Sozialgericht Aachen Urteil, 30. Aug. 2016 - S 14 AS 751/15
Tenor
Es wird festgestellt, dass der Aufhebungsbescheid des Beklagten vom 16.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2015 rechtswidrig war. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach.
1
Tatbestand:
2Zwischen den Beteiligten ist die Erwerbsfähigkeit und damit die Zuordnung des Klägers zum System Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) oder der Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) streitig.
3Der am 00.00.0000 geborene Kläger lebt gemeinsam in einem Haushalt mit seiner Mutter. Er stand von August des Jahres 2012 bis einschließlich Juni 2015 im Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II beim Beklagten. Zuletzt wurden ihm mit Bescheid vom 09.01.2015 Leistungen für den Zeitraum von Februar bis Juli 2015 bewilligt. Vor dem Bezug von Grundsicherungsleistungen erhielt er eine Waisenrente von der Deutschen Rentenversicherung Rheinland.
4Der Kläger schloss die Gesamtschule mit der mittleren Reife ab und besuchte im Anschluss für ein Jahr das Berufskolleg im kaufmännischen Bereich. Sein Fachabitur erhielt er im Jahr 2006. Im Anschluss begann er ein Studium zum Übersetzer, das aufgrund der Schließung des Fremdspracheninstituts nicht beendet wurde. Seitdem hat der Kläger lediglich Kurzzeitpraktika absolviert. Diverse Bewerbungen des Klägers – auch um Praktika – blieben erfolglos. Der Kläger erfüllt die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung und für Leistungen zur Teilhabe nach dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) nicht.
5Er leidet an einer infantilen spastischen Zerebralparese aufgrund derer seit Dezember 1986 ein Grad der Behinderung von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B (Berechtigung für eine ständige Begleitung), G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) und H (Hilflosigkeit) festgestellt ist. Seit Juni 1988 sind zudem die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF (Befreiung von bzw. Ermäßigung der Rundfunkgebühr) festgestellt. Zudem liegt bei dem Kläger eine chronifizierte depressive Anpassungsstörung vor. Anerkannt ist die Pflegestufe III.
6Im Oktober 2013 lud der Beklagte den Kläger erstmals zu einem Beratungsgespräch ein. Dabei entstanden beim Beklagten Zweifel, inwieweit der Kläger erwerbsfähig sei. Der Kläger legte dem Beklagten ärztliche Unterlagen vor. Der Beklagte reichte diese Unterlagen im November 2013 an sein Gesundheitsamt mit einem "Untersuchungsauftrag zur Feststellung der Arbeitsfähigkeit", der mit dem Hinweis unerledigt blieb, es sei zu prüfen, ob nicht der Rentenversicherungsträger zuständig sei.
7In der Folgezeit prüfte der Beklagte in Absprache mit dem Kläger bzw. und dessen Mutter erfolglos ein Angebot geeigneter Arbeitsstellen oder Eingliederungsmaßnah-men für den Kläger. Im Oktober 2014 wurde der Kläger schließlich zu einer "Vermittlungsmaßnahme für schwerbehinderte Menschen" beim Integrationsfachdienst E. eingeladen. Ein Zwischenbericht aus dem Dezember 2014 wies eine positive Vermittlungsprognose und eine hohe Motivation des Klägers aus.
8Im Rahmen eines erneuten Beratungsgespräches beim Beklagten im Februar 2015 erneuerten sich die Zweifel an der Erwerbsfähigkeit des Klägers beim Beklagten. Er zog weitere ärztliche Unterlagen bei.
9Im März 2015 holte der Beklagte eine gutachterliche Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung Rheinland zur Erwerbsfähigkeit Klägers ein, die unter den 20.04.2015 nach Aktenlage (Akte des Beklagten, Schwerbehindertenakte des Versorgungsamtes des Kreises E.) erstellt wurde. Die Deutsche Rentenversicherung kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger seit jeher dauerhaft voll erwerbsgemindert sei.
10Vom 13. bis 24.04.2015 absolvierte der Kläger im Rahmen der weiter betriebenen Eingliederungsmaßnahme beim Integrationsfachdienst E. in der Zeit von 10.00 bis 13.30 h täglich ein Praktikum in der Stadtbücherei. Die Mutter bot zwar an, den Klä-ger zum Praktikum zu fahren und ihn abzuholen. Aufgrund von Vorgaben für die Maßnahme wurde der Transport letztlich durch die Lebenshilfe E. sichergestellt. Nach dem Praktikumsauswertungsbericht vom 28.04.2015 zeigte der Kläger sich für das Arbeitsfeld zusammenfasst als gut geeignet.
11Mit Schreiben vom 22.05.2015 forderte der Beklagte den Kläger auf, einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII bei der Beigeladenen zu stellen. Dem kam der Kläger für die Zeit ab 01.07.2015 nach. Mit Bescheid vom 09.06.2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 20.07.2015 bewilligte die Beigeladene dem Kläger Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Mit Bescheid vom 15.06.2015 hob der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 09.01.2015 mit Wirkung ab dem 01.07.2015 nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X auf. Aufgrund des Gutachtens der Deutschen Rentenversicherung bestehe kein Anspruch mehr auf Leistungen nach dem SGB II.
12Gegen den Bewilligungsbescheid des Beigeladenen und den Aufhebungsbescheid des Beklagten legte der Kläger über seine Bevollmächtigten am 29. bzw. 26.06.2015 jeweils Widerspruch ein. Die Feststellung der Deutschen Rentenversicherung Rheinland sei falsch. Der Kläger sei nach wie vor nicht voll erwerbsgemindert. Die Bevollmächtigten weisen darauf hin, dass nach einer medizinischen Untersuchung des Dr. T. für die Bundesagentur für Arbeit aus dem Januar 2007 eine vollschichtige Arbeitsfähigkeit vorgelegen habe.
13Der Beklagte wies den Widerspruch gegen den Aufhebungsbescheid vom 15.06.2015 mit Widerspruchsbescheid vom 07.07.2015 als unbegründet zurück.
14Am 10.08.2015 hat der Kläger über seinen Bevollmächtigten hiergegen Klage erhoben und seine Begründung aus dem Widerspruchsverfahren erneuert. Die Begutachtung durch die Deutsche Rentenversicherung Rheinland sei oberflächlich und nicht geeignet, die Entscheidung des Beklagten zu stützen.
15Der Kläger sei insbesondere auch wegefähig. Er könne in gewissem Umfang gehen und öffentliche Verkehrsmittel auch mit seinem Rollstuhl ohne elektrischen Antrieb nutzen. Ungeachtet dessen, bestehe die Möglichkeit und die Bereitschaft der Mutter des Klägers, diesen zu einer Arbeitsstelle zu bringen und ihn auch wieder abzuholen. Selbst wenn die Mutter einmal erkrankt sein sollte, stehe die nebenan wohnende Schwester des Klägers bereit.
16Der Kläger legt eine Einladung des Bürgermeisters der Stadt E. vom 01.10.2015 zu einem persönlichen Gespräch beim Personalamt nach erfolgreicher Teilnahme am schriftlichen Teil eines Auswahlverfahrens für den mittleren allgemeinen Verwaltungsdienst vor.
17Der Bevollmächtigte des Klägers hat zunächst beantragt,
18den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 15.06.2015 zu verpflichten, weiter Leistungen nach dem SGB II zu erbringen.
19Zuletzt beantragt er,
20festzustellen, dass der Aufhebungsbescheid vom 16.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2015 rechtswidrig war.
21Der Vertreter des Beklagten beantragt,
22die Klage abzuweisen.
23Er erklärt auch davon auszugehen, dass der Kläger mithilfe seiner Mutter eine Arbeitsstelle erreichen könne, verweist aber auf die für ihn in Bezug auf die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Klägers bindende Entscheidung des Rentenversicherungsträgers.
24Der Vertreter der mit Beschluss der Kammer vom 14.09.2015 notwendig Beigeladenen stellt keinen Antrag.
25Das Gericht hat einen Befundbericht des Neurologen Dr. C. und des Allgemeinmediziners Dr. K. eingeholt.
26Sodann hat das Gericht zur Frage der Erwerbsfähigkeit des Klägers Beweis erhoben durch Einholung eines neurologisch– psychiatrischen Sachverständigengutachtens der Fachärztin für Nervenheilkunde Dr. T. vom 15.02.2016 mit ergänzender Stellungnahme vom 17.05.2016. In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht die Sachverständige zur Ergänzung ihres schriftlichen Gutachtens gehört.
27Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach – und Streitstandes wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten, der Beigeladenen, der Deutschen Rentenversicherung Rheinland und des Versorgungsamtes des Kreises E. (Schwerbehindertenakte) sowie die Gerichtsakte verwiesen.
28Entscheidungsgründe:
29A. Die Änderung der Klage von einer Anfechtungs-, in eine Fortsetzungsfeststel-lungsklage ist eine Klageänderung im Sinne des § 99 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Mit dem Aufhebungsbescheid des Beklagten vom 16.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2015 hat der Beklagte die Bewilligung von Leistungen für den laufenden Lebensunterhalt der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit Bescheid vom 09.01.2015 für den Juli 2015 aufgehoben. Die Regelungswirkung des Bescheides endete mit dem Monat Juli 2015 und daher bereits vor Klageerhebung am 10.08.2015. Daher liegt kein Fall des § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG vor (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller, Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 113, Rn. 7b 8 a: keine Klageänderung bei Umstellung von Anfechtungs- zur Fortsetzungsfeststellungsklage auf Erledigung nach Klageerhebung m. w. Nachw.). Die Klageänderung ist sachdienlich i. S. des § 99 Abs. 1 SGG. Für den Monat Juli 2015 hat der Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes durch die Beigeladene erhalten. Das Interesse des Klägers besteht nicht in der nachträglichen Gewährung von Leistungen des Lebensunterhaltes nach dem SGB II statt nach dem SGB XII, sondern darin, die Rechtswidrigkeit des Aufhebungsbescheides aufgrund der zu Grunde liegenden Annahme einer Erwerbsunfähigkeit festzustellen. Diesem Klageinteresse ist mit der Klageänderung Rechnung getragen worden.
30B. Die Klage ist zulässig und begründet.
31I. Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig.
321. Sie ist gem. § 131 Abs. 1 S. 3 SGG statthaft. Hat sich ein angefochtener Verwaltungsakt vor der gerichtlichen Entscheidung erledigt, spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig (gewesen) ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat (vgl. auch § 113 Abs. 1 S. 4 Verwaltungsgerichtsordnung) (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 113, Rn. 7b). § 131 Abs. 1 S. 3 SGG ist nach allgemeiner Auffas-sung analog anzuwenden, wenn sich der Verwaltungsakt bereits vor Klageerhebung erledigt hat (BSGE 113, 114, Rn. 13, BFH, Urteil vom 26.09.2007, I R 43/06, NVwZ 2008, 351; Schenke, JUS 2007, S. 697, 700).
