Verwaltungsgericht Augsburg Urteil, 27. Juni 2017 - Au 1 K 16.1673

bei uns veröffentlicht am27.06.2017

Gericht

Verwaltungsgericht Augsburg

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 7. November 2016 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 b AufenthG zu erteilen.

II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund nachhaltiger Integration.

Der am ... 1976 geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger. Er reiste im Juni 2000 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 12. Juni 2000 unter falschen Personalien einen Asylantrag, welcher am 8. September 2000 abgelehnt wurde. Aufgrund seiner ungeklärten Identität und Passlosigkeit hielt er sich in der Folgezeit geduldet im Bundesgebiet auf. Am 7. November 2000 wurde er vom Amtsgericht ... wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe in Höhe von 5 Tagessätzen verurteilt. Danach tauchte der Kläger vorübergehend unter und wurde erst im Januar 2003 wieder von der Polizei anlässlich eines weiteren versuchten Diebstahls aufgegriffen. Im Rahmen der polizeilichen Vernehmung hierzu gab er geänderte – wiederum falsche – Personalien an. Im Anschluss tauchte er erneut unter. Im Jahr 2005 sprach der Kläger bei der damals zuständigen Ausländerbehörde vor und gab an, die letzten vier Jahre bei seiner Freundin in ... gewohnt zu haben. Pass- oder sonstige Ausweisdokumente habe er nicht. Daraufhin wurde ihm erneut eine Duldung erteilt, die nach deren Ablauf immer wieder verlängert wurde. Vom Amtsgericht ... wurde er im Oktober 2005 wegen unerlaubten Aufenthalts zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten und im April 2008 wegen vorsätzlichen Aufenthalts ohne Pass zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Strafe wurde jeweils zur Bewährung ausgesetzt.

Am 30. Mai 2008 legte der Kläger erstmals seinen irakischen Personalausweis mit seinen richtigen Personalien bei der Ausländerbehörde vor. Im Folgenden wurde er mehrmals zur Passbeschaffung aufgefordert. Im Juli 2008 ging bei der Ausländerbehörde eine Bestätigung der irakischen Botschaft ein, dass der Kläger bezüglich seiner Passausstellung bei ihr vorgesprochen habe. Ein Pass könne jedoch erst nach Vorlage einer irakischen Staatsangehörigkeitsurkunde ausgestellt werden.

Seit November 2008 ist der Kläger der Stadt ... als Ausländerbehörde zugewiesen. Seit Juli 2012 ist er mit einer irakischen Staatsangehörigen verheiratet. Im November 2013 kam ein gemeinsamer Sohn zur Welt. Die Asylanträge von Ehefrau und Sohn wurden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt. Aus der Ausländerakte des Klägers geht hervor, dass er von Juli 2008 bis April 2014 mehrere Termine bei der irakischen Botschaft sowie beim irakischen Generalkonsulat zum Zweck der Passbeschaffung wahrgenommen hat. Erst Anfang 2014 bestätigte das Generalkonsulat gegenüber der Beklagten, dass der Kläger nunmehr alle erforderlichen Unterlagen zur Beantragung eingereicht habe. Am 21. August 2014 legte der Kläger schließlich einen irakischen Reisepass vor.

Am 18. Februar 2016 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 b AufenthG aufgrund nachhaltiger Integration. Mit Schreiben vom 17. Oktober 2016 trug sein Bevollmächtigter diesbezüglich vor, dass aus den letzten 8 Jahren nichts mehr gegen eine Erteilung spräche. Die gravierendsten strafrechtlichen Verurteilungen hätten jeweils aufenthaltsrechtliche Verstöße zum Gegenstand. Ein Ausweisungsinteresse liege daher nicht vor.

Nach erfolgter Anhörung lehnte die Beklagte diesen Antrag mit Bescheid vom 7. November 2016 ab. Aufgrund des bisherigen ausländerrechtlichen Werdegangs und Verhaltens des Klägers könne nicht von einer nachhaltigen Integration ausgegangen werden, sodass hier von der Regelerteilung der Aufenthaltserlaubnis abgewichen werden könne. Der Kläger habe über einen Zeitraum von 8 Jahren über seine Identität getäuscht und sei außerdem zweimal untergetaucht, um sich ausländerrechtlichen und strafrechtlichen Konsequenzen zu entziehen. Allein seine Passlosigkeit habe immer wieder zur Verlängerung seiner Duldung geführt. Schließlich liege auch ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 54 Abs. 2 Nr. 8 und Nr. 9 AufenthG vor. Diese Vorschriften seien trotz der Sonderregelung in § 25 b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG anwendbar.

Dagegen ließ der Kläger am 25. November 2016 Klage erheben. Zur Begründung verweist er im Wesentlichen auf die im Verwaltungsverfahren vorgebrachten Argumente. Des Weiteren sei es falsch, dass der Kläger nur aufgrund seiner Passlosigkeit Duldungen erhalten habe. Dieser Schluss ließe sowohl unberücksichtigt, dass die irakischen Auslandsvertretungen über Jahre nicht in der Lage gewesen seien, Reisepässe auszustellen als auch dass auf Abschiebungen von Irakern grundsätzlich lange Zeit verzichtet worden sei und werde.

Der Kläger beantragt,

1. Der Bescheid der Beklagten vom 7. November 2016, zugestellt an den Klägerbevollmächtigten am 10. November 2016, wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 b AufenthG zu erteilen.

Hilfsweise: Die Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 b AufenthG unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt mit Schreiben vom 20. Dezember 2016

Klageabweisung.

Mit Beschluss vom 8. März 2017 wurde dem Kläger für dieses Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und ihm sein Bevollmächtigter beigeordnet.

Mit Schreiben vom 22. Juni 2017 legte der Kläger eine aktuelle Lohnabrechnung (Bl. 47 der Gerichtsakte) für den Monat Mai 2017 sowie einen aktuellen Rentenversicherungsverlauf (Bl. 50 der Gerichtsakte) vor, aus welchem sich eine Pflichtbeitragszeit des Klägers von insgesamt 9 Jahren und 1 Monat ergibt.

Am 16. Mai 2017 und 27. Juni 2017 fand in der Sache mündliche Verhandlung statt. Auf die dabei gefertigten Niederschriften wird ebenso Bezug genommen wie auf den Inhalt der Gerichtsakte, der von der Beklagten vorgelegten Behördenakte sowie auf die beigezogenen Strafakten.

Gründe

Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg.

1. Gegenstand der Klage ist die Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger die beantragte Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 b AufenthG aufgrund nachhaltiger Integration zu erteilen.

2. Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 b AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 AufenthG), weshalb der ablehnende Bescheid vom 7. November 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten war, dem Kläger die beantragte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

a) Gemäß § 25 b AufenthG soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich nachhaltig in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert hat. Die im Rahmen des § 25 b Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu prüfende Tatbestandsvoraussetzung der nachhaltigen Integration wird dabei in Satz 2 Nummer 1 bis 5 durch regelhafte Voraussetzungen näher bestimmt. Die Nummern 1 bis 4 sind im Fall des Klägers erfüllt (Nummer 5 ist hier nicht einschlägig).

(1) Der Kläger hält sich seit Juni 2000 und somit über 16 Jahre ununterbrochen geduldet oder gestattet im Bundesgebiet auf (§ 25 b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG).

(2) Seine gemäß § 25 b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG erforderlichen Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet hat der Kläger durch Vorlage einer Bescheinigung über die erfolgreiche Teilnahme am Test „Leben in Deutschland“ vom 8. April 2017 (s. Bl. 36 der Gerichtsakte) nachgewiesen (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 25 b AufenthG Rn. 15). Das notwendige Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ist ebenso anzunehmen. Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung geht das Gericht davon aus, dass dieses Bekenntnis spätestens bei Abholung der Aufenthaltserlaubnis bei der Beklagten abgegeben wird.

(3) Die Voraussetzung der Nummer 3 – zu erwartende Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG – ist ebenfalls erfüllt. Aus dem vom Kläger vorgelegten Versicherungsverlauf vom 1. Juni 2017 (Bl. 50 der Gerichtsakte) geht hervor, dass dieser seit dem Jahr 2008 fast durchgängig erwerbstätig war und kaum Sozialleistungen in Anspruch genommen hat. Aktuell ist der Kläger mit einem monatlichen Verdienst von circa 1.600,- EUR netto (Bl. 47 der Gerichtsakte) als Pizzabäcker beschäftigt. Somit sichert er zum einen aktuell seinen derzeitigen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit und zum anderen ist im Hinblick auf seine Erwerbsbiographie auch zu erwarten, dass er zukünftig seinen Lebensunterhalt sichern wird (§ 25 b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG).

(4) Schließlich sind auch die gemäß § 25 b Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AufenthG erforderlichen Deutschkenntnisse nachgewiesen (s. Bl. 637 der Behördenakte).

b) Zwingende Versagungsgründe gemäß § 25 b Abs. 2 AufenthG sind zu verneinen. Nummer 1 dieser Regelung erfasst lediglich Fälle, in denen der Ausländer (noch) aktuell die Aufenthaltsbeendigung u.a. durch Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch Nichterfüllung zumutbarer Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen verhindert oder verzögert (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 25 b AufenthG Rn. 31 m.w.N.). Dies ergibt sich klar aus der Verwendung der Präsensform „verhindert oder verzögert“ im Gesetzestext und entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 44 zu Absatz 2 Nr. 1: „Diese Regelung knüpft nur an aktuelle Mitwirkungsleistungen des Ausländers an, …“), auch wenn einzuräumen ist, dass die Gesetzesbegründung hier nicht ganz widerspruchsfrei ist. So heißt es kurz vorher, die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sei ausgeschlossen, wenn der Ausländer “…die Aufenthaltsbeendigung vorsätzlich verhindert oder hinausgezögert hat“ (a.a.O., zu Absatz 2) (OVG Hamburg, B.v. 19.5.2017 – 1 Bs 207/16 – juris Rn. 31).

Eine gegenwärtige Täuschungshandlung des Klägers oder eine noch andauernde Verletzung seiner Mitwirkungspflichten liegen hier nicht vor. Die Identität des Klägers ist seit der Vorlage des irakischen Personalausweises am 30. Mai 2008 geklärt. Ab Juli 2008 bemühte sich der Kläger außerdem um die Ausstellung eines Reisepasses und legte am 21. August 2014 seinen am 21. April 2014 ausgestellten irakischen Pass vor.

Auch Ausweisungsinteressen im Sinne von § 25 b Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 54 Abs. 1 und 2 Nr. 1 und 2 AufenthG sind nicht gegeben.

c) Die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG sind – soweit sie im Rahmen des § 25 b AufenthG zu prüfen sind (s. § 25 b Abs. 1 Satz 1 AufenthG) – ebenfalls erfüllt.

Insbesondere liegt kein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 54 Abs. 2 Nr. 8 und 9 AufenthG vor. Diese allgemeine Voraussetzung ist trotz der Spezialregelung in § 25 b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG anwendbar (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 25 b AufenthG Rn. 33; BT-Drs. 18/4097, S. 45 zu Absatz 2 Nr. 2). Zwar findet im Rahmen von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG keine hypothetische Prüfung, ob eine Ausweisung rechtsfehlerfrei verfügt werden könnte, statt, eine Gefährdungsprognose ist jedoch auch hier anzustellen (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 5 AufenthG Rn. 47 ff.). Das Ausweisungsinteresse muss demnach noch aktuell sein. Nicht die Verwirklichung eines Ausweisungstatbestands in der Vergangenheit, sondern lediglich der Fortbestand des Ausweisungsinteresses, also eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, soll die Erteilung hindern (OVG Hamburg, B.v. 19.5.2017 – 1 Bs 207/16 – juris Rn. 41).

Die Gefährdungsprognose fällt vorliegend zu Gunsten des Klägers aus. Zu berücksichtigen ist hier insbesondere die Dauer seines straffreien Aufenthalts im Verhältnis zur Gesamtdauer des Aufenthalts (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 5 AufenthG Rn. 50).

Die einzige nicht-aufenthaltsrechtliche Verurteilung des Klägers liegt bereits mehr als 16 Jahre zurück. Die letzte aufenthaltsrechtliche Verurteilung erfolgte ebenfalls bereits vor über 9 Jahren. Seitdem ist der Kläger nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten. Von einer noch andauernden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung kann somit nicht mehr gesprochen werden. Auch das Täuschungsverhalten des Klägers dauerte lediglich bis zum 30. Mai 2008 an. Seitdem ist seine Identität durch Vorlage richtiger Dokumente eindeutig geklärt.

Schließlich kann in den letzten circa 9 Jahren nicht mehr von einer fehlenden Mitwirkung seitens des Klägers im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. b) AufenthG ausgegangen werden. Wie sich aus den Behördenakten ergibt, wurden dem Kläger von Juli 2008 bis April 2014 zahlreiche sogenannte Verlassenserlaubnisse zur Vorsprache bei der irakischen Botschaft bzw. dem irakischen Generalkonsulat erteilt. Anhaltspunkte, dass es der Kläger selbst zu verantworten hätte, dass es trotzdem bis August 2014 gedauert hat bis er einen irakischen Reisepass vorlegen konnte, sind nicht ersichtlich. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der zeitliche Abstand (auch) dem Umstand geschuldet war, dass die irakischen Auslandsvertretungen über Jahre hinweg nicht in der Lage waren, Reisepässe auszustellen. Dies ergibt sich aus einer Stellungnahme der irakischen Botschaft auf ihrer Internetseite vom 17. Dezember 2010 (http://www.iraqiembassy-berlin.de/docs/de/konsulat8_de.php, Stand: 5. Juni 2017), wonach das irakische Innenministerium die Auslandsvertretungen angewiesen habe, bis auf weiteres keine Anträge auf Passausstellung anzunehmen (vgl. auch BayVGH, B.v. 6.8.2012 – 10 C 11.1840 – juris Rn. 17). Erst seit Anfang Februar 2012 war eine Passbeantragung wieder uneingeschränkt möglich (BayVGH, B.v. 3.11.2014 – 10 ZB 12.2688 – juris Rn. 10). Anlässlich der zahlreichen Vorsprachen des Klägers bei der Botschaft bzw. dem Generalkonsulat kann ihm ein schuldhafter Verstoß gegen seine Mitwirkungspflichten nicht zur Last gelegt werden.

d) Das Gericht folgt auch nicht der Ansicht der Beklagten, die strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers stünden einer Erteilung der Aufenthaltserlaubnis generell entgegen. Die Beklagte beruft sich in diesem Zusammenhang auf die Wertung des § 25 a Abs. 3 AufenthG. Danach ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Absatz 2 ausgeschlossen, wenn der Ausländer wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach diesem Gesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, grundsätzlich außer Betracht bleiben. Diese Regelung entspricht der Altfallregelung in § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG. Aufgrund seiner beiden Freiheitsstrafen aus dem Jahr 2005 bzw. 2008, die noch nicht aus dem Bundeszentralregister getilgt wurden, würde der Kläger unter diese zwingende Ausschlussnorm fallen. In § 25 b AufenthG findet sich jedoch gerade keine entsprechende Regelung. Die Vorschrift des § 25 b AufenthG wurde mit dem AufenthÄndG2015 (Ges. v. 27.7.2015, BGBl. I 1386) in das Aufenthaltsgesetz eingefügt. Nach der Gesetzesbegründung sollten damit unter anderem Integrationsleistungen, die nicht in den engen Anwendungsbereich des bereits zum 1.7.2011 in Kraft getretenen § 25 a AufenthG fallen, honoriert werden (BT-Drs. 18/4097, S. 23). Eine dem § 25 a Abs. 3 AufenthG entsprechende Vorschrift wurde bewusst nicht aufgenommen. Der Erteilung zwingend entgegenstehende Verurteilungen des Ausländers werden vielmehr allein über die Regelung in § 25 b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG – welche hier wie oben ausgeführt nicht einschlägig ist – erfasst.

Auch der von der Beklagten angeführte Vergleich mit § 60 a Abs. 2 Satz 6 AufenthG geht nach Ansicht der Kammer fehl. Danach wird eine Ausbildungsduldung ebenfalls nicht erteilt, wenn der Ausländer wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei auch hier Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach diesem Gesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, grundsätzlich außer Betracht bleiben. Die Argumentation der Beklagten lässt unberücksichtigt, dass sich Ausländer, die die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 b AufenthG beantragen, auf die in § 25 b Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1-5 AufenthG genannten Integrationsleistungen – insbesondere auf einen Aufenthalt im Bundesgebiet von mindestens 8 Jahren – berufen können, während eine Ausbildungsduldung nach § 60 a Abs. 2 Satz 4 AufenthG in der Regel bereits nach einem viel kürzerem Aufenthalt erteilt wird. Es fehlt somit an der Vergleichbarkeit der beiden Regelungen. Wer nach einem kurzen Aufenthalt bereits straffällig wird, muss sich somit den Ausschlussgrund in Satz 6 entgegenhalten lassen, während im Fall des § 25 b AufenthG etwaige strafrechtliche Verurteilungen, die die Schwelle des § 25 b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG nicht überschreiten, unberücksichtigt bleiben können, sofern die restlichen Voraussetzungen einer nachhaltigen Integration vorliegen.

e) Nach der Systematik des § 25 b Abs. 1 Satz 1 besteht in der Regel ein Anspruch auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis. Diese „soll“ erteilt werden, wenn – wie beim Kläger der Fall – von einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 25 b Abs. 1 Satz 2 Nummern 1 bis 5 auszugehen ist. Nur wenn ein atypischer Fall vorliegt, kann trotz Vorliegens der Voraussetzungen ausnahmsweise von der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abgesehen werden (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 25 b AufenthG Rn. 4; BT-Drs. 18/4097 S. 42).

Es müssen somit besondere Umstände vorliegen, um die Erteilung trotz vorliegender nachhaltiger Integration ausnahmsweise zu versagen (vgl. zur Bedeutung einer Soll-Regelung: BVerwG, U.v. 17.12.2015 – 1 C 31.14 – juris Rn. 21 f.). Die Frage, ob ein atypischer Ausnahmefall vorliegt, bei dem der Verwaltung ein Rechtsfolgenermessen eröffnet ist, unterliegt nach ständiger Rechtsprechung in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung und ist in diesem Sinne im ersten Schritt eine rechtlich gebundene Entscheidung (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 21).

Solche besonderen Umstände liegen im Fall des Klägers nach Ansicht der Kammer – auch unter Berücksichtigung seines Verhaltens in den ersten acht Jahren nach seiner Einreise in die Bundesrepublik – nicht vor.

(1) Zurückliegende Täuschungen und Straftaten stehen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (nur) dann entgegen, wenn die Täuschungshandlung aufgrund ihrer Art oder Dauer so bedeutsam ist, dass sie das Gewicht der nach Satz 2 Nummern 1 bis 5 relevanten Integrationsleistungen für die Annahme der nach Satz 1 für die Erteilung erforderlichen nachhaltigen Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse beseitigt (OVG NRW, B.v. 21.7.2015 – 18 B 486/14 – juris Rn. 15). Außerdem können zu Beginn des Verfahrens begangene Täuschungshandlungen zur Identität – insbesondere bei „tätiger Reue“ – unberücksichtigt bleiben, sofern diese nicht allein kausal für die lange Aufenthaltsdauer waren (BT-Drs. 18/4097, S. 44).

Ausgehend von diesen Maßstäben ist dem Kläger nach Ansicht der Kammer die begehrte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

Dabei lässt das Gericht nicht unberücksichtigt, dass der Kläger erst im Jahr 2008 – und somit acht Jahre nach seiner Einreise in die Bundesrepublik – seine richtigen Personalien durch Vorlage eines irakischen Personalausweises offenbart hat. Zuvor hat er ein Asylverfahren unter falschen Personalien – jedoch ebenfalls als irakischer Staatsangehöriger – durchgeführt und im Jahr 2003 nochmals andere (wiederum falsche) Personalien angegeben. Ebenfalls wird bedacht, dass sich im Bundeszentralregister für den Kläger fünf Eintragungen finden: eine Verurteilung zu 5 Tagessätzen wegen Diebstahls aus dem Jahr 2000 sowie vier aufenthaltsrechtliche Verurteilungen aus den Jahren 2001, 2003, 2005 und 2008. In den beiden letztgenannten Urteilen wurde der Kläger vom AG ... zu einer Freiheitsstrafe von 4 bzw. 6 Monaten, deren Vollstreckung jeweils zur Bewährung ausgesetzt wurde, wegen unerlaubten Aufenthalts bzw. Aufenthalts ohne Pass verurteilt.

Diese Verurteilungen führen jedoch nach Auffassung des Gerichts nicht zu einer Entkräftung der Integrationsleistungen im Sinne von § 25 b Abs. 1 AufenthG. Bei der Gewichtung der Integrationsleistungen des Klägers ist zu berücksichtigen, dass dieser die von § 25 b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG geforderte Mindestaufenthaltsdauer um mehr als das Doppelte erfüllt. Außerdem ging er in den letzten 9 Jahren fast durchgängig einer geregelten Erwerbstätigkeit nach. Gerade die wirtschaftliche Integration des Klägers ist somit sehr stark zu werten. Dagegen liegt die einzige nicht-aufenthaltsrechtliche Verurteilung mittlerweile über 16 Jahre zurück. Unabhängig davon handelte es sich hierbei um einen Diebstahl am untersten Rand der Strafbarkeitsschwelle, was an der geringen Strafe von 5 Tagessätzen unschwer zu erkennen ist. Die sonstigen Verurteilungen des Klägers sind alle aufenthaltsrechtlicher Natur. Die beiden oben angeführten Verurteilungen aus den Jahren 2005 und 2008 waren der Passlosigkeit des Klägers geschuldet. Auch hier liegt die letzte Verurteilung nunmehr bereits über 9 Jahre zurück. Seit November 2007 ist der Kläger nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten.

Um hier von einem atypischen Fall, der die Versagung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertigen würde, ausgehen zu können, müssten nach Auffassung der Kammer entweder Straftaten von einigem Gewicht vorliegen oder zumindest aber die letzte Verurteilung noch nicht allzu lange her sein. Beides ist beim Kläger nicht der Fall.

(2) Auch eine Verletzung seiner Mitwirkungspflichten kann dem Kläger seit 2008 nicht mehr in einem solchen Umfang vorgeworfen werden, der das Gewicht der genannten Integrationsleistungen entkräften könnte. Diesbezüglich wird auf die Ausführungen unter Randnummer 32 verwiesen.

Insgesamt ist somit nicht von einem Ausnahmefall auszugehen, sondern die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die beantragte Aufenthaltserlaubnis aufgrund nachhaltiger Integration zu erteilen.

3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Beklagte hat als unterlegener Teil die Kosten des Verfahrens zu tragen.

4. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

5. Die Berufung war zuzulassen, da der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukommt (§ 124 Abs. 2 Nr. 3, § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Eine grundsätzliche Bedeutung in diesem Sinne weist eine Rechtsstreitigkeit dann auf, wenn sie eine rechtliche oder tatsächliche Frage aufwirft, die für die Berufungsinstanz entscheidungserheblich ist, über den zu entscheidenden Einzelfall hinausgeht und im Sinne der Rechtseinheit einer Klärung bedarf (vgl. Kopp/ Schenke, VwGO, 22. Auflage 2016, § 124 Rn. 10).

Vorliegend besteht angesichts der relativ neuen Regelung des § 25 b AufenthG und der vermehrt auftretenden Einzelfälle ein Bedürfnis, höchstrichterlich zu klären, ob ein lange zurückliegendes Fehlverhalten des Betroffenen, insbesondere strafrechtliche Verurteilungen im Sinne von § 25 a Abs. 3 AufenthG, zwingend zu einem Ausnahmefall führen, nach dem die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis trotz Vorliegens der sonstigen Voraussetzungen zu versagen ist.

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(2) Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt schwer, wenn der Ausländer

1.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden ist,
2.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist,
3.
als Täter oder Teilnehmer den Tatbestand des § 29 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Betäubungsmittelgesetzes verwirklicht oder dies versucht,
4.
Heroin, Kokain oder ein vergleichbar gefährliches Betäubungsmittel verbraucht und nicht zu einer erforderlichen seiner Rehabilitation dienenden Behandlung bereit ist oder sich ihr entzieht,
5.
eine andere Person in verwerflicher Weise, insbesondere unter Anwendung oder Androhung von Gewalt, davon abhält, am wirtschaftlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Leben in der Bundesrepublik Deutschland teilzuhaben,
6.
eine andere Person zur Eingehung der Ehe nötigt oder dies versucht oder wiederholt eine Handlung entgegen § 11 Absatz 2 Satz 1 und 2 des Personenstandsgesetzes vornimmt, die einen schwerwiegenden Verstoß gegen diese Vorschrift darstellt; ein schwerwiegender Verstoß liegt vor, wenn eine Person, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, beteiligt ist,
7.
in einer Befragung, die der Klärung von Bedenken gegen die Einreise oder den weiteren Aufenthalt dient, der deutschen Auslandsvertretung oder der Ausländerbehörde gegenüber frühere Aufenthalte in Deutschland oder anderen Staaten verheimlicht oder in wesentlichen Punkten vorsätzlich keine, falsche oder unvollständige Angaben über Verbindungen zu Personen oder Organisationen macht, die der Unterstützung des Terrorismus oder der Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland verdächtig sind; die Ausweisung auf dieser Grundlage ist nur zulässig, wenn der Ausländer vor der Befragung ausdrücklich auf den sicherheitsrechtlichen Zweck der Befragung und die Rechtsfolgen verweigerter, falscher oder unvollständiger Angaben hingewiesen wurde,
8.
in einem Verwaltungsverfahren, das von Behörden eines Schengen-Staates durchgeführt wurde, im In- oder Ausland
a)
falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines deutschen Aufenthaltstitels, eines Schengen-Visums, eines Flughafentransitvisums, eines Passersatzes, der Zulassung einer Ausnahme von der Passpflicht oder der Aussetzung der Abschiebung gemacht hat oder
b)
trotz bestehender Rechtspflicht nicht an Maßnahmen der für die Durchführung dieses Gesetzes oder des Schengener Durchführungsübereinkommens zuständigen Behörden mitgewirkt hat, soweit der Ausländer zuvor auf die Rechtsfolgen solcher Handlungen hingewiesen wurde oder
9.
einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb des Bundesgebiets eine Handlung begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche schwere Straftat anzusehen ist.

(1) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt in der Regel voraus, dass

1.
der Lebensunterhalt gesichert ist,
1a.
die Identität und, falls er nicht zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt ist, die Staatsangehörigkeit des Ausländers geklärt ist,
2.
kein Ausweisungsinteresse besteht,
3.
soweit kein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht, der Aufenthalt des Ausländers nicht aus einem sonstigen Grund Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder gefährdet und
4.
die Passpflicht nach § 3 erfüllt wird.

(2) Des Weiteren setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, einer Blauen Karte EU, einer ICT-Karte, einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU voraus, dass der Ausländer

1.
mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und
2.
die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat.
Hiervon kann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Satz 2 gilt nicht für die Erteilung einer ICT-Karte.

(3) In den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 24 oder § 25 Absatz 1 bis 3 ist von der Anwendung der Absätze 1 und 2, in den Fällen des § 25 Absatz 4a und 4b von der Anwendung des Absatzes 1 Nr. 1 bis 2 und 4 sowie des Absatzes 2 abzusehen. In den übrigen Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 kann von der Anwendung der Absätze 1 und 2 abgesehen werden. Wird von der Anwendung des Absatzes 1 Nr. 2 abgesehen, kann die Ausländerbehörde darauf hinweisen, dass eine Ausweisung wegen einzeln zu bezeichnender Ausweisungsinteressen, die Gegenstand eines noch nicht abgeschlossenen Straf- oder anderen Verfahrens sind, möglich ist. In den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 26 Absatz 3 ist von der Anwendung des Absatzes 2 abzusehen.

(4) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels ist zu versagen, wenn ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Absatz 1 Nummer 2 oder 4 besteht oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58a erlassen wurde.

(1) Ausländer ist jeder, der nicht Deutscher im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ist.

(2) Erwerbstätigkeit ist die selbständige Tätigkeit, die Beschäftigung im Sinne von § 7 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und die Tätigkeit als Beamter.

(3) Der Lebensunterhalt eines Ausländers ist gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Nicht als Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gilt der Bezug von:

1.
Kindergeld,
2.
Kinderzuschlag,
3.
Erziehungsgeld,
4.
Elterngeld,
5.
Leistungen der Ausbildungsförderung nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch, dem Bundesausbildungsförderungsgesetz und dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz,
6.
öffentlichen Mitteln, die auf Beitragsleistungen beruhen oder die gewährt werden, um den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen und
7.
Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz.
Ist der Ausländer in einer gesetzlichen Krankenversicherung krankenversichert, hat er ausreichenden Krankenversicherungsschutz. Bei der Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug werden Beiträge der Familienangehörigen zum Haushaltseinkommen berücksichtigt. Der Lebensunterhalt gilt für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 16a bis 16c, 16e sowie 16f mit Ausnahme der Teilnehmer an Sprachkursen, die nicht der Studienvorbereitung dienen, als gesichert, wenn der Ausländer über monatliche Mittel in Höhe des monatlichen Bedarfs, der nach den §§ 13 und 13a Abs. 1 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes bestimmt wird, verfügt. Der Lebensunterhalt gilt für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 16d, 16f Absatz 1 für Teilnehmer an Sprachkursen, die nicht der Studienvorbereitung dienen, sowie § 17 als gesichert, wenn Mittel entsprechend Satz 5 zuzüglich eines Aufschlages um 10 Prozent zur Verfügung stehen. Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat gibt die Mindestbeträge nach Satz 5 für jedes Kalenderjahr jeweils bis zum 31. August des Vorjahres im Bundesanzeiger bekannt.

(4) Als ausreichender Wohnraum wird nicht mehr gefordert, als für die Unterbringung eines Wohnungssuchenden in einer öffentlich geförderten Sozialmietwohnung genügt. Der Wohnraum ist nicht ausreichend, wenn er den auch für Deutsche geltenden Rechtsvorschriften hinsichtlich Beschaffenheit und Belegung nicht genügt. Kinder bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres werden bei der Berechnung des für die Familienunterbringung ausreichenden Wohnraumes nicht mitgezählt.

(5) Schengen-Staaten sind die Staaten, in denen folgende Rechtsakte in vollem Umfang Anwendung finden:

1.
Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. L 239 vom 22.9.2000, S. 19),
2.
die Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 77 vom 23.3.2016, S. 1) und
3.
die Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl. L 243 vom 15.9.2009, S. 1).

(6) Vorübergehender Schutz im Sinne dieses Gesetzes ist die Aufenthaltsgewährung in Anwendung der Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 212 S. 12).

(7) Langfristig Aufenthaltsberechtigter ist ein Ausländer, dem in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union die Rechtsstellung nach Artikel 2 Buchstabe b der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. EU 2004 Nr. L 16 S. 44), die zuletzt durch die Richtlinie 2011/51/EU (ABl. L 132 vom 19.5.2011, S. 1) geändert worden ist, verliehen und nicht entzogen wurde.

(8) Langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU ist der einem langfristig Aufenthaltsberechtigten durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgestellte Aufenthaltstitel nach Artikel 8 der Richtlinie 2003/109/EG.

(9) Einfache deutsche Sprachkenntnisse entsprechen dem Niveau A 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates an die Mitgliedstaaten Nr. R (98) 6 vom 17. März 1998 zum Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen – GER).

(10) Hinreichende deutsche Sprachkenntnisse entsprechen dem Niveau A 2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen.

(11) Ausreichende deutsche Sprachkenntnisse entsprechen dem Niveau B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen.

(11a) Gute deutsche Sprachkenntnisse entsprechen dem Niveau B2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen.

(12) Die deutsche Sprache beherrscht ein Ausländer, wenn seine Sprachkenntnisse dem Niveau C 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen entsprechen.

(12a) Eine qualifizierte Berufsausbildung im Sinne dieses Gesetzes liegt vor, wenn es sich um eine Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf handelt, für den nach bundes- oder landesrechtlichen Vorschriften eine Ausbildungsdauer von mindestens zwei Jahren festgelegt ist.

(12b) Eine qualifizierte Beschäftigung im Sinne dieses Gesetzes liegt vor, wenn zu ihrer Ausübung Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten erforderlich sind, die in einem Studium oder einer qualifizierten Berufsausbildung erworben werden.

(12c) Bildungseinrichtungen im Sinne dieses Gesetzes sind

1.
Ausbildungsbetriebe bei einer betrieblichen Berufsaus- oder Weiterbildung,
2.
Schulen, Hochschulen sowie Einrichtungen der Berufsbildung oder der sonstigen Aus- und Weiterbildung.

(13) International Schutzberechtigter ist ein Ausländer, der internationalen Schutz genießt im Sinne der

1.
Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304 vom 30.9.2004, S. 12) oder
2.
Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9).

(14) Soweit Artikel 28 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31), der die Inhaftnahme zum Zwecke der Überstellung betrifft, maßgeblich ist, gelten § 62 Absatz 3a für die widerlegliche Vermutung einer Fluchtgefahr im Sinne von Artikel 2 Buchstabe n der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 und § 62 Absatz 3b Nummer 1 bis 5 als objektive Anhaltspunkte für die Annahme einer Fluchtgefahr im Sinne von Artikel 2 Buchstabe n der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 entsprechend; im Anwendungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 bleibt Artikel 28 Absatz 2 im Übrigen maßgeblich. Ferner kann ein Anhaltspunkt für Fluchtgefahr vorliegen, wenn

1.
der Ausländer einen Mitgliedstaat vor Abschluss eines dort laufenden Verfahrens zur Zuständigkeitsbestimmung oder zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz verlassen hat und die Umstände der Feststellung im Bundesgebiet konkret darauf hindeuten, dass er den zuständigen Mitgliedstaat in absehbarer Zeit nicht aufsuchen will,
2.
der Ausländer zuvor mehrfach einen Asylantrag in anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 gestellt und den jeweiligen anderen Mitgliedstaat der Asylantragstellung wieder verlassen hat, ohne den Ausgang des dort laufenden Verfahrens zur Zuständigkeitsbestimmung oder zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz abzuwarten.
Die für den Antrag auf Inhaftnahme zum Zwecke der Überstellung zuständige Behörde kann einen Ausländer ohne vorherige richterliche Anordnung festhalten und vorläufig in Gewahrsam nehmen, wenn
a)
der dringende Verdacht für das Vorliegen der Voraussetzungen nach Satz 1 oder 2 besteht,
b)
die richterliche Entscheidung über die Anordnung der Überstellungshaft nicht vorher eingeholt werden kann und
c)
der begründete Verdacht vorliegt, dass sich der Ausländer der Anordnung der Überstellungshaft entziehen will.
Der Ausländer ist unverzüglich dem Richter zur Entscheidung über die Anordnung der Überstellungshaft vorzuführen. Auf das Verfahren auf Anordnung von Haft zur Überstellung nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 finden die Vorschriften des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit entsprechend Anwendung, soweit das Verfahren in der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 nicht abweichend geregelt ist.

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 3. November 2016 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller, ein aserbaidschanischer Staatsangehöriger, begehrt vorläufigen Rechtsschutz im Zusammenhang mit der Ablehnung eines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG. Vorliegend wendet sich die Antragsgegnerin gegen die vom Verwaltungsgericht erlassene einstweilige Anordnung, von einer Abschiebung des Antragstellers bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist eines die Hauptsache betreffenden erstinstanzlichen Urteils abzusehen.

2

Der Antragsteller kam im Alter von 14 Jahren zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern (wohl) im September 2004 in die Bundesrepublik Deutschland. Die Familie gab dabei den Namen … an und behauptete, keine Pässe zu besitzen. Die Antragsgegnerin forderte die Familie bestandskräftig zur Ausreise auf und drohte die Abschiebung an. Ab 18. November 2004 erhielt der Antragsteller fast ununterbrochen Duldungen. Nachdem er volljährig geworden war, forderte die Antragsgegnerin ihn wiederholt vergeblich auf, sich Identitätspapiere zu beschaffen und diese vorzulegen. Anfang Dezember 2013 gab die Mutter des Antragstellers – der Vater hatte sich zuvor von der Familie getrennt – bei einer Vorsprache bei der Ausländerbehörde zu, dass die bisher von der Familie verwendeten Personalien falsch seien; richtige Papiere sollten besorgt und vorgelegt werden. Ende März 2014 legte der Antragsteller einen bereits am 18. März 2004 ausgestellten aserbaidschanischen Personalausweis mit den jetzigen Personalien vor, im November 2014 ferner einen gültigen aserbaidschanischen Pass.

3

Nachdem dem Antragsteller erstmals im Mai 2015 die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt worden war, begann er Mitte Juli 2015 mit einer Beschäftigung bei einem Personalservice-Unternehmen.

4

Bereits am 12. Dezember 2014 hatte der Antragsteller die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen beantragt und in der Folge wiederholt daran erinnert. Die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK und des (künftigen) § 25b AufenthG dürften erfüllt sein. Mit Bescheid vom 17. Juni 2016 lehnte das Einwohner-Zentralamt der Antragsgegnerin den Antrag ab. Der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG sei abzulehnen. Aufgrund der langen zielgerichteten Verschleierung der Identität sei zwar die zeitliche Voraussetzung eines mindestens achtjährigen geduldeten Aufenthalts erreicht. Eine nachhaltige Integration liege aber nicht vor. Das erst seit Mitte Juli 2015 bestehende Beschäftigungsverhältnis reiche, auch wenn der Antragsteller hieraus aktuell seinen finanziellen Grundbedarf fast decke, nicht aus, eine positive Prognose abzugeben; hiergegen spreche auch, dass der Antragsteller keinen Schulabschluss habe und über keine Berufsausbildung verfüge. Auch die Voraussetzungen von § 25 Abs. 5 AufenthG lägen nicht vor. Den Widerspruch des Antragstellers wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 21. September 2016, dem Bevollmächtigten des Antragstellers am 26. September 2016 zugestellt, zurück. Die langjährigen Täuschungshandlungen des Antragstellers hätten ein solches Gewicht, dass ein Ausnahmefall von der Regelannahme der nachhaltigen Integration gegeben sei. Am 15. November 2016 übersandte der Antragsteller-Bevollmächtige die Klageschrift vom 14. Oktober 2016 per Telefax an das Verwaltungsgericht und beantragte zugleich mit gesondertem Schriftsatz die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

5

Bereits am 7. Oktober 2016 hatte der Antragsteller, den die Antragsgegnerin am Tag zuvor hatte abschieben wollen, beantragt, die Antragsgegnerin mittels einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen. Diesem Antrag gab das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 3. November 2016 insoweit statt, als es die Antragsgegnerin verpflichtete, bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist eines die Hauptsache betreffenden erstinstanzlichen Urteils von einer Abschiebung des Antragstellers abzusehen.

6

Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht aus: Der Antragsteller erfülle die in § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG aufgeführten Regelvoraussetzungen für die Annahme einer nachhaltigen Integration. Das Gericht könne nicht mit der erforderlichen Sicherheit einen Ausnahmefall feststellen, in dem trotz Erfüllung der genannten Voraussetzungen eine nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland zu verneinen sei. Die zurückliegende langjährige Täuschung des Antragstellers über seine Identität, die keinen Versagungsgrund nach § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG erfülle, begründe keinen atypischen Ausnahmefall. Da sich der Gesetzgeber bewusst gewesen sein, dass viele geduldete Ausländer ihren Duldungsstatus maßgeblich durch Identitätstäuschung erlangt hätten, erscheine es fraglich, ob zurückliegende Täuschungshandlungen überhaupt einen ungeschriebenen Ausnahmefall begründen könnten. Allerdings solle nach der Gesetzesbegründung nicht jedes in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten amnestiert werden. Somit könne ein ungeschriebener Ausnahmefall aufgrund zurückliegender Täuschungshandlungen allenfalls dann angenommen werden, wenn den Täuschungshandlungen in einem atypischen Fall eine besondere Verwerflichkeit beizumessen sei. Dies sei im Fall des Antragstellers nicht gegeben. Weder sei die fast zehnjährige Dauer der Identitätstäuschung im Anwendungsbereich des § 25b AufenthG untypisch noch sei das Verhalten des Antragstellers, der in das Täuschungsverhalten gleichsam hineingewachsen sei, in besonderem Maße verwerflich. Ebenso dürfte der Umstand, dass der Antragsteller auch aufgrund vieler unentschuldigter Fehlzeiten keinen Schulabschluss erreicht habe, noch keinen atypischen Ausnahmefall begründen; § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG zeige nämlich, dass dann, wenn der Lebensunterhalt tatsächlich überwiegend gesichert werde, eine Prognose der Erwerbsmöglichkeiten anhand der Schul- und Ausbildungssituation nicht angestellt werden müsse. Dem Antragsteller sei auch kein (schwerwiegendes) Ausweisungsinteresse (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) entgegenzuhalten. Das frühere Fehlverhalten gefährde aktuell die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland nicht; es sei nicht zu erwarten, dass der Antragsteller künftig gleichartige Rechtsverstöße wieder begehen werde. Im übrigen wäre es ein Wertungswiderspruch, wenn vergangene Identitätstäuschungen bei Prüfung der nachhaltigen Integration im Sinn von § 25b Abs. 1 AufenthG grundsätzlich keinen atypischen Ausnahmefall begründen könnten, im Rahmen der Prüfung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen aber zur Annahme eines Ausweisungsinteresses und damit zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis führten.

7

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin. Sie ist der Ansicht, dass dann, wenn jemand über Jahre über seine Identität getäuscht habe, nicht von einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland ausgegangen werden könne. In einem solchen Fall sei von einem gegen eine Integration sprechenden Ausnahmefall auszugehen. In Übereinstimmung mit Entscheidungen verschiedener Oberverwaltungsgerichte sei sie der Auffassung, dass die langjährige Identitätstäuschung des Antragstellers nach Art und Dauer so bedeutsam sei, dass sie das Gewicht der in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG aufgeführten Integrationsleistungen beseitige. Auch sei vorliegend ein Ausweisungsinteresse zu bejahen; der vom Verwaltungsgericht angenommene Wertungswiderspruch bestehe nicht. Immer dann, wenn ein Ausweisungsinteresse bestehe, müsse auch davon ausgegangen werden, dass sich der Ausländer nicht nachhaltig in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert habe. Schließlich sei zu befürchten, dass die Beschäftigungsverhältnisse des Antragstellers aufgrund seiner fehlenden Schul- und Berufsausbildung künftig immer prekär sein würden, auch wenn er gegenwärtig seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichere.

II.

8

Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene und begründete Beschwerde der Antragsgegnerin hat im Ergebnis keinen Erfolg. Zwar hat die Antragsgegnerin mit ihrer Beschwerdebegründung tragende Teile der Begründung des angefochtenen Beschlusses in ausreichender Weise in Zweifel gezogen. Hierdurch ist das Beschwerdegericht berechtigt, ohne die Begrenzung des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO eigenständig über den Anordnungsantrag des Antragstellers zu entscheiden. Indes ergibt diese Prüfung, dass das Verwaltungsgericht zu Recht eine einstweilige Anordnung zugunsten des Antragstellers erlassen hat.

9

1. Das Beschwerdegericht geht für das einstweilige Rechtsschutzverfahren davon aus, dass der Ablehnungsbescheid des Einwohner-Zentralamts vom 17. Juni 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. September 2016 noch nicht bestandskräftig ist.

10

a) Der Widerspruchsbescheid vom 21. September 2016 wurde dem Antragsteller-Bevollmächtigten am 26. September 2016 per Empfangsbekenntnis zugestellt (S. 455 der Ausländerakte). Die Klagefrist endete am 26. Oktober 2016, ohne dass bis dahin eine Klage beim Verwaltungsgericht eingegangen war. Damit wurde der Ablehnungsbescheid zunächst bestandskräftig; unter diesen Umständen hätte das Verwaltungsgericht am 3. November 2016 dem Eilantrag des Antragstellers nicht stattgeben dürfen; die dennoch erlassene einstweilige Anordnung ging zunächst ins Leere.

11

b) Indes bewirkt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, dass die eingetretene Bestandskraft des Ablehnungsbescheides nachträglich wieder entfällt (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2015, § 60 Rn. 1). Solches dürfte hier in Betracht kommen. Die auf den 14. Oktober 2016 datierte Klageschrift wurde per Telefax am 15. November 2016 an das Verwaltungsgericht übersandt (Verfahren 17 K 6798/16). Ebenfalls am 15. November 2016 ging beim Verwaltungsgericht ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein. Über diesen muss originär zwar das Verwaltungsgericht im Hauptsacheverfahren entscheiden (§ 60 Abs. 4 VwGO), doch ist im Rahmen der Beschwerdeentscheidung eine Prognose über den voraussichtlichen Erfolg dieses Antrags zu stellen.

12

aa) Die Ausführungen im Wiedereinsetzungsantrag dürften wohl ausreichend sein, um Wiedereinsetzung wegen unverschuldeter Fristversäumnis zu gewähren. Nach den Kanzleiunterlagen sei die Klage am 14. Oktober 2016 gefertigt und dem Bevollmächtigten zur Unterschrift vorgelegt worden. Dieser habe die unterschriebene und mit weiteren Schriftstücken versehene Klage an die Kanzleiangestellte zurückgegeben, die sie zur Gerichtspost gelegt habe. Frau Rechtsanwältin H. aus der Bürogemeinschaft des Bevollmächtigten habe am Dienstag, den 18. Oktober 2016 den Postausgangskorb geleert und die Post in der Poststelle des Amtsgerichts Hamburg (die auch zur Entgegennahme von an das Verwaltungsgericht gerichteter Post zuständig ist) abgegeben. Am Tag des Fristablaufs sei die Erledigung mit positivem Ergebnis überprüft worden.

13

Kritisch mag sein, dass die Kanzleimitarbeiterin in ihrer eidesstattlichen Versicherung lediglich "davon ausgeht", dass sie die gefertigte und vom Anwalt unterzeichnete Klageschrift in den Ausgangskorb für Gerichtspost gelegt habe, da sie dort hinein "gehört hätte", und dass keine Erklärung der Rechtsanwältin H. ... über das Leeren des Gerichtspostausgangskorbes und das Abgeben der Gerichtspost bei der Gemeinsamen Annahmestelle des Amtsgerichts Hamburg am 18. Oktober 2016 vorliegt. Ein lückenloser Nachweis von Routinevorgängen für jeden Einzelfall wird aber nicht verlangt werden können. Bei der Aktenkontrolle am Tag des Fristablaufs (26. Oktober 2016) zeigte sich, dass sich in der Handakte – wie das bei ordnungsgemäßer Erledigung einer solchen Fristsache üblicherweise der Fall ist – eine Klageschriftkopie mit der Bemerkung befand, der Mandant habe eine Abschrift der Klageschrift erhalten. Der Umstand, dass noch keine Eingangsbestätigung des Verwaltungsgerichts vorlag, musste – abgesehen davon, dass zwischen der angenommenen Mitnahme der Post durch Frau Rechtsanwältin H. ... und dem Ende der Klagefrist nur acht Tage lagen – hier nicht zwingend eine Nachfrage beim Verwaltungsgericht veranlassen, da die Klage mit gut ausreichendem Zeitvorlauf abgesandt worden war bzw. worden sein soll. Eine Nachfrage beim Verwaltungsgericht oder gar eine vorsichtshalber noch vorgenommene Übersendung der Klageschrift per Fax wäre allenfalls dann veranlasst gewesen, wenn zweifelhaft gewesen wäre, ob die gewählte Übersendungsart ausgereicht hätte, die Frist zu wahren (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 29.12.1994, 2 BvR 106/93, NJW 1995, 1210, juris Rn. 19).

14

bb) Der Wiedereinsetzungsantrag dürfte auch rechtzeitig – innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses (§ 60 Abs. 2 Satz 1, 1. Alt. VwGO) – gestellt worden sein. Der Bevollmächtigte hat im Wiedereinsetzungsantrag angegeben, er habe die Säumnis "im Rahmen der Prozessvorbereitung am Montag, 14.10.2016 bemerkt", weil die Eingangsbestätigung des Verwaltungsgerichts noch nicht vorgelegen habe; eine telefonische Nachfrage seitens seiner Kanzleiangestellten beim Verwaltungsgericht "am 15.10.2016" habe ergeben, dass eine Klage dort nicht vorliege. Soweit sich die Datumsangaben auf den Monat Oktober zu beziehen scheinen, handelt es sich erkennbar um ein Versehen. Der 14. Oktober 2016 war – anders als der 14. November – kein Montag, sondern ein Freitag. Wenn die Klageschrift vom 14. Oktober 2016 datiert, konnte an diesem Tag noch keine Eingangsbestätigung des Verwaltungsgerichts vorliegen. Auch der Umstand, dass die Klageschrift vom 14. Oktober 2016 am 15. November 2016 ans Gericht gefaxt wurde, spricht dafür, dass die Säumnis erst am 14. November 2016 bemerkt worden war. Von einem Versehen hinsichtlich der Datumsabgabe geht auch der Bevollmächtigte des Antragstellers aus. Mit der Formulierung "im Rahmen der Prozessvorbereitung" meinte er, wie er auf Nachfrage mitgeteilt und belegt hat, die Vorbereitung auf eine strafrechtliche Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Hamburg.

15

Es kann dahinstehen, ob dem Bevollmächtigten bereits bei sorgfältiger Lektüre des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses vom 3. November 2016 hätte auffallen müssen, dass bis zu diesem Zeitpunkt beim Verwaltungsgericht noch keine Klage eingegangen war, da die Ausführungen auf Seite 3 des Beschlusses nur für diesen Fall Sinn machten. Aber auch dann, wenn auf den Empfang dieses Beschlusses (laut Empfangsbekenntnis am 10. November 2016) abgestellt würde, wäre mit dem Wiedereinsetzungsantrag vom 15. November 2016 die Zwei-Wochen-Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 und 3 VwGO gewahrt.

16

2. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht zugunsten des Antragstellers eine einstweilige Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO des Inhalts erlassen, dass der Antragsteller vorläufig nicht abgeschoben werden darf.

17

Ein Anordnungsgrund liegt offenkundig vor: Die Antragsgegnerin hatte Vorbereitungen getroffen, den Antragsteller am 6. Oktober 2016 abzuschieben; das Vorhaben scheiterte allein daran, dass der Antragsteller am Morgen dieses Tages nicht in seiner Wohnung angetroffen worden war. Die Mutter des Antragstellers war bereits am 19. Juli 2016 nach Aserbaidschan abgeschoben worden.

18

Der Antragsteller kann sich auch auf einen Anordnungsanspruch berufen. Es kommt zumindest ernsthaft in Betracht, dass die Antragsgegnerin über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG erneut zu entscheiden haben wird. Angesichts dessen überwiegt das Interesse des Antragstellers, vorläufig von Abschiebemaßnahmen verschont zu bleiben. Ein Verfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG dürfte kaum erfolgreich aus dem Ausland betrieben werden können, da es dann schon an der gesetzlichen Voraussetzung des "geduldeten Ausländers" fehlen würde.

19

a) Das Beschwerdegericht hat Bedenken, dem Verwaltungsgericht in seiner Ansicht zu folgen, der Antragsteller erfülle "unstreitig die regelmäßigen Voraussetzungen für eine nachhaltige Integration nach § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG". So ist den Sachakten und Gerichtsakten nicht zu entnehmen, ob der Antragsteller sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt und über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet sowie über hinreichende mündliche Deutschkenntnisse verfügt (§ 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 4 AufenthG). Dass dem Antragsteller solche Kenntnisse in der Schule vermittelt worden sind, ist fraglich. Die im Jahr 2016 ausgestellte Bescheinigung über den Besuch der Klasse ABC der Schule ... vom 29. Oktober 2004 bis 31. Juli 2005 – kurz nach der Einreise der Familie – enthält keine Angaben über die Intensität des Schulbesuchs und ggf. erzielte Leistungen. Die Zeugnisse der Berufsvorbereitungsschule (Vorbereitungsjahr für Migranten) weisen für den Zeitraum von 6. Februar 2006 bis zum 31. Januar 2008 hohe Fehlzeiten und überwiegend "mangelhafte" Leistungen (soweit überhaupt bewertbar) aus. – Allerdings hat die Antragsgegnerin diese Fragen bisher nicht thematisiert, so dass dem Antragsteller nicht vorzuhalten ist, er habe das Vorliegen der genannten Voraussetzungen im vorliegenden Verfahren nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsteller wird die Erfüllung dieser Voraussetzungen allerdings im Hauptsacheverfahren noch nachweisen müssen.

20

b) Die übrigen Integrationsanforderungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 4 AufenthG (die Nr. 5 ist hier nicht einschlägig) sind erfüllt.

21

aa) Der Antragsteller hält sich seit September 2004 ununterbrochen in Deutschland auf. Sein Aufenthalt ist jedenfalls seit 18. November 2004 auch formell geduldet. Geringfügige Unterbrechungen bei den Duldungszeiträumen beruhten darauf, dass sich der Antragsteller in Untersuchungshaft (März 2010) bzw. in stationärer Krankenhausbehandlung (Ende 2014/Anfang 2015) befand. Die Voraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG ist somit erfüllt.

22

bb) Der Antragsteller dürfte seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichern (§ 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG).

23

Der Antragsteller erhielt erstmals am 11. Mai 2015 eine Duldung, in der ihm die Beschäftigung erlaubt wurde. Bei der Antragsgegnerin legte er in der Folge Verdienstabrechnungen über eine Tätigkeit bei der P. Service Zeitarbeit UG in Hamburg von Juli 2015 bis Februar 2016 vor. Mit dem aus diesem Arbeitsverhältnis erzielten Lohn vermochte der Antragsteller laut Berechnung der Antragsgegnerin (angenommener Grundbedarf: 715,24 Euro, siehe Ausländerakte S. 366) seinen Lebensunterhalt fast vollständig zu sichern; die Unterdeckung lag unter 10 Euro.

24

Da der Antragsteller in seinem Eilantrag vom 7. Oktober 2016 lediglich ausgeführt hatte, er gehe auch weiterhin einer Beschäftigung nach, forderte das Beschwerdegericht Nachweise hierüber an. Aus den im März und Mai 2017 vorgelegten Lohnabrechnungen ergibt sich, dass der Antragsteller bei der P… Service Zeitarbeit UG von Juli 2015 bis Ende Mai 2016 beschäftigt war, anschließend vom 27. Juni bis 27. Juli 2016 bei der T. … Personaldienstleistung GmbH. Vom 15. August bis 20. Oktober 2016 und wieder ab 1. Dezember 2016 bis zumindest Februar 2017 (Bescheinigung im März 2017 übersandt) war bzw. ist der Antragsteller bei der H. … Personal Service GmbH beschäftigt.

25

Aus den Lohnabrechnungen ergibt sich für die Zeit von Januar bis Mai 2016 ein Bruttolohn von insgesamt 7.008,01 Euro (netto: 5.244,36 Euro), für Juni/Juli 2016 (nur zeitweilig beschäftigt) von insgesamt 1.186,65 Euro brutto (netto: 934,15 Euro) und für die Monate August bis Oktober 2016 (im August und Oktober nur teilweise beschäftigt) insgesamt 3.428,29 Euro brutto (netto: 2.479,66 Euro). Im Dezember 2016 verdiente der Antragsteller schließlich 2.045,11 Euro brutto (netto: 1.405,78 Euro). Die Bruttosumme über das ganze Jahr 2016 beträgt damit 13.668,06 Euro, die Nettosumme 10.063,95 Euro.

26

Die Bezüge für die beiden ersten Monate des Jahres 2017, bezogen jeweils von der H. … Personal Service GmbH, beliefen sich auf brutto 1.078,84 Euro und 1.663,74 Euro (netto: 828,23 Euro und 1.341,74 Euro).

27

Jedenfalls mit dem hieraus zu errechnenden Durchschnittsverdienst sichert der Antragsteller seinen Lebensunterhalt (monatlicher Grundbedarf: 715,24 Euro, siehe oben) überwiegend durch Erwerbstätigkeit, selbst wenn vom Nettoverdienst noch die Beträge nach § 11b Abs. 2 und 3 SGB II abgezogen werden (zur Maßgeblichkeit der Bedarfsermittlung nach den entsprechenden Bestimmungen des SGB II vgl. BVerwG, Urt. v. 26.8.2008, 1 C 32.07, BVerwGE 131, 370, juris Rn. 19 ff.).

28

Die Beschäftigungsbiografie des Antragstellers seit Juli 2015 rechtfertigt insgesamt die Annahme, dass der Antragsteller auch künftig in der Lage sein wird, seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit zu sichern. Zwar finden sich in dieser Zeit einige Lücken, in denen der Antragsteller nicht beschäftigt war, wobei dies in Einzelfällen möglicherweise auch auf sein eigenes Verhalten zurückzuführen war (vgl. Bemerkungen auf den Lohnabrechnungen der T. … Personaldienstleistung GmbH, Gerichtsakte Bl. 141 f.). Doch ist es dem Antragsteller immer wieder relativ zeitnah gelungen, erneute Beschäftigungen zu finden. Durch die Verdiensthöhen mag es ihm auch gelungen sein, Zeiten zu überbrücken, in denen er kein Geld verdiente.

29

Angesichts dessen kommt es auf die gesetzliche Alternative einer positiven Prognose künftiger Lebensunterhaltssicherung aufgrund der bisherigen Schul-, Ausbildungs-, Einkommens- sowie der familiären Lebenssituation nicht an. Das Gesetz stellt in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG die beiden dort genannten Möglichkeiten durch Verwendung des Wortes "oder" als Alternativen nebeneinander.

30

c) Die Täuschung des Antragstellers über seine Identität, die auch nach Erreichen der Volljährigkeit im Jahr 2008 noch mehrere Jahre andauerte, verbunden mit der Weigerung, an der Beseitigung von Ausreisehindernissen mitzuwirken, dürfte dazu führen, dass – im Fall der Erfüllung aller Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG (siehe oben) – ein Ausnahmefall vom Sollanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt (ee). In diesem Fall wäre von der Antragsgegnerin (erneut) nach Ermessen über den Antrag des Antragstellers zu entscheiden. Der Umstand, dass die Täuschung inzwischen seit über drei Jahren zurückliegt und seit 2 ½ Jahren ein gültiger Pass vorliegt, lässt eine Anwendung von § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nicht zu (aa), rechtfertigt aber auch nicht schon, das in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten gänzlich unberücksichtigt zu lassen (bb). Auch ist es mit dem Wortlaut und der Systematik von § 25b AufenthG kaum zu vereinbaren, aufgrund des früheren Fehlverhaltens die Annahme einer nachhaltigen Integration im Sinn des Gesetzes zu verneinen (cc). Das zurückliegende Fehlverhalten ist jedenfalls im vorliegenden Fall nicht mehr geeignet, ein noch aktuelles Ausweisungsinteresse im Sinn von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu begründen (dd).

31

aa) § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG schließt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nur für den Fall zwingend aus, dass der Ausländer (noch) aktuell die Aufenthaltsbeendigung u.a. durch Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch Nichterfüllung zumutbarer Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen verhindert oder verzögert (so auch Samel in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 25b AufenthG Rn. 31; Fränkel in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 25b AufenthG Rn. 21; OVG Magdeburg, Beschl. v. 23.9.2015, 2 M 121/15, EzAR-NF 33 Nr. 45, juris Rn. 10; OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 8). Dies ergibt sich klar aus der Verwendung der Präsensform "verhindert oder verzögert" im Gesetzestext und entspricht auch dem gesetzgeberischen Willen (vgl. BT-Dr. 18/4097, S. 44 zu Absatz 2 Nr. 1: "Diese Regelung knüpft nur an aktuelle Mitwirkungsleistungen des Ausländers an, …"), auch wenn einzuräumen ist, dass die Gesetzesbegründung hier nicht widerspruchsfrei ist. So heißt es kurz vorher (a.a.O., zu Absatz 2), die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sei ausgeschlossen, wenn der Ausländer … "die Aufenthaltsbeendigung vorsätzlich verhindert oder hinausgezögert hat."

32

bb) Die Verwendung der Präsensform in § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG rechtfertigt für sich allerdings nicht, das in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten gänzlich unberücksichtigt zu lassen. Dem stehen verschiedene Öffnungsmöglichkeiten im Gesetzestext (Abs. 1 Satz 1: "soll"; Abs. 1 Satz 2: "regelmäßig"; Anwendbarkeit von § 5 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 Satz 2 AufenthG) sowie Formulierungen in der Gesetzesbegründung entgegen. So soll die Anknüpfung "nur an aktuelle Mitwirkungsleistungen des Ausländers" im Ausschlussgrund nach § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG "keine Amnestie für jedes Fehlverhalten in den vorangegangenen Verfahren" sein (BT-Drs. 18/4097, S. 44). Allerdings bleibt offen, an welcher Stelle der Normanwendung das in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten berücksichtigt werden soll (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 11.4.2017, 1 Bs 55/17, juris Rn. 13 ff.).

33

cc) Verschiedentlich wird angenommen, aufgrund früheren Fehlverhaltens könne ausnahmsweise die Annahme einer nachhaltigen Integration im Sinn des Gesetzes verneint werden (so OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 8 ff.; offengelassen von OVG Bautzen, Beschl. v. 2.9.2016, 3 B 368/16, juris Rn. 6; ablehnend Kluth in: Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 2016, § 25b AufenthG Rn. 10). Dem schließt sich der Senat nicht an.

34

Schon rein tatsächlich wird eine Integration nicht zu bestreiten sein, wenn ein illegal eingereister Ausländer rasch gut Deutsch lernt, einen guten Schul- oder Berufsabschluss erreicht, danach einen qualifizierten Arbeitsplatz mit gutem Verdienst erhält und sich im übrigen auch noch sozial oder im Bereich des Sports (z.B. Trainer) engagiert, allerdings – aus welchen Gründen auch immer – über längere Zeit über seine Identität getäuscht hat.

35

Auch der Gesetzestext des § 25b AufenthG spricht im genannten Beispielsfall für die Annahme einer nachhaltigen Integration. In Absatz 1 Satz 2 ist die Beachtung der Rechtsordnung bzw. straffreies Verhalten nicht als notwendiges Element einer nachhaltigen Integration aufgeführt. Allerdings ist einzuräumen, dass die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/4097, S. 45) dies anders zu sehen scheint. Dort heißt es (allerdings zu Abs. 2 Nr. 2), grundsätzlich sollten "nur Ausländer, die sich an Recht und Gesetz halten, wegen ihrer vorbildlichen Integration begünstigt werden". Die Formulierung "Dies setzt regelmäßig voraus" zu Beginn von Absatz 1 Satz 2 ist nach dem Wortlaut und nach der Gesetzesbegründung allerdings (nur) eine Öffnung für besondere Integrationsleistungen von vergleichbarem Gewicht, wenn einzelne der in Satz 2 aufgeführten Voraussetzungen nicht vollständig erfüllt sind (siehe BT-Drs. 18/4097, S. 42). Wörtlich heißt es in der Begründung:

36

"Sofern die in Satz 2 genannten Voraussetzungen vorliegen, ist von einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland auszugehen. Nur in Ausnahmefällen kann von der Titelerteilung abgesehen werden."

37

Dabei ist der erste Satz aus diesem Zitat wörtlich der Begründung des Gesetzentwurfs des Bundesrats für einen neuen § 25b AufenthG - BR-Drs. 505/12 (Beschluss) vom 22. März 2013 - entnommen. Damals begann der ansonsten textgleiche Satz 2 allerdings noch mit "Dieses [nachhaltige Integration] ist insbesondere der Fall, wenn". Anders als der Bundesrats-Vorschlag erscheint der aktuelle Gesetzestext zwar eher auch für die etwaige Hinzufügung weiterer Erfordernisse offen zu sein, die auch im Nichtvorliegen negativ zu bewertender Umstände (z.B. keine Strafbarkeit, kein Täuschungshandlungen in der Vergangenheit) liegen können. Das würde aber mit der Gesetzesbegründung nicht recht zusammenpassen. Der dortige Satz "Nur in Ausnahmefällen kann von der Titelerteilung abgesehen werden." dürfte sich eher auf die Sollbestimmung des Abs. 1 Satz 1 beziehen (siehe unten bei ee). Außerdem nimmt die Begründung zu der in Satz 2 enthaltenen Formulierung "setzt regelmäßig voraus" allein auf sonstige (positive) Integrationsleistungen Bezug, die im Einzelfall in der Gesamtschau das Fehlen einzelner der in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG aufgeführten Elemente kompensieren können (vgl. zu dieser Problematik – noch zur Entwurfsfassung – insgesamt auch OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 9).

38

Auch die Allgemeinen Anwendungshinweise (AAH) des Bundesministeriums des Inneren zu § 25b AufenthG erwähnen in Teil II (zu den Tatbestandsvoraussetzungen des Absatzes 1) unter "A Allgemeine Hinweise" nur die Möglichkeit, dass wegen besonderer anderer Integrationsleistungen auf die Erfüllung der ausdrücklich aufgeführten Voraussetzungen im Einzelfall verzichtet werden kann.

39

Schließlich führt § 25b Abs. 2 AufenthG bestimmte Verhaltensweisen bzw. Bestrafungen (bzw. ein daraus folgendes Ausweisungsinteresse) erst als zwingende Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Absatz 1 aus. Das lässt darauf schließen, dass das in Absatz 2 erfasste Fehlverhalten gesetzessystematisch nicht schon zur Verneinung einer nachhaltigen Integration führt, da sonst hätte formuliert werden können: "Eine nachhaltige Integration liegt nicht vor, wenn …". Allerdings ist einzuräumen, dass die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/4097, S. 45 zu Abs. 2 Nr. 2) dies anders zu sehen scheint, wenn es dort heißt, bei Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 2 Nr. 3 bis 6 AufenthG n.F werde "ebenfalls regelmäßig keine nachhaltige Integration gegeben sein" (ähnlich in Teil I der AAH). Hierzu ist allerdings zu bemerken, dass – wie gezeigt – wiederholt zwischen dem Gesetzestext und der Begründung des Gesetzentwurfs gewisse Brüche bestehen.

40

dd) Die Anwendbarkeit von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (Nichtvorliegen eines Ausweisungsinteresses) im Rahmen von § 25b AufenthG ist im Grundsatz unstreitig. Sie wird in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/4097, S. 45 zu Absatz 2 Nr. 2) auch ausdrücklich erwähnt. § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG enthält ausdrückliche Abweichungen von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG; § 25b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG regelt ferner insofern eine Abweichung von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, als für die dort geregelten Fälle – strenger als die allgemeine Vorschrift – zwingend die Versagung der Aufenthaltserlaubnis vorgeschrieben wird. Im übrigen bleibt es bei der Geltung der allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen (vgl. auch - zu § 25a AufenthG - BVerwG, Urt. v. 14.5.2013, 1 C 17.12, BVerwGE 146, 281, juris Rn. 18 ff.).

41

Ein Ausweisungsinteresse muss allerdings noch aktuell sein: Nicht die Verwirklichung eines Ausweisungstatbestandes in der Vergangenheit, sondern der Fortbestand des Ausweisungsinteresses, also eine aktuell bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Zeitpunkt der Entscheidung über den Aufenthaltserlaubnis-Antrag, soll die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hindern (vgl. Samel in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 5 AufenthG Rn. 55). Hieran kann man erheblich zweifeln, wenn die bisher zweifelhafte Identität inzwischen eindeutig geklärt ist bzw. – wie im Fall des Antragstellers – eine falsche Identität durch Vorlage richtiger Dokumente vor inzwischen mehreren Jahren richtiggestellt wurde. Die Bejahung eines fortbestehenden Ausweisungsinteresses in einem solchen Fall geriete zudem in ein Spannungsverhältnis zu § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, wonach nur aktuelle Täuschungen oder Verletzungen der Mitwirkungspflicht (dann allerdings zwingend) negativ zu beachten sind (vgl. hierzu unter aa). Soweit ein Ausweisungsinteresse noch aktuell ist, kann allerdings bei der Anwendung von § 25b AufenthG gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vom Erfordernis des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen werden (vgl. zu den hierbei anzustellenden Erwägungen BVerwG, Urt. v. 14.5.2013, a.a.O., Rn. 31; zur Übertragung dieser Gedanken auf § 25b AufenthG: Hailbronner, AuslR, Stand Oktober 2016, § 25b AufenthG Rn. 12; siehe auch Fränkel in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 25b AufenthG Rn. 23).

42

ee) Ein in der Vergangenheit liegendes Fehlverhalten in Form von Identitätstäuschungen, fehlender Mitwirkung an der Beseitigung von Ausreisehindernissen o.ä. lässt sich systematisch am besten in der Form erfassen, dass es als möglicher Ausnahmefall von der Regelerteilungsnorm des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG angesehen wird (so wohl auch Hailbronner, a.a.O., § 25b AufenthG Rn. 9; OVG Magdeburg, Beschl. v. 23.9.2015, 2 M 121/15, EzAR-NF 33 Nr. 45, juris Rn. 10; angedeutet auch bei OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 15, dort wohl unter Vertauschung von Satz 1 und 2).

43

§ 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG räumt nur einen Soll-Anspruch ein. Das ermöglicht es, besondere Umstände zu berücksichtigen und im Hinblick auf diese die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis trotz vorliegender nachhaltiger Integration ausnahmsweise zu versagen (vgl. zur Bedeutung einer Soll-Regelung: BVerwG, Urt. v. 17.12.2015, 1 C 31.14, BVerwGE 153, 353, juris Rn. 21 f.).

44

Die Gesetzesbegründung zu § 25b AufenthG enthält verschiedene Anhaltspunkte, aus denen der gesetzgeberische Wille erkennbar wird, früheres Fehlverhalten über die "Soll"-Regelung des Absatz 1 Satz 1 zu erfassen und zu bewerten. So heißt es zu Absatz 1 (BT-Drs. 18/4097, S. 42):

45

"Wenn die Voraussetzungen des § 25b vorliegen, soll die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Sofern die in Satz 2 genannten Voraussetzungen vorliegen, ist von einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland auszugehen. Nur in Ausnahmefällen kann von der Titelerteilung abgesehen werden."

46

Weitere Ausführungen, wonach "grundsätzlich … nur Ausländer, die sich an Gesetz und Recht halten, wegen ihrer vorbildlichen Integration begünstigt werden" sollen, die Regelung in Absatz 2 Nr. 1, die nur an aktuelle (ergänze: fehlende) Mitwirkungshandlungen des Ausländers anknüpfe, "jedoch keine Amnestie für jedes Fehlverhalten in den vorangegangenen Verfahren" sein solle und die Aussage, wonach "bei Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Absatz 2 Nummer 3 bis 6 n.F. ebenfalls regelmäßig keine nachhaltige Integration gegeben sein" werde, befinden sich zwar bei der Begründung zu Absatz 2 Nr. 1 und 2 (BT-Drs. 18/4097, S. 44, 45), doch lassen sich die vorgestellten Verhaltensweisen sowie die hieraus erkennbare Absicht des Gesetzgebers über die Anwendung der Soll-Regelung des Absatzes 1 Satz 1 erfassen.

47

Auch dann, wenn im Rahmen der Sollregelung des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Ausnahmefall nur solche Fälle angesehen werden, die sich durch besondere, atypische Umstände auszeichnen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen (vgl. statt vieler: BVerwG, Urt. v. 16.8.2011, 1 C 12.10, InfAuslR 2012, 53 juris Rn. 18), erscheint es allerdings zweifelhaft, ob in der Vergangenheit liegende Identitätstäuschungen deshalb grundsätzlich nicht als atypische Ausnahmefälle im Sinn von § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG anzusehen sind, weil viele Ausländer in der Vergangenheit über ihre Identität getäuscht bzw. sich nicht um einen Pass gekümmert hätten und dem Gesetzgeber dies bewusst gewesen sei; ein Ausnahmefall könne daher allenfalls dann angenommen werden, wenn den Täuschungshandlungen in einem atypischen Fall eine besondere Verwerflichkeit zukomme (so das Verwaltungsgericht im angefochtenen Beschluss, S. 6). Die Gründe, weshalb es in der Vergangenheit nicht zu einer Aufenthaltsbeendigung gekommen ist, können jedoch vielfältig sein. Motiv für die Schaffung einer alters- und stichtagsunabhängigen Bleiberechtsregelung war jedenfalls der Umstand, dass "die aufenthaltsrechtliche Situation … derzeit allerdings in vielen Fällen weder durch eine zwangsweise Aufenthaltsbeendigung noch durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verändert werden" könne (vgl. Gesetzesbegründung, Allgemeiner Teil, BT-Drs. 18/4097, S. 23; so auch schon BR-Drs. 505/12 - Beschluss - S. 1). Jedenfalls wird die Dauer des Fehlverhaltens ein erhebliches Indiz für das Vorliegen eines Ausnahmefalls sein, zumal wenn es erst vor relativ kurzer Zeit beendet wurde.

48

d) Im Fall des Antragstellers spricht viel für das Vorliegen eines Ausnahmefalles. Die Frage, ob ein atypischer Ausnahmefall vorliegt, bei dem der Verwaltung ein Rechtsfolgenermessen eröffnet ist, unterliegt in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung und ist insoweit eine rechtlich gebundene Entscheidung. Nur aufgrund einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles kann beurteilt und festgestellt werden, ob ein Ausnahmefall vorliegt (BVerwG, Urt. v. 17.12.2015, 1 C 31.14, BVerwGE 153, 353, juris Rn. 21 f.).

49

Der Antragsteller kam im Alter von 14 Jahren zusammen mit seiner Familie nach Deutschland. Ihm war im Heimatland bereits ein Personaldokument mit seinen richtigen Personalien ausgestellt worden. Ihm musste daher bewusst sein, dass die für ihn zunächst von seinen Eltern, spätestens ab seiner Volljährigkeit im Jahr 2008 von ihm selbst angegebenen Personalien falsch sind. Wiederholte Aufforderungen der Ausländerbehörde, sich um die Ausstellung eines Heimreisedokuments zu bemühen, missachtete der Antragsteller. Auch die Anregung der Ausländerbehörde, wegen mangelnder Mitwirkung die Sozialleistungen zu kürzen und die auf diese Umstände gestützte Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis bewirkten keine Verhaltensänderung. Es kommt hinzu, dass der Aufenthalt des Antragstellers wohl allein deshalb geduldet worden war, weil kein gültiger Pass oder ein sonstiges Heimreisedokument vorlag; den Ausländerakten – v.a. der zwischenzeitlich aus einem anderen Verfahren beigezogenen Akte der Mutter des Antragstellers – kann entnommen werden, dass durchaus ausländerbehördliche Versuche unternommen worden waren, Ausreisepapiere für die Familie zu erhalten, was aber an den falschen Personalien scheiterte. Im Hauptsacheverfahren kann ggf. noch weiter versucht werden, die Gründe für die lange Identitätstäuschung und auch für den diesbezüglichen Meinungswechsel der Familie etwa Ende des Jahres 2013 zu erfragen.

50

Liegt bei Vorliegen der Integrationsvoraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG ein Ausnahmefall vor, so hat die Antragsgegnerin über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen zu entscheiden. Dies ist bisher wegen anderer rechtlicher Ausgangspunkte in den Bescheiden der Antragsgegnerin noch nicht geschehen. Im Bescheid vom 17. Juni 2016 wurde schon die nachhaltige Integration des Antragstellers in die hiesigen Lebensverhältnisse verneint. Im Widerspruchsbescheid vom 21. September 2016 sah die Antragsgegnerin das Fehlverhalten des Antragstellers als Ausnahme von der nach § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG anzunehmenden Integration, verneinte somit bereits die Erteilungsvoraussetzung, so dass auch hier kein Rechtsfolgenermessen ausgeübt wurde. Auch dürfte kein Fall vorliegen, in dem als einzige fehlerfreie Ermessensentscheidung eine Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG in Betracht käme. So hat die Antragsgegnerin der jüngeren Schwester des Antragstellers eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG und der Zwillingsschwester des Antragstellers eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG erteilt. Alle in Hamburg lebenden Familienangehörigen haben in gleicher Weise wie der Antragsteller über etliche Jahre über ihre Identität getäuscht, mag dies der 1997 geborenen jüngeren Schwester auch nicht in gleichem Maße vorgeworfen werden können.

51

Ist im Einzelfall Ermessen auszuüben, so führt ein Ermessensnichtgebrauch zur Rechtswidrigkeit der Bescheide und im Hauptsacheverfahren zumindest zum Anspruch des Antragstellers, dass die Antragsgegnerin erneut über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entscheidet. Dieser Anspruch wird zu Recht durch die vom Verwaltungsgericht erlassene einstweilige Anordnung gesichert.

III.

52

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

53

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2 GKG. Es geht vorliegend um die vorläufige Sicherung des behaupteten Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, nicht allein um die Verhinderung einer Abschiebung oder eine isolierte Abschiebungsandrohung (so das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit). Mit der begehrten einstweiligen Anordnung wird auch nicht die Hauptsache vorweggenommen. In der Hauptsache wird die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis begehrt; dies ist nicht Gegenstand des Antrags nach § 123 VwGO.

(1) Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist,
1a.
rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten
a)
gegen das Leben,
b)
gegen die körperliche Unversehrtheit,
c)
gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach den §§ 174, 176 bis 178, 181a, 184b, 184d und 184e jeweils in Verbindung mit § 184b des Strafgesetzbuches,
d)
gegen das Eigentum, sofern das Gesetz für die Straftat eine im Mindestmaß erhöhte Freiheitsstrafe vorsieht oder die Straftaten serienmäßig begangen wurden oder
e)
wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte oder tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte,
1b.
wegen einer oder mehrerer Straftaten nach § 263 des Strafgesetzbuchs zu Lasten eines Leistungsträgers oder Sozialversicherungsträgers nach dem Sozialgesetzbuch oder nach dem Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,
2.
die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet; hiervon ist auszugehen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat oder er eine in § 89a Absatz 1 des Strafgesetzbuchs bezeichnete schwere staatsgefährdende Gewalttat nach § 89a Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorbereitet oder vorbereitet hat, es sei denn, der Ausländer nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand,
3.
zu den Leitern eines Vereins gehörte, der unanfechtbar verboten wurde, weil seine Zwecke oder seine Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet,
4.
sich zur Verfolgung politischer oder religiöser Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit Gewaltanwendung droht oder
5.
zu Hass gegen Teile der Bevölkerung aufruft; hiervon ist auszugehen, wenn er auf eine andere Person gezielt und andauernd einwirkt, um Hass auf Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen oder Religionen zu erzeugen oder zu verstärken oder öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften in einer Weise, die geeignet ist, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu stören,
a)
gegen Teile der Bevölkerung zu Willkürmaßnahmen aufstachelt,
b)
Teile der Bevölkerung böswillig verächtlich macht und dadurch die Menschenwürde anderer angreift oder
c)
Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit, ein Kriegsverbrechen oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt,
es sei denn, der Ausländer nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem Handeln Abstand.

(2) Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt schwer, wenn der Ausländer

1.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden ist,
2.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist,
3.
als Täter oder Teilnehmer den Tatbestand des § 29 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Betäubungsmittelgesetzes verwirklicht oder dies versucht,
4.
Heroin, Kokain oder ein vergleichbar gefährliches Betäubungsmittel verbraucht und nicht zu einer erforderlichen seiner Rehabilitation dienenden Behandlung bereit ist oder sich ihr entzieht,
5.
eine andere Person in verwerflicher Weise, insbesondere unter Anwendung oder Androhung von Gewalt, davon abhält, am wirtschaftlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Leben in der Bundesrepublik Deutschland teilzuhaben,
6.
eine andere Person zur Eingehung der Ehe nötigt oder dies versucht oder wiederholt eine Handlung entgegen § 11 Absatz 2 Satz 1 und 2 des Personenstandsgesetzes vornimmt, die einen schwerwiegenden Verstoß gegen diese Vorschrift darstellt; ein schwerwiegender Verstoß liegt vor, wenn eine Person, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, beteiligt ist,
7.
in einer Befragung, die der Klärung von Bedenken gegen die Einreise oder den weiteren Aufenthalt dient, der deutschen Auslandsvertretung oder der Ausländerbehörde gegenüber frühere Aufenthalte in Deutschland oder anderen Staaten verheimlicht oder in wesentlichen Punkten vorsätzlich keine, falsche oder unvollständige Angaben über Verbindungen zu Personen oder Organisationen macht, die der Unterstützung des Terrorismus oder der Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland verdächtig sind; die Ausweisung auf dieser Grundlage ist nur zulässig, wenn der Ausländer vor der Befragung ausdrücklich auf den sicherheitsrechtlichen Zweck der Befragung und die Rechtsfolgen verweigerter, falscher oder unvollständiger Angaben hingewiesen wurde,
8.
in einem Verwaltungsverfahren, das von Behörden eines Schengen-Staates durchgeführt wurde, im In- oder Ausland
a)
falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines deutschen Aufenthaltstitels, eines Schengen-Visums, eines Flughafentransitvisums, eines Passersatzes, der Zulassung einer Ausnahme von der Passpflicht oder der Aussetzung der Abschiebung gemacht hat oder
b)
trotz bestehender Rechtspflicht nicht an Maßnahmen der für die Durchführung dieses Gesetzes oder des Schengener Durchführungsübereinkommens zuständigen Behörden mitgewirkt hat, soweit der Ausländer zuvor auf die Rechtsfolgen solcher Handlungen hingewiesen wurde oder
9.
einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb des Bundesgebiets eine Handlung begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche schwere Straftat anzusehen ist.

(1) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt in der Regel voraus, dass

1.
der Lebensunterhalt gesichert ist,
1a.
die Identität und, falls er nicht zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt ist, die Staatsangehörigkeit des Ausländers geklärt ist,
2.
kein Ausweisungsinteresse besteht,
3.
soweit kein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht, der Aufenthalt des Ausländers nicht aus einem sonstigen Grund Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder gefährdet und
4.
die Passpflicht nach § 3 erfüllt wird.

(2) Des Weiteren setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, einer Blauen Karte EU, einer ICT-Karte, einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU voraus, dass der Ausländer

1.
mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und
2.
die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat.
Hiervon kann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Satz 2 gilt nicht für die Erteilung einer ICT-Karte.

(3) In den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 24 oder § 25 Absatz 1 bis 3 ist von der Anwendung der Absätze 1 und 2, in den Fällen des § 25 Absatz 4a und 4b von der Anwendung des Absatzes 1 Nr. 1 bis 2 und 4 sowie des Absatzes 2 abzusehen. In den übrigen Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 kann von der Anwendung der Absätze 1 und 2 abgesehen werden. Wird von der Anwendung des Absatzes 1 Nr. 2 abgesehen, kann die Ausländerbehörde darauf hinweisen, dass eine Ausweisung wegen einzeln zu bezeichnender Ausweisungsinteressen, die Gegenstand eines noch nicht abgeschlossenen Straf- oder anderen Verfahrens sind, möglich ist. In den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 26 Absatz 3 ist von der Anwendung des Absatzes 2 abzusehen.

(4) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels ist zu versagen, wenn ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Absatz 1 Nummer 2 oder 4 besteht oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58a erlassen wurde.

(1) Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist,
1a.
rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten
a)
gegen das Leben,
b)
gegen die körperliche Unversehrtheit,
c)
gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach den §§ 174, 176 bis 178, 181a, 184b, 184d und 184e jeweils in Verbindung mit § 184b des Strafgesetzbuches,
d)
gegen das Eigentum, sofern das Gesetz für die Straftat eine im Mindestmaß erhöhte Freiheitsstrafe vorsieht oder die Straftaten serienmäßig begangen wurden oder
e)
wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte oder tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte,
1b.
wegen einer oder mehrerer Straftaten nach § 263 des Strafgesetzbuchs zu Lasten eines Leistungsträgers oder Sozialversicherungsträgers nach dem Sozialgesetzbuch oder nach dem Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,
2.
die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet; hiervon ist auszugehen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat oder er eine in § 89a Absatz 1 des Strafgesetzbuchs bezeichnete schwere staatsgefährdende Gewalttat nach § 89a Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorbereitet oder vorbereitet hat, es sei denn, der Ausländer nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand,
3.
zu den Leitern eines Vereins gehörte, der unanfechtbar verboten wurde, weil seine Zwecke oder seine Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet,
4.
sich zur Verfolgung politischer oder religiöser Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit Gewaltanwendung droht oder
5.
zu Hass gegen Teile der Bevölkerung aufruft; hiervon ist auszugehen, wenn er auf eine andere Person gezielt und andauernd einwirkt, um Hass auf Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen oder Religionen zu erzeugen oder zu verstärken oder öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften in einer Weise, die geeignet ist, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu stören,
a)
gegen Teile der Bevölkerung zu Willkürmaßnahmen aufstachelt,
b)
Teile der Bevölkerung böswillig verächtlich macht und dadurch die Menschenwürde anderer angreift oder
c)
Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit, ein Kriegsverbrechen oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt,
es sei denn, der Ausländer nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem Handeln Abstand.

(2) Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt schwer, wenn der Ausländer

1.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden ist,
2.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist,
3.
als Täter oder Teilnehmer den Tatbestand des § 29 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Betäubungsmittelgesetzes verwirklicht oder dies versucht,
4.
Heroin, Kokain oder ein vergleichbar gefährliches Betäubungsmittel verbraucht und nicht zu einer erforderlichen seiner Rehabilitation dienenden Behandlung bereit ist oder sich ihr entzieht,
5.
eine andere Person in verwerflicher Weise, insbesondere unter Anwendung oder Androhung von Gewalt, davon abhält, am wirtschaftlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Leben in der Bundesrepublik Deutschland teilzuhaben,
6.
eine andere Person zur Eingehung der Ehe nötigt oder dies versucht oder wiederholt eine Handlung entgegen § 11 Absatz 2 Satz 1 und 2 des Personenstandsgesetzes vornimmt, die einen schwerwiegenden Verstoß gegen diese Vorschrift darstellt; ein schwerwiegender Verstoß liegt vor, wenn eine Person, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, beteiligt ist,
7.
in einer Befragung, die der Klärung von Bedenken gegen die Einreise oder den weiteren Aufenthalt dient, der deutschen Auslandsvertretung oder der Ausländerbehörde gegenüber frühere Aufenthalte in Deutschland oder anderen Staaten verheimlicht oder in wesentlichen Punkten vorsätzlich keine, falsche oder unvollständige Angaben über Verbindungen zu Personen oder Organisationen macht, die der Unterstützung des Terrorismus oder der Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland verdächtig sind; die Ausweisung auf dieser Grundlage ist nur zulässig, wenn der Ausländer vor der Befragung ausdrücklich auf den sicherheitsrechtlichen Zweck der Befragung und die Rechtsfolgen verweigerter, falscher oder unvollständiger Angaben hingewiesen wurde,
8.
in einem Verwaltungsverfahren, das von Behörden eines Schengen-Staates durchgeführt wurde, im In- oder Ausland
a)
falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines deutschen Aufenthaltstitels, eines Schengen-Visums, eines Flughafentransitvisums, eines Passersatzes, der Zulassung einer Ausnahme von der Passpflicht oder der Aussetzung der Abschiebung gemacht hat oder
b)
trotz bestehender Rechtspflicht nicht an Maßnahmen der für die Durchführung dieses Gesetzes oder des Schengener Durchführungsübereinkommens zuständigen Behörden mitgewirkt hat, soweit der Ausländer zuvor auf die Rechtsfolgen solcher Handlungen hingewiesen wurde oder
9.
einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb des Bundesgebiets eine Handlung begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche schwere Straftat anzusehen ist.

(1) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt in der Regel voraus, dass

1.
der Lebensunterhalt gesichert ist,
1a.
die Identität und, falls er nicht zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt ist, die Staatsangehörigkeit des Ausländers geklärt ist,
2.
kein Ausweisungsinteresse besteht,
3.
soweit kein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht, der Aufenthalt des Ausländers nicht aus einem sonstigen Grund Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder gefährdet und
4.
die Passpflicht nach § 3 erfüllt wird.

(2) Des Weiteren setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, einer Blauen Karte EU, einer ICT-Karte, einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU voraus, dass der Ausländer

1.
mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und
2.
die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat.
Hiervon kann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Satz 2 gilt nicht für die Erteilung einer ICT-Karte.

(3) In den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 24 oder § 25 Absatz 1 bis 3 ist von der Anwendung der Absätze 1 und 2, in den Fällen des § 25 Absatz 4a und 4b von der Anwendung des Absatzes 1 Nr. 1 bis 2 und 4 sowie des Absatzes 2 abzusehen. In den übrigen Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 kann von der Anwendung der Absätze 1 und 2 abgesehen werden. Wird von der Anwendung des Absatzes 1 Nr. 2 abgesehen, kann die Ausländerbehörde darauf hinweisen, dass eine Ausweisung wegen einzeln zu bezeichnender Ausweisungsinteressen, die Gegenstand eines noch nicht abgeschlossenen Straf- oder anderen Verfahrens sind, möglich ist. In den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 26 Absatz 3 ist von der Anwendung des Absatzes 2 abzusehen.

(4) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels ist zu versagen, wenn ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Absatz 1 Nummer 2 oder 4 besteht oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58a erlassen wurde.

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 3. November 2016 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller, ein aserbaidschanischer Staatsangehöriger, begehrt vorläufigen Rechtsschutz im Zusammenhang mit der Ablehnung eines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG. Vorliegend wendet sich die Antragsgegnerin gegen die vom Verwaltungsgericht erlassene einstweilige Anordnung, von einer Abschiebung des Antragstellers bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist eines die Hauptsache betreffenden erstinstanzlichen Urteils abzusehen.

2

Der Antragsteller kam im Alter von 14 Jahren zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern (wohl) im September 2004 in die Bundesrepublik Deutschland. Die Familie gab dabei den Namen … an und behauptete, keine Pässe zu besitzen. Die Antragsgegnerin forderte die Familie bestandskräftig zur Ausreise auf und drohte die Abschiebung an. Ab 18. November 2004 erhielt der Antragsteller fast ununterbrochen Duldungen. Nachdem er volljährig geworden war, forderte die Antragsgegnerin ihn wiederholt vergeblich auf, sich Identitätspapiere zu beschaffen und diese vorzulegen. Anfang Dezember 2013 gab die Mutter des Antragstellers – der Vater hatte sich zuvor von der Familie getrennt – bei einer Vorsprache bei der Ausländerbehörde zu, dass die bisher von der Familie verwendeten Personalien falsch seien; richtige Papiere sollten besorgt und vorgelegt werden. Ende März 2014 legte der Antragsteller einen bereits am 18. März 2004 ausgestellten aserbaidschanischen Personalausweis mit den jetzigen Personalien vor, im November 2014 ferner einen gültigen aserbaidschanischen Pass.

3

Nachdem dem Antragsteller erstmals im Mai 2015 die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt worden war, begann er Mitte Juli 2015 mit einer Beschäftigung bei einem Personalservice-Unternehmen.

4

Bereits am 12. Dezember 2014 hatte der Antragsteller die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen beantragt und in der Folge wiederholt daran erinnert. Die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK und des (künftigen) § 25b AufenthG dürften erfüllt sein. Mit Bescheid vom 17. Juni 2016 lehnte das Einwohner-Zentralamt der Antragsgegnerin den Antrag ab. Der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG sei abzulehnen. Aufgrund der langen zielgerichteten Verschleierung der Identität sei zwar die zeitliche Voraussetzung eines mindestens achtjährigen geduldeten Aufenthalts erreicht. Eine nachhaltige Integration liege aber nicht vor. Das erst seit Mitte Juli 2015 bestehende Beschäftigungsverhältnis reiche, auch wenn der Antragsteller hieraus aktuell seinen finanziellen Grundbedarf fast decke, nicht aus, eine positive Prognose abzugeben; hiergegen spreche auch, dass der Antragsteller keinen Schulabschluss habe und über keine Berufsausbildung verfüge. Auch die Voraussetzungen von § 25 Abs. 5 AufenthG lägen nicht vor. Den Widerspruch des Antragstellers wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 21. September 2016, dem Bevollmächtigten des Antragstellers am 26. September 2016 zugestellt, zurück. Die langjährigen Täuschungshandlungen des Antragstellers hätten ein solches Gewicht, dass ein Ausnahmefall von der Regelannahme der nachhaltigen Integration gegeben sei. Am 15. November 2016 übersandte der Antragsteller-Bevollmächtige die Klageschrift vom 14. Oktober 2016 per Telefax an das Verwaltungsgericht und beantragte zugleich mit gesondertem Schriftsatz die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

5

Bereits am 7. Oktober 2016 hatte der Antragsteller, den die Antragsgegnerin am Tag zuvor hatte abschieben wollen, beantragt, die Antragsgegnerin mittels einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen. Diesem Antrag gab das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 3. November 2016 insoweit statt, als es die Antragsgegnerin verpflichtete, bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist eines die Hauptsache betreffenden erstinstanzlichen Urteils von einer Abschiebung des Antragstellers abzusehen.

6

Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht aus: Der Antragsteller erfülle die in § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG aufgeführten Regelvoraussetzungen für die Annahme einer nachhaltigen Integration. Das Gericht könne nicht mit der erforderlichen Sicherheit einen Ausnahmefall feststellen, in dem trotz Erfüllung der genannten Voraussetzungen eine nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland zu verneinen sei. Die zurückliegende langjährige Täuschung des Antragstellers über seine Identität, die keinen Versagungsgrund nach § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG erfülle, begründe keinen atypischen Ausnahmefall. Da sich der Gesetzgeber bewusst gewesen sein, dass viele geduldete Ausländer ihren Duldungsstatus maßgeblich durch Identitätstäuschung erlangt hätten, erscheine es fraglich, ob zurückliegende Täuschungshandlungen überhaupt einen ungeschriebenen Ausnahmefall begründen könnten. Allerdings solle nach der Gesetzesbegründung nicht jedes in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten amnestiert werden. Somit könne ein ungeschriebener Ausnahmefall aufgrund zurückliegender Täuschungshandlungen allenfalls dann angenommen werden, wenn den Täuschungshandlungen in einem atypischen Fall eine besondere Verwerflichkeit beizumessen sei. Dies sei im Fall des Antragstellers nicht gegeben. Weder sei die fast zehnjährige Dauer der Identitätstäuschung im Anwendungsbereich des § 25b AufenthG untypisch noch sei das Verhalten des Antragstellers, der in das Täuschungsverhalten gleichsam hineingewachsen sei, in besonderem Maße verwerflich. Ebenso dürfte der Umstand, dass der Antragsteller auch aufgrund vieler unentschuldigter Fehlzeiten keinen Schulabschluss erreicht habe, noch keinen atypischen Ausnahmefall begründen; § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG zeige nämlich, dass dann, wenn der Lebensunterhalt tatsächlich überwiegend gesichert werde, eine Prognose der Erwerbsmöglichkeiten anhand der Schul- und Ausbildungssituation nicht angestellt werden müsse. Dem Antragsteller sei auch kein (schwerwiegendes) Ausweisungsinteresse (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) entgegenzuhalten. Das frühere Fehlverhalten gefährde aktuell die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland nicht; es sei nicht zu erwarten, dass der Antragsteller künftig gleichartige Rechtsverstöße wieder begehen werde. Im übrigen wäre es ein Wertungswiderspruch, wenn vergangene Identitätstäuschungen bei Prüfung der nachhaltigen Integration im Sinn von § 25b Abs. 1 AufenthG grundsätzlich keinen atypischen Ausnahmefall begründen könnten, im Rahmen der Prüfung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen aber zur Annahme eines Ausweisungsinteresses und damit zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis führten.

7

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin. Sie ist der Ansicht, dass dann, wenn jemand über Jahre über seine Identität getäuscht habe, nicht von einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland ausgegangen werden könne. In einem solchen Fall sei von einem gegen eine Integration sprechenden Ausnahmefall auszugehen. In Übereinstimmung mit Entscheidungen verschiedener Oberverwaltungsgerichte sei sie der Auffassung, dass die langjährige Identitätstäuschung des Antragstellers nach Art und Dauer so bedeutsam sei, dass sie das Gewicht der in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG aufgeführten Integrationsleistungen beseitige. Auch sei vorliegend ein Ausweisungsinteresse zu bejahen; der vom Verwaltungsgericht angenommene Wertungswiderspruch bestehe nicht. Immer dann, wenn ein Ausweisungsinteresse bestehe, müsse auch davon ausgegangen werden, dass sich der Ausländer nicht nachhaltig in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert habe. Schließlich sei zu befürchten, dass die Beschäftigungsverhältnisse des Antragstellers aufgrund seiner fehlenden Schul- und Berufsausbildung künftig immer prekär sein würden, auch wenn er gegenwärtig seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichere.

II.

8

Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene und begründete Beschwerde der Antragsgegnerin hat im Ergebnis keinen Erfolg. Zwar hat die Antragsgegnerin mit ihrer Beschwerdebegründung tragende Teile der Begründung des angefochtenen Beschlusses in ausreichender Weise in Zweifel gezogen. Hierdurch ist das Beschwerdegericht berechtigt, ohne die Begrenzung des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO eigenständig über den Anordnungsantrag des Antragstellers zu entscheiden. Indes ergibt diese Prüfung, dass das Verwaltungsgericht zu Recht eine einstweilige Anordnung zugunsten des Antragstellers erlassen hat.

9

1. Das Beschwerdegericht geht für das einstweilige Rechtsschutzverfahren davon aus, dass der Ablehnungsbescheid des Einwohner-Zentralamts vom 17. Juni 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. September 2016 noch nicht bestandskräftig ist.

10

a) Der Widerspruchsbescheid vom 21. September 2016 wurde dem Antragsteller-Bevollmächtigten am 26. September 2016 per Empfangsbekenntnis zugestellt (S. 455 der Ausländerakte). Die Klagefrist endete am 26. Oktober 2016, ohne dass bis dahin eine Klage beim Verwaltungsgericht eingegangen war. Damit wurde der Ablehnungsbescheid zunächst bestandskräftig; unter diesen Umständen hätte das Verwaltungsgericht am 3. November 2016 dem Eilantrag des Antragstellers nicht stattgeben dürfen; die dennoch erlassene einstweilige Anordnung ging zunächst ins Leere.

11

b) Indes bewirkt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, dass die eingetretene Bestandskraft des Ablehnungsbescheides nachträglich wieder entfällt (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2015, § 60 Rn. 1). Solches dürfte hier in Betracht kommen. Die auf den 14. Oktober 2016 datierte Klageschrift wurde per Telefax am 15. November 2016 an das Verwaltungsgericht übersandt (Verfahren 17 K 6798/16). Ebenfalls am 15. November 2016 ging beim Verwaltungsgericht ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein. Über diesen muss originär zwar das Verwaltungsgericht im Hauptsacheverfahren entscheiden (§ 60 Abs. 4 VwGO), doch ist im Rahmen der Beschwerdeentscheidung eine Prognose über den voraussichtlichen Erfolg dieses Antrags zu stellen.

12

aa) Die Ausführungen im Wiedereinsetzungsantrag dürften wohl ausreichend sein, um Wiedereinsetzung wegen unverschuldeter Fristversäumnis zu gewähren. Nach den Kanzleiunterlagen sei die Klage am 14. Oktober 2016 gefertigt und dem Bevollmächtigten zur Unterschrift vorgelegt worden. Dieser habe die unterschriebene und mit weiteren Schriftstücken versehene Klage an die Kanzleiangestellte zurückgegeben, die sie zur Gerichtspost gelegt habe. Frau Rechtsanwältin H. aus der Bürogemeinschaft des Bevollmächtigten habe am Dienstag, den 18. Oktober 2016 den Postausgangskorb geleert und die Post in der Poststelle des Amtsgerichts Hamburg (die auch zur Entgegennahme von an das Verwaltungsgericht gerichteter Post zuständig ist) abgegeben. Am Tag des Fristablaufs sei die Erledigung mit positivem Ergebnis überprüft worden.

13

Kritisch mag sein, dass die Kanzleimitarbeiterin in ihrer eidesstattlichen Versicherung lediglich "davon ausgeht", dass sie die gefertigte und vom Anwalt unterzeichnete Klageschrift in den Ausgangskorb für Gerichtspost gelegt habe, da sie dort hinein "gehört hätte", und dass keine Erklärung der Rechtsanwältin H. ... über das Leeren des Gerichtspostausgangskorbes und das Abgeben der Gerichtspost bei der Gemeinsamen Annahmestelle des Amtsgerichts Hamburg am 18. Oktober 2016 vorliegt. Ein lückenloser Nachweis von Routinevorgängen für jeden Einzelfall wird aber nicht verlangt werden können. Bei der Aktenkontrolle am Tag des Fristablaufs (26. Oktober 2016) zeigte sich, dass sich in der Handakte – wie das bei ordnungsgemäßer Erledigung einer solchen Fristsache üblicherweise der Fall ist – eine Klageschriftkopie mit der Bemerkung befand, der Mandant habe eine Abschrift der Klageschrift erhalten. Der Umstand, dass noch keine Eingangsbestätigung des Verwaltungsgerichts vorlag, musste – abgesehen davon, dass zwischen der angenommenen Mitnahme der Post durch Frau Rechtsanwältin H. ... und dem Ende der Klagefrist nur acht Tage lagen – hier nicht zwingend eine Nachfrage beim Verwaltungsgericht veranlassen, da die Klage mit gut ausreichendem Zeitvorlauf abgesandt worden war bzw. worden sein soll. Eine Nachfrage beim Verwaltungsgericht oder gar eine vorsichtshalber noch vorgenommene Übersendung der Klageschrift per Fax wäre allenfalls dann veranlasst gewesen, wenn zweifelhaft gewesen wäre, ob die gewählte Übersendungsart ausgereicht hätte, die Frist zu wahren (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 29.12.1994, 2 BvR 106/93, NJW 1995, 1210, juris Rn. 19).

14

bb) Der Wiedereinsetzungsantrag dürfte auch rechtzeitig – innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses (§ 60 Abs. 2 Satz 1, 1. Alt. VwGO) – gestellt worden sein. Der Bevollmächtigte hat im Wiedereinsetzungsantrag angegeben, er habe die Säumnis "im Rahmen der Prozessvorbereitung am Montag, 14.10.2016 bemerkt", weil die Eingangsbestätigung des Verwaltungsgerichts noch nicht vorgelegen habe; eine telefonische Nachfrage seitens seiner Kanzleiangestellten beim Verwaltungsgericht "am 15.10.2016" habe ergeben, dass eine Klage dort nicht vorliege. Soweit sich die Datumsangaben auf den Monat Oktober zu beziehen scheinen, handelt es sich erkennbar um ein Versehen. Der 14. Oktober 2016 war – anders als der 14. November – kein Montag, sondern ein Freitag. Wenn die Klageschrift vom 14. Oktober 2016 datiert, konnte an diesem Tag noch keine Eingangsbestätigung des Verwaltungsgerichts vorliegen. Auch der Umstand, dass die Klageschrift vom 14. Oktober 2016 am 15. November 2016 ans Gericht gefaxt wurde, spricht dafür, dass die Säumnis erst am 14. November 2016 bemerkt worden war. Von einem Versehen hinsichtlich der Datumsabgabe geht auch der Bevollmächtigte des Antragstellers aus. Mit der Formulierung "im Rahmen der Prozessvorbereitung" meinte er, wie er auf Nachfrage mitgeteilt und belegt hat, die Vorbereitung auf eine strafrechtliche Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Hamburg.

15

Es kann dahinstehen, ob dem Bevollmächtigten bereits bei sorgfältiger Lektüre des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses vom 3. November 2016 hätte auffallen müssen, dass bis zu diesem Zeitpunkt beim Verwaltungsgericht noch keine Klage eingegangen war, da die Ausführungen auf Seite 3 des Beschlusses nur für diesen Fall Sinn machten. Aber auch dann, wenn auf den Empfang dieses Beschlusses (laut Empfangsbekenntnis am 10. November 2016) abgestellt würde, wäre mit dem Wiedereinsetzungsantrag vom 15. November 2016 die Zwei-Wochen-Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 und 3 VwGO gewahrt.

16

2. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht zugunsten des Antragstellers eine einstweilige Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO des Inhalts erlassen, dass der Antragsteller vorläufig nicht abgeschoben werden darf.

17

Ein Anordnungsgrund liegt offenkundig vor: Die Antragsgegnerin hatte Vorbereitungen getroffen, den Antragsteller am 6. Oktober 2016 abzuschieben; das Vorhaben scheiterte allein daran, dass der Antragsteller am Morgen dieses Tages nicht in seiner Wohnung angetroffen worden war. Die Mutter des Antragstellers war bereits am 19. Juli 2016 nach Aserbaidschan abgeschoben worden.

18

Der Antragsteller kann sich auch auf einen Anordnungsanspruch berufen. Es kommt zumindest ernsthaft in Betracht, dass die Antragsgegnerin über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG erneut zu entscheiden haben wird. Angesichts dessen überwiegt das Interesse des Antragstellers, vorläufig von Abschiebemaßnahmen verschont zu bleiben. Ein Verfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG dürfte kaum erfolgreich aus dem Ausland betrieben werden können, da es dann schon an der gesetzlichen Voraussetzung des "geduldeten Ausländers" fehlen würde.

19

a) Das Beschwerdegericht hat Bedenken, dem Verwaltungsgericht in seiner Ansicht zu folgen, der Antragsteller erfülle "unstreitig die regelmäßigen Voraussetzungen für eine nachhaltige Integration nach § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG". So ist den Sachakten und Gerichtsakten nicht zu entnehmen, ob der Antragsteller sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt und über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet sowie über hinreichende mündliche Deutschkenntnisse verfügt (§ 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 4 AufenthG). Dass dem Antragsteller solche Kenntnisse in der Schule vermittelt worden sind, ist fraglich. Die im Jahr 2016 ausgestellte Bescheinigung über den Besuch der Klasse ABC der Schule ... vom 29. Oktober 2004 bis 31. Juli 2005 – kurz nach der Einreise der Familie – enthält keine Angaben über die Intensität des Schulbesuchs und ggf. erzielte Leistungen. Die Zeugnisse der Berufsvorbereitungsschule (Vorbereitungsjahr für Migranten) weisen für den Zeitraum von 6. Februar 2006 bis zum 31. Januar 2008 hohe Fehlzeiten und überwiegend "mangelhafte" Leistungen (soweit überhaupt bewertbar) aus. – Allerdings hat die Antragsgegnerin diese Fragen bisher nicht thematisiert, so dass dem Antragsteller nicht vorzuhalten ist, er habe das Vorliegen der genannten Voraussetzungen im vorliegenden Verfahren nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsteller wird die Erfüllung dieser Voraussetzungen allerdings im Hauptsacheverfahren noch nachweisen müssen.

20

b) Die übrigen Integrationsanforderungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 4 AufenthG (die Nr. 5 ist hier nicht einschlägig) sind erfüllt.

21

aa) Der Antragsteller hält sich seit September 2004 ununterbrochen in Deutschland auf. Sein Aufenthalt ist jedenfalls seit 18. November 2004 auch formell geduldet. Geringfügige Unterbrechungen bei den Duldungszeiträumen beruhten darauf, dass sich der Antragsteller in Untersuchungshaft (März 2010) bzw. in stationärer Krankenhausbehandlung (Ende 2014/Anfang 2015) befand. Die Voraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG ist somit erfüllt.

22

bb) Der Antragsteller dürfte seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichern (§ 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG).

23

Der Antragsteller erhielt erstmals am 11. Mai 2015 eine Duldung, in der ihm die Beschäftigung erlaubt wurde. Bei der Antragsgegnerin legte er in der Folge Verdienstabrechnungen über eine Tätigkeit bei der P. Service Zeitarbeit UG in Hamburg von Juli 2015 bis Februar 2016 vor. Mit dem aus diesem Arbeitsverhältnis erzielten Lohn vermochte der Antragsteller laut Berechnung der Antragsgegnerin (angenommener Grundbedarf: 715,24 Euro, siehe Ausländerakte S. 366) seinen Lebensunterhalt fast vollständig zu sichern; die Unterdeckung lag unter 10 Euro.

24

Da der Antragsteller in seinem Eilantrag vom 7. Oktober 2016 lediglich ausgeführt hatte, er gehe auch weiterhin einer Beschäftigung nach, forderte das Beschwerdegericht Nachweise hierüber an. Aus den im März und Mai 2017 vorgelegten Lohnabrechnungen ergibt sich, dass der Antragsteller bei der P… Service Zeitarbeit UG von Juli 2015 bis Ende Mai 2016 beschäftigt war, anschließend vom 27. Juni bis 27. Juli 2016 bei der T. … Personaldienstleistung GmbH. Vom 15. August bis 20. Oktober 2016 und wieder ab 1. Dezember 2016 bis zumindest Februar 2017 (Bescheinigung im März 2017 übersandt) war bzw. ist der Antragsteller bei der H. … Personal Service GmbH beschäftigt.

25

Aus den Lohnabrechnungen ergibt sich für die Zeit von Januar bis Mai 2016 ein Bruttolohn von insgesamt 7.008,01 Euro (netto: 5.244,36 Euro), für Juni/Juli 2016 (nur zeitweilig beschäftigt) von insgesamt 1.186,65 Euro brutto (netto: 934,15 Euro) und für die Monate August bis Oktober 2016 (im August und Oktober nur teilweise beschäftigt) insgesamt 3.428,29 Euro brutto (netto: 2.479,66 Euro). Im Dezember 2016 verdiente der Antragsteller schließlich 2.045,11 Euro brutto (netto: 1.405,78 Euro). Die Bruttosumme über das ganze Jahr 2016 beträgt damit 13.668,06 Euro, die Nettosumme 10.063,95 Euro.

26

Die Bezüge für die beiden ersten Monate des Jahres 2017, bezogen jeweils von der H. … Personal Service GmbH, beliefen sich auf brutto 1.078,84 Euro und 1.663,74 Euro (netto: 828,23 Euro und 1.341,74 Euro).

27

Jedenfalls mit dem hieraus zu errechnenden Durchschnittsverdienst sichert der Antragsteller seinen Lebensunterhalt (monatlicher Grundbedarf: 715,24 Euro, siehe oben) überwiegend durch Erwerbstätigkeit, selbst wenn vom Nettoverdienst noch die Beträge nach § 11b Abs. 2 und 3 SGB II abgezogen werden (zur Maßgeblichkeit der Bedarfsermittlung nach den entsprechenden Bestimmungen des SGB II vgl. BVerwG, Urt. v. 26.8.2008, 1 C 32.07, BVerwGE 131, 370, juris Rn. 19 ff.).

28

Die Beschäftigungsbiografie des Antragstellers seit Juli 2015 rechtfertigt insgesamt die Annahme, dass der Antragsteller auch künftig in der Lage sein wird, seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit zu sichern. Zwar finden sich in dieser Zeit einige Lücken, in denen der Antragsteller nicht beschäftigt war, wobei dies in Einzelfällen möglicherweise auch auf sein eigenes Verhalten zurückzuführen war (vgl. Bemerkungen auf den Lohnabrechnungen der T. … Personaldienstleistung GmbH, Gerichtsakte Bl. 141 f.). Doch ist es dem Antragsteller immer wieder relativ zeitnah gelungen, erneute Beschäftigungen zu finden. Durch die Verdiensthöhen mag es ihm auch gelungen sein, Zeiten zu überbrücken, in denen er kein Geld verdiente.

29

Angesichts dessen kommt es auf die gesetzliche Alternative einer positiven Prognose künftiger Lebensunterhaltssicherung aufgrund der bisherigen Schul-, Ausbildungs-, Einkommens- sowie der familiären Lebenssituation nicht an. Das Gesetz stellt in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG die beiden dort genannten Möglichkeiten durch Verwendung des Wortes "oder" als Alternativen nebeneinander.

30

c) Die Täuschung des Antragstellers über seine Identität, die auch nach Erreichen der Volljährigkeit im Jahr 2008 noch mehrere Jahre andauerte, verbunden mit der Weigerung, an der Beseitigung von Ausreisehindernissen mitzuwirken, dürfte dazu führen, dass – im Fall der Erfüllung aller Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG (siehe oben) – ein Ausnahmefall vom Sollanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt (ee). In diesem Fall wäre von der Antragsgegnerin (erneut) nach Ermessen über den Antrag des Antragstellers zu entscheiden. Der Umstand, dass die Täuschung inzwischen seit über drei Jahren zurückliegt und seit 2 ½ Jahren ein gültiger Pass vorliegt, lässt eine Anwendung von § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nicht zu (aa), rechtfertigt aber auch nicht schon, das in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten gänzlich unberücksichtigt zu lassen (bb). Auch ist es mit dem Wortlaut und der Systematik von § 25b AufenthG kaum zu vereinbaren, aufgrund des früheren Fehlverhaltens die Annahme einer nachhaltigen Integration im Sinn des Gesetzes zu verneinen (cc). Das zurückliegende Fehlverhalten ist jedenfalls im vorliegenden Fall nicht mehr geeignet, ein noch aktuelles Ausweisungsinteresse im Sinn von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu begründen (dd).

31

aa) § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG schließt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nur für den Fall zwingend aus, dass der Ausländer (noch) aktuell die Aufenthaltsbeendigung u.a. durch Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch Nichterfüllung zumutbarer Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen verhindert oder verzögert (so auch Samel in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 25b AufenthG Rn. 31; Fränkel in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 25b AufenthG Rn. 21; OVG Magdeburg, Beschl. v. 23.9.2015, 2 M 121/15, EzAR-NF 33 Nr. 45, juris Rn. 10; OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 8). Dies ergibt sich klar aus der Verwendung der Präsensform "verhindert oder verzögert" im Gesetzestext und entspricht auch dem gesetzgeberischen Willen (vgl. BT-Dr. 18/4097, S. 44 zu Absatz 2 Nr. 1: "Diese Regelung knüpft nur an aktuelle Mitwirkungsleistungen des Ausländers an, …"), auch wenn einzuräumen ist, dass die Gesetzesbegründung hier nicht widerspruchsfrei ist. So heißt es kurz vorher (a.a.O., zu Absatz 2), die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sei ausgeschlossen, wenn der Ausländer … "die Aufenthaltsbeendigung vorsätzlich verhindert oder hinausgezögert hat."

32

bb) Die Verwendung der Präsensform in § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG rechtfertigt für sich allerdings nicht, das in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten gänzlich unberücksichtigt zu lassen. Dem stehen verschiedene Öffnungsmöglichkeiten im Gesetzestext (Abs. 1 Satz 1: "soll"; Abs. 1 Satz 2: "regelmäßig"; Anwendbarkeit von § 5 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 Satz 2 AufenthG) sowie Formulierungen in der Gesetzesbegründung entgegen. So soll die Anknüpfung "nur an aktuelle Mitwirkungsleistungen des Ausländers" im Ausschlussgrund nach § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG "keine Amnestie für jedes Fehlverhalten in den vorangegangenen Verfahren" sein (BT-Drs. 18/4097, S. 44). Allerdings bleibt offen, an welcher Stelle der Normanwendung das in der Vergangenheit liegende Fehlverhalten berücksichtigt werden soll (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 11.4.2017, 1 Bs 55/17, juris Rn. 13 ff.).

33

cc) Verschiedentlich wird angenommen, aufgrund früheren Fehlverhaltens könne ausnahmsweise die Annahme einer nachhaltigen Integration im Sinn des Gesetzes verneint werden (so OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 8 ff.; offengelassen von OVG Bautzen, Beschl. v. 2.9.2016, 3 B 368/16, juris Rn. 6; ablehnend Kluth in: Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 2016, § 25b AufenthG Rn. 10). Dem schließt sich der Senat nicht an.

34

Schon rein tatsächlich wird eine Integration nicht zu bestreiten sein, wenn ein illegal eingereister Ausländer rasch gut Deutsch lernt, einen guten Schul- oder Berufsabschluss erreicht, danach einen qualifizierten Arbeitsplatz mit gutem Verdienst erhält und sich im übrigen auch noch sozial oder im Bereich des Sports (z.B. Trainer) engagiert, allerdings – aus welchen Gründen auch immer – über längere Zeit über seine Identität getäuscht hat.

35

Auch der Gesetzestext des § 25b AufenthG spricht im genannten Beispielsfall für die Annahme einer nachhaltigen Integration. In Absatz 1 Satz 2 ist die Beachtung der Rechtsordnung bzw. straffreies Verhalten nicht als notwendiges Element einer nachhaltigen Integration aufgeführt. Allerdings ist einzuräumen, dass die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/4097, S. 45) dies anders zu sehen scheint. Dort heißt es (allerdings zu Abs. 2 Nr. 2), grundsätzlich sollten "nur Ausländer, die sich an Recht und Gesetz halten, wegen ihrer vorbildlichen Integration begünstigt werden". Die Formulierung "Dies setzt regelmäßig voraus" zu Beginn von Absatz 1 Satz 2 ist nach dem Wortlaut und nach der Gesetzesbegründung allerdings (nur) eine Öffnung für besondere Integrationsleistungen von vergleichbarem Gewicht, wenn einzelne der in Satz 2 aufgeführten Voraussetzungen nicht vollständig erfüllt sind (siehe BT-Drs. 18/4097, S. 42). Wörtlich heißt es in der Begründung:

36

"Sofern die in Satz 2 genannten Voraussetzungen vorliegen, ist von einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland auszugehen. Nur in Ausnahmefällen kann von der Titelerteilung abgesehen werden."

37

Dabei ist der erste Satz aus diesem Zitat wörtlich der Begründung des Gesetzentwurfs des Bundesrats für einen neuen § 25b AufenthG - BR-Drs. 505/12 (Beschluss) vom 22. März 2013 - entnommen. Damals begann der ansonsten textgleiche Satz 2 allerdings noch mit "Dieses [nachhaltige Integration] ist insbesondere der Fall, wenn". Anders als der Bundesrats-Vorschlag erscheint der aktuelle Gesetzestext zwar eher auch für die etwaige Hinzufügung weiterer Erfordernisse offen zu sein, die auch im Nichtvorliegen negativ zu bewertender Umstände (z.B. keine Strafbarkeit, kein Täuschungshandlungen in der Vergangenheit) liegen können. Das würde aber mit der Gesetzesbegründung nicht recht zusammenpassen. Der dortige Satz "Nur in Ausnahmefällen kann von der Titelerteilung abgesehen werden." dürfte sich eher auf die Sollbestimmung des Abs. 1 Satz 1 beziehen (siehe unten bei ee). Außerdem nimmt die Begründung zu der in Satz 2 enthaltenen Formulierung "setzt regelmäßig voraus" allein auf sonstige (positive) Integrationsleistungen Bezug, die im Einzelfall in der Gesamtschau das Fehlen einzelner der in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG aufgeführten Elemente kompensieren können (vgl. zu dieser Problematik – noch zur Entwurfsfassung – insgesamt auch OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 9).

38

Auch die Allgemeinen Anwendungshinweise (AAH) des Bundesministeriums des Inneren zu § 25b AufenthG erwähnen in Teil II (zu den Tatbestandsvoraussetzungen des Absatzes 1) unter "A Allgemeine Hinweise" nur die Möglichkeit, dass wegen besonderer anderer Integrationsleistungen auf die Erfüllung der ausdrücklich aufgeführten Voraussetzungen im Einzelfall verzichtet werden kann.

39

Schließlich führt § 25b Abs. 2 AufenthG bestimmte Verhaltensweisen bzw. Bestrafungen (bzw. ein daraus folgendes Ausweisungsinteresse) erst als zwingende Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Absatz 1 aus. Das lässt darauf schließen, dass das in Absatz 2 erfasste Fehlverhalten gesetzessystematisch nicht schon zur Verneinung einer nachhaltigen Integration führt, da sonst hätte formuliert werden können: "Eine nachhaltige Integration liegt nicht vor, wenn …". Allerdings ist einzuräumen, dass die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/4097, S. 45 zu Abs. 2 Nr. 2) dies anders zu sehen scheint, wenn es dort heißt, bei Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 2 Nr. 3 bis 6 AufenthG n.F werde "ebenfalls regelmäßig keine nachhaltige Integration gegeben sein" (ähnlich in Teil I der AAH). Hierzu ist allerdings zu bemerken, dass – wie gezeigt – wiederholt zwischen dem Gesetzestext und der Begründung des Gesetzentwurfs gewisse Brüche bestehen.

40

dd) Die Anwendbarkeit von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (Nichtvorliegen eines Ausweisungsinteresses) im Rahmen von § 25b AufenthG ist im Grundsatz unstreitig. Sie wird in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/4097, S. 45 zu Absatz 2 Nr. 2) auch ausdrücklich erwähnt. § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG enthält ausdrückliche Abweichungen von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG; § 25b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG regelt ferner insofern eine Abweichung von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, als für die dort geregelten Fälle – strenger als die allgemeine Vorschrift – zwingend die Versagung der Aufenthaltserlaubnis vorgeschrieben wird. Im übrigen bleibt es bei der Geltung der allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen (vgl. auch - zu § 25a AufenthG - BVerwG, Urt. v. 14.5.2013, 1 C 17.12, BVerwGE 146, 281, juris Rn. 18 ff.).

41

Ein Ausweisungsinteresse muss allerdings noch aktuell sein: Nicht die Verwirklichung eines Ausweisungstatbestandes in der Vergangenheit, sondern der Fortbestand des Ausweisungsinteresses, also eine aktuell bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Zeitpunkt der Entscheidung über den Aufenthaltserlaubnis-Antrag, soll die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hindern (vgl. Samel in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 5 AufenthG Rn. 55). Hieran kann man erheblich zweifeln, wenn die bisher zweifelhafte Identität inzwischen eindeutig geklärt ist bzw. – wie im Fall des Antragstellers – eine falsche Identität durch Vorlage richtiger Dokumente vor inzwischen mehreren Jahren richtiggestellt wurde. Die Bejahung eines fortbestehenden Ausweisungsinteresses in einem solchen Fall geriete zudem in ein Spannungsverhältnis zu § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, wonach nur aktuelle Täuschungen oder Verletzungen der Mitwirkungspflicht (dann allerdings zwingend) negativ zu beachten sind (vgl. hierzu unter aa). Soweit ein Ausweisungsinteresse noch aktuell ist, kann allerdings bei der Anwendung von § 25b AufenthG gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vom Erfordernis des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen werden (vgl. zu den hierbei anzustellenden Erwägungen BVerwG, Urt. v. 14.5.2013, a.a.O., Rn. 31; zur Übertragung dieser Gedanken auf § 25b AufenthG: Hailbronner, AuslR, Stand Oktober 2016, § 25b AufenthG Rn. 12; siehe auch Fränkel in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 25b AufenthG Rn. 23).

42

ee) Ein in der Vergangenheit liegendes Fehlverhalten in Form von Identitätstäuschungen, fehlender Mitwirkung an der Beseitigung von Ausreisehindernissen o.ä. lässt sich systematisch am besten in der Form erfassen, dass es als möglicher Ausnahmefall von der Regelerteilungsnorm des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG angesehen wird (so wohl auch Hailbronner, a.a.O., § 25b AufenthG Rn. 9; OVG Magdeburg, Beschl. v. 23.9.2015, 2 M 121/15, EzAR-NF 33 Nr. 45, juris Rn. 10; angedeutet auch bei OVG Münster, Beschl. v. 21.7.2015, 18 B 486/14, juris Rn. 15, dort wohl unter Vertauschung von Satz 1 und 2).

43

§ 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG räumt nur einen Soll-Anspruch ein. Das ermöglicht es, besondere Umstände zu berücksichtigen und im Hinblick auf diese die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis trotz vorliegender nachhaltiger Integration ausnahmsweise zu versagen (vgl. zur Bedeutung einer Soll-Regelung: BVerwG, Urt. v. 17.12.2015, 1 C 31.14, BVerwGE 153, 353, juris Rn. 21 f.).

44

Die Gesetzesbegründung zu § 25b AufenthG enthält verschiedene Anhaltspunkte, aus denen der gesetzgeberische Wille erkennbar wird, früheres Fehlverhalten über die "Soll"-Regelung des Absatz 1 Satz 1 zu erfassen und zu bewerten. So heißt es zu Absatz 1 (BT-Drs. 18/4097, S. 42):

45

"Wenn die Voraussetzungen des § 25b vorliegen, soll die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Sofern die in Satz 2 genannten Voraussetzungen vorliegen, ist von einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland auszugehen. Nur in Ausnahmefällen kann von der Titelerteilung abgesehen werden."

46

Weitere Ausführungen, wonach "grundsätzlich … nur Ausländer, die sich an Gesetz und Recht halten, wegen ihrer vorbildlichen Integration begünstigt werden" sollen, die Regelung in Absatz 2 Nr. 1, die nur an aktuelle (ergänze: fehlende) Mitwirkungshandlungen des Ausländers anknüpfe, "jedoch keine Amnestie für jedes Fehlverhalten in den vorangegangenen Verfahren" sein solle und die Aussage, wonach "bei Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Absatz 2 Nummer 3 bis 6 n.F. ebenfalls regelmäßig keine nachhaltige Integration gegeben sein" werde, befinden sich zwar bei der Begründung zu Absatz 2 Nr. 1 und 2 (BT-Drs. 18/4097, S. 44, 45), doch lassen sich die vorgestellten Verhaltensweisen sowie die hieraus erkennbare Absicht des Gesetzgebers über die Anwendung der Soll-Regelung des Absatzes 1 Satz 1 erfassen.

47

Auch dann, wenn im Rahmen der Sollregelung des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Ausnahmefall nur solche Fälle angesehen werden, die sich durch besondere, atypische Umstände auszeichnen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen (vgl. statt vieler: BVerwG, Urt. v. 16.8.2011, 1 C 12.10, InfAuslR 2012, 53 juris Rn. 18), erscheint es allerdings zweifelhaft, ob in der Vergangenheit liegende Identitätstäuschungen deshalb grundsätzlich nicht als atypische Ausnahmefälle im Sinn von § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG anzusehen sind, weil viele Ausländer in der Vergangenheit über ihre Identität getäuscht bzw. sich nicht um einen Pass gekümmert hätten und dem Gesetzgeber dies bewusst gewesen sei; ein Ausnahmefall könne daher allenfalls dann angenommen werden, wenn den Täuschungshandlungen in einem atypischen Fall eine besondere Verwerflichkeit zukomme (so das Verwaltungsgericht im angefochtenen Beschluss, S. 6). Die Gründe, weshalb es in der Vergangenheit nicht zu einer Aufenthaltsbeendigung gekommen ist, können jedoch vielfältig sein. Motiv für die Schaffung einer alters- und stichtagsunabhängigen Bleiberechtsregelung war jedenfalls der Umstand, dass "die aufenthaltsrechtliche Situation … derzeit allerdings in vielen Fällen weder durch eine zwangsweise Aufenthaltsbeendigung noch durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verändert werden" könne (vgl. Gesetzesbegründung, Allgemeiner Teil, BT-Drs. 18/4097, S. 23; so auch schon BR-Drs. 505/12 - Beschluss - S. 1). Jedenfalls wird die Dauer des Fehlverhaltens ein erhebliches Indiz für das Vorliegen eines Ausnahmefalls sein, zumal wenn es erst vor relativ kurzer Zeit beendet wurde.

48

d) Im Fall des Antragstellers spricht viel für das Vorliegen eines Ausnahmefalles. Die Frage, ob ein atypischer Ausnahmefall vorliegt, bei dem der Verwaltung ein Rechtsfolgenermessen eröffnet ist, unterliegt in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung und ist insoweit eine rechtlich gebundene Entscheidung. Nur aufgrund einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles kann beurteilt und festgestellt werden, ob ein Ausnahmefall vorliegt (BVerwG, Urt. v. 17.12.2015, 1 C 31.14, BVerwGE 153, 353, juris Rn. 21 f.).

49

Der Antragsteller kam im Alter von 14 Jahren zusammen mit seiner Familie nach Deutschland. Ihm war im Heimatland bereits ein Personaldokument mit seinen richtigen Personalien ausgestellt worden. Ihm musste daher bewusst sein, dass die für ihn zunächst von seinen Eltern, spätestens ab seiner Volljährigkeit im Jahr 2008 von ihm selbst angegebenen Personalien falsch sind. Wiederholte Aufforderungen der Ausländerbehörde, sich um die Ausstellung eines Heimreisedokuments zu bemühen, missachtete der Antragsteller. Auch die Anregung der Ausländerbehörde, wegen mangelnder Mitwirkung die Sozialleistungen zu kürzen und die auf diese Umstände gestützte Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis bewirkten keine Verhaltensänderung. Es kommt hinzu, dass der Aufenthalt des Antragstellers wohl allein deshalb geduldet worden war, weil kein gültiger Pass oder ein sonstiges Heimreisedokument vorlag; den Ausländerakten – v.a. der zwischenzeitlich aus einem anderen Verfahren beigezogenen Akte der Mutter des Antragstellers – kann entnommen werden, dass durchaus ausländerbehördliche Versuche unternommen worden waren, Ausreisepapiere für die Familie zu erhalten, was aber an den falschen Personalien scheiterte. Im Hauptsacheverfahren kann ggf. noch weiter versucht werden, die Gründe für die lange Identitätstäuschung und auch für den diesbezüglichen Meinungswechsel der Familie etwa Ende des Jahres 2013 zu erfragen.

50

Liegt bei Vorliegen der Integrationsvoraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG ein Ausnahmefall vor, so hat die Antragsgegnerin über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen zu entscheiden. Dies ist bisher wegen anderer rechtlicher Ausgangspunkte in den Bescheiden der Antragsgegnerin noch nicht geschehen. Im Bescheid vom 17. Juni 2016 wurde schon die nachhaltige Integration des Antragstellers in die hiesigen Lebensverhältnisse verneint. Im Widerspruchsbescheid vom 21. September 2016 sah die Antragsgegnerin das Fehlverhalten des Antragstellers als Ausnahme von der nach § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG anzunehmenden Integration, verneinte somit bereits die Erteilungsvoraussetzung, so dass auch hier kein Rechtsfolgenermessen ausgeübt wurde. Auch dürfte kein Fall vorliegen, in dem als einzige fehlerfreie Ermessensentscheidung eine Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG in Betracht käme. So hat die Antragsgegnerin der jüngeren Schwester des Antragstellers eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG und der Zwillingsschwester des Antragstellers eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG erteilt. Alle in Hamburg lebenden Familienangehörigen haben in gleicher Weise wie der Antragsteller über etliche Jahre über ihre Identität getäuscht, mag dies der 1997 geborenen jüngeren Schwester auch nicht in gleichem Maße vorgeworfen werden können.

51

Ist im Einzelfall Ermessen auszuüben, so führt ein Ermessensnichtgebrauch zur Rechtswidrigkeit der Bescheide und im Hauptsacheverfahren zumindest zum Anspruch des Antragstellers, dass die Antragsgegnerin erneut über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entscheidet. Dieser Anspruch wird zu Recht durch die vom Verwaltungsgericht erlassene einstweilige Anordnung gesichert.

III.

52

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

53

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2 GKG. Es geht vorliegend um die vorläufige Sicherung des behaupteten Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, nicht allein um die Verhinderung einer Abschiebung oder eine isolierte Abschiebungsandrohung (so das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit). Mit der begehrten einstweiligen Anordnung wird auch nicht die Hauptsache vorweggenommen. In der Hauptsache wird die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis begehrt; dies ist nicht Gegenstand des Antrags nach § 123 VwGO.

(1) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt in der Regel voraus, dass

1.
der Lebensunterhalt gesichert ist,
1a.
die Identität und, falls er nicht zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt ist, die Staatsangehörigkeit des Ausländers geklärt ist,
2.
kein Ausweisungsinteresse besteht,
3.
soweit kein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht, der Aufenthalt des Ausländers nicht aus einem sonstigen Grund Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder gefährdet und
4.
die Passpflicht nach § 3 erfüllt wird.

(2) Des Weiteren setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, einer Blauen Karte EU, einer ICT-Karte, einer Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU voraus, dass der Ausländer

1.
mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und
2.
die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat.
Hiervon kann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Satz 2 gilt nicht für die Erteilung einer ICT-Karte.

(3) In den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 24 oder § 25 Absatz 1 bis 3 ist von der Anwendung der Absätze 1 und 2, in den Fällen des § 25 Absatz 4a und 4b von der Anwendung des Absatzes 1 Nr. 1 bis 2 und 4 sowie des Absatzes 2 abzusehen. In den übrigen Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 kann von der Anwendung der Absätze 1 und 2 abgesehen werden. Wird von der Anwendung des Absatzes 1 Nr. 2 abgesehen, kann die Ausländerbehörde darauf hinweisen, dass eine Ausweisung wegen einzeln zu bezeichnender Ausweisungsinteressen, die Gegenstand eines noch nicht abgeschlossenen Straf- oder anderen Verfahrens sind, möglich ist. In den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 26 Absatz 3 ist von der Anwendung des Absatzes 2 abzusehen.

(4) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels ist zu versagen, wenn ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Absatz 1 Nummer 2 oder 4 besteht oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58a erlassen wurde.

Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- EUR festgesetzt.


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(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.