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Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben. Sie ist auch im Übrigen zulässig und als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gem. § 54 Abs. 4 SGG statthaft.
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Die Klage ist aber nicht begründet.
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Ein Anspruch auf Rente an Versicherte besteht gem. § 56 Abs. 1 Satz 1 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) im Regelfalle, wenn und solange die Erwerbsfähigkeit des Versicherten infolge eines Versicherungsfalls (hier: Arbeitsunfalls) über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist. Ist die Erwerbsfähigkeit des Versicherten infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente. Die Folgen eines Versicherungsfalls sind jedoch nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern (§ 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB VII). Anhaltspunkte für einen solchen Stützrententatbestand, der einen Rentenanspruch bereits bei einer MdE um lediglich 10 v. H. ermöglicht, bestehen hier nicht.
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Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung des Grades der MdE wird ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG eine Tatsachenfeststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Dies gilt für die Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen zu treffende Feststellung der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Daneben sind die von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze bei der Beurteilung der MdE zu beachten. Sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis (vgl. BSG-Urt. v. 5.9.2006, Az.: B 2 U 25/05 R, veröff. in ). Hier sind insoweit die "Empfehlungen des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit" (sog. Königsteiner Merkblatt, 4. A., St. Augustin 1996) ergänzt um das von Feldmann entwickelte "Gewichtete Gesamtwortverstehen" als Erfahrungssätze zu berücksichtigen (so zum Berufskrankheitenrecht BSG, Beschl. v. 21.7.1989, Az.: 2 BU 22/89, ). Sie sind im vorliegenden Fall zwar nicht unmittelbar einschlägig, da keine Berufskrankheit des Klägers in Form einer Lärmschwerhörigkeit, sondern Unfallfolgen im Bereich des Gehörs zu bewerten sind. Das Königsteiner Merkblatt ist aber wegen der Identität des betroffenen Sinnesorgans und der dadurch bedingten Funktionsbeeinträchtigungen auch bei unfallbedingten Schädigungen des Gehörs zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen als maßgeblich in Betracht zu ziehen (ebenso offenbar bereits LSG Berlin, Urt. v. 14.1.2003, Az.: L 2 U 5/00, ).
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Zwischen dem durch den Versicherungsfall hervorgerufenen Körperschaden und den für die MdE maßgeblichen Gesundheitsstörungen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen (sog. haftungsausfüllende Kausalität). Nur Funktionseinbußen infolge des Versicherungsfalls können bei der Schätzung der MdE berücksichtigt werden. Ausgangsbasis der Kausalitätsbeurteilung ist die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie. Nach dieser Theorie ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Wegen der Unbegrenztheit dieses Ursachenbegriffs ist in einer zweiten Prüfungsstufe nach der vom BSG entwickelten Theorie von der wesentlichen Bedingung die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen. Danach sind nur solche Ursachen kausal und rechtserheblich, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs bzw. Gesundheitsschadens abgeleitet werden. Für die wertende Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache sind die vom BSG herausgearbeiteten Grundsätze maßgeblich (vgl. hierzu ausführlich BSG-Urt. v. 9.5.2006, Az.: B 2 U 1/05 R, veröff. in juris).
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Während die anspruchsbegründenden Tatsachen - z. B. der Unfall und die Gesundheitsstörungen selbst, die der Schätzung der MdE zugrundeliegen, voll bewiesen sein müssen, bedürfen die Ursachenzusammenhänge lediglich hinreichender Wahrscheinlichkeit. In diesem Sinne hinreichend wahrscheinlich ist diejenige Möglichkeit, für die nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles und aufgrund der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr spricht als dagegen. Kann eine Anspruchvoraussetzung nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht mit dem danach erforderlichen Grad an Gewissheit festgestellt werden, so geht dies nach dem im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Grundsatz von der objektiven Beweislast zu Lasten desjenigen, der seinen Anspruch auf die nicht erweisliche Tatsache stützt (vgl. etwa BSG-Urt. v. 20.1.1987, Az.: 2 RU 27/86, ).
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Ausgehend von diesen Grundsätzen konnte die Klage keinen Erfolg haben, da eine durch den verfahrensgegenständlichen Unfall bedingte 20-prozentige MdE des Klägers im zu beurteilenden Zeitraum nicht nachgewiesen ist.
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Zwar gehen sowohl Dr. W als auch PD Dr. R in ihren Sachverständigengutachten von einer 20-prozentigen unfallbedingten MdE aus. Sie begründen dies übereinstimmend damit, dass die rein durch die Hörminderung bedingte MdE unter 10 v. H. liege - was in Anbetracht der im wesentlichen übereinstimmenden und daher nicht zweifelhaften audiometrischen Befunde sowie der Grundsätze des Königsteiner Merkblatts und des Gewichteten Gesamtwortverstehens nachvollziehbar ist - und zusätzlich ein dekompensierter Tinnitus mit erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen vorliege, der die entsprechende Erhöhung der MdE rechtfertige.
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Dem vermag sich die Kammer nicht anzuschließen. Ausschlaggebend hierfür sind allerdings nicht die Bedenken des Beratungsarztes Prof. Dr. S, der sich hauptsächlich auf formelle Einwände ("Sachverständiger ist kein Psychiater") und abstrakte Überlegungen ("nicht Ohrgeräusche führen zu psychischen Störungen, sondern umgekehrt beeinflusst das subjektive Erleben der Ohrgeräusche vorhandene psychische Störungen") mit nur geringem Bezug zum konkret zu beurteilenden Sachverhalt stützt. Maßgeblich sind für das Gericht vielmehr folgende Überlegungen: Nach dem Königsteiner Merkblatt ist ein Tinnitus bei der Bewertung des Gesamtschadensbildes mit einer MdE bis zu 10% zu berücksichtigen, sodann aber eine integrierende MdE-Bewertung vorzunehmen, also nicht etwa die MdE für den Tinnitus zur MdE für den Hörverlust zu addieren. Bei einer Bewertung seines Tinnitus nach diesem Grundsatz kann der Kläger eine MdE um 20 v. H. nicht erreichen. Eine höhere MdE aufgrund Tinnitus kommt nach dem Königsteiner Merkblatt nach kritischer Prüfung, gegebenenfalls auch neurologisch-psychiatrischer Begutachtung in Betracht, wenn diese Bemessung dem Beschwerdebild nicht gerecht wird. Wann dies der Fall ist, wird im Königsteiner Merkblatt nicht näher definiert. Offensichtlich handelt es sich aber um eine Ausnahme von der im Regelfall angemessenen Bewertung mit maximal 10 v. H. Voraussetzung ist daher eine psychische Beeinträchtigung von Krankheitswert und erheblichem Gewicht. Bestätigt wird dies durch die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" bzw. "Versorgungsmedizinischen Grundsätze", obgleich im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht unmittelbar anwendbar. Die Beurteilung von Schäden des Gehörs im sozialen Entschädigungsrecht korrespondiert weitgehend derjenigen im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl. LSG Berlin a. a. O.). Unterschiede ergeben sich insoweit lediglich aufgrund der Kausalitätserfordernisse des Unfallversicherungsrechts und der daraus resultierenden Vor- und Nachschadensproblematik, mithin aus Faktoren, die im hier zu entscheidenden Fall keine Rolle spielen. Die "Anhaltspunkte" und "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" setzen für eine MdE von mehr als 10 v. H. bzw. um 20 v. H. infolge eines Tinnitus "erhebliche psychovegetative Begleiterscheinungen" voraus.
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Entgegen der insoweit übereinstimmenden Einschätzung der beiden Sachverständigen vermag das Gericht psychovegetative Beeinträchtigungen dieses Ausmaßes nicht als nachgewiesen anzusehen. Der Kläger beschreibt als wesentliche psychovegetative Folge des Tinnitus Schlafstörungen mit verzögertem Einschlafen und mehrmals wöchentlich nächtlichem Erwachen. Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass diese Beschwerden in der beschriebenen Form tatsächlich vorliegen, denn der Kläger schildert sie - worauf PD Dr. R hinweist - bei den Untersuchungen seit August 2005 kohärent. Die von Prof. Dr. S insoweit behaupteten Widersprüche kann das Gericht nicht nachvollziehen. Auch das Einschlafen des Klägers bei Untersuchung durch PD Dr. R unter das Ohrgeräusch maskierender Beschallung korrespondiert der vom Kläger angegebenen Tagesmüdigkeit am frühen Nachmittag infolge des gestörten Nachtschlafs.
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Zum einen führt aber der Kläger die Schlafstörungen seit jeher nicht allein auf das Ohrgeräusch, sondern maßgeblich auch auf die seit dem Unfall von ihm wahrgenommenen Kopfschmerzattacken zurück. Dies hat der Kläger insbesondere in der Sitzung vom 28.4.2009 noch einmal deutlich gemacht. Dort bezeichnete er Kopfschmerz und Ohrgeräusch als gleich schlimm, gab aber zugleich an, allein die Kopfschmerzen symptomatisch (mit Tabletten) zu behandeln, nicht aber den Tinnitus. Die Kopfschmerzen des Klägers - obgleich ebenso glaubhaft wie das Ohrgeräusch oder die Schlafstörungen an sich - können mangels objektiven Befundes nicht auf einen durch den Arbeitsunfall erlittenen Gesundheitsschaden zurückgeführt werden. Insbesondere wurde die von PD Dr. R diskutierte unfallbedingte Nervenläsion bei der neurologischen Begutachtung im Verwaltungsverfahren durch die Dres. C/B trotz entsprechender Diagnostik nicht bestätigt. Es ist daher nicht mit der erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Kopfschmerzen Unfallfolge sind. Da nun der Kläger seine Schlafstörungen auf Tinnitus und Kopfschmerz gleichermaßen zurückführt, hiervon aber lediglich die Kopfschmerzen bei Bedarf symptomatisch bekämpft, bestehen zumindest erhebliche Zweifel, ob die Schlafstörungen in vollem Ausmaß als rechtlich wesentlich durch den Arbeitsunfall bedingt angesehen und bei der Schätzung der MdE berücksichtigt werden können.
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Zum anderen hat spätestens der Sachverständige PD Dr. R den Kläger auf verschiedene seines Erachtens erfolgversprechende Therapiemöglichkeiten für den Tinnitus bzw. die durch ihn ausgelösten Schlafstörungen hingewiesen. Er hat namentlich (ambulante oder stationäre) Verhaltenstherapie, die Versorgung mit einem Hör- oder Rauschgerät und schließlich auch Medikamente genannt. Der Kläger hat aber keine dieser Anregungen aufgegriffen, er hat sie auch nicht zum Anlass genommen, deswegen einen Arzt zu konsultieren. Überhaupt war er nach eigenen Angaben wegen des Tinnitus noch niemals in medizinischer Behandlung. Die vom Kläger in der Sitzung vom 28.4.2009 zur Begründung vorgebrachten Hindernisse (Berufstätigkeit, frühere ärztliche Empfehlung gegen ein Hörgerät) erscheinen in Anbetracht der Vielzahl der von PD Dr. R vorgeschlagenen Möglichkeiten keineswegs zwingend.
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Die Kammer bezweifelt nicht, dass durch den Tinnitus ein psychovegetativer Leidenszustand des Klägers besteht, der keinesfalls bagatellisiert werden darf. Die Mehrzahl der von einem Tinnitus betroffenen unfallverletzten Kläger der Kammer, die psychovegetative Beeinträchtigungen geltend machen, bemühen sich allerdings um medizinische Abhilfe, häufig über Jahre hinweg. Die Tatsache, dass der Kläger bislang wegen seines Tinnitus keinerlei medizinische Hilfe in Anspruch genommen oder auch nur ernsthaft erwogen hat, zeigt, dass der Leidenszustand und die dadurch bedingte Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit bei ihm offenbar nicht von einem solchen Gewicht ist, dass deswegen ausnahmsweise eine 20-prozentige MdE anzunehmen ist. Denn dies setzt - wie dargelegt - eine außergewöhnlich schwere, vom üblichen Leidenszustand bei Tinnitus erheblich abweichende psychovegetative Belastung voraus.
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