332. Auch die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen vor. Insbesondere hat der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der zunächst angefochtenen Aufhebungsentscheidung des Beklagten. Für das Vorliegen eines sog. Fortsetzungsfeststellungsinteresses als Unterform des Rechtsschutzbedürfnisses genügt ein durch die Sachlage vernünftigerweise gerechtfertigtes Interesse, das rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art sein kann (Wolff-Dellen in: Breitkreuz/Fichte, SGG 2. Aufl. 2014, § 131, Rn. 6 m.w.N.). Entscheidend ist, dass die angestrebte gerichtliche Entscheidung geeignet sein kann, die Position des Klägers zu verbessern (BSG, Urteil vom 10. 7. 1996, 3 RK 27/95, SozR 3-2500 § 126 Nr. 2). Typischerweise besteht ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse bei Wiederholungsgefahr, wenn ein Rehabilitationsinteresse vorhanden ist, wenn Schadenersatzforderungen geltend gemacht werden sollen oder wenn die Entscheidung in einem anderen streitigen Rechtsverhältnis bedeutsam sein kann (Präjudiziabilität) (Wolff-Dellen a.a.O., Rn. 6). I. S. einer Wiederholungsgefahr besteht ein solches Interesse u. a. dann, wenn sich eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage zwischen den Beteiligten mit einiger Wahrscheinlichkeit künftig erneut stellen wird (Wolff-Dellen a.a.O., Rn. 7 m.w.N.).
34a) So liegt der Fall hier. Anlass der Aufhebungsentscheidung des Beklagten war die gutachterliche Stellungnahme des Rentenversicherungsträgers, die den Beklagten und die Beigeladene entsprechend § 44 a Abs. 1 S. 6, Abs. 1 a, Abs. 2 SGB II bzw. §§ 21 S. 3, 45 SGB XII bindet. Der Rentenversicherungsträger hat hier festgestellt, der Kläger sei seit jeher dauerhaft vollständig erwerbsunfähig. Für den Kläger verschließt sich damit trotz § 44 a Abs. 2 Hbs. 2 SGB II die Aussicht, dass seine Erwerbsfähigkeit zukünftig anders beurteilt würde und er zukünftig – wie von ihm begehrt – nach dem Regime des SGB II gefördert und gefordert würde, das vom Hilfe-system des 3. und 4. Kapitels des SGB XII durch die Erwerbsfähigkeit des Hilfebe-dürftigen abgegrenzt ist (vgl. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II; 21 S. 1 SGB XII, § 41 Abs. 1 S. 1 SGB XII; Armborst, LPK-SGB II, 5. Aufl. 2013, § 8, Rn. 3; Knapp in: Schle-gel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 44a, Rn. 16). Ferner spricht nichts dafür, dass der Kläger weder die Hilfe des Beklagten, noch des Beigeladenen benötigen wird. Er hat seine Hilfebedürftigkeit i. S. d. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3., 9 SGB II bzw. § 19 Abs. 1, 2 SGB XII trotz beachtlicher Anstrengungen um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu keiner Zeit überwinden können und bedarf daher hierfür vielmehr der Unterstützung (des Beklagten); vgl. auch § 16 Abs. 1 (S. 3) SGB II, § 22 Abs. 4 (Nr. 6) Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III). Die weiteren allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nr. 1, 4 SGB II werden offensichtlich weiter vorliegen.
35Die Rechtsfrage der Erwerbsfähigkeit des Klägers als letzte allgemeine Anspruchsvoraussetzung nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 8 Abs. 1 SGB II war auch entscheidungserheblich für die Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung des Beklagten. Denn die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage des § 48 Abs. 1 SGB X wären erfüllt. Der Bescheid ist nicht bereits deshalb rechtswidrig, weil sich – ungeachtet der Frage der Erwerbsfähigkeit des Klägers – jedenfalls keine wesentliche Änderung i. S. d. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X zwischen der Leistungsbewilligung vom 09.01.2015 und der Widerspruchsentscheidung 07.07.2015 darlegen ließe. Denn die Erwerbsfähigkeit des Klägers wurde bis zur Stellungnahme des Rentenversicherungsträgers und die folgende Aufhebungsentscheidung des Beklagten entsprechend § 44a Abs. 1 S. 1 SGB II fingiert. Nach § 44 a Abs. 1 S. 7 SGB II erbringt der Grundsicherungsträger bis zur Entscheidung über den Widerspruch nach S. 2 bei Vorliegen der übrigen Vo-raussetzungen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die Vorschrift unterstellt das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit über die Konstellation des S. 2 hinausgehend aber bis zu einer gegenteiligen Feststellung nach dem Prozedere des § 44 a Abs. 1, Abs. 1 a SGB II. Der Hilfebedürftige ist solange so zu stellen, als sei er erwerbsfähig, bis eine gegenteilige Feststellung durch die Bundesagentur für Arbeit getroffen ist (BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 10/06 R; LSG NRW, Beschluss vom 14.12.2010 – L 7 AS 1549/10 B ER; Blüggel, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 44 a, Rn. 67). Entsprechend ist in der nachträglichen Feststellung eine wesentliche Änderung i. S. d. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X zu sehen.
36b) Zuletzt konnte der Kläger sich nicht gegen die der Aufhebungsentscheidung des Beklagten zugrunde liegende Feststellung der Erwerbsunfähigkeit selbst wenden. Die Zuständigkeitszuweisung in § 44a SGB II im Verhältnis zwischen den beteiligten Trägern ist aus Sicht eines Hilfebedürftigen lediglich eine verwaltungsinterne Vorfrage, bei der eine Rechtswirkung nach außen (vgl. § 31 Satz 1 SGB X) vom Gesetzgeber in diesem Zusammenhang offenkundig nicht intendiert ist. Folglich steht es ihm frei, trotz einer anderweitigen Einschätzung des Rentenversicherungsträgers Leistungen des Grundsicherungsträgers zu begehren. Er muss sich nicht gegen den Rentenversicherungsträger bzw. die Bundesagentur für Arbeit und deren Einschätzung wenden, sondern alleine gegen die negative Entscheidung des Jobcenters (Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 16. Februar 2012 – L 11 AS 1019/11 B ER, Rn. 23, juris; Knapp in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 44a, Rn. 67; vgl. Blüggel, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 44a, Rn. 104; vgl. ders. in: jurisPK-SGB XII, § 45 Rn. 59; Kirchhoff in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 45 Rn. 24; Steimer in: Mergler/Zink, SGB XII, § 45 Rn. 13a). Der Hilfebedürftige bleibt aufgrund der Subsidiarität (vgl. § 42 Abs. 2 VwGO, Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 55, Rn. 19) der allgemeinen Feststellungsklage (§ 55 SGG) daher auf die inzidente Überprüfung der behördlichen Feststellung zu seiner Erwerbsfähigkeit im Rahmen der Anfechtungs-, ggfs. kombiniert mit einer Verpflichtungsklage (vgl. LSG Bay, a.a.O; Knapp, a.a.O.) bzw. einer Fortsetzungsfeststellungsklage verwiesen.
37II. Die Klage ist auch begründet.
38Die Aufhebungsentscheidung des Beklagten vom 16.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2015 ist rechtswidrig gewesen, weil der Kläger entgegen der der Entscheidung des Beklagten zugrunde liegenden Annahme erwerbsfähig i. S. d. § 8 Abs. 1 SGB II war (und ist).
39Erwerbsfähig ist hiernach, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
401. Der Begriff der Erwerbsfähigkeit lehnt sich damit an den Begriff der Erwerbsminderung im Rentenversicherungsrecht an, auch wenn § 8 Abs. 1 SGB II anders als § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII nicht ausdrücklich Bezug auf § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) nimmt. Vom Sinn und Zweck her ist eine weitestgehend abgestimmte Regelung gewollt, die den Leistungsbezug nach dem SGB II für Personen ausschließt – es sei denn als Angehörige in einer Bedarfsgemeinschaft –, die dauerhaft voll erwerbsgemindert sind und Leistungen nach dem SGB VI oder SGB XII erhalten (Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB II, § 8 Rn. 4, 19; Armborst in: LPK-SGB II, § 8 Rn. 4). Jedoch sind bei der Auslegung/ Konkretisierung des Rechtsausdruckes der Erwerbsfähigkeit die Struktur und die Besonderheiten des SGB II zu beachten (BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7 b AS 10/06 R; BSG v. 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R - BSGE 105, 201; Blüggel, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 8, Rn. 6; Mrozynski, ZfSH/ SGB 2004, S. 198, 201).
41Als erwerbsfähig sieht das Bundessozialgericht so etwa auch Arbeitsuchende an, die wegen der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes eine sogenannte Arbeitsmarktrente wegen Erwerbsminderung beziehen (BSG v. 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R - BSGE 105, 201; LSG Berlin-Brandenburg v. 02.11.2011 - L 12 KG 2/07 - juris Rn. 24). Hierbei handelt es sich um ein richterrechtlich anerkanntes Institut im Rentenversicherungsrecht (BSG v. 10.12.1976 - GS 2/75 - BSGE 43, 75; st. Rspr). Die in der Regel befristete Arbeitsmarktrente wird trotz des bestehenden Restleistungsvermögens von drei bis unter sechs Stunden täglich gewährt, wenn binnen eines Jahres kein geeigneter Teilzeitjob angeboten und der Arbeitsmarkt damit als verschlossen angesehen werden kann (BSG v. 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R - BSGE 105, 201; BSG v. 14.05.1996 - 4 RA 60/94 - BSGE 78, 207). Das BSG begründet die unterschiedliche Begrifflichkeit der Erwerbsfähigkeit im Rentenversicherungsrecht und der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit Sinn und Zweck des SGB II, die Aufnahme und Beibehaltung der Erwerbstätigkeit durch Leistungen zur Eingliederung in Arbeit zu unterstützen (BSG v. 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R - BSGE 105, 201; ebenso LSG Nordrhein-Westfalen v. 29.11.2010 - L 7 AS 1961/10 B - juris; LSG Bayern v. 01.07.2010 - L 11 AS 162/09 - juris; Blüggel in: Eicher, a.a.O., Rn. 33; vgl. auch BA Fachliche Hinweise SGB II, § 8 Rn. 8.4). Danach sei die Verschlossenheit des Arbeitsmarktes für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit nach dem SGB II nicht entscheidend, sondern allein das (Rest-)Leistungsvermögen des Arbeitsuchenden, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein zu können (kritisch: Hackethal in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 8, Rn. 23).
42Dem schließt sich die Kammer an. Damit ist es von vorneherein unbeachtlich, dass es dem Kläger bislang nicht gelungen ist, eine abhängige Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit zum Einkommenserwerb aufzunehmen und ob im Hinblick darauf reelle Eingliederungschancen anzunehmen sind oder nicht.
432. Zur Überzeugung der Kammer steht nach umfangreicher Beweisaufnahme fest, dass der Kläger trotz seiner Behinderung in der Lage (gewesen) ist, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
44Die Erwerbsfähigkeit orientiert sich am Restleistungsvermögen des Leistungsberechtigten. Hierbei ist insbesondere die individuelle gesundheitliche Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen. Die Feststellung der Erwerbsfähigkeit beruht auf einer medizinischen Bewertung über das Vorliegen und die Auswirkungen einer Krankheit oder Behinderung sowie der Ermittlung des quantitativen zeitlichen und qualitativen Leistungsvermögens des Leistungsberechtigten die in Bezug zu setzen sind zu den (negativ abgegrenzten) üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Es ist zu klären, ob und welche Gesundheitsstörungen vorliegen und welche Tätigkeiten auf Grund dessen nicht mehr oder nur mit zeitlichen und/oder qualitativen Einschränkungen ausgeführt werden können (negatives Leistungsvermögen) sowie welche Anforderungen der Leistungsberechtigte in qualitativer (leichtere, mittelschwere, schwere Arbeiten, bestimmte Arbeitshaltungen) und in quantitativer Hinsicht noch erfüllen kann (positives Leistungsvermögen).
45Zunächst ist davon auszugehen, dass jemand, der zumindest körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten – wenn auch mit qualitativen Einschränkungen – wenigstens sechs Stunden täglich verrichten kann, noch in der Lage ist, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes voll erwerbstätig zu sein, d.h. durch eine Tätigkeit Erwerbseinkommen zu erzielen (BSG, Urteil vom 09. Mai 2012 – B 5 R 68/11 R –, SozR 4-2600 § 43 Nr 18, Rn. 24 f.; Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 148 jeweils m.w.N.).
46Die Erwerbsfähigkeit kann aber durch schwere spezifische Leistungseinschränkungen und Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen ausgeschlossen sein (vgl. BSG a.a.O., Rn. 26 f.). Um solche kann es sich etwa bei besonderen Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz oder Einschränkungen der Arm- und Handbewegung handeln. Um keine ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen handelt es sich beim Ausschluss oder Einschränkungen von Tätigkeiten, die überwiegend Stehen oder Sitzen erfordern, in Nässe oder Kälte oder unter häufigem Bücken zu verrichten sind, besondere Fingerfertigkeiten voraussetzen, mit besonderer Unfallgefahr verbunden sind, im Akkord, im Schichtdienst, an laufenden Maschinen zu leisten sind oder besondere Anforderungen an das Seh-, Hör- oder Konzentrationsvermögen stellen (zum Ganzen: BSG, Beschluss vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 –, BSGE 80, 24-41, SozR 3-2600 § 44 Nr 8, SozR 3-2200 § 1246 Nr 57, SozR 3-2200 § 1247 Nr 21, SozR 3-2600 § 42 Nr 16, SozR 3-1500 § 41 Nr 3, SozR 3-2600 § 43 Nr 16, Rn. 34; Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 75 ff.; Blüggel, a.a.O., Rn. 17 f., 32 ff.; Armborst, a.a.O., Rn. 13-15; Hackethal in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 8, Rn. 24, jeweils m.w.Nachw.).
47b) Nach den medizinischen Feststellungen der in der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit unter Beachtung der dargelegten Gesichtspunkte erfahrenen Sachverständigen, der Fachärztin für Nervenheilkunde Dr. T., ist der Kläger trotz seiner Behinderung erwerbsfähig im vorstehenden Sinne.
48aa) Die Einschätzung der Sachverständigen Dr.T. ist der gutachterlichen Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung schon deshalb deutlich überlegen, weil sie auf einem persönlichen Eindruck und umfangreicher eigener Exploration beruht, während die Einschätzung des Rentenversicherungsträgers auf (überwiegend ältere) Befunde aus der Schwerbehindertenakte und der Akte des Beklagten zurückgreift und eine Auseinandersetzung mit dem Restleistungsvermögen des Klägers fehlt. Zudem geht das ärztliche Gutachten vom 20.04.2015 davon aus, das Leistungsvermögen sei seit jeher aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung vollständig aufgehoben gewesen. Zu Recht hat der Bevollmächtigte des Klägers darauf hingewiesen, dass eine gutachterliche Untersuchung des ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit vom 09.01.2007 jedoch eine vollschichtige Erwerbsfähigkeit bei leichter, sitzender Tätigkeit zum Ergebnis hatte. Die Stellungnahme des Sozialmediziners korrespondiert in Bezug auf die Beschreibung des negativen Leistungsbildes mit den weiteren Feststellungen der Sachverständigen. Der Hausarzt Dr. K. hat in seinem Befundbericht für das Gericht leichte Arbeiten des allgemeinen Arbeitslebens an fünf Tagen der Woche mit den betriebsüblichen Unterbrechungen für den Kläger zumindest im zeitlichen Umfang von 3 bis 6 Stunden für möglich gehalten, eine volle Erwerbsminderung damit nicht bestätigt. Auch nach dem Abschlussbericht des Integrationsfachdienstes nach Abschluss des zweiwöchigen Praktikums in der Stadtbücherei E. vom 28.04.2015 ist die Ausübung einer Teilzeitstelle möglich.
49bb) Die Sachverständige hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung ihr schriftliches Gutachten vom 15.02.2016 mit ergänzender Stellungnahme vom 17.05.2016 nochmals dahingehend bekräftigt, dass sie den Kläger im gesundheitlichen "status quo" trotz der infantilen spastischen Zerebralparese und der chronifizierten depressiven Anpassungsstörung für in der Lage halte, noch an 5 Tagen in der Woche mit betriebsüblichen Unterbrechungen (bei zusätzlichen Pausen für Toilettengänge) mehr als 3 Stunden täglich, sogar an 6 Stunden und mehr, einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen. Damit hat sie bei der Kammer auch nach Erstattung der schriftlichen ergänzenden Stellungnahme vom 15.05.2016 verbliebene Unklarheiten beseitigt, ob dieses (Rest)leistungsvermögen von ihr nur unter der Bedingung der - gleichwohl dringend empfohlenen - vorherigen Durchführung einer psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme und einer anschließenden Berufsförderungsmaßnahme gesehen würde. Die Sachverständige wusste nachvollziehbar klarzustellen und zu differenzieren, dass sie eine psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme zwar deshalb für ausgesprochen wichtig halte, weil der Kläger sich in seiner Anstrengung einem Menschen ohne Behinderung gleichzustehen teilweise überfordere und sich die dadurch hervorgerufene Anspannung nachteilig auf seine körperliche Behinderung auswirke, das von ihr angegebene Restleistungsvermögen für den Kläger aber auch ohne vorherige Maßnahmen und ohne nachteilige Konsequenzen für den gesundheitlichen Zustand abrufbar sei, sofern die ausgeführte Erwerbstätigkeit die Einschränkungen des Klägers berücksichtige. Dies erscheint der Kammer auch deshalb plausibel, weil offenkundig ist, dass die innere Anspannung des Klägers sehr maßgeblich gerade auf dem Umstand beruht, dass eine Annäherung an den (ersten) Arbeitsmarkt trotz erheblicher Anstrengungen und nachgewiesener Kompetenzen nicht gelingt. Die hohe Einsatzbereitschaft und der dringende Wunsch der Förderung der beruflichen Integration durch den Beklagten lassen erkennen, dass eine Erwerbstätigkeit bzw. Eingliederungsmaßnahmen für den Kläger weniger eine unzumutbare Belastung als eine psychische Entlastung darstellen würden.
50Die von der Sachverständigen angesprochenen, zu berücksichtigenden Einschränkungen des Klägers stellen auch in qualitativer Hinsicht noch keine so gravierende, schwere spezifische Leistungseinschränkungen oder sich derart summierende Leistungseinschränkung dar, dass sie einer Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes entgegenstünden (vgl. zu den Maßstäben dezidiert nochmals: Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 151 ff.). Das negative Leistungsbild besteht nach den Feststellungen der Sachverständigen in der fehlenden Gehfähigkeit, während sich für eine Tätigkeit im Sitzen Einschränkungen für das angegebene quantitative Restleistungsvermögen dahingehend ergeben, dass der Kläger nur noch körperlich leichte Arbeiten ohne Zwangshaltung und ohne einseitige körperliche Belastung, in geschlossenen Räumen und ausschließlich in der Tagesschicht verrichten kann. Zudem sind dem Kläger aufgrund der bestehenden Tetraparese Tätigkeiten nicht zumutbar möglich, die eine besondere Feinmotorik der Hände erforderten. Insbesondere die rechte Hand ist eingeschränkt. Qualitativ ergeben sich z. B. Probleme beim Durchstreichen von Buchstaben unter Zeitdruck sowie beim Zeichnen dreidimensionaler Formen. Die Sachverständige hat dies nachvollziehbar an der Durchführung des Aufmerksamkeitstests nach Brickenkamp im Rahmen der gutachterlichen Exploration des Klägers erläutert, der infolge der Schwierigkeiten in der technischen Umsetzung durch den Kläger in seiner Validität in Frage zu stellen gewesen sei. Die Mutter des Klägers hat der Sachverständigen gegenüber zudem eine Lärmempfindlichkeit des Klägers herausgestellt, nach der viele alltägliche Dinge nicht durchführbar seien. Die Sachverständige hat den Kläger im psychopathologischen Befund ihres schriftlichen Gutachtens zwar als recht eigenwillig und auf seinen Ansichten beharrend beschrieben und kaum Flexibilität gegenüber abweichenden Ansichten erkannt. Schlüssig und mit dem Eindruck der Kammer im Einklang stehend hat sie im Rahmen der mündlichen Verhandlung erklärt, sie sehe die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit des Klägers als überdurchschnittlich eingeschränkt. Ein unüberwindbares Hindernis für die Auf-nahme einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hat sie darin jedoch nicht erkannt. Der Integrationsfachdienst hat in einem Zwischenbericht über eine Vermitt-lungsmaßnahme für schwerbehinderte Menschen im Oktober 2014 eine Offenheit und Interessiertheit des Klägers gegenüber möglichen Arbeitsbereichen bescheinigt. Der Kläger zeige sich sehr motiviert. Vorschläge könnten konstruktiv besprochen werden, es erscheine eine gemeinsame Erarbeitung von Arbeitsmöglichkeiten durchführbar. Eine Vermittlung könne bei einem passenden Arbeitgeber, der die gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers berücksichtige möglich sein.
51Die Sachverständige hält den Kläger für in der Lage, insbesondere etwa eine Bürotätigkeit auszufüllen, die seiner Tätigkeit im Rahmen des Praktikums in der Stadtbücherei in E. ähnelt. Mnestische oder kognitive Defizite hat die Sachverständige beim Kläger nicht erkannt, abgesehen von einer gewissen Verlangsamung, die sich auch in einer unartikulierten Sprechweise niederschlage. Diese Feststellungen entsprechen dem von der Kammer im Rahmen der über zwei Stunden andauernden mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck. Der Kläger hat sich im Rahmen der Verhandlung wiederholt eingebracht. Frau Dr. T. konnte auch keine inhaltlichen oder formalen Denkstörungen finden.
52Dies korrespondiert der Auswertung des zweiwöchigen (13.-24.04.2015) Praktikums des Klägers in der Stadtbibliothek E. durch den Integrationsfachdienst, die der Kläger der Kammer im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgelegt hat. Der Kläger wird als in körperlicher Hinsicht belastbar beschrieben. Er sei sehr interessiert, habe ein gutes Auffassungsvermögen, arbeite sehr konzentriert, kontinuierlich (ohne vermehrte Pausen) und eigenständig in zufriedenstellendem Arbeitstempo ohne für die Arbeit Hilfsmittel zu benötigen. Zudem hat der Kläger am schriftlichen Teil des Auswahlverfahrens für eine Ausbildung für den mittleren allgemeinen Verwaltungsdienst – Verwaltungsfachangestellter erfolgreich teilgenommen.
53c) Der Kläger ist zuletzt auch nicht deshalb erwerbsunfähig, weil er "wegeunfähig" wäre.
54aa) Zur Erwerbsfähigkeit i. S. d. § 8 Abs. 1 SGB II und § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI gehört auch die Fähigkeit, den Weg zur Arbeitsstelle zurückzulegen. Die rentenrechtliche Rechtsprechung hat den generellen Maßstab entwickelt, dass derjenige als voll erwerbsgemindert bzw. erwerbsunfähig anzusehen ist, der nicht täglich eine Wegstrecke von mehr als 500 mit zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß zurücklegen und zweimal täglich ein öffentliches Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten benutzen kann (BSG v. 19.11.1997 - 5 RJ 16/97 - SozR 3-2600 § 44 Nr. 10; BSG v. 17.12.1991 - 13/5 RJ 73/90 - SozR 3-2200 § 1247 Nr. 10: Zeitaufwand von mehr als 20 Minuten ist nicht zumutbar; BSG v. 21.02.1989 - 5 RJ 61/88 - SozR 2200 § 1247 Nr. 56). Dies gilt bei der gebotenen generalisierenden Betrachtung grundsätzlich ohne Rücksicht auf Besonderheiten der individuellen Wohnlage und der Beschaffenheit der konkret in Betracht kommenden Wegstrecken. Auch die Benutzung von Fahrzeugen, z.B. eines Rollstuhls, erfüllt nicht die Voraussetzungen eines Zurücklegens von Wegstrecken zu Fuß (Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23. November 2011 – L 3 R 252/08, Rn. 43, juris).
55Kann der Betroffene die genannten Wege nicht mehr zurücklegen oder öffentliche Verkehrsmittel nicht benutzen, reicht es alternativ, wenn ihm ein Kfz werktäglich zur Verfügung steht.
56Im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung liegt es in der Hand und ggfs. im Interesse des Rentenversicherungsträgers, durch Leistungen zur Teilhabe am Ar-beitsleben die Einsatzfähigkeit des Versicherten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes wiederherzustellen, während der Versicherte in den Fällen, in denen um eine Wegefähigkeit gestritten wird, typischerweise eine Rente wegen voller Erwerbsminderung begehrt. Dazu bieten sich z.B. Leistungen der Kraftfahrzeughilfe (§ 33 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 8 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen [SGB IX]) an. Voraussetzung ist allerdings, dass die aufgrund der Wegefähigkeit eingetretene volle Erwerbsminderung vollständig wieder beseitigt wird. Die bewilligte Leistung muss den Versicherten in eine Lage versetzen, die derjenigen eines Versicherten gleicht, der einen Führerschein und ein privates Kfz besitzt und dem die Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses sowie die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auch an einem über 500 m entfernt liegenden Arbeitsplatz zuzumuten ist, weil er mit einigermaßen verlässlich einzuschätzendem Aufwand an Zeit und Kosten dorthin gelangen kann. Die Bereitschaft, "im Falle der Arbeitsaufnahme Leistungen zur Erhaltung eines Arbeitsplatzes" in Form der "tatsächlich anfallenden Beförderungskosten" zu übernehmen, ggf. unter Einbeziehung von Taxikosten, genügt dafür, soweit sie vorbehaltlos erfolgt (BSG v. 12.12.2011 - B 13 R 79/11 R - SozR 4-2600 § 43 Nr. 17; hierzu Lange, jurisPR-SozR 8/2013, Anm. 1.; Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI, Rn. 215).
57bb) Entgegen der Darstellung insbesondere seiner Mutter ist die Kammer zwar davon überzeugt, dass der Kläger nicht in der Lage ist, täglich eine Wegstrecke von mehr als 500 mit zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß zurücklegen und zweimal täglich ein öffentliches Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten zu benutzen. Dies gilt unabhängig davon, dass bei dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "aG" und "B" festgestellt sind, weil die Sachverständige deutlich und ohne weiteres nachvollziehbar festgestellt hat, dass der Kläger nicht nur im Rollstuhl sitzt, sondern ihm auch tatsächlich ein eigener Stand und Gang nicht möglich sei. Der Oberkörper werde nicht vollständig aufgerichtet, sondern sei nach links gebeugt. Das rechte Bein sei deutlich verkürzt. Es bestehe rechtsseitig eine Parese. Auch wenn der Kläger etwa beim An – und Auskleiden nur geringe Hilfestellungen benötigt, er sich auch aus dem Rollstuhl selbst aufrichten und sich bei der Untersuchung durch die Sachverständige eigenständig auf das Untersuchungsbett umlagern konnte, ist Frau Dr. T. sich in der mündlichen Verhandlung dahingehend sicher gewesen, dass der Kläger ohne das Vorhandensein eines elektrischen Rollstuhles zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel fremder Hilfe bedürfe. Die Kammer hat keinen Anlass diese Einschätzung in Zweifel zu ziehen.
58cc) Zwar steht dem Kläger auch kein eigenes Kraftfahrzeug zur Verfügung, er besitzt keinen Führerschein. Allerdings wird die fehlende Wegefähigkeit dadurch wieder beseitigt, dass die Mutter des Klägers dazu in der Lage und vorbehaltlos dazu bereit ist, den Kläger auch zu einem über 500 m entfernt liegenden Arbeitsplatz mit dem privaten PKW zu fahren und ihn wieder abzuholen. Die dadurch geschaffene Situation entspricht derjenigen einer Person, die einen Führerschein und ein privates Kfz selbst besitzt; zumal die Schwester des Klägers bereit wäre im Falle einer Erkrankung der Mutter einzuspringen.
59Die Kammer ist davon überzeugt, dass der dahingehende klägerseitige Vortrag zutreffend ist. Während die Mutter mit dem Kläger in einem Haushalt lebt, wohnt die Schwester im Haus nebenan. Die Mutter des Klägers ist Hausfrau und widmet sich umfassend der Versorgung und Pflege des Klägers. Die Vehemenz mit der gerade die Mutter des Klägers sich dafür einsetzt, dass der Kläger einen Zugang zum Ar-beitsmarkt bekommt, lässt keine Zweifel offen, dass ihr Angebot, den Kläger zu einer möglichen Arbeitsstätte zu fahren und ihn von dort abzuholen unbedingt gilt und verlässlich ist. Die Mutter des Klägers hat sich im Kontakt mit dem Beklagten nachhaltig eingebracht, um Maßnahmen zur Eingliederung ihres Sohnes in den Arbeitsmarkt anzustoßen. Sie hat beispielsweise auch angeboten, den Kläger zum Praktikum in der Stadtbibliothek E. zu fahren und abzuholen und sowohl der Sachverständigen als auch dem Gericht gegenüber eindringlich beteuert, zum Transport des Klägers bereit zu sein. Die Sachverständige hat mitgeteilt, die Mutter habe ihr bereits in der Begutachtungssituation erläutert, dass sie ihren Sohn überall hinfahre und diesbezüglich keinerlei Einschränkungen angegeben. Sie habe den Kläger auch zur Begutachtung gefahren.
60Vor diesem Hintergrund hat auch der Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung letztlich erklärt, es sei davon auszugehen, dass der Kläger mithilfe seiner Mutter einen Arbeitsplatz erreichen könne. Er hat sich lediglich deshalb nicht zu einem Anerkenntnis in der Lage gesehen, weil gutachterliche die Stellungnahme des Rentenversicherungsträgers für ihn bislang bindend sei.
61Nicht erforderlich kann es in der vorliegenden Situation sein, ob der Beklagte oder ein anderer Sozialversicherungsträger sich vorbehaltlos dazu bereit erklärt hat, die Wegefähigkeit des Klägers durch entsprechende Leistungen bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sicherzustellen. Anders als im Rahmen von Streitigkeiten über das Vorliegen einer Erwerbsunfähigkeit zwischen dem Rentenversicherungsträger und dem Versicherten, der eine Rente begehrt, liegt das Interesse an der Herstellung der Wegefähigkeit vorliegend nicht beim Beklagten, sondern beim Kläger. Diesem kann daher nicht verwehrt sein, auf eine private Hilfe zu verweisen, die im Maßstab des Vollbeweises, d.h. zur Überzeugung des Gerichts, verlässlich seinen Weg zu einer potentiellen Arbeitsstätte und zurück sicherstellt.
62Dahinstehen kann deshalb, ob der Beklagte sich – angesichts des Sinn und Zweck des SGB II, die Aufnahme und Beibehaltung der Erwerbstätigkeit durch Leistungen zur Eingliederung in Arbeit zu unterstützen (BSG v. 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R - BSGE 105, 201) - auf eine fehlende Wegefähigkeit des Klägers überhaupt berufen könnte, obwohl er es nach § 16 Abs. 1 S. 3 SGB II i.V.m. § 112 Abs. 1 SGB III i.V.m. §§ 7, 33 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 8 Nr. 1 SGB IX (vgl. Schubert/Schaumberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 1. Aufl. 2014, § 112 SGB III, Rn. 14 ff.) selbst in der Hand hat, die Wegefähigkeit des Klägers durch die verbindliche Zusage entsprechender Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wieder herzustellen.
63C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
ra.de-Urteilsbesprechung zu Sozialgericht Aachen Urteil, 30. Aug. 2016 - S 14 AS 751/15
Urteilsbesprechung schreiben0 Urteilsbesprechungen zu Sozialgericht Aachen Urteil, 30. Aug. 2016 - S 14 AS 751/15
Referenzen - Gesetze
Referenzen - Urteile
Urteil einreichenSozialgericht Aachen Urteil, 30. Aug. 2016 - S 14 AS 751/15 zitiert oder wird zitiert von 2 Urteil(en).
(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit
- 1.
die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt, - 2.
der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist, - 3.
nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder - 4.
der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
(2) Der Verwaltungsakt ist im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt; § 44 bleibt unberührt.
(3) Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 nicht zurückgenommen werden und ist eine Änderung nach Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Satz 1 gilt entsprechend, soweit einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zugrunde liegt, der nach § 45 nicht zurückgenommen werden kann.
(4) § 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 gelten entsprechend. § 45 Abs. 4 Satz 2 gilt nicht im Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1.
(1) Eine Änderung der Klage ist nur zulässig, wenn die übrigen Beteiligten einwilligen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält.
(2) Die Einwilligung der Beteiligten in die Änderung der Klage ist anzunehmen, wenn sie sich, ohne der Änderung zu widersprechen, in einem Schriftsatz oder in einer mündlichen Verhandlung auf die abgeänderte Klage eingelassen haben.
(3) Als eine Änderung der Klage ist es nicht anzusehen, wenn ohne Änderung des Klagegrunds
- 1.
die tatsächlichen oder rechtlichen Ausführungen ergänzt oder berichtigt werden, - 2.
der Klageantrag in der Hauptsache oder in bezug auf Nebenforderungen erweitert oder beschränkt wird, - 3.
statt der ursprünglich geforderten Leistung wegen einer später eingetretenen Veränderung eine andere Leistung verlangt wird.
(4) Die Entscheidung, daß eine Änderung der Klage nicht vorliege oder zuzulassen sei, ist unanfechtbar.
(1) Wird ein Verwaltungsakt oder ein Widerspruchsbescheid, der bereits vollzogen ist, aufgehoben, so kann das Gericht aussprechen, daß und in welcher Weise die Vollziehung des Verwaltungsakts rückgängig zu machen ist. Dies ist nur zulässig, wenn die Verwaltungsstelle rechtlich dazu in der Lage und diese Frage ohne weiteres in jeder Beziehung spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Hält das Gericht die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsakts für begründet und diese Frage in jeder Beziehung für spruchreif, so ist im Urteil die Verpflichtung auszusprechen, den beantragten Verwaltungsakt zu erlassen. Im Übrigen gilt Absatz 3 entsprechend.
(3) Hält das Gericht die Unterlassung eines Verwaltungsakts für rechtswidrig, so ist im Urteil die Verpflichtung auszusprechen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
(4) Hält das Gericht eine Wahl im Sinne des § 57b oder eine Wahl zu den Selbstverwaltungsorganen der Kassenärztlichen Vereinigungen oder der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen ganz oder teilweise oder eine Ergänzung der Selbstverwaltungsorgane für ungültig, so spricht es dies im Urteil aus und bestimmt die Folgerungen, die sich aus der Ungültigkeit ergeben.
(5) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Satz 1 gilt auch bei Klagen auf Verurteilung zum Erlass eines Verwaltungsakts und bei Klagen nach § 54 Abs. 4; Absatz 3 ist entsprechend anzuwenden. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, dass Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluss kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
(1) Wird ein Verwaltungsakt oder ein Widerspruchsbescheid, der bereits vollzogen ist, aufgehoben, so kann das Gericht aussprechen, daß und in welcher Weise die Vollziehung des Verwaltungsakts rückgängig zu machen ist. Dies ist nur zulässig, wenn die Verwaltungsstelle rechtlich dazu in der Lage und diese Frage ohne weiteres in jeder Beziehung spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Hält das Gericht die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsakts für begründet und diese Frage in jeder Beziehung für spruchreif, so ist im Urteil die Verpflichtung auszusprechen, den beantragten Verwaltungsakt zu erlassen. Im Übrigen gilt Absatz 3 entsprechend.
(3) Hält das Gericht die Unterlassung eines Verwaltungsakts für rechtswidrig, so ist im Urteil die Verpflichtung auszusprechen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
(4) Hält das Gericht eine Wahl im Sinne des § 57b oder eine Wahl zu den Selbstverwaltungsorganen der Kassenärztlichen Vereinigungen oder der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen ganz oder teilweise oder eine Ergänzung der Selbstverwaltungsorgane für ungültig, so spricht es dies im Urteil aus und bestimmt die Folgerungen, die sich aus der Ungültigkeit ergeben.
(5) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Satz 1 gilt auch bei Klagen auf Verurteilung zum Erlass eines Verwaltungsakts und bei Klagen nach § 54 Abs. 4; Absatz 3 ist entsprechend anzuwenden. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, dass Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluss kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
Personen, die nach dem Zweiten Buch als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, erhalten keine Leistungen für den Lebensunterhalt. Abweichend von Satz 1 können Personen, die nicht hilfebedürftig nach § 9 des Zweiten Buches sind, Leistungen nach § 36 erhalten. Bestehen über die Zuständigkeit zwischen den beteiligten Leistungsträgern unterschiedliche Auffassungen, so ist der zuständige Träger der Sozialhilfe für die Leistungsberechtigung nach dem Dritten oder Vierten Kapitel an die Feststellung einer vollen Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Absatz 2 Satz 2 des Sechsten Buches und nach Abschluss des Widerspruchsverfahrens an die Entscheidung der Agentur für Arbeit zur Erwerbsfähigkeit nach § 44a Absatz 1 des Zweiten Buches gebunden.
(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die
- 1.
das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, - 2.
erwerbsfähig sind, - 3.
hilfebedürftig sind und - 4.
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
- 1.
Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, - 2.
Ausländerinnen und Ausländer, - a)
die kein Aufenthaltsrecht haben oder - b)
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
- 3.
Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.
(2) Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Dienstleistungen und Sachleistungen werden ihnen nur erbracht, wenn dadurch Hemmnisse bei der Eingliederung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten beseitigt oder vermindert werden. Zur Deckung der Bedarfe nach § 28 erhalten die dort genannten Personen auch dann Leistungen für Bildung und Teilhabe, wenn sie mit Personen in einem Haushalt zusammenleben, mit denen sie nur deshalb keine Bedarfsgemeinschaft bilden, weil diese aufgrund des zu berücksichtigenden Einkommens oder Vermögens selbst nicht leistungsberechtigt sind.
(3) Zur Bedarfsgemeinschaft gehören
- 1.
die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, - 2.
die im Haushalt lebenden Eltern oder der im Haushalt lebende Elternteil eines unverheirateten erwerbsfähigen Kindes, welches das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, und die im Haushalt lebende Partnerin oder der im Haushalt lebende Partner dieses Elternteils, - 3.
als Partnerin oder Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten - a)
die nicht dauernd getrennt lebende Ehegattin oder der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte, - b)
die nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartnerin oder der nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartner, - c)
eine Person, die mit der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.
- 4.
die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können.
(3a) Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird vermutet, wenn Partner
- 1.
länger als ein Jahr zusammenleben, - 2.
mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben, - 3.
Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder - 4.
befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.
(4) Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Abweichend von Satz 1 erhält Leistungen nach diesem Buch,
- 1.
wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches) untergebracht ist oder - 2.
wer in einer stationären Einrichtung nach Satz 1 untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.
(4a) (weggefallen)
(5) Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben über die Leistungen nach § 27 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Satz 1 gilt auch für Auszubildende, deren Bedarf sich nach § 61 Absatz 2, § 62 Absatz 3, § 123 Nummer 2 sowie § 124 Nummer 2 des Dritten Buches bemisst.
(6) Absatz 5 Satz 1 ist nicht anzuwenden auf Auszubildende,
- 1.
die aufgrund von § 2 Absatz 1a des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben, - 2.
deren Bedarf sich nach den §§ 12, 13 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 oder nach § 13 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes bemisst und die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz - a)
erhalten oder nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht erhalten oder - b)
beantragt haben und über deren Antrag das zuständige Amt für Ausbildungsförderung noch nicht entschieden hat; lehnt das zuständige Amt für Ausbildungsförderung die Leistungen ab, findet Absatz 5 mit Beginn des folgenden Monats Anwendung, oder
- 3.
die eine Abendhauptschule, eine Abendrealschule oder ein Abendgymnasium besuchen, sofern sie aufgrund des § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben.
(1) Leistungsberechtigt nach diesem Kapitel sind Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus Einkommen und Vermögen nach § 43 bestreiten können, wenn sie die Voraussetzungen nach Absatz 2, 3 oder 3a erfüllen.
(2) Leistungsberechtigt sind Personen nach Absatz 1 wegen Alters, wenn sie die Altersgrenze erreicht haben. Personen, die vor dem 1. Januar 1947 geboren sind, erreichen die Altersgrenze mit Vollendung des 65. Lebensjahres. Für Personen, die nach dem 31. Dezember 1946 geboren sind, wird die Altersgrenze wie folgt angehoben:
für den Geburtsjahrgang | erfolgt eine Anhebung um Monate | auf Vollendung eines Lebensalters von |
1947 | 1 | 65 Jahren und 1 Monat |
1948 | 2 | 65 Jahren und 2 Monaten |
1949 | 3 | 65 Jahren und 3 Monaten |
1950 | 4 | 65 Jahren und 4 Monaten |
1951 | 5 | 65 Jahren und 5 Monaten |
1952 | 6 | 65 Jahren und 6 Monaten |
1953 | 7 | 65 Jahren und 7 Monaten |
1954 | 8 | 65 Jahren und 8 Monaten |
1955 | 9 | 65 Jahren und 9 Monaten |
1956 | 10 | 65 Jahren und 10 Monaten |
1957 | 11 | 65 Jahren und 11 Monaten |
1958 | 12 | 66 Jahren |
1959 | 14 | 66 Jahren und 2 Monaten |
1960 | 16 | 66 Jahren und 4 Monaten |
1961 | 18 | 66 Jahren und 6 Monaten |
1962 | 20 | 66 Jahren und 8 Monaten |
1963 | 22 | 66 Jahren und 10 Monaten |
ab 1964 | 24 | 67 Jahren. |
(3) Leistungsberechtigt sind Personen nach Absatz 1 wegen einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung, wenn sie das 18. Lebensjahr vollendet haben, unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Absatz 2 des Sechsten Buches sind und bei denen unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann.
(3a) Leistungsberechtigt sind Personen nach Absatz 1, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, für den Zeitraum, in dem sie
- 1.
in einer Werkstatt für behinderte Menschen (§ 57 des Neunten Buches) oder bei einem anderen Leistungsanbieter (§ 60 des Neunten Buches) das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich durchlaufen oder - 2.
in einem Ausbildungsverhältnis stehen, für das sie ein Budget für Ausbildung (§ 61a des Neunten Buches) erhalten.
(4) Keinen Anspruch auf Leistungen nach diesem Kapitel hat, wer in den letzten zehn Jahren die Hilfebedürftigkeit vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat.
(1) Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel ist Personen zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können.
(2) Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel dieses Buches ist Personen zu leisten, die die Altersgrenze nach § 41 Absatz 2 erreicht haben oder das 18. Lebensjahr vollendet haben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gehen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel vor.
(3) Hilfen zur Gesundheit, Hilfe zur Pflege, Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten und Hilfen in anderen Lebenslagen werden nach dem Fünften bis Neunten Kapitel dieses Buches geleistet, soweit den Leistungsberechtigten, ihren nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern und, wenn sie minderjährig und unverheiratet sind, auch ihren Eltern oder einem Elternteil die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften Kapitels dieses Buches nicht zuzumuten ist.
(4) Lebt eine Person bei ihren Eltern oder einem Elternteil und ist sie schwanger oder betreut ihr leibliches Kind bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres, werden Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils nicht berücksichtigt.
(5) Ist den in den Absätzen 1 bis 3 genannten Personen die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen im Sinne der Absätze 1 und 2 möglich oder im Sinne des Absatzes 3 zuzumuten und sind Leistungen erbracht worden, haben sie dem Träger der Sozialhilfe die Aufwendungen in diesem Umfang zu ersetzen. Mehrere Verpflichtete haften als Gesamtschuldner.
(6) Der Anspruch der Berechtigten auf Leistungen für Einrichtungen oder auf Pflegegeld steht, soweit die Leistung den Berechtigten erbracht worden wäre, nach ihrem Tode demjenigen zu, der die Leistung erbracht oder die Pflege geleistet hat.
(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die
- 1.
das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, - 2.
erwerbsfähig sind, - 3.
hilfebedürftig sind und - 4.
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
- 1.
Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, - 2.
Ausländerinnen und Ausländer, - a)
die kein Aufenthaltsrecht haben oder - b)
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
- 3.
Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.
(2) Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Dienstleistungen und Sachleistungen werden ihnen nur erbracht, wenn dadurch Hemmnisse bei der Eingliederung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten beseitigt oder vermindert werden. Zur Deckung der Bedarfe nach § 28 erhalten die dort genannten Personen auch dann Leistungen für Bildung und Teilhabe, wenn sie mit Personen in einem Haushalt zusammenleben, mit denen sie nur deshalb keine Bedarfsgemeinschaft bilden, weil diese aufgrund des zu berücksichtigenden Einkommens oder Vermögens selbst nicht leistungsberechtigt sind.
(3) Zur Bedarfsgemeinschaft gehören
- 1.
die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, - 2.
die im Haushalt lebenden Eltern oder der im Haushalt lebende Elternteil eines unverheirateten erwerbsfähigen Kindes, welches das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, und die im Haushalt lebende Partnerin oder der im Haushalt lebende Partner dieses Elternteils, - 3.
als Partnerin oder Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten - a)
die nicht dauernd getrennt lebende Ehegattin oder der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte, - b)
die nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartnerin oder der nicht dauernd getrennt lebende Lebenspartner, - c)
eine Person, die mit der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.
- 4.
die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können.
(3a) Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird vermutet, wenn Partner
- 1.
länger als ein Jahr zusammenleben, - 2.
mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben, - 3.
Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder - 4.
befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.
(4) Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Abweichend von Satz 1 erhält Leistungen nach diesem Buch,
- 1.
wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches) untergebracht ist oder - 2.
wer in einer stationären Einrichtung nach Satz 1 untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.
(4a) (weggefallen)
(5) Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben über die Leistungen nach § 27 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Satz 1 gilt auch für Auszubildende, deren Bedarf sich nach § 61 Absatz 2, § 62 Absatz 3, § 123 Nummer 2 sowie § 124 Nummer 2 des Dritten Buches bemisst.
(6) Absatz 5 Satz 1 ist nicht anzuwenden auf Auszubildende,
- 1.
die aufgrund von § 2 Absatz 1a des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben, - 2.
deren Bedarf sich nach den §§ 12, 13 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 1 oder nach § 13 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Absatz 2 Nummer 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes bemisst und die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz - a)
erhalten oder nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht erhalten oder - b)
beantragt haben und über deren Antrag das zuständige Amt für Ausbildungsförderung noch nicht entschieden hat; lehnt das zuständige Amt für Ausbildungsförderung die Leistungen ab, findet Absatz 5 mit Beginn des folgenden Monats Anwendung, oder
- 3.
die eine Abendhauptschule, eine Abendrealschule oder ein Abendgymnasium besuchen, sofern sie aufgrund des § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung haben.
(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit
- 1.
die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt, - 2.
der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist, - 3.
nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder - 4.
der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
(2) Der Verwaltungsakt ist im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt; § 44 bleibt unberührt.
(3) Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 nicht zurückgenommen werden und ist eine Änderung nach Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Satz 1 gilt entsprechend, soweit einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zugrunde liegt, der nach § 45 nicht zurückgenommen werden kann.
(4) § 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 gelten entsprechend. § 45 Abs. 4 Satz 2 gilt nicht im Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1.
(1) Die Agentur für Arbeit stellt fest, ob die oder der Arbeitsuchende erwerbsfähig ist. Der Entscheidung können widersprechen:
- 1.
der kommunale Träger, - 2.
ein anderer Träger, der bei voller Erwerbsminderung zuständig wäre, oder - 3.
die Krankenkasse, die bei Erwerbsfähigkeit Leistungen der Krankenversicherung zu erbringen hätte.
(1a) Der Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme nach Absatz 1 Satz 4 bedarf es nicht, wenn der zuständige Träger der Rentenversicherung bereits nach § 109a Absatz 2 Satz 2 des Sechsten Buches eine gutachterliche Stellungnahme abgegeben hat. Die Agentur für Arbeit ist an die gutachterliche Stellungnahme gebunden.
(2) Die gutachterliche Stellungnahme des Rentenversicherungsträgers zur Erwerbsfähigkeit ist für alle gesetzlichen Leistungsträger nach dem Zweiten, Dritten, Fünften, Sechsten und Zwölften Buch bindend; § 48 des Zehnten Buches bleibt unberührt.
(3) Entscheidet die Agentur für Arbeit, dass ein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht besteht, stehen ihr und dem kommunalen Träger Erstattungsansprüche nach § 103 des Zehnten Buches zu, wenn der oder dem Leistungsberechtigten eine andere Sozialleistung zuerkannt wird. § 103 Absatz 3 des Zehnten Buches gilt mit der Maßgabe, dass Zeitpunkt der Kenntnisnahme der Leistungsverpflichtung des Trägers der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der Jugendhilfe der Tag des Widerspruchs gegen die Feststellung der Agentur für Arbeit ist.
(4) Die Agentur für Arbeit stellt fest, ob und in welchem Umfang die erwerbsfähige Person und die dem Haushalt angehörenden Personen hilfebedürftig sind. Sie ist dabei und bei den weiteren Entscheidungen nach diesem Buch an die Feststellung der Angemessenheit der Kosten für Unterkunft und Heizung durch den kommunalen Träger gebunden. Die Agentur für Arbeit stellt fest, ob die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte oder die dem Haushalt angehörenden Personen vom Bezug von Leistungen nach diesem Buch ausgeschlossen sind.
(5) Der kommunale Träger stellt die Höhe der in seiner Zuständigkeit zu erbringenden Leistungen fest. Er ist dabei und bei den weiteren Entscheidungen nach diesem Buch an die Feststellungen der Agentur für Arbeit nach Absatz 4 gebunden. Satz 2 gilt nicht, sofern der kommunale Träger zur vorläufigen Zahlungseinstellung berechtigt ist und dies der Agentur für Arbeit vor dieser Entscheidung mitteilt.
(6) Der kommunale Träger kann einer Feststellung der Agentur für Arbeit nach Absatz 4 Satz 1 oder 3 innerhalb eines Monats schriftlich widersprechen, wenn er aufgrund der Feststellung höhere Leistungen zu erbringen hat. Der Widerspruch ist zu begründen; er befreit nicht von der Verpflichtung, die Leistungen entsprechend der Feststellung der Agentur für Arbeit zu gewähren. Die Agentur für Arbeit überprüft ihre Feststellung und teilt dem kommunalen Träger innerhalb von zwei Wochen ihre endgültige Feststellung mit. Hält der kommunale Träger seinen Widerspruch aufrecht, sind die Träger bis zu einer anderen Entscheidung der Agentur für Arbeit oder einer gerichtlichen Entscheidung an die Feststellung der Agentur für Arbeit gebunden.
(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit
- 1.
die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt, - 2.
der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist, - 3.
nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder - 4.
der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
(2) Der Verwaltungsakt ist im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt; § 44 bleibt unberührt.
(3) Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 nicht zurückgenommen werden und ist eine Änderung nach Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Satz 1 gilt entsprechend, soweit einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zugrunde liegt, der nach § 45 nicht zurückgenommen werden kann.
(4) § 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 gelten entsprechend. § 45 Abs. 4 Satz 2 gilt nicht im Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1.
(1) Die Agentur für Arbeit stellt fest, ob die oder der Arbeitsuchende erwerbsfähig ist. Der Entscheidung können widersprechen:
- 1.
der kommunale Träger, - 2.
ein anderer Träger, der bei voller Erwerbsminderung zuständig wäre, oder - 3.
die Krankenkasse, die bei Erwerbsfähigkeit Leistungen der Krankenversicherung zu erbringen hätte.
(1a) Der Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme nach Absatz 1 Satz 4 bedarf es nicht, wenn der zuständige Träger der Rentenversicherung bereits nach § 109a Absatz 2 Satz 2 des Sechsten Buches eine gutachterliche Stellungnahme abgegeben hat. Die Agentur für Arbeit ist an die gutachterliche Stellungnahme gebunden.
(2) Die gutachterliche Stellungnahme des Rentenversicherungsträgers zur Erwerbsfähigkeit ist für alle gesetzlichen Leistungsträger nach dem Zweiten, Dritten, Fünften, Sechsten und Zwölften Buch bindend; § 48 des Zehnten Buches bleibt unberührt.
(3) Entscheidet die Agentur für Arbeit, dass ein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht besteht, stehen ihr und dem kommunalen Träger Erstattungsansprüche nach § 103 des Zehnten Buches zu, wenn der oder dem Leistungsberechtigten eine andere Sozialleistung zuerkannt wird. § 103 Absatz 3 des Zehnten Buches gilt mit der Maßgabe, dass Zeitpunkt der Kenntnisnahme der Leistungsverpflichtung des Trägers der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der Jugendhilfe der Tag des Widerspruchs gegen die Feststellung der Agentur für Arbeit ist.
(4) Die Agentur für Arbeit stellt fest, ob und in welchem Umfang die erwerbsfähige Person und die dem Haushalt angehörenden Personen hilfebedürftig sind. Sie ist dabei und bei den weiteren Entscheidungen nach diesem Buch an die Feststellung der Angemessenheit der Kosten für Unterkunft und Heizung durch den kommunalen Träger gebunden. Die Agentur für Arbeit stellt fest, ob die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte oder die dem Haushalt angehörenden Personen vom Bezug von Leistungen nach diesem Buch ausgeschlossen sind.
(5) Der kommunale Träger stellt die Höhe der in seiner Zuständigkeit zu erbringenden Leistungen fest. Er ist dabei und bei den weiteren Entscheidungen nach diesem Buch an die Feststellungen der Agentur für Arbeit nach Absatz 4 gebunden. Satz 2 gilt nicht, sofern der kommunale Träger zur vorläufigen Zahlungseinstellung berechtigt ist und dies der Agentur für Arbeit vor dieser Entscheidung mitteilt.
(6) Der kommunale Träger kann einer Feststellung der Agentur für Arbeit nach Absatz 4 Satz 1 oder 3 innerhalb eines Monats schriftlich widersprechen, wenn er aufgrund der Feststellung höhere Leistungen zu erbringen hat. Der Widerspruch ist zu begründen; er befreit nicht von der Verpflichtung, die Leistungen entsprechend der Feststellung der Agentur für Arbeit zu gewähren. Die Agentur für Arbeit überprüft ihre Feststellung und teilt dem kommunalen Träger innerhalb von zwei Wochen ihre endgültige Feststellung mit. Hält der kommunale Träger seinen Widerspruch aufrecht, sind die Träger bis zu einer anderen Entscheidung der Agentur für Arbeit oder einer gerichtlichen Entscheidung an die Feststellung der Agentur für Arbeit gebunden.
Verwaltungsakt ist jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Allgemeinverfügung ist ein Verwaltungsakt, der sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet oder die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache oder ihre Benutzung durch die Allgemeinheit betrifft.
(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts (Anfechtungsklage) sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts (Verpflichtungsklage) begehrt werden.
(2) Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein.
(1) Mit der Klage kann begehrt werden
- 1.
die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses, - 2.
die Feststellung, welcher Versicherungsträger der Sozialversicherung zuständig ist, - 3.
die Feststellung, ob eine Gesundheitsstörung oder der Tod die Folge eines Arbeitsunfalls, einer Berufskrankheit oder einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes ist, - 4.
die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts,
(2) Unter Absatz 1 Nr. 1 fällt auch die Feststellung, in welchem Umfang Beiträge zu berechnen oder anzurechnen sind.
(3) Mit Klagen, die sich gegen Verwaltungsakte der Deutschen Rentenversicherung Bund nach § 7a des Vierten Buches Sozialgesetzbuch richten, kann die Feststellung begehrt werden, ob eine Erwerbstätigkeit als Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit ausgeübt wird.
(1) Erwerbsfähig ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
(2) Im Sinne von Absatz 1 können Ausländerinnen und Ausländer nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Die rechtliche Möglichkeit, eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 des Aufenthaltsgesetzes aufzunehmen, ist ausreichend.
(1) Leistungsberechtigt nach diesem Kapitel sind Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus Einkommen und Vermögen nach § 43 bestreiten können, wenn sie die Voraussetzungen nach Absatz 2, 3 oder 3a erfüllen.
(2) Leistungsberechtigt sind Personen nach Absatz 1 wegen Alters, wenn sie die Altersgrenze erreicht haben. Personen, die vor dem 1. Januar 1947 geboren sind, erreichen die Altersgrenze mit Vollendung des 65. Lebensjahres. Für Personen, die nach dem 31. Dezember 1946 geboren sind, wird die Altersgrenze wie folgt angehoben:
für den Geburtsjahrgang | erfolgt eine Anhebung um Monate | auf Vollendung eines Lebensalters von |
1947 | 1 | 65 Jahren und 1 Monat |
1948 | 2 | 65 Jahren und 2 Monaten |
1949 | 3 | 65 Jahren und 3 Monaten |
1950 | 4 | 65 Jahren und 4 Monaten |
1951 | 5 | 65 Jahren und 5 Monaten |
1952 | 6 | 65 Jahren und 6 Monaten |
1953 | 7 | 65 Jahren und 7 Monaten |
1954 | 8 | 65 Jahren und 8 Monaten |
1955 | 9 | 65 Jahren und 9 Monaten |
1956 | 10 | 65 Jahren und 10 Monaten |
1957 | 11 | 65 Jahren und 11 Monaten |
1958 | 12 | 66 Jahren |
1959 | 14 | 66 Jahren und 2 Monaten |
1960 | 16 | 66 Jahren und 4 Monaten |
1961 | 18 | 66 Jahren und 6 Monaten |
1962 | 20 | 66 Jahren und 8 Monaten |
1963 | 22 | 66 Jahren und 10 Monaten |
ab 1964 | 24 | 67 Jahren. |
(3) Leistungsberechtigt sind Personen nach Absatz 1 wegen einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung, wenn sie das 18. Lebensjahr vollendet haben, unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Absatz 2 des Sechsten Buches sind und bei denen unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann.
(3a) Leistungsberechtigt sind Personen nach Absatz 1, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, für den Zeitraum, in dem sie
- 1.
in einer Werkstatt für behinderte Menschen (§ 57 des Neunten Buches) oder bei einem anderen Leistungsanbieter (§ 60 des Neunten Buches) das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich durchlaufen oder - 2.
in einem Ausbildungsverhältnis stehen, für das sie ein Budget für Ausbildung (§ 61a des Neunten Buches) erhalten.
(4) Keinen Anspruch auf Leistungen nach diesem Kapitel hat, wer in den letzten zehn Jahren die Hilfebedürftigkeit vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat.
Tenor
-
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 2011 aufgehoben. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 10. Dezember 2007 wird zurückgewiesen.
-
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
- 1
-
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit gewähren muss.
- 2
-
Die 1954 geborene Klägerin hat keine Schule besucht und keinen Beruf erlernt. Sie ist auch in ihrer türkischen Muttersprache (primäre) Analphabetin, weil sie keine Zahlen kennt, nur minimale Buchstabenkenntnisse besitzt und deshalb selbst mit fremder Hilfe weder lesen noch schreiben kann. In Deutschland arbeitete sie ab November 1987 bis zum Beginn ihrer Arbeitsunfähigkeit im September 2004 durchgehend als Reinigungskraft bei der Stadt B.
- 3
-
Sie leidet an einer Wirbelsäulenerkrankung ohne neurologische Ausfallerscheinungen, einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und einer depressiven Erkrankung. Trotz dieser Krankheiten kann sie noch körperlich leichte Tätigkeiten sechs (und mehr) Stunden an fünf Tagen in der Woche regelmäßig verrichten. Auszuschließen sind Arbeiten mit Knien, Hocken, häufigem Bücken, über Kopf, mit Besteigen von Leitern und Gerüsten, unter Umwelteinflüssen (wie Kälte, Hitze, Temperaturschwankungen, Nässe, Staub, Gas, Dampf, Rauch, Lärm, Schmutzeinwirkung), in Wechsel- und Nachtschicht, unter zeitlichem Druck, wie bei Akkord- oder Fließbandarbeit, sowie mit häufigem Publikumsverkehr. Der Analphabetismus der Klägerin beruht nicht auf einer gesundheitlichen Störung.
- 4
-
Ihren Antrag vom 21.6.2005 auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit lehnte die Beklagte ab, weil sie noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein könne (Bescheid vom 22.9.2005 und Widerspruchsbescheid vom 6.1.2006). Die Klage blieb erfolglos (Urteil des SG Detmold vom 10.12.2007).
- 5
-
Das LSG hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ausgehend von einem am 21.6.2005 eingetretenen Leistungsfall befristet bis zum 31.1.2014 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen (Urteil vom 21.2.2011): Die Klägerin habe die allgemeine Wartezeit zurückgelegt, erfülle die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen und sei voll erwerbsgemindert. Denn ihr sei der Arbeitsmarkt unter dem Gesichtspunkt einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen praktisch verschlossen. Zwar seien die qualitativen Leistungseinschränkungen nach der Rechtsprechung des 5. Senats des BSG, der sich der erkennende Senat anschließe, nicht ungewöhnlich und ließen für sich allein noch keine ernstlichen Zweifel daran aufkommen, dass die Klägerin in einem Betrieb einsetzbar sei. Gleichwohl seien keine beruflichen Tätigkeiten ersichtlich, die sie auf der Grundlage ihres Restleistungsvermögens und ihres muttersprachlichen Analphabetismus noch verrichten könne. Der Analphabetismus sei bei der Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliege, zu berücksichtigen, wenn das weite Feld der Tätigkeiten, die die Fähigkeit des Lesens und Schreibens nicht unbedingt erforderten, aufgrund weiterer Leistungseinschränkungen und der Beschränkung des Restleistungsvermögens auf nur leichte Arbeiten nicht mehr zweifelsfrei offenstehe. Eine realistische Verwertung des Restleistungsvermögens im Erwerbsleben setze voraus, dass eine Verweisungstätigkeit den Kräften und Fähigkeiten des Versicherten entspreche, wodurch sichergestellt werde, dass keine vom tatsächlichen Leistungsvermögen losgelöste, also fiktive Verweisung erfolge. Eine konkrete Verweisungstätigkeit, die die Klägerin mit den verbliebenen Fähigkeiten noch verrichten könne, sei indes nicht ersichtlich. Die Tätigkeiten als Museumswärterin/Aufseherin, Küchenhilfe, Büglerin, Mitarbeiterin in einer Mangel, Warensortiererin in der Kunststoff- und Metallindustrie oder in der Papier- und Elektroindustrie, die die Beklagte benannt habe, könne die Klägerin teils aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen, teils aufgrund des Analphabetismus nicht mehr ausüben.
- 6
-
Mit der Revision, die das LSG zugelassen hat, rügt die Beklagte eine Verletzung von § 43 SGB VI: Nach der Rechtsprechung des BSG sei in der Regel davon auszugehen, dass Versicherte, die noch körperlich leichte Tätigkeiten- wenngleich mit qualitativen Einschränkungen - täglich mindestens sechs Stunden verrichten könnten, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den dort üblichen Bedingungen erwerbstätig sein könnten. Eine konkrete Verweisungstätigkeit sei in dieser Situation nur zu benennen, wenn ausnahmsweise eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliege. Das LSG führe jedoch selbst nachvollziehbar aus, dass sämtliche Leistungseinschränkungen der Klägerin nicht ungewöhnlich seien und für sich allein keine ernstlichen Zweifel daran aufkommen ließen, dass sie in einem Betrieb einsetzbar sei. Bei der Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliege, müsse ihr Analphabetismus außer Acht bleiben. Denn er beruhe nicht auf einer gesundheitlichen Störung oder auf intellektuellen Defiziten, sondern darauf, dass sie keine Schule besucht und deshalb weder Lesen noch Schreiben erlernt habe. Ein solcher Analphabetismus sei als Bildungsdefizit und nicht als Erwerbsminderung auslösende Krankheit oder Behinderung zu werten. Soweit sich das Berufungsgericht für seine gegenteilige Ansicht auf das Senatsurteil vom 10.12.2003 (B 5 RJ 64/02 R - SozR 4-2600 § 44 Nr 1) stütze, stehe diese Entscheidung nicht mit dem Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996 (GS 2/95 - BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8) in Einklang. Danach sei es ausgeschlossen, "einen arbeitslosen Versicherten, der noch vollschichtig arbeiten" könne, "deshalb als erwerbsunfähig anzusehen, weil neben den gesundheitlichen Einschränkungen Risikofaktoren wie Langzeitarbeitslosigkeit und vorgerücktes Alter oder mangelhafte Ausbildung die Vermittlungschancen zusätzlich" erschwerten. Analphabetismus sei jedoch nichts anderes als "mangelnde Ausbildung". Für die Überwindung des Analphabetismus seien nicht die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern die Bundesagentur für Arbeit, die Grundsicherungsträger sowie die Kommunen und Länder zuständig; das daraus resultierende Arbeitsmarktrisiko dürfe nicht auf die Rentenversicherungsträger verlagert werden. Soweit die Rechtsprechung schließlich zwischen Analphabetismus und mangelnden Deutschkenntnissen unterscheide, sei diese Differenzierung inkonsequent. Denn nach ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl Senatsurteil vom 15.5.1991 - 5 RJ 92/89 - BSGE 68, 288 = SozR 3-2200 § 1246 Nr 11) müssten unzureichende Deutschkenntnisse bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit außer Acht bleiben, weil dem Rentenversicherungsträger sonst ein von der gesetzlichen Rentenversicherung nicht erfasstes Risiko aufgebürdet werde. Nichts anderes müsse für Analphabetismus gelten. Dass der Klägerin der Zugang zum Arbeitsmarkt wegen ihres Analphabetismus erschwert sei, könne ebenso wenig wie der Umstand berücksichtigt werden, dass sie aufgrund mangelhafter deutscher Sprachkenntnisse nicht ausreichend kommunizieren könne.
- 7
-
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 2011 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 10. Dezember 2007 zurückzuweisen.
- 8
-
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
- 9
-
Sie trägt vor: Aufgrund einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen erfülle sie die Voraussetzungen einer Rente wegen voller Erwerbsminderung, wobei ihr Analphabetismus zu berücksichtigen sei. Als primäre Analphabetin sei sie auf dem Arbeitsmarkt, unter Hinzutreten weiterer ungewöhnlicher Erschwernisse, schlichtweg nicht (mehr) vermittelbar und könne auch auf Alternativtätigkeiten nicht (mehr) verwiesen werden. Selbst wenn man den primären Analphabetismus außer Acht ließe, seien zumutbare Verweisungstätigkeiten weder ersichtlich noch von der Beklagten benannt worden. Vor dem Hintergrund bestehender Fürsorgepflicht hätte die Beklagte durch Rehabilitations- bzw Förderungsmaßnahmen dem Analphabetismus entgegenwirken und hierdurch eine Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt wiederherstellen müssen.
Entscheidungsgründe
- 10
-
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Das Urteil des LSG verletzt Bundesrecht (§ 162 SGG). Der Klägerin steht kein Recht auf Rente wegen Erwerbsminderung zu.
- 11
-
1. Als Anspruchsgrundlage kommt allein § 43 Abs 2 SGB VI in der Fassung der Bekanntmachung vom 19.2.2002 (BGBl I 754) in Betracht (§ 300 Abs 1 SGB VI). Danach haben Versicherte bei Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (Abs 2 S 1 Nr 2 und 3) bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Abs 2 S 1 Nr 1). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (Abs 2 S 2). Erwerbsgemindert ist hingegen nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (Abs 3). Nach § 102 Abs 2 S 1 SGB VI werden Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, zu denen auch die Rente wegen voller Erwerbsminderung zählt(§ 33 Abs 3 Nr 2 SGB VI), auf Zeit geleistet. Die Befristung (§ 32 Abs 2 Nr 1 SGB X) erfolgt für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn (§ 102 Abs 2 S 2 iVm § 101 Abs 1 SGB VI) und kann wiederholt werden (§ 102 Abs 2 S 3 SGB VI in der Fassung der Bekanntmachung vom 19.2.2002, BGBl I 754).
- 12
-
2. Nach den Feststellungen des LSG, die nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angefochten und deshalb für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), kann die Klägerin körperlich leichte Tätigkeiten mindestens sechs Stunden (arbeits)täglich, dh an fünf Tagen in der Woche, verrichten. Dieses zeitliche (quantitative) Leistungsvermögen schließt die Annahme einer "vollen Erwerbsminderung" gemäß § 43 Abs 3 Halbs 1 SGB VI aber noch nicht aus. Vielmehr kommt es nach dieser Vorschrift iVm § 43 Abs 2 S 2 SGB VI entscheidend darauf an, ob die Klägerin "wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande" ist, "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts … erwerbstätig zu sein". Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
- 13
-
Die Rentenversicherungsträger und im Streitfall die Tatsachengerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben von Amts wegen (§ 20 Abs 1 S 1 SGB X, § 103 SGG) mit Hilfe (medizinischer) Sachverständiger (§ 21 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB X, § 106 Abs 3 Nr 5 SGG) zu ermitteln und festzustellen,
a)
Art, Ausprägung und voraussichtliche Dauer der Krankheit(en) oder Behinderung(en), an denen der Versicherte leidet,
b)
Art, Umfang und voraussichtliche Dauer der quantitativen und qualitativen Leistungseinschränkungen (Minderbelastbarkeiten, Funktionsstörungen und -einbußen) sowie den
c)
Ursachenzusammenhang ("wegen") zwischen a) und b).
- 14
-
a) Das LSG hat bindend (§ 163 SGG) festgestellt, dass die Klägerin "an einer Wirbelsäulenerkrankung ohne neurologische Ausfallerscheinungen, einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und an einer depressiven Erkrankung leidet". Dabei handelt es sich - auch soweit psychische Leiden vorliegen (s dazu BSGE 21, 189 = SozR Nr 39 zu § 1246 RVO; SozR Nr 15 zu § 1254 aF RVO) - um Krankheiten iS von § 43 Abs 2 S 2 SGB VI, dh um regelwidrige Körper- bzw Geisteszustände(BSGE 14, 207 = SozR Nr 5 zu § 45 RKG), die geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit herabzusetzen (BSGE 13, 255 = SozR Nr 11 zu § 1246 RVO). Den Analphabetismus oder dessen Ursachen hat das Berufungsgericht dagegen nicht als Krankheit bezeichnet, sondern ausdrücklich ausgeführt, dass die komplette Lese- und Schreibinkompetenz "nicht auf einer gesundheitlichen Störung" beruht. Sie ist auch keine "Behinderung", weil dazu rentenversicherungsrechtlich nur (weiter die Begriffsbestimmung in § 2 Abs 1 SGB IX) krankheitsbedingte Störungen zählen (Blaser, Der Begriff der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" im Sozialrecht, 2009, S 98; Kunze, DRV 2001, 192), deren Entwicklung - anders als bei einer Krankheit (vgl dazu BSGE 28, 114 = SozR Nr 28 zu § 182 RVO) - irreversibel abgeschlossen ist. Der "nicht auf einer gesundheitlichen Störung beruhende Analphabetismus" kann aber durch Erlernen der Schriftsprache überwunden werden.
- 15
-
b) Das LSG hat weiter bindend festgestellt, dass die Klägerin noch körperlich leichte Tätigkeiten sechs (und mehr) Stunden an fünf Tagen in der Woche regelmäßig verrichten kann. Auszuschließen sind Arbeiten mit Knien, Hocken, häufigem Bücken, über Kopf, mit Besteigen von Leitern und Gerüsten, unter Umwelteinflüssen (wie Kälte, Hitze, Temperaturschwankungen, Nässe, Staub, Gas, Dampf, Rauch, Lärm, Schmutzeinwirkung), in Wechsel- und Nachtschicht, unter zeitlichem Druck, wie bei Akkord- oder Fließbandarbeit, sowie mit häufigem Publikumsverkehr.
- 16
-
c) Zwischen diesen Leistungseinschränkungen (Erwerbsminderung) und den Krankheit(en) bzw Behinderung(en) muss ein Ursachenzusammenhang bestehen ("wegen"). Die Leistungsminderung muss wesentlich (Theorie der wesentlichen Bedingung, vgl BSGE 96, 291, 293 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7 RdNr 15)auf einer Krankheit oder Behinderung (den versicherten Risiken) beruhen und nicht auf sonstigen Umständen wie Lebensalter, fehlenden Sprachkenntnissen (Senatsurteil vom 15.5.1991 - 5 RJ 92/89 - SozR 3-2200 § 1246 Nr 11 S 38 f; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 9 S 34 f; SozR 2200 § 1246 Nr 61) oder Arbeitsentwöhnung (BSGE 7, 66). Aus den Darlegungen des LSG zum Ursachenzusammenhang geht hinreichend deutlich hervor, dass die beschriebenen Leistungseinschränkungen und Minderbelastbarkeiten aus den zuvor festgestellten Gesundheitsstörungen "resultieren". Außerdem hält das Berufungsgericht ausdrücklich fest, dass der Analphabetismus der Klägerin "nicht auf einer gesundheitlichen Störung beruht", also gerade kein Ursachenzusammenhang zwischen ihm und einer der festgestellten Erkrankungen vorliegt.
- 17
-
3. Steht das krankheits- bzw behinderungsbedingte (Rest-)Leistungsvermögen fest, ist im nächsten Prüfungsschritt die Rechtsfrage zu klären, ob der Versicherte damit außerstande ist, "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts" tätig zu sein. Diese Frage ist hier zu verneinen. Die zitierte Formulierung verwendete der Gesetzgeber ursprünglich im Arbeitsförderungsrecht (§ 103 AFG, § 119 SGB III, seit dem 1.4.2012: § 138 Abs 5 SGB III) und übertrug sie später auf das Recht der Renten wegen Erwerbsminderung. Mit dieser Übernahme griff er gleichzeitig die Rechtsprechung des BSG auf, wonach dem Betroffenen der Zugang zum Arbeitsmarkt trotz vollschichtigem Leistungsvermögen praktisch verschlossen war, wenn er krankheitsbedingt keine "Erwerbstätigkeit unter den in Betrieben üblichen Bedingungen" mehr ausüben konnte (sog 1. Katalog- und Seltenheitsfall, vgl dazu nur Senatsurteil vom 27.5.1977 - 5 RJ 28/76 - SozR 2200 § 1246 Nr 19 und die Zusammenstellung der Katalog- und Seltenheitsfälle in BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 28). Die hierzu und zum Arbeitsförderungsrecht entwickelte Rechtsprechung ist auf die gesetzliche Neuformulierung übertragbar.
- 18
-
a) "Bedingungen" sind dabei alle Faktoren, die wesentliche Grundlage des Arbeitsverhältnisses sind (BSGE 11, 16, 20). Hierzu gehört vor allem der rechtliche Normrahmen, wie etwa Dauer und Verteilung der Arbeitszeit, Pausen- und Urlaubsregelungen, Beachtung von Arbeitsschutzvorschriften sowie gesetzliche Bestimmungen und tarifvertragliche Vereinbarungen (BSG Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R - RdNr 29, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2600 § 43 Nr 16 vorgesehen; zum Arbeitsförderungsrecht: BSGE 11, 16, 20; 44, 164, 172 = SozR 4100 § 134 Nr 3; BSGE 46, 257, 259 = SozR 4100 § 103 Nr 17; BSG SozR 4100 § 103 Nr 23 S 55; BSG Urteil vom 21.4.1993 - 11 RAr 79/92 - Die Beiträge 1994, 431). Die Bedingungen sind "üblich", wenn sie nicht nur in Einzel- oder Ausnahmefällen anzutreffen sind, sondern in nennenswertem Umfang und in beachtlicher Zahl (BSG Urteil vom 19.10.2011, aaO, RdNr 29; BSGE 46, 257, 262, 264 = SozR 4100 § 103 Nr 17 S 40, 42; SozR 2200 § 1247 Nr 43 S 86 f; BSG Urteil vom 21.4.1993, aaO, Die Beiträge 1994, 431). Der Arbeitsmarktbegriff erfasst alle denkbaren Tätigkeiten (vgl BT-Drucks 14/4230, S 25), für die es faktisch "Angebot" und "Nachfrage" gibt. Das Adjektiv "allgemein" grenzt den ersten vom zweiten - öffentlich geförderten - Arbeitsmarkt, zu dem regelmäßig nur Leistungsempfänger nach dem SGB II und III Zugang haben, sowie von Sonderbereichen ab, wie beispielsweise Werkstätten für behinderte Menschen und andere geschützte Einrichtungen (BSG Urteil vom 19.10.2011, aaO RdNr 27). Die Klägerin kann nach den Feststellungen des LSG an fünf Tagen in der Woche mindestens sechs Stunden arbeiten. Sieht man davon ab, dass ihr Nacht- und Wechselschichten krankheitsbedingt nicht mehr zugemutet werden dürfen, benötigt sie im Hinblick auf Dauer und Verteilung der Arbeitszeit keine Sonderbehandlung, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unüblich wäre. Sie hat auch keinen erhöhten, betriebsunüblichen Pausen- oder Urlaubsbedarