen Provinz habe er nicht gesucht, das wäre nicht sicher gewesen. Die Polizei sei überall; irgendwann hätten sie ihn wieder erwischt (ebenda Bl. 45). Nach Deutschland sei er gekommen, denn hier seien bereits seine Eltern. Das sei der Hauptgrund, warum er hierhergekommen sei (ebenda Bl. 45).

Für den Fall der Rückkehr in die Türkei fürchte er, er würde umgebracht werden; dort könne er niemand vertrauen. Er könnte zwar wieder dort als Friseur arbeiten, aber er wolle nicht zurück, weil es für ihn dort nicht sicher sei (ebenda Bl. 45).

Auf Frage nach schutzwürdigen Belangen erläuterte er, sein Vater sei schon seit ungefähr 15 Jahren hier in Deutschland, seine Mutter seit ungefähr zwei Jahren. Er wolle auch bei ihnen wohnen und werde dazu noch einen Umverteilungsantrag bei der zuständigen Ausländerbehörde stellen. Andere schutzwürdige Belange habe er nicht (ebenda Bl. 45 f.).

Der Kläger legte später seinen am 18. November 2016 ausgestellten Reisepass, aber nicht die geforderte Mitgliedsbescheinigung der HDP vor. Zur Eheschließung am 30. Mai 2017 in Deutschland legte er u.a. ein am 4. Mai 2017 vom Standesamt ... ausgestelltes Ehefähigkeitszeugnis und eine ebenfalls am 4. Mai 2017 vom türkischen Generalkonsulat ... ausgestellte Bestätigung hierzu vor (BAMF-Akte Bl. 58 ff., 77 f. 100).

Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 5. Juli 2017 den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) sowie auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG ab (Nr. 4). Die Abschiebung in die Türkei wurde androht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).

Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen, weil der Kläger eine Verfolgung im Herkunftsstaat nicht habe glaubhaft machen können. Eine Gruppenverfolgung der Kurden in der Türkei finde nicht statt. Als Kurde habe er in der Westtürkei eine sichere Zuflucht. Selbst bei Wahrunterstellung seiner Angaben zur Flyerverteilung und der Verhaftung durch die Polizei wiesen die Ereignisse ein typisch regionales Gepräge auf, so dass anderweitig Schutz möglich sei. Der Kläger habe nichts substantiiert vorgetragen, was ihn aus der Menge der einfachen Mitglieder der HDP hervorgehoben hätte und weshalb er als ernstzunehmender Regimekritiker in das Blickfeld der türkischen Sicherheitsbehörden landesweit geraten sollte. Ihm wäre eine Wohnsitznahme im Westen der Türkei möglich und zumutbar. Darüber hinaus seien seine Angaben zur Bedrohung im Kern oberflächlich; ein Beweismittel über seine angebliche HDP-Parteimitgliedschaft habe er nicht erbracht. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Auch Abschiebungsverbote seien nicht ersichtlich. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 6 Monate sei angemessen angesichts der vorgetragenen schutzwürdigen Belange.

Gegen diesen Bescheid ließ der Kläger am 17. Juli 2017 Klage erheben mit dem Antrag:

1. Der Bescheid der Beklagten vom 5. Juli 2017 wird in Ziffern 1, 3, 4, 5 und 6 aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, weiter hilfsweise ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

In der Klagebegründung wurde auf die Eheschließung des Klägers hingewiesen; in der mündlichen Verhandlung wurde eine Mitgliedsbestätigung der DBP über eine Mitgliedschaft des Klägers seit dem 28. April 2016 vorgelegt.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Die Regierung von ... als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat auf jegliche Zustellungen mit Ausnahme der Endentscheidung verzichtet.

Mit Beschluss vom 17. August 2018 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Mit der Ladung übersandte das Gericht eine aktuelle Erkenntnismittelliste.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die von der Beklagten vorgelegte Behördenakte sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 5. Juli 2017 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.

Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen - den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG - muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).

Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.

Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25/10 - juris) entspricht.

Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 32).

Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Kläger frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.7.2012 - 10 B 18/12 - juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 - 10 C 21/08 - juris Rn. 25). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.

Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3). Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).

Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.

a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:

Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der - im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte - Staatspräsident hatte eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führte der Ministerpräsident. Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan die zahlenstärkste Fraktion darstellt.

Die heutige Parteienlandschaft in der Türkei ist geprägt von drei Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Erstens herrschen zwischen den Parteien relativ stabile Größenverhältnisse in der Relation 4 zu 2 zu 1. Die AKP ist stets unangefochten stärkste Kraft. Mit klarem Abstand folgt die CHP, die in der Regel halb so viele Stimmen bekommt wie die AKP, und darauf die MHP mit wiederum circa der Hälfte der Stimmen der CHP. Die pro-kurdische Partei der Demokratie der Völker (HDP) hat sich erst in den letzten Jahren dauerhaft etabliert. Zweitens sind die Wähler von drei der genannten Parteien relativ klar abgegrenzten Milieus zuzuordnen, die sich nicht nur nach ethno-kulturellen Zugehörigkeiten unterscheiden lassen, sondern auch nach divergierenden Lebensstilen sowie schichten-spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Lagen. Die AKP stützt sich primär auf eine türkisch-national empfindende und ausgeprägt religiöse Wählerschaft mit konservativer Sittlichkeit und traditionellem Lebensstil, die eher den unteren Ein-kommens- und Bildungsschichten zuzurechnen ist. Die CHP dagegen vertritt die türkisch-säkularen Schichten höheren Bildungsgrades mit einem europäischen Lebensstil und durchschnittlich deutlich höheren Einkommen. Ob im Hinblick auf Schicht oder Bildung, Modernität oder Konservatismus: Die MHP steht zwischen den beiden größeren Parteien. Charakteristisch für sie ist ein stark ethnisch gefärbter türkischer Nationalismus, der sich in erster Linie als bedingungslose Identifikation mit dem Staat und als starke Ablehnung kurdischer Identität äußert. Die HDP gibt sich als linke Alternative, wird jedoch generell als die Partei der kurdischen Bewegung wahrgenommen. Mehr noch als bei den anderen Parteien ist die ethnisch-nationale Komponente für die Zugehörigkeit ihrer Anhängerschaft bestimmend. Drittens verfügen drei der genannten Parteien über geographische Stammregionen mit einem eigenen Milieu. So ist die AKP in allen Landesteilen stark vertreten, hat aber ihr Stammgebiet in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste. Die CHP hat an den Küsten der Ägäis und in zweiter Linie in Thrazien und am Mittelmeer großen Rückhalt; die HDP hingegen in den primär kurdisch besiedelten Regionen. Die klare Aufteilung folgt auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Stammregionen, denn die CHP reüssiert in den ökonomisch am stärksten entwickelten Regionen, die keine oder nur wenig staatliche Förderung benötigen. Die AKP vertritt die immer noch eher provinziell geprägten Gebiete, die auf staatliche Infrastrukturleistungen und Investitionen angewiesen sind. Die HDP ist in den kurdischen besiedelten Gebieten zuhause, die als Schauplatz des türkisch-kurdischen Konflikts (dazu unten) besonders unterentwickelt sind. Wahlergebnisse in der Türkei bilden deshalb nicht primär Verteilungskonflikte ab, sondern Identitäten ihrer Wähler: In den europäischen Ländern, die türkische Arbeitsmigranten aufgenommen haben, stimmten weit über 60 Prozent für Erdoğan und seine AKP; dagegen votierten in den USA, wo sich die türkische Migration aus Akademikern und anderen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, weniger als 20 Prozent für die AKP (zum Ganzen Stiftung Wissenschaft und Politik - SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 2 f., www.swp-berlin.org).

In der Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Erdoğans ist ein Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzte (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 5, 7 - im Folgenden: Lagebericht). Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Erdoğan ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl die Mehrheit (vgl. N.N., Bestätigung der Wahlkommission: Erdoğan gewinnt Präsidentenwahl in der Türkei, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018). Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wird Staatspräsident Erdoğan zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. N.N., Präsidialsystem in der Türkei: Noch mehr Macht für Erdogan, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018).

In der Nacht vom 15/16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdoğan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegen stellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdoğan und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung für den Putsch verantwortlich. Diese wurde daher als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 103.000 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 86.000 Personen in Polizeigewahrsam genommen, darunter 41.000 Personen in Untersuchungshaft (ca. 7.500 Polizisten, 6.700 Militärangehörige, 2.400 Richter und Staatsanwälte). Über 76.000 Beamte wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen; in etwa 20.000 Fällen wurde die Suspendierung mittlerweile beendet. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumt und mehrfach verlängert wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 4 f. - im Folgenden: Lagebericht; Zahlen zu Suspendierten und Verhafteten auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 12 f.). Weitere 18.500 Staatsbedienstete wurden per Dekret noch im Juli 2018 entlassen, darunter 9.000 Polizisten und 6.000 Armeeangestellte (vgl. Erdoğan entlässt 18.500 Staatsbedienstete, www.spiegel.de, Abruf vom 9.7.2018).

Es ist zu erwarten, dass der nach nunmehr zwei Jahren am 18. Juli 2018 ausgelaufene Ausnahmezustand nicht mehr verlängert wird, aber zentrale Inhalte in Gesetzesform überführt und damit dauerhaft gemacht werden, insbesondere die Ermächtigung der Gouverneure, Ausgangssperren zu verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen zu verbieten, Vereine zu schließen sowie Personen und private Kommunikation intensiver zu überwachen (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik - SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 8, www.swp-berlin.org).

Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 9). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.

Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der Türkei, in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 - (GASP) 2017/1426, Anhang Nr. II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/de/ arbeitsfelder/af-auslaenderextremismus-ohne-islamismus/was-ist-auslaenderextremismus/ arbeiterpartei-kurdistans-pkk, Abfrage vom 26.4.2018). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKK-Ideologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).

b) Eine Verfolgung allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden hat der Kläger nicht zu befürchten. Er gehört zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor.

Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht.

Kurdische Volkszugehörige zählen etwa 13 Mio. bis 15 Mio. Menschen auf dem Gebiet der Türkei und stellen noch vor Kaukasiern und Roma die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 13 - im Folgenden: Lagebericht); sie unterliegen demnach aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel - sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden - nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt und wurde seither stufenweise bei entsprechender Nachfrage erlaubt; Dörfer im Südosten können ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13 f.). Seit der Verhängung des Notstands aber hat sich die Lage verändert: Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender, darunter auch IMC TV und die Tageszeitung „Özgür Gündem“ unter dem Vorwurf, „Sprachrohr der PKK“ zu sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 14).

Kurdische Volkszugehörige unterliegen damit in Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 - 1 B 31/14 - juris). Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass eine Verfolgung kurdischer türkischer Staatsangehöriger jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweist, die zu einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds führt (im Ergebnis wie hier VG Aachen, U.v. 5.3.2018 - 6 K 3554/17.A - juris Rn. 51 m.w.N.). Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U.v. 7.4.2016 - 3 A 557/13.A; BayVGH, B.v. 22.9.2015 - 9 ZB 14.30399, alle juris). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Keine Ausweichmöglichkeiten hingegen bestehen, soweit eine Person Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen wird, da die türkischen Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben (Lagebericht ebenda S. 22).

Dies gilt auch für den nicht ortsgebundenen Kläger, der in die Westtürkei hätte ausweichen können, um Belästigungen durch polizeiliche Übergriffe oder dgl. auszuweichen. Diese stellen sich im vorliegenden Fall - den Wahrheitsgehalt der Darstellung des Klägers unterstellt - eher als Amtswalterexzess vor Ort denn als Teil einer landesweiten Verfolgung dar, zumal gegen den Kläger keinerlei Verfahren eröffnet worden, er nicht einmal befragt und verhört worden sein will. Im Gegenteil zeigt die rasche Bereitstellung der für die Heirat im Bundesgebiet - kaum zwei Monate nach der Einreise - erforderlichen türkischen Dokumente u.a. durch das türkische Generalkonsulat in, dass der türkische Staat dem Kläger konsularische Hilfe nicht vorenthält, ihn offensichtlich also nicht diskriminiert.

c) Eine Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit/Zurechnung zur Gülen-Bewegung hat der Kläger nicht zu befürchten. Er hat ihr nicht angehört und hierzu auch nichts vorgetragen.

d) Eine Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit/Zurechnung zur PKK hat der Kläger nicht zu befürchten.

Eine weitere Gruppe, die staatlichen Nachstellungen ausgesetzt ist, sind Personen, denen eine Nähe zur kurdischen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) vorgeworfen wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 4 f., 9 f. - im Folgenden: Lagebericht). Seit Sommer 2015 war die Türkei Ziel terroristischer Anschläge, welche seitens der türkischen Regierung u.a. der PKK zur Last gelegt wurden und Vorwand boten, den zwischen der Regierung und PKK-Chef Öcalan Ende 2012 begonnenen erfolgversprechenden Befriedungsprozess mit der PKK abzubrechen. Flankiert von einem nationalistisch ideologisierten Kurs geht die Türkei bedingungslos gegen die PKK vor und nutzt den Vorwurf des Terrorismus auch für weitergehende Freiheitsbeschränkungen und Repressalien. Der seit Juli 2015 nach der PKK zugeschriebenen Attentaten wieder militärisch ausgefochtene Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK forderte zum Stand September 2016 bislang fast 5.000 Todesopfer, darunter 475 Zivilisten, 478 Angehörige der Streitkräfte, 211 Polizisten und über 3.700 PKK-Kämpfer (Lagebericht ebenda S. 6; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1). Schwere Waffen wie Panzer und Artillerie sollen dabei sogar in Wohngebieten eingesetzt worden und nach Informationen der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) 321 Zivilpersonen getötet worden sein (vgl. AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 2). Neben Angriffen türkischer Sicherheitsorgane auf Stellungen der PKK im Südosten der Türkei kam es dort auch in Städten zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Armee einerseits und Mitgliedern der PKK-Jugendorganisation andererseits (vgl. AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1, 2).

Daher besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 - 6 K 3554/17.A - juris Rn. 51 m.w.N.).

Der nun gewaltsam ausgetragene Kurdenkonflikt ließ auch die politische Vertretung der kurdischen Minderheit zum Ziel staatlicher Repressalien werden. Die meisten politisch Oppositionellen können sich nicht mehr frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen. Abgeordnete mehrerer Parteien sind von der Immunitätsaufhebung im Juli 2016 betroffen, besonders auch die links-kurdische Partei „Demokratische Partei der Völker“ (HDP). Für die türkische Regierung war die HDP Verhandlungspartner im Befriedungsprozess; sie zog in der Parlamentswahl am 7. Juni 2015 mit 13,1% der Stimmen erstmals als Partei ins Parlament ein, nachdem sie zuvor durch unabhängige Kandidaten vertreten gewesen war; in der Parlamentswahl am 1. November 2015 gelang ihr mit 10,8% der Stimmen nur knapp die Überwindung der Zehnprozenthürde zum Wiedereinzug ins Parlament (Lagebericht ebenda S. 10). Im Zuge von Anklagen wegen angeblicher Verstöße gegen Anti-Terror-Gesetze droht 57 der 59 HDP-Parlamentsabgeordneten nach Aufhebung ihrer Immunitäten der Mandatsverlust, lange Haftstrafen und ein mehrjähriges Verbot politischer Betätigung; Ende des Jahres 2016 befanden sich 13 HDP-Abgeordnete in Untersuchungshaft (Lagebericht ebenda S. 6, 9 f.). Auch auf lokaler Ebene versucht die Regierung, den Einfluss der HDP und von deren Schwesterpartei DBP zu verringern. Die DBP stellt 97 der Bürgermeister im Südosten der Türkei und ist dort die vorherrschende politische Kraft. Genauso wie vielen der HDP-Abgeordneten wird vielen DBP-Mitgliedern Unterstützung der PKK vorgeworfen. Im Zuge der Notstandsdekrete wurden 51 gewählte Kommunalverwaltungen überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhändler ersetzt (Lagebericht ebenda S. 10). Teilen der Basis der HDP werden Verbindungen zur PKK nachgesagt sowie zu deren politischer Dachorganisation „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK), welcher von türkischen Behörden unterstellt wird, von der PKK dominierte quasi-staatliche Parallelstrukturen (z. B. Sicherheit, Wirtschaft) aufzubauen (Lagebericht ebenda S. 10). Strafverfolgung gegen die PKK und die KCK trifft daher teilweise auch Mitglieder der HDP/ BDP; seit April 2009 wurden Schätzungen zu Folge in allen Landesteilen und insbesondere im kurdisch geprägten Südosten über 2.000 Personen verhaftet und z.T. bereits verurteilt, darunter auch zahlreiche Bürgermeister und andere Mandatsträger unter dem Vorwurf, Mitglieder der KCK und damit einer terroristischen Vereinigung zu sein (Strafrahmen: 15 Jahre bis lebenslänglich). Das umfangreichste Verfahren gegen 187 Angeklagte in Diyarbakır hat 2010 begonnen und dauert an. Die Vorwürfe beruhen nach Ansicht der Verteidigung zum großen Teil auf illegalen Telefonüberwachungen und nicht stichhaltigen Beweisen. Alle Angeklagten wurden zwischenzeitlich aufgrund der Justizreformpakete aus der Untersuchungshaft entlassen. Bei diversen anderen Verhaftungswellen im Südosten des Landes sowie in den Ballungszentren Istanbul, Ankara und Izmir wurden seit Mitte 2011 auch Journalisten, Akademiker, Gewerkschafter und Rechtsanwälte inhaftiert. Aktuellen Erkenntnissen zufolge befinden sich in diesem Zusammenhang derzeit noch 20 bis 25 Journalisten in Haft (Lagebericht ebenda S. 10). Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen vom 24. Juni 2018 überwand die HDP mit 11,7% der Stimmen erneut die Zehnprozenthürde (vgl. N.N., Präsidialsystem in der Türkei: Noch mehr Macht für Erdogan, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018).

Unscharf und Vorwand für die Bandbreite an Repressalien ist der von türkischen Behörden und Gerichten angewandte Begriff des „Terrorismus“. Zwar gewährleistet die türkische Rechtsordnung die Presse- und Meinungsfreiheit, schränkt sie jedoch durch zahlreiche Bestimmungen der Straf- und Antiterrorgesetze ein mit einer unspezifischen Terrorismusdefinition. Seitens der regierenden AKP wird eine Neudefinition des „Terrorismus“-Begriffs im Antiterrorgesetz vorbereitet, wonach auch Personen, die in Medien und sozialen Netzwerken „Terrorpropaganda betreiben sowie Terrororganisationen logistische Unterstützung leisten“, erfasst werden. Ebenso problematisch ist jedoch die sehr weite Auslegung des „Terrorismus“-Begriffs durch die Gerichte. So kann etwa auch öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen. Die „Beleidigung des Türkentums“ ist gemäß Art. 301 tStGB strafbar und kann von jedem Staatsbürger zur Anzeige gebracht werden, der Meinungs- oder Medienäußerungen für eine Verunglimpfung der nationalen Ehre hält. Die Mehrzahl dieser Anzeigen mündet allerdings nicht in Strafverfahren, Von insgesamt 449 Fällen im Jahr 2014 wurden lediglich in 72 Fällen bzw. 21% (2013: 140 - 6%) Strafverfahren eröffnet. Verfahren wegen Beleidigung des derzeitigen Staatspräsidenten gemäß Art. 299 tStGB haben sich einer Studie zu Folge im Vergleich zu den Vorgängern fast verzehnfacht; seit August 2014 sollen 1.845 Klagen erhoben bzw. Strafermittlungsverfahren eingeleitet und jedenfalls solche gegen Mitglieder der HDP auch nicht eingestellt worden sein (Lagebericht ebenda S. 11).

Ziel von Verhaftungen sind auch regierungskritische Journalisten, so sollen seit Beginn der dem Putschversuch folgenden „Säuberungen“ nach Angaben von „Reporter ohne Grenzen“ über 100 Journalisten unter dem Vorwurf der Unterstützung der Gülen-Bewegung oder der PKK inhaftiert. Gegen den ehemaligen Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, sowie den Leiter des Ankaraner Büros der Tageszeitung, Erdem Gül, laufen Verfahren wegen Spionage und Verrats von Staatsgeheimnissen; sie wurden im Mai 2016 zu fünf Jahren und zehn Monaten bzw. fünf Jahren Haft verurteilt, das Berufungsverfahren läuft derzeit noch; Can Dündar hält sich derzeit in Deutschland auf und kündigte an, er werde nicht in die Türkei zurückkehren, weil er dem Rechtssystem nicht vertraue. Mittlerweile sind Urteile mit langen Haftstrafen ergangen. Zehn weitere Mitarbeiter von „Cumhuriyet“ sind seit Herbst 2016 in Untersuchungshaft; ihnen wird u.a. Geldwäsche in Zusammenhang mit dem Gülen-Netzwerk vorgeworfen. Weitere Journalisten und der türkische Vertreter von „Reporter ohne Grenzen“, Erol Önderoğlu, wurden im Juni 2016 unter dem Vorwurf der Propaganda einer Terrororganisation verhaftet, weil sie aus Solidarität mit der Kurdennahen Tageszeitung „Özgür Gündem“ abwechselnd deren Leitung übernahmen und „Özgür Gündem“ mit Gerichtsbeschluss vom 16. August 2016 geschlossen wurde (Lagebericht ebenda S. 12). Die Strafverfahren gegen Regierungskritiker und Journalisten werden als unfair bewertet (so AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2). Medien mit Kontakten zur Gülen-Bewegung wurden innerhalb von sechs Wochen per Dekret geschlossen (Lagebericht ebenda S. 12; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2); das Privatvermögen bei Gülennahen Medienorganen angestellter Journalisten und Publizisten wurde Ende Dezember 2016 beschlagnahmt. Insgesamt wurden seit Juli 2016 mehr als 180 Medienorgane geschlossen, 330 Journalisten wurde der Presseausweis entzogen, 200 weitere Journalisten erhielten ein Zugangsverbot für das Parlament. (Mord-) Drohungen gegen und tätliche Angriffe auf regierungskritische Journalisten sind keine Seltenheit; auch das Internet in der Türkei ist nicht vollständig frei (Lagebericht ebenda S. 12). Teils soll schon genügen, in Publikationen die PKK nicht als „Terrororganisation“ im Sinne der amtlich-türkischen Sprachregelung zu bezeichnen, um als Journalist ihrer Unterstützung beschuldigt zu werden (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 7).

Exilpolitische Aktivitäten türkischer Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind, können nach türkischen Gesetzen bestraft werden. Diese Personen können Ziel polizeilicher oder justizieller Maßnahmen werden, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen, vor allem auch Mitgliedern des sog. „Gülen-Netzwerkes“ (Lagebericht ebenda S. 21). Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können (Lagebericht ebenda S. 12).

Vorliegend ist nach den überzeugenden Ausführungen der Beklagten im angefochtenen Bescheid kein Anhaltspunkt dafür gegeben, dass der Kläger wegen seiner - nur behaupteten, trotz Möglichkeit gegenüber dem Bundesamt nicht belegten - Mitgliedschaft in der HDP gewesen wäre. Er hat erst in der mündlichen Verhandlung eine Mitgliedsbestätigung der DBP vorgelegt, im Asylverfahren aber stets eine Mitgliedschaft in der HDP angegeben. Selbst wenn beide Parteien in Batman eins wären, wie er angab, war der Kläger nur einfaches Mitglied, hat keine besonderen Funktionen innegehabt oder Tätigkeiten entfaltet und war sonst nicht Adressat von Verfolgungsmaßnahmen. Soweit er sich auf die o.g. Verhaftung und Bedrohung beruft, ist diese allenfalls als lokaler Amtswalterexzess zu bewerten, nicht als Teil eines landesweiten Verfolgungsprogramms.

e) Der Kläger konnte auch mit seinem individuellen Vortrag nicht glaubhaft machen, dass ihm in der Türkei eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht.

Hierbei ist der Bescheidsbegründung der Beklagten zu folgen, wonach der Kläger nicht glaubhaft an ihn individuell gerichteten Bedrohungen oder gar Übergriffe geschildert hat, die für seine Ausreise im April 2017 fluchtauslösend gewesen wären. Er hat auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung zwar das Rahmengeschehen ähnlich geschildert wie vor dem Bundesamt, doch zeigt die Tatsache, dass ihm sonst in der Türkei nach seinen Angaben nicht passiert ist, insbesondere kein Verfahren wegen „Terrorismus“ gegen ihn eingeleitet worden ist, dass die Verhaftung eine einmalige, allenfalls lokale Angelegenheit war, sollte sie sich entgegen den Zweifel des Bundesamts so zugetragen haben.

Dass sie ausreisemotivierend war, ist auch deswegen nicht überzeugend, weil der Kläger schon im Juni 2014 und im Februar 2016, also ein Jahr vor dem behaupteten Vorfall, vergeblich Visa für Deutschland beantragt hatte und eingeräumt hat, den Familiennachzug zu seinen Eltern angestrebt zu haben. Kaum war er im Frühjahr 2017 in Deutschland, hat er unverzüglich geheiratet und so den Ehegattennachzug zu verwirklichen versucht. All das verstärkt die Zweifel an der Glaubhaftigkeit und Maßgeblichkeit seines Vorbringens zur angeblichen Verfolgung als HDP-Mitglied für seine Einreise nach Deutschland.

Bereits deswegen drohen dem Kläger auch die nachfolgend erörterten einzelnen Gefahren nicht:

aa) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG durch Anwendung physischer oder psychischer sowie sexueller Gewalt droht nicht.

In der Behandlung Strafverdächtiger zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits verfolgt die Türkei offiziell eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter des Staates und hat seit dem Jahr 2008 ihre vormals zögerliche strafrechtliche Verfolgung von hiergegen verstoßenden Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten nachweisbar verbessert. Allerdings kommt es vor allem mangels Kooperation der Behörden bei der Tatsachenfeststellung nur in wenigen Einzelfällen tatsächlich zu Verurteilungen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 16 f., 23 f. - im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2) Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 kommt es wieder vermehrt zu Folter- und Misshandlungsvorwürfen gegen Strafverfolgungsbehörden. Zwar rückt die Türkei nach Ansicht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen über Folter nach seinem Besuch im November 2016 nicht von ihrer Null-Toleranz-Politik ab. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Putschversuch und im Rahmen des Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die PKK im Südosten des Landes kam bzw. kommen allerdings Misshandlungen von in Gewahrsam befindlichen Personen vor. Dem entsprechend weist auch der Sonderberichterstatter auf das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit der Null-Toleranz-Politik hin. Ob es darüber hinaus wieder vermehrt zu Misshandlungen im Polizeigewahrsam kommt, kann nach Auffassung des Auswärtigen Amts noch nicht abschließend beurteilt werden, zumal Menschenrechtsorganisationen davon berichten, dass Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert wird und eine unabhängige Überprüfung von Foltervorwürfen nur schwer möglich ist. Anhaltspunkte für eine systematische Folter werden nicht gesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 16 f., 23 f.; eine Zunahme der Berichte über Misshandlungen in Polizeigewahrsam bestätigt AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2; AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 2; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 17 f.; Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 3). Teils wird auf im Erlassweg eingeräumte Straffreiheit der entsprechend der Notstandsverordnungen tätigen Staatsbediensteten verwiesen (vgl. AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S.). Misshandlungen von am Putschversuch Beteiligter wie Piloten und Offiziere in den ersten Tagen nach dem Putschversuch im Juli 2016 werden aber als gesichert angesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 3; offiziell genehmigte Fotos gefolterter Offiziere bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 20).

Der Kläger war am Putsch 2016 in keiner Weise beteiligt. Dass ihm der türkische Staat bereits nach seiner Ausreise noch die erforderlichen Unterlagen für die Eheschließung in Deutschland ausstellte, zeigt gerade kein gesteigertes Interesse des türkischen Staats an seiner Person.

bb) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung droht nicht.

Hinsichtlich der Strafzumessungs- und Strafverfolgungspraxis in der Türkei zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits wurden der Türkei Fortschritte im Bereich der Justiz bescheinigt, andererseits bestehen auch erhebliche Defizite (z.B. teilweise exzessiv lange Dauer der Strafverfahren und der Untersuchungshaft). Die Notstandsdekrete und Gesetzesänderungen im Nachgang des Putschversuchs vom Juli 2016 haben die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt; Massenentlassungen und der Ersatz erfahrener Richter und Staatsanwälte durch unerfahrenes Personal haben zu Kapazitätsengpässen in der Justiz geführt und neben dem auf die Justiz ausgeübten politischen Druck die Aussicht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren eingeschränkt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 15 - im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1). Ebenso wurde im zweiten Anlauf der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK), welcher u.a. über Verwarnungen, Versetzung oder den Verbleib im Beruf dieser Justizbediensteten entscheidet, einer stärkeren Kontrolle des Justizministeriums unterworfen; im Nachgang zum Putschversuch wurde ein nicht unerheblicher Teil des HSYK-Personals (insgesamt 14.993) im Rahmen von Versetzungen ausgetauscht. Mit dem sog. Sommer-Beschluss wurden im Jahr 2016 beispielsweise 3.228 (2015: 2.664; 2014: 2.517; 2011: 529; 2010: 271) Richter und Staatsanwälte der administrativen Justiz und 518 der zivilen Justiz - insgesamt 3.746 - versetzt. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden außerdem 3.456 Richter und Staatsanwälte vom Dienst suspendiert (vgl. Lagebericht ebenda S. 16; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 13).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Anders als bei Fällen von allgemeiner Kriminalität sind in Verfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. zumindest nicht durchgängig gewährleistet, insbesondere werden im Südosten Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der PKK oder KCK häufig als geheim eingestuft und eine Akteneinsicht von Verteidigern, bisweilen auch ihre Teilnahme an Befragungen unterbunden. Im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung des Putschversuches vom Juli 2016 schränkte das Dekret 668 am 27. Juli 2016 die regulären Verfahrensgarantien für Personen weitreichend ein, gegen die im Zuge der Verfahren auf Grund der Notstandsdekrete ermittelt wird. So wurde für diese Personengruppe u.a. die maximale Dauer des Polizeigewahrsams auf 30 Tage erhöht. Außerdem wurde für die Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit geschaffen, das Recht von inhaftierten Beschuldigten, ihren Verteidiger zu treffen, für fünf Tage einzuschränken bzw. für diese Zeit auch jeden Kontakt zu verbieten. Teile dieser Bestimmungen wurden durch eine Änderung der Notstandsdekrete vom 23. Januar 2017 allerdings wieder rückgängig gemacht. Die Kommunikation zwischen Mandanten und Verteidigern kann audio-visuell überwacht werden; in zahlreichen Fällen im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen wurde der überwachte Kontakt mit dem Verteidiger auf bis zu eine Stunde pro Woche in Anwesenheit eines Beamten reduziert (vgl. Lagebericht ebenda S. 16).

Grundsätzlich kommt es nicht zu einer Verurteilung, wenn der Angeklagte bei Gericht - etwa durch Abwesenheit - nicht gehört werden konnte. Es kommen dann die Fristen für Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung zum Tragen (vgl. Lagebericht ebenda S. 16).

Vorliegend ist der Kläger nach eigenem Vorbringen nicht justiziell belangt worden.

cc) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung droht nicht, da der Kläger hierzu nichts vorgebracht hat.

dd) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer diskriminierend angewandter administrativer oder justizieller Maßnahmen oder eine diskriminierende Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes droht nicht.

Die Türkei gewährleistet grundsätzlich das Recht auf sofortigen Zugang zu einem Rechtsanwalt innerhalb von 24 Stunden; für Personen, die terroristischer Straftaten beschuldigt werden, wird diese Frist auf bis zu 48 Stunden ausgedehnt. Für Personen, denen seit dem Putschversuch der Vorwurf einer Nähe zur Gülen-Bewegung gemacht wird und/oder der Beteiligung am Putschversuch, erklären sich kaum Anwälte zur Verteidigung bereit, um nicht selbst in Verdacht zu geraten oder wirtschaftliche oder gesellschaftliche Nachteile als vermeintliche Gülen-Anhänger zu erleiden. Auch von der Rechtsanwaltskammer eingesetzte Pflichtverteidiger haben deshalb in einzelnen Fällen ihr Mandat wieder niedergelegt. Für diese Personengruppe kann momentan nicht davon ausgegangen werden, dass faktisch eine Möglichkeit zur effektiven Verteidigung durch einen Rechtsanwalt besteht. Das Recht auf kostenlose Rechtsberatung gilt bei nachgewiesener Mittellosigkeit und ist an die Antragstellung gebunden. Nach spätestens 24 Stunden zuzüglich 12 Stunden Transportzeit muss der Betroffene dem zuständigen Haftrichter vorgeführt werden; in Fällen von Kollektivvergehen, Schwierigkeiten der Beweissicherung oder einer großen Anzahl von Beschuldigten kann der polizeiliche Gewahrsam bis zu drei Tage verlängert werden. Bei Festnahmen in Sicherheitszonen kann die in Art. 91 Abs. 3 tStPO vorgesehene Frist von vier Tagen auf Antrag der Staatsanwaltschaft und Entscheidung des Haftrichters auf bis zu sieben Tage verlängert werden, wobei diese Fristen in der Praxis in Einzelfällen überschritten werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 17 f.). Verschärfungen folgen aus dem „Sicherheitspaket“ vom 27. März 2015, wonach auf „frischer Tat“ beispielsweise während einer gewalttätigen Demonstration ergriffene Einzelpersonen nach 48 Stunden und bei Kollektivverbrechen erst vier Tage später dem Richter vorgeführt zu werden brauchen. Die Notstandsregelung im Dekret Nr. 667 vom 22. Juli 2016 hat die Höchstfrist für Polizeigewahrsam ohne richterliche Entscheidung auf 30 Tage erhöht; sie wird angewandt bei Straftaten gegen die Sicherheit des Landes (Artikel 302-308), gegen die Verfassungsordnung und ihr Funktionieren (Artikel 309-316), gegen die nationale Verteidigung (Artikel 317-325), gegen Staatsgeheimnisse und Spionage (Artikel 326-339) und bei Straftaten, die vom Anti-Terror-Gesetz umfasst werden sowie bei gemeinschaftlich begangenen Straftaten (vgl. Lagebericht ebenda S. 17 f.). Dem Auswärtigen Amt sind in den letzten Jahren keine Gerichtsurteile auf Grundlage von - durch die Strafprozessordnung verbotenen - erpressten Geständnissen bekannt geworden, allerdings Berichte, dass Festgenommene in einigen Fällen durch psychischen Druck verleitet werden, Aussagen zu machen bzw. Erkenntnisse aus unzulässigen Telefonüberwachungen in Strafverfahren Eingang finden (vgl. Lagebericht ebenda S. 18).

Vorliegend ist der Kläger nach seinem Vorbringen nicht Ziel strafrechtlicher Ermittlungen oder Sanktionen geworden. Dass eine diskriminierend angewandte administrative oder justizielle Maßnahme oder eine diskriminierende Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes drohte, ist daher nicht ersichtlich.

f) Schließlich ist der Kläger auf eine interne Fluchtalternative in der Westtürkei und insbesondere in Istanbul zu verweisen (§ 3e AsylG).

Das Gericht ist der Überzeugung, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei in der Westtürkei und insbesondere in Istanbul etwaigen Übergriffen ausweichen könnte. Die behaupteten Übergriffe - ihre Glaubwürdigkeit hier unterstellt - weisen ein typisch regionales Gepräge auf und sind eher als Amtswalterexzess örtlicher Organe zwecks Einschüchterung der Betroffenen denn als landesweite gezielte Verfolgung anzusehen. Die Westtürkei ist daher als innerstaatliche Fluchtalternative noch geeignet und zumutbar, so dass erwartet werden kann, dass er sich dort vernünftigerweise niederlässt.

Dem Kläger ist die Westtürkei wirtschaftlich zumutbar. Ihm droht erst recht keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben wegen der allgemeinen Versorgungslage dort (dazu sogleich zu § 60 Abs. 5 AufenthG). Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt in der Westtürkei durch einfache Arbeiten sicherstellen kann. Auch wenn hierfür mehr zu fordern ist als ein kümmerliches Einkommen zur Finanzierung eines Lebens am Rande des Existenzminimums (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris Rn. 20), ist doch vernünftigerweise zu erwarten, dass der Kläger sich dort aufhält und seinen Lebensunterhalt dort sicherstellt, wie er es bis zu seiner Ausreise auch getan hat. Es ist zu erwarten, dass der Kläger als gesunder und arbeitsfähiger Mann auch ohne nennenswertes Vermögen oder familiäre bzw. sonstige Kontakte dort seinen Lebensunterhalt sicherstellen kann, zumal er - wie ausgeführt - bereits Berufserfahrung als Friseur bzw. Friseurgehilfe gesammelt hat.

Er findet dort auch hinreichende Sicherheit, denn Ziel landesweit zu befürchtender administrativer oder gar polizeilicher Maßnahmen ist er in der Türkei nicht geworden. Soweit der Kläger meint, es sei ihm nicht zumutbar, sich dorthin zu begeben, er fürchte um sein Leben, führt dies - neben einem nicht glaubhaft gemachten und nicht plausiblen landesweiten Verfolgungsinteresse an einer politischen Randfigur wie dem Kläger - zu keiner anderen Betrachtung: Dem internationalen Schutz ist das Prinzip immanent, dass, wer hinreichend Schutz in einem Teil seines Herkunftsstaats erlangen kann, keinen Schutz im (europäischen) Ausland beanspruchen kann. So ist es auch hier.

2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.

Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).

a) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.

Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 24 - im Folgenden: Lagebericht). Für extralegale Hinrichtungen liegen derzeit keine Anhaltspunkte vor.

b) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.

Die Türkei unterliegt als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention dem Folterverbot ebenso wie den Mindeststandards für die Ausgestaltung von Haftbedingungen, wie sie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte näher beschrieben worden sind (EGMR, U.v. 20.10.2016 - 7334/13 - juris; unter Bezugnahme hierauf BVerwG, B.v. 9.11.2017 - 1 VR 9.17 - InfAuslR 2018, 88 f.): Danach stellt die Unterbringung eines Häftlings in Kroatien in einer überbelegten Gefängniszelle, in der dem Häftling lediglich ein Platz von 3 m² bis 4 m² zur Verfügung steht, eine Verletzung von Art. 3 EMRK dar, wenn der räumliche Faktor mit anderen Aspekten ungeeigneter physischer Haftbedingungen verbunden ist, die insbesondere den Zugang zu Bewegung im Freien, natürliches Licht, Verfügbarkeit von Belüftung, Angemessenheit der Raumtemperatur, Möglichkeit zur privaten Toilettenbenützung und die Einhaltung grundlegender sanitärer und hygienischer Erfordernisse betreffen.

aa) Eine beachtliche Gefahr von Folter besteht nicht.

Nach den ausgewerteten Erkenntnismitteln besteht in der Türkei derzeit zwar eine abstrakte Gefahr von Misshandlungen in staatlichem Gewahrsam, eine systematische Folter aber findet nicht statt (vgl. Lagebericht ebenda S. 16 f., 23 f.). In der Person des Klägers liegt auch kein Risiko von Folter zum Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhender Umstand vor (dazu oben), weil er von türkischer Seite aus weder der Gülen-Bewegung noch der PKK (mit weiteren kurdischen Organisationen) zugerechnet wird.

Zum Einen ist sein Vorbringen insoweit nicht glaubwürdig (vgl. oben), zum Anderen ist eine landesweite Gefahr nicht ersichtlich; dem Kläger stünde eine sichere innerstaatliche Zuflucht offen (vgl. oben).

bb) Es besteht auch keine beachtliche Gefahr einer Inhaftierung in der Türkei zu unmenschlichen Bedingungen.

In der Türkei kommt es verstärkt zu willkürlichen kurzfristigen Festnahmen auch im Rahmen von - mitunter erlaubten, aber in einigen Fällen eskalierenden - Demonstrationen oder Trauerzügen. In großer Zahl war dies bei den landesweiten Gezi-Park-Proteste seit Juni 2013 und bei den Kurdenunruhen im Oktober 2014 der Fall. Sie werden von offizieller Seite regelmäßig mit dem Hinweis auf die angebliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bzw. Verbreitung von Propaganda einer kriminellen Organisation gerechtfertigt (vgl. Lagebericht ebenda S. 24).

Die Haftbedingungen in der Türkei sind insgesamt schwierig. In der Türkei gibt es zurzeit 372 Gefängnisse, darunter 17 sog. F-Typ-Gefängnisse für wegen Terror oder organisiertem Verbrechen verurteilte Häftlinge. In den vergangenen Jahren wurden insgesamt 169 Haftanstalten geschlossen und bis zum Jahr 2015 83 neue Gefängnisse eröffnet. Die türkischen Gefängnisse waren in den letzten Jahren regelmäßig überfüllt (Belegungsquote im November 2016:104%). Die Regierung hat jedoch die Kapazität der Haftanstalten auf 189.269 Personen bei 197.297 Personen (Stand: November 2016) erhöht; unter den Inhaftierten befanden sich 68.000 Untersuchungshäftlinge. Laut Pressemeldungen vom Januar 2017 wurden seit dem Putschversuch vom Juli 2016 gegen 103.850 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet, 86.519 Personen wurden in Polizeigewahrsam genommen, davon befanden sich nach damaligen Angaben noch über 41.000 Personen in Untersuchungshaft. Im Gegenzug wurden seit Inkrafttreten des Dekrets Nr. 671 am 17. August 2016 insgesamt 44.800 Häftlinge aus der Strafhaft entlassen, darunter Strafhäftlinge, die sich ununterbrochen seit sechs Monaten in einer offenen Haftanstalt befinden oder in einer Jugendhaftanstalt ein Fünftel der Haftstrafe verbüßt haben sowie Strafhäftlinge nach hälftiger Verbüßung ihrer zeitlich begrenzten Haftstrafe, sofern die Straftaten vor dem Stichtag 1. Juli 2016 begangen wurden. Wegen Terrordelikte und Kapitaldelikten wie vorsätzlicher Tötung, schwerer Körperverletzung oder sexuellen Missbrauchs Verurteilte waren hiervon ausgenommen (vgl. Lagebericht ebenda S. 24). Die Grundausstattung der türkischen Gefängnisse wurde vom Ausschuss des Europarats für die Verhütung der Folter (CPT) im Jahr 2011 als im Großen und Ganzen adäquat eingestuft, wenngleich die Haftbedingungen aufgrund der Überbelegung der Haftanstalten dennoch schwierig seien. Das UN-Komitee gegen Folter (CAT) bemängelte einen Mangel an Gefängnispersonal und medizinischem Personal. Berichte über mangelnden Zugang zur medizinischen Versorgung von kranken Häftlingen seien demzufolge besorgniserregend (vgl. Lagebericht ebenda S. 24).

Soweit die konkrete Gefahr von Folter oder unmenschlicher Haftbedingungen besteht bzw. trotz Sachverhaltsaufklärung nicht im Einzelfall ausgeschlossen werden kann, kommt vor einer Abschiebung die Einholung einer Zusicherung einer türkischen Regierungsstelle in Betracht, dass - trotz der bekannten Überbelegung türkischer Haftanstalten (vgl. oben) - die Haftbedingungen im Fall der Inhaftierung eines konkreten Klägers den europäischen Mindeststandards entsprechen und deren Einhaltung durch Besuche diplomatischer oder konsularischer Vertreter der Bundesrepublik auch unangekündigt möglich ist (vgl. zu Foltergefahr und Haftbedingungen BVerfG, B.v. 18.12.2017 - 2 BvR 2259/17 - NVwZ 2018, 318 f.; BVerwG, B.v. 9.11.2017 - 1 VR 9.17 - InfAuslR 2018, 88 f.).

Ein solcher Zusicherungsvorbehalt ist einzelfallbezogen mit spezifischen Garantien auszugestalten, die eine Überprüfung der (eventuellen) Haftbedingungen eines Klägers im Falle von dessen Inhaftierung und insbesondere den ungehinderten Zugang zu seinen Prozessbevollmächtigten erlaubt; dies muss sich auf eine Inhaftierung sowohl durch die Polizei als auch durch den Geheimdienst beziehen. Bevor auf der Grundlage einer solchen Zusicherung die Abschiebung erfolgt, ist dem Betroffenen außerdem Gelegenheit zu geben, hierzu Stellung zu nehmen und gegebenenfalls um Rechtsschutz nachzusuchen (vgl. BVerfG, B.v. 24.7.2017 - 2 BvR 1487/17 - NVwZ 2017, 1526 ff.).

Konkret zu beurteilen ist die Verlässlichkeit einer Zusicherung an Hand mehrerer Kriterien, u.a. (EGMR, U.v. 17.1.2012 - 8139/09 - NVwZ 2013, 487 ff. Rn. 189): Bindung des zusichernden Staats an die europäische Menschenrechtskonvention, Mitteilung des Wortlauts der Zusicherung an das Gericht, Präzision der Zusicherung; innerstaatliche Verbindlichkeit des Zusichernden, Wahrscheinlichkeit ihrer Einhaltung durch die Behörden des Zielstaats, Einstufung der zugesicherten Behandlung im Zielstaat als rechtmäßig oder rechtswidrig, Dauer und Bedeutung der bilateralen Beziehungen zwischen dem abschiebenden Staat und dem Zielstaat sowie dessen Praxis der Einhaltung von Zusicherungen in der Vergangenheit, objektive Überprüfbarkeit der Einhaltung der Zusagen auf diplomatischem Wege oder über andere Bewachungsmechanismen einschließlich des unverzüglichen Zugangs zu einem Anwalt, Vorhandensein eines wirksamen Schutzsystems gegen Folter im Zielstaat und dessen Bereitschaft, mit internationalen Überwachungsorganen einschließlich internationaler Menschenrechtsorganisationen zusammen zu arbeiten, bei Foltervorwürfen zu ermitteln und die Verantwortlichen zu bestrafen, etwaige frühere Misshandlung des Betroffenen im Zielstaat, Prüfung der Verlässlichkeit der Zusicherung durch Gerichte des abschiebenden Konventionsstaats.

Der Kläger ist insoweit auf die Inanspruchnahme des in seinem Herkunftsstaat gewährleisteten Rechtsschutzes zu verweisen. Eine Inhaftierung droht dem nach kurzem Polizeigewahrsam von einem Tag auf freien Fuß entlassenen Kläger derzeit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

c) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG wegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht glaubhaft gemacht.

Nach den ausgewerteten Erkenntnismitteln geht die Türkei zwar auf ihrem Staatsgebiet gegen Terrorismus vor und erfasst dabei auch der Terrorunterstützung etc. verdächtige Personen, insbesondere soweit sie der PKK zugerechnet werden (zum Kurdenkonflikt vgl. oben). Dies stellt jedoch nach Art, Intensität und Umfang keinen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt dar. Soweit die Türkei auf syrischem Territorium gegen kurdische Gruppen vorgeht, treffen die Kampfhandlungen die dort ansässige syrische Bevölkerung, nicht das türkische Staatsgebiet und die hier ansässige türkische bzw. kurdischstämmige Bevölkerung.

Dies zusammen genommen kann jedenfalls die in der Türkei geführte gewalttätige Auseinandersetzung mit der PKK nach Intensität und Größenordnung nicht als vereinzelt auftretende Gewalttaten i.S. von Art. 1 Nr. 2 des Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (BGBl. 1990 II S. 1637) - ZP II - und auch nicht als anhaltende Kampfhandlungen bewaffneter Gruppen im Sinne von Art. 1 Nr. 1 ZP II eingestuft werden. Es fehlt auch an einer Verdichtung allgemeiner Gefahren, die weitere Voraussetzung für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist.

d) Vorliegend steht dem Kläger eine innerstaatliche sichere Zuflucht in der Westtürkei offen (vgl. oben).

3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:

a) Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285 - Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.

Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:

aa) Der erwachsene, gesunde und erwerbsfähige sowie bis zu seiner Ausreise erwerbstätige Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären.

Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert.

In der Türkei gibt es zwar keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden aber über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt und von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 26 f. - im Folgenden: Lagebericht).

Die medizinische Versorgung durch das staatliche Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert, vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite vor allem in ländlichen Provinzen bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es im Jahr 2013 1.517 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 202.031 Betten, davon ca. 60% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es jedoch (nach wie vor) üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden. Durch die zahlreichen Entlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch, von denen auch der Gesundheitssektor betroffen ist, kommt es nach Medienberichten gelegentlich zu Verzögerungen bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen (vgl. Lagebericht ebenda S. 27). Psychiater praktizieren und zwölf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.400 standen im Jahr 2011 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen einiger Regionalkrankenhäuser. Auch sind therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige vorhanden (vgl. Lagebericht ebenda S. 27; zur Behandlung psychischer Erkrankungen auch S. 34 f.).

Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt für alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei mit Ausnahmen u.a. für Soldaten/Wehrdienstleistende und Häftlinge. Die obligatorische Krankenversicherung erfasst u. a. Leistungen zur Gesundheitsprävention, stationäre und ambulante Behandlungen und Operationen, Laboruntersuchungen, zahnärztliche Heilbehandlungen sowie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Behandlungen im Ausland möglich. Nicht der Sozialversicherungspflicht unterfallende türkische Staatsbürger mit einem Einkommen von weniger als einem Drittel des Mindestlohns können von der Beitragspflicht befreit werden. Bei einem Einkommen zwischen einem Drittel und dem doppelten Mindestlohn gelten ermäßigte Beitragssätze. Bis Mitte des Jahres 2014 haben sich rund 12 Mio. Türken einer solchen Einkommensüberprüfung unterzogen, für rund 8 Mio. von ihnen hat der Staat die Zahlung der Beiträge übernommen (vgl. Lagebericht ebenda S. 28).

Die für eine gesundheitliche Versorgung mittelloser türkischer Staatsbürger bisher geltenden „Grünen Karten“ (2011: knapp 9 Millionen Inhaber) sind ausgelaufen, ihre Inhaber sollen in die allgemeine Krankenversicherung überwechseln. Für Kinder bis zum Alter von 18 bzw. 25 Jahren, Ehepartner und (Schwieger-)Elternteile ohne eigenes Einkommen besteht die Möglichkeit einer Familienversicherung. Besondere Beitragsregelungen gelten schließlich auch für Bezieher von Alters- und Erwerbsminderungsrenten (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).

Schließlich hat der Kläger seine Großfamilie am Heimatort, die ihm die Reise nach Europa finanziert hat und ihm in der Anfangszeit Hilfestellung für einen beruflichen und sozialen Neuanfang nach seiner Rückkehr in die Türkei geben kann.

bb) Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).

Aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums dürfen keine Suchvermerke (insbesondere für Wehrdienstflüchtlinge oder zur Fahndung ausgeschriebene Personen) mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden; vorhandene Suchvermerke sollen Angaben türkischer Behörden zufolge im Jahr 2005 gelöscht worden sein (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).

Unbegleitet zurückkehrende Minderjährige finden in der Regel Aufnahme bei Verwandten, sonst im Einzelfall ggf. in einem Waisenhaus oder Kinderheim. In letzterem Fall sollten die zuständigen türkischen Behörden rechtzeitig informiert werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).

In der Türkei finden Ausreisekontrollen für alle Personen statt. Türkischen Staatsangehörigen, gegen welche ein vom türkischen Innenministerium oder von einer Staatsanwaltschaft verhängtes Ausreiseverbot vorliegt und die auf einer entsprechenden Liste stehen, wird die Erteilung eines Reisepasses versagt oder sie werden bei Besitz eines Reisepasses an der Ausreise gehindert. Bei bestehendem Ausreiseverbot kann ein Reisepass auch durch Bestechung kaum erlangt werden, denn seine Ausstellung erfordert, dass ein vorhandener Listeneintrag zuvor auf amtliche Veranlassung durch richterlichen Beschluss oder Beschluss des Innenministeriums gelöscht wird (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 11.6.2018, S. 1 f.).

In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Lagebericht ebenda S. 29). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden, außer er hat sich für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).

Vorliegend ist für den Kläger offensichtlich kein Haftbefehl zu vollstrecken, da er schon vor seiner Ausreise in der Türkei auf freiem Fuß war. Der Kläger ist insoweit ggf. auf die Inanspruchnahme des in seinem Herkunftsstaat gewährleisteten Rechtsschutzes zu verweisen und daher nicht in Gefahr weiterer Maßnahmen als einer bloßen Einreisekontrolle.

b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers nicht vor.

Eine solche Erkrankung ist nicht attestiert (§ 60 Abs. 7 i.V.m. § 60a Abs. 2c und Abs. 2d AufenthG); zudem hatte der Kläger im Herkunftsstaat die Möglichkeit psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung gehabt, aber bewusst nicht wahrgenommen.

4. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.