Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Urteil, 27. Jan. 2011 - 4/09

bei uns veröffentlicht am27.01.2011

Tenor

1. Der Antrag wird zurückgewiesen.

2. Die Entscheidung ergeht kostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet.

Gründe

A.

1

Der Antragsteller gehört in der laufenden 5. Wahlperiode als Abgeordneter dem Landtag Mecklenburg-Vorpommern an und ist Mitglied der Fraktion der NPD. Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob der Antragsteller durch den ihm gegenüber erfolgten Ordnungsruf in der 69. Sitzung des Landtages Mecklenburg-Vorpommern am 13. Mai 2009 in seinen verfassungsrechtlichen Rechten als Abgeordneter verletzt wurde.

I.

2

Seit Beginn seines Abgeordnetenverhältnisses verzichtet der Antragsteller bei seinen Reden im Landtag weitgehend auf eine übliche Anrede des Präsidiums und des Plenums, sondern spricht sie kaum oder nur durch bloße Nennung an oder wendet sich statt dessen etwa an die "Bürger des Landes". Dies hatte bereits in der Vergangenheit gegen ihn verhängte Ordnungsmaßnahmen nach sich gezogen, was in einem Fall auch Gegenstand des Verfahrens zu dem Aktenzeichen LVerfG 5/08 des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern war.

3

In der 69. Sitzung des Landtages Mecklenburg-Vorpommern am 13. Mai 2009 ist der Beginn der Einbringungsrede des Antragstellers zu einem Gesetzentwurf seiner Fraktion zu der Drucksache 5/2269 wie folgt protokolliert worden: "Frau Bretschneider! Bürger Abgeordnete!" Die Antragsgegnerin unterbrach den Antragsteller daraufhin mit folgenden Worten: "Herr Abgeordneter Borrmann, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf. Sie sind seit ewigen Zeiten hier in den Plenardebatten aufgefordert worden, das Präsidium korrekt anzureden und das hohe Haus korrekt anzureden. Ich bitte Sie nochmals, diese Form der Höflichkeit und auch diese Form der Anerkennung der Aufgaben des Hohen Hauses und des Präsidiums hier oben nicht zu missachten."

4

Im weiteren Verlauf der Landtagssitzung leitete der Antragsteller eine Diskussionsrede zu der Drucksache 5/2579 mit den Worten ein: "Bürger Präsident! Bürger des Landes!" Der Vizepräsident des Landtages, der zwischenzeitlich die Sitzungsleitung übernommen hatte, erteilte dem Antragsteller daraufhin einen zweiten Ordnungsruf mit dem Hinweis, dass ihm bei einem weiteren Ordnungsruf das Rederecht entzogen werde. Als der Antragsteller in seiner anschließenden Rede unter anderem ausführte: "(...) mit der Fratze irgendeines beliebigen Agrarministers, der verlogen (...)" erhielt er einen dritten Ordnungsruf und ihm wurde das Wort entzogen.

5

Den gegen den ersten Ordnungsruf eingelegten Einspruch des Antragstellers wies der Landtag in seiner Sitzung vom 16. Juni 2009 zurück.

II.

6

Am 08. November 2009 hat der Antragsteller ein Organstreitverfahren nach Art. 53 Nr. 1 LV anhängig gemacht mit dem Antrag,

7

festzustellen, dass der erste Ordnungsruf der Antragsgegnerin gegen den Antragsteller in der Landtagssitzung vom 13. Mai 2009 gegen Art. 22 Abs. 2 Satz 1 der Landesverfassung verstoße.

8

Der Antragsteller ist der Auffassung, auch ein Ordnungsruf unterliege der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Denn Ordnungsrufe zerstückelten einen Wortbeitrag mit dem Anschein eines Fehlverhaltens. Das beeinträchtige die Wirkung der Rede erheblich und könne weder durch beste Argumente noch Rhetorik ausgeglichen werden. Zudem habe ein Ordnungsruf Auswirkungen für künftige Reden in derselben Sitzung, weil gegebenenfalls ohne deren Umformulierung das Risiko weiterer, schärferer Ordnungsmittel bestehe.

9

Sein Verhalten, das Gegenstand des angegriffenen ersten Ordnungsrufes in der fraglichen Sitzung gewesen sei, habe weder die funktionale Ordnung des Landtages gefährdet noch die Erheblichkeitsschwelle für eine Verletzung der Würde des Parlaments überschritten. Die im Protokoll mangels eines Kommas zwischen den Worten "Bürger" und "Abgeordnete" leicht missverständlich wiedergegebene Anrede beinhalte keine Beleidigung oder sonstige Missachtung, sondern versage lediglich die Kundgabe einer besonderen Wertschätzung, auf die es keinen, nicht einmal einen moralischen Anspruch gebe. Der Antragsteller verfolge auf diesem Wege zum einen das Ziel, Zuhörern und Abgeordneten zu vergegenwärtigen, dass das Parlament eine reine Volksvertretung und letztere daher nichts Besseres seien; zum anderen solle so eine deutliche Abgrenzung zu den anderen Fraktionen und den von diesen vertretenen Positionen erfolgen. Es handele sich um eine durchaus kalkulierte Provokation und Stichelei, die angesichts des hitzigen und oft polemisierenden parlamentarischen Meinungskampfes hinzunehmen sei. Anderenfalls werde das Rederecht des Abgeordneten erheblich entwertet. Es bestünden praktisch keine Spielräume mehr, Ansichten und Positionen auch symbolträchtig und pathetisch zu definieren.

10

Das Vorgehen der Antragsgegnerin verletze ihn in seiner Würde. Eine Anrede drücke die individuelle Haltung aus, deswegen könne die Kundgabe von Wertschätzung gegenüber einem anderen nicht erzwungen werden. Schon wegen der absoluten Geltung der Menschenwürde sei die Individualität des Abgeordneten als gegenüber der Würde des Parlamentes vorrangig anzusehen.

11

III. Die Antragsgegnerin beantragt,

12

den Antrag zurückzuweisen.

13

Sie ist der Auffassung, sie habe mit dem Ordnungsruf das mildeste, dem Verhalten des Antragstellers angemessene Ordnungsmittel gewählt. Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Kontrolle parlamentarischer Ordnungsmaßnahmen sei dabei zu berücksichtigen, dass durch das Verhalten des Antragstellers einerseits das Binnenverhältnis des Landtages nachhaltig betroffen und andererseits mit dem erfolgten Ordnungsruf nur eine geringfügige Verzögerung des Redebeginns einhergegangen sei. Soweit jedem Ordnungsruf von vornherein die Möglichkeit innewohne, dass er Auswirkungen auf weitere Ordnungsmaßnahmen gegenüber demselben Redner haben könne, sei diese Gefahr bei einem ersten Ordnungsruf noch theoretisch. Der betroffene Abgeordnete habe es selbst in der Hand, sich jenen nach seinem Zweck als Warnung dienen zu lassen und Weiterungen zu vermeiden, während die Sitzungsleitung es in Abhängigkeit von ihrer Einschätzung der Schwere weiterer Verfehlungen auch bei formlosen Ermahnungen belassen könne.

14

Parlamente seien befugt, in ihrem Binnenrecht Normen der äußeren Observanz etwa auch hinsichtlich einer bestimmten Art der Eröffnung von Debattenbeiträgen zu setzen und durchzusetzen. Da Regelwidrigkeiten auf die Institution als solche zurückfielen, gehöre es zu den genuinen Aufgaben der Parlamente, die Grenzen der in ihnen akzeptierten Verhaltensweisen festzulegen und zu entscheiden, wie lange und wie stark solche Normen gelten sollen. Der Weg zu Änderungen führe nur über einen veränderten Konsens des Parlamentes selbst. Dass der Einspruch des Antragstellers im vorliegenden Fall zurückgewiesen worden sei, stelle eine Bestätigung einer solchen ungeschriebenen, aber vom Landtag verbindlich gesetzten Regel dar, die als geboten und den öffentlichen Erwartungen entsprechend angesehen werde. Der Ordnungsruf sei damit nicht wegen eines individuellen Geschmacks- oder Stilempfindens der Antragsgegnerin erfolgt. Die Redefreiheit schütze die inhaltliche Auseinandersetzung um die öffentlichen Angelegenheiten. Wer sie dagegen nutze, um gegenüber dem Landtag als solchem zu provozieren und zu sticheln, eröffne die Auseinandersetzung auf dem Feld der inneren Ordnung, auf dem das Parlament zur Gegenwehr verfassungskonform befugt sei.

IV.

15

Der Landesregierung wurde Gelegenheit zur Äußerung gegeben.

B.

16

Der Antrag ist zulässig.

I.

17

Der Rechtsweg zum Landesverfassungsgericht ist gemäß Art. 53 Nr. 1 LV, § 11 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern - LVerfGG - gegeben. Danach entscheidet das Landesverfassungsgericht über die Auslegung der Verfassung aus Anlass einer Streitigkeit über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Landesorgans oder anderer Beteiligter, die durch die Verfassung oder in der Geschäftsordnung des Landtages mit eigenen Rechten ausgestattet sind (Organstreitverfahren).

18

Antragsteller und Antragsgegnerin sind im Sinne dieser Vorschriften beteiligungsfähig, weil sie durch die Verfassung und die Geschäftsordnung des Landtages - GO LT - mit eigenen Rechten ausgestattet werden. Sie stehen auch in einem verfassungsrechtlich geprägten Rechtsverhältnis zueinander, denn zwischen ihnen besteht Streit über den Umfang der Rechte und Pflichten aus dem Abgeordnetenstatus einerseits und aus der parlamentarischen Ordnungs- oder Disziplinargewalt der Präsidentin andererseits. Diese übt kraft Übertragung durch das Parlament dessen Ordnungsgewalt gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1, §§ 97 ff. GO LT in eigener Verantwortung und unabhängig aus, weshalb sie im Verfassungsrechtsstreit über eine insoweit mögliche Verletzung von Abgeordnetenrechten unmittelbar in Anspruch genommen werden kann.

19

Die Frage, ob ein Abgeordneter wegen einer Äußerung in einer Plenardebatte mit einer Ordnungsmaßnahme belegt werden darf, berührt die zu seinem verfassungsrechtlichen Status aus Art. 22 Abs. 2 Satz 1 LV gehörende Befugnis zur Rede, deren Verletzung er im Organstreitverfahren geltend machen kann (vgl. LVerfG M-V, Urt. v. 29.01.2009 - LVerfG 5/08 -, NordÖR 2009, 205, 206 m.w.N.).

II.

20

Der Antragsteller hat seinen Antrag gemäß § 37 Abs. 2 und 3 LVerfGG form- und fristgemäß gestellt und ordnungsgemäß begründet sowie zum Nachweis der nach § 37 Abs. 1 LVerfGG erforderlichen Antragsbefugnis hinreichend Tatsachen vorgetragen, die eine Rechts- oder Pflichtverletzung bzw. eine unmittelbare Rechts- oder Pflichtengefährdung durch ein Verhalten der Antragsgegnerin möglich erscheinen lassen (vgl. LVerfG M-V, Urt. v. 14.12.2000 - LVerfG 4/99 -, LVerfGE 11, 306, 314 m.w.N.). Der Ordnungsruf gemäß § 97 GO LT stellt - im Gegensatz zu einer nicht förmlich geregelten parlamentarischen Rüge oder gar einer bloßen Unterbrechung der Rede durch Bemerkungen des amtierenden Präsidenten (BVerfGE 60, 374, 380 ff.; BbgVerfG, Beschl. v. 28.03.2001 - VfGBbg 46/00 -, LVerfGE 12, 92, 100) - regelmäßig einen Eingriff in das Rederecht des Abgeordneten dar.

III.

21

Dem Antragsteller steht auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für eine verfassungsgerichtliche Klärung zur Seite. Regelmäßig indiziert schon das Vorliegen der Antragsbefugnis das Rechtsschutzinteresse (LVerfG M-V, Urt. v. 27.05.2003 - LVerfG 10/02 -, DÖV 2003, 765 = LKV 2003, 516 = NordÖR 2003, 359).

22

Alternative und in ihrer Effektivität der Beschreitung des Verfassungsgerichtsweges gleichwertige parlamentarische Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen für den Antragsteller nicht; das Einspruchsverfahren gemäß § 100 GO LT hat er erfolglos durchgeführt (vgl. LVerfG M-V, Urt. v. 29.01.2009 - LVerfG 5/08 -, a.a.O.).

23

Zwar kann der Ordnungsruf nicht wieder rückgängig gemacht werden. Indes begründet er - seine Unzulässigkeit unterstellt - eine auch heute noch im Organstreitverfahren feststellungsfähige Rechtsbeeinträchtigung des Antragstellers (BVerfGE 10, 4, 11).

C.

24

Der Antrag ist jedoch unbegründet.

25

Der gegenüber dem Antragsteller in der Sitzung des Landtages Mecklenburg-Vorpommern am 13. Mai 2009 erfolgte erste Ordnungsruf hat diesen nicht in seinen durch Art. 22 Abs. 2 Satz 1 LV gesicherten Abgeordnetenrechten verletzt.

I.

26

1. Nach Art. 22 Abs. 2 Satz 1 LV haben die Abgeordneten das Recht, im Landtag und in seinen Ausschüssen das Wort zu ergreifen sowie Fragen und Anträge zu stellen. Satz 2 dieser Vorschrift räumt ihnen das Recht ein, bei Wahlen und Beschlüssen ihre Stimme abzugeben. Während diese Rechte einerseits den Status des Abgeordneten wesentlich prägen, sind sie andererseits nicht frei von Bindungen. Diese folgen der Struktur des Parlamentes als Kollegialorgan, in dem sich die Entscheidungsprozesse vollziehen. Diese Struktur ist angewiesen auf eine parlamentarische Binnenorganisation, die sich maßgeblich auf die Geschäftsordnung stützt, die ihrerseits zu den bedeutsamen Organisationsakten des Landtages zählt (LVerfG M-V, Urt. v. 31.05.2001 - LVerfG 2/00 -, LVerfGE 12, 209, 221). Diese Geschäftsordnungsautonomie berechtigt das Parlament zum Erlass sämtlicher von ihm für notwendig angesehenen Regeln, um ein ordnungsgemäßes und der Würde des Hauses entsprechendes Arbeiten zu gewährleisten. Darin notwendig eingeschlossen ist die Befugnis, auch die zur Beseitigung von Störungen im Plenarsaal erforderlichen Normen aufzustellen, deren Anwendung und Umsetzung dann wiederum vorrangig dem amtierenden Landtagspräsidenten im Rahmen der Sitzungsleitung obliegt.

27

Dem entspricht, dass zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Landtages grundsätzlich auch die in Art. 22 Abs. 2 LV gesicherten Rechte des einzelnen Abgeordneten durch eine Geschäftsordnung eingeschränkt werden können (vgl. etwa Klein in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 38 Rn. 200; Tebben in: Litten/Wallerath [Hrsg.], LVerf M-V, Art. 22 Rn. 15). Die Landesverfassung Mecklenburg-Vorpommerns erkennt dies selbst ausdrücklich an, wenn sie in Art. 22 Abs. 2 Satz 3 und damit in unmittelbarem Bezug zu Abs. 2 Satz 1 und 2 vorsieht, dass "das Nähere die Geschäftsordnung regelt" (hierzu bereits LVerfG M-V, Urt. v. 21.06.2007 - LVerfG 19/06 -, S. 12). Die Geschäftsordnung setzt grundlegende Bedingungen für die geordnete Wahrnehmung der Abgeordnetenrechte, die nur als Mitgliedschaftsrechte bestehen und verwirklicht werden können und daher einander zugeordnet und aufeinander abgestimmt werden müssen. Nur so wird dem Parlament eine sachgerechte Erfüllung seiner Aufgaben möglich (BVerfGE 80, 188, 219).

28

2. Verletzt ein Mitglied des Landtages die Würde oder die Ordnung des Hauses, soll der Präsident es gemäß § 97 Abs. 2 Satz 1 GO LT zur Ordnung rufen. Eine Verletzung der Würde oder der Ordnung des Landtages liegt vor, wenn gegen die parlamentarische Ordnung durch Äußerungen oder Handlungen, die den parlamentarischen Regeln widersprechen und das Ansehen des Parlamentes zu schädigen geeignet sind, verstoßen wird. Bei dem Begriff der parlamentarischen Ordnung in diesem Sinne handelt es sich um einen unbestimmten, ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriff (Köhler, Die Rechtsstellung der Parlamentspräsidenten in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland und ihre Aufgaben im parlamentarischen Geschäftsgang, 2000, S. 194).

29

Vor diesem Hintergrund verbietet sich bei der Beurteilung parlamentarischer Ordnungsmaßnahmen eine umfassende verfassungsgerichtliche Kontrolle in der Art der Überprüfung eines Verwaltungsakts. Die Auslegung der in den ordnungsrechtlichen Vorschriften verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe, ihre Anwendung auf den Einzelfall und die Gewichtung eines erkannten Verstoßes bleibt vielmehr vorrangig Sache des Präsidiums und des Parlamentes im Rahmen der Entscheidung über einen Einspruch nach § 100 GO LT. Hierbei besteht aufgrund des spezifischen Charakters des parlamentarischen Willensbildungsprozesses in dem Kollegialorgan "Landtag", der wesentlich durch Elemente organschaftlicher Selbstregulierung geprägt ist, die ebenso die Funktionsfähigkeit des Landtages wie die Außenwirkung des obersten, durch den Repräsentationsgedanken geprägten Verfassungsorgans des Landes betreffen, ein gewisser Beurteilungsspielraum (vgl. LVerfG M-V, Urt. v. 29.01.2009 - LVerfG 5/08 -, a.a.O., S. 207 m.w.N.). Die Wahrung der Ordnung des Hauses und der Würde der Verhandlungen ist Sache der politischen Körperschaft und die Gerichte haben hierüber nicht zu entscheiden, soweit sie sich dadurch eines unzulässigen Eingriffes in die Selbstbestimmungsbefugnisse des Parlamentes schuldig machten (so schon RGSt 47, 270, 275). Die Würde des Landtages zu fördern und zu erhalten ist eine Aufgabe, die vor allem dem Parlament selbst und damit jedem einzelnen seiner Mitglieder gestellt ist (vgl. LVerfG M-V, a.a.O.).

30

3. Unter Berücksichtigung des Gewichts der Parlamentsautonomie reduziert sich der Umfang des Rederechts eines Abgeordneten auf ein Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung, soweit das Ordnungsmittel im Ermessen des Parlamentspräsidenten steht. Zudem korrespondiert damit eine eingeschränkte Möglichkeit materieller Überprüfung der angewandten Ordnungsmittel. Auch wenn parlamentarische Ordnungsmaßnahmen nicht lediglich einer Überprüfung am Maßstab der Willkür oder des Missbrauchs unterliegen, ist in der Folge Zurückhaltung hinsichtlich der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte doch umso mehr geboten, je stärker das Binnenverhältnis des Parlamentes betroffen ist und je geringer die Auswirkungen auf grundlegende Abgeordnetenrechte sind (vgl. LVerfG M-V, a.a.O.).

31

Der Begriff der parlamentarischen Ordnung kann dabei nicht allein auf den äußeren Ablauf der Plenarsitzung und unmittelbare Störungen der Beratungen und der politischen Diskussion im Parlament begrenzt werden. Vielmehr sind weitergehend auch die Werte und Verhaltensweisen zu berücksichtigen, die sich in der demokratischen und vom Repräsentationsgedanken getragenen parlamentarischen Praxis entwickelt haben und die durch die historische und politische Entwicklung geformt worden sind. Das Parlament ist berechtigt, seine Mitglieder durch Verhaltensregeln auch auf die Wahrung der Würde des Landtages im Sinne eines von gegenseitigem Respekt getragenen Diskurses zu verpflichten. Es darf deshalb Verstöße sanktionieren, wo es diese Würde gefährdet oder verletzt sieht, etwa weil das Verhalten eines Abgeordneten erkennen lässt, dass er den für eine sachbezogene Arbeit notwendigen Respekt gegenüber den übrigen Parlamentariern oder der Sitzungsleitung vermissen lässt und damit zwangsläufig auch das Ansehen des Hauses nach außen beschädigt (vgl. LVerfG M-V, Urt. v. 29.01.2009 - LVerfG 5/08 -, a.a.O., S. 207 f. m.w.N.).

32

Die Redefreiheit des Abgeordneten im Parlament unterfällt weder dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 LV i.V.m. Art. 5 GG noch dem des Art. 5 Abs. 3 LV i.V.m. Art. 2 GG; denn die Redefreiheit des Abgeordneten im Parlament ist nicht die Freiheit des Bürgers gegenüber dem Staat, sondern eine in der Demokratie unverzichtbare Kompetenz zur Wahrnehmung der parlamentarischen Aufgaben, die den Status als Abgeordneter wesentlich mitbestimmt. Die Landesverfassung gewährleistet die Redefreiheit des Abgeordneten im Parlament vielmehr durch Art. 22 Abs. 2 Satz 1 LV. Um der parlamentarischen Rede- und Handlungsfreiheit willen verleiht die Verfassung den Abgeordneten die Privilegien des Art. 24 Abs. 1 LV. Während die Indemnität, aufgrund derer ein Abgeordneter wegen seiner Abstimmung oder wegen seiner Äußerungen im Landtag oder einem seiner Ausschüsse durch keine Instanz außerhalb des Parlamentes zur Verantwortung gezogen werden darf, kein Äquivalent im Recht der freien Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 3 LV i.V.m. Art. 5 GG hat, ist es danach umgekehrt ebenso vorstellbar, dass Äußerungen eines Abgeordneten die Ordnung des Parlamentes verletzen und eine Sanktion des Präsidenten nach sich ziehen, obschon sie sich in den Grenzen der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 LV i.V.m. Art. 5 GG gehalten haben (vgl. BVerfGE 60, 374, 380). Zu berücksichtigen ist insbesondere, dass die Würde des Parlamentes, zumal in öffentlichen Verhandlungen, Formwahrung gebietet. Werden Formverstöße durch Ordnungsruf gerügt, ohne dass hierbei der Inhalt der Meinungsäußerung berührt wird, ist hierin weder eine Beschränkung der Meinungsfreiheit noch eine solche des Rederechtes zu sehen; beide sind insoweit teleologisch reduziert (vgl. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 653 f.).

II.

33

Danach ist der gegenüber dem Antragsteller in der Landtagssitzung am 13. Mai 2009 erfolgte erste Ordnungsruf wegen der von ihm gewählten Anrede des Präsidiums und des Plenums verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es kann insbesondere offen bleiben, ob die Äußerung mit dem Weglassen des Kommas zwischen den Worten "Bürger" und "Abgeordnete" zutreffend protokolliert worden ist.

34

1. Die Frage der zu wahrenden parlamentarischen Höflichkeitsformen betrifft das Binnenverhältnis des Landtages in seinem Kernbereich, während grundlegende Abgeordnetenrechte, zu denen das Rederecht sowie dasjenige auf Sitzungs- und Abstimmungsteilnahme gehören, hierdurch, wenn überhaupt, allenfalls marginal berührt werden. Angesichts der Parlamentsautonomie kommt in der Regel nicht dem Verfassungsgericht die Einschätzung zu, welche formalen Gepflogenheiten im parlamentarischen Umgang zu dulden sind und welche nicht.

35

Die Wahrung äußerer Formen des parlamentarischen Verfahrens ist nicht zuletzt als Hilfsmittel für die erforderliche persönliche Distanz der Beteiligten und einen geordneten Ablauf der Sitzung anzusehen. Deren Teilnehmer haben danach ein Verhalten zu wahren, das dem Wirken des Parlamentes in Erfüllung seines besonderen Verfassungsauftrages entspricht. Es umfasst das Gebot der Nichteinmischung, das Verbot der Störung, aber auch den Zwang zur Wahrung äußerer Formen, nicht, weil dies der Tradition entspricht, sondern als Zeichen selbstverständlicher, zeitloser, ideologisch wertfreier Achtung vor der besonderen Bedeutung des Auftrages der gewählten Abgeordneten und ihres Präsidiums, losgelöst auch von der Person desjenigen, der jeweils den parlamentarischen Auftrag erfüllt. Nicht der jeweiligen Person, sondern seinem Amt gebühren die gewohnheitsmäßigen Respektsbekundungen. Soweit sich innerhalb des Parlamentes ein weit überwiegender Konsens hinsichtlich der zu beachtenden Formen gebildet hat, wie er auch in der Zurückweisung des Einspruches des Antragstellers gegen die angegriffene Ordnungsmaßnahme zum Ausdruck kommt, und dem sich die übrigen Parlamentsangehörigen unterwerfen, verletzt es weder die Menschenwürde noch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, von dem einzelnen Abgeordneten die Beachtung dieser Formen zu verlangen. Ordnungsmittel können daher insbesondere als Antwort auf Achtungsverletzungen und bewusste Provokationen eingesetzt werden (vgl. auch OLG Hamm NJW 1975, 942 und NJW-RR 2001, 116, 117 zu § 178 GVG, jeweils m.w.N.).

36

Nach der eigenen Darstellung des Antragstellers handelt es sich bei seinem Verzicht auf besondere Wertschätzungsformeln im Zusammenhang mit der Anrede des Präsidiums und des Parlamentes "mit geringfügiger Varianz seit dem Beginn der Legislaturperiode" um "eine (durchaus kalkulierte) Provokation und Stichelei". Die Anreden "drücken (...) nie eine positive Beleidigung oder Leugnung eines Status von Antragsgegnerin oder anderen Abgeordneten aus, sondern versagen den Adressaten lediglich die Kundgabe einer besonderen Wertschätzung." Der Antragsteller bestätigt damit selbst, dass er mit seinem Verhalten gegen die sonst akzeptierten parlamentarischen Regeln fortlaufend und bewusst verstößt. Darin kommt schon angesichts des beabsichtigt provokativen Elementes der Ablehnung einer Wahrung der üblichen Formen ein Mangel an gegenseitigem, durch das Parlament zur Wahrung seiner Würde einforderbarem Respekt zum Ausdruck.

37

Wird die Meinungs- und Redefreiheit wie ausgeführt bei einem formbezogenen, nicht am Inhalt orientierten Ordnungsruf nicht berührt, kann es im Übrigen dahinstehen, ob der Antragsteller hier mit der Form seiner Anreden bereits bestimmte politische Inhalte zu vermitteln beabsichtigt. Es stünde ihm jedenfalls ohne Weiteres frei, diese im Anschluss an eine formwahrende Anrede zu vertreten. Eine "erhebliche Entwertung" seines Rederechtes oder eine unzumutbare Beschneidung der Möglichkeiten zur Darstellung seiner Ansichten und Positionen ist nicht erkennbar. Vielmehr steht ihm für die inhaltliche politische Auseinandersetzung wie allen anderen Abgeordneten seine Redezeit unbeeinträchtigt zur Verfügung, so dass demgegenüber die Ausdehnung des Diskurses bereits auf die Form der Anrede nicht von Gewicht ist.

38

2. Der Ordnungsruf war als Reaktion auf eine Verletzung der Würde und Ordnung des Landtages letztlich nicht unverhältnismäßig. Um im Einzelfall die Adäquanz zu wahren, sind hierfür die Art und Schwere des Verstoßes und die aus der Zweckbestimmung der Geschäftsordnungsautonomie folgenden Ziele, den störungsfreien Ablauf der parlamentarischen Arbeit zu gewährleisten oder ein Verhalten oder Äußerungen zu missbilligen, die geeignet sind, dem Ansehen des Parlamentes zu schaden, gegen den hohen Rang der Abgeordnetenrechte abzuwägen (LVerfG M-V, Urt. v. 29.01.2009, - LVerfG 5/08 -, a.a.O., S. 208).

39

In diesem Zusammenhang kann hier schon nicht außer Acht gelassen werden, dass der Ordnungsruf das mildeste der in der Geschäftsordnung des Landtages geregelten förmlichen Ordnungsmittel darstellt, der Antragsteller bereits in der Vergangenheit gerichtsbekannt mehrfach wegen unkorrekter Anreden des Präsidiums und des Plenums des Landtages ermahnt wurde und es sich bei der gerügten Anredeformulierung nach seinen eigenen Worten um eine weiterhin "(durchaus kalkulierte) Provokation und Stichelei" handelte. Eine nochmalige, der förmlichen Ordnungsmaßnahme vorgeschaltete schlichte Ermahnung wäre demgegenüber allenfalls geboten gewesen, wenn etwa eine Spontanreaktion des Antragstellers auf ein zumindest aus seiner Sicht beanstandungswürdiges Fehlverhalten anderer Teilnehmer der Landtagssitzung vorgelegen hätte (vgl. BVerfG NJW 2007, 2839 zu dem Verhältnis von Art. 5 GG und § 178 GVG).

40

Es ist danach nicht erkennbar, dass sich die Antragsgegnerin zunächst auf eine formlose Rüge des wiederholten Verhaltens des Antragstellers hätte beschränken müssen und der Ordnungsruf unverhältnismäßig gewesen wäre. Dem steht auch nicht entgegen, dass ein erster Ordnungsruf im Falle seiner mehrfachen Wiederholung in derselben Sitzung bis zu einer Wortentziehung führen kann und für den Antragsteller in der Landtagssitzung vom 13. Mai 2009 auch geführt hat; denn diese Erwägung betrifft nicht mehr eine Verfassungswidrigkeit des ersten Ordnungsrufes selbst (vgl. BVerfGE 60, 374, 383).

D.

41

Die Kostenentscheidung beruht auf § 33 Abs. 1 LVerfGG. Es besteht kein Grund, gemäß § 34 Abs. 2 LVerfGG eine Erstattung von Auslagen anzuordnen.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Urteil, 27. Jan. 2011 - 4/09

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Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Urteil, 27. Jan. 2011 - 4/09 zitiert 5 §§.

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 2


(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unver

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 5


(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Fi

Gerichtsverfassungsgesetz - GVG | § 178


(1) Gegen Parteien, Beschuldigte, Zeugen, Sachverständige oder bei der Verhandlung nicht beteiligte Personen, die sich in der Sitzung einer Ungebühr schuldig machen, kann vorbehaltlich der strafgerichtlichen Verfolgung ein Ordnungsgeld bis zu eintaus

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(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

(1) Gegen Parteien, Beschuldigte, Zeugen, Sachverständige oder bei der Verhandlung nicht beteiligte Personen, die sich in der Sitzung einer Ungebühr schuldig machen, kann vorbehaltlich der strafgerichtlichen Verfolgung ein Ordnungsgeld bis zu eintausend Euro oder Ordnungshaft bis zu einer Woche festgesetzt und sofort vollstreckt werden. Bei der Festsetzung von Ordnungsgeld ist zugleich für den Fall, daß dieses nicht beigetrieben werden kann, zu bestimmen, in welchem Maße Ordnungshaft an seine Stelle tritt.

(2) Über die Festsetzung von Ordnungsmitteln entscheidet gegenüber Personen, die bei der Verhandlung nicht beteiligt sind, der Vorsitzende, in den übrigen Fällen das Gericht.

(3) Wird wegen derselben Tat später auf Strafe erkannt, so sind das Ordnungsgeld oder die Ordnungshaft auf die Strafe anzurechnen.

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(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

(1) Gegen Parteien, Beschuldigte, Zeugen, Sachverständige oder bei der Verhandlung nicht beteiligte Personen, die sich in der Sitzung einer Ungebühr schuldig machen, kann vorbehaltlich der strafgerichtlichen Verfolgung ein Ordnungsgeld bis zu eintausend Euro oder Ordnungshaft bis zu einer Woche festgesetzt und sofort vollstreckt werden. Bei der Festsetzung von Ordnungsgeld ist zugleich für den Fall, daß dieses nicht beigetrieben werden kann, zu bestimmen, in welchem Maße Ordnungshaft an seine Stelle tritt.

(2) Über die Festsetzung von Ordnungsmitteln entscheidet gegenüber Personen, die bei der Verhandlung nicht beteiligt sind, der Vorsitzende, in den übrigen Fällen das Gericht.

(3) Wird wegen derselben Tat später auf Strafe erkannt, so sind das Ordnungsgeld oder die Ordnungshaft auf die Strafe anzurechnen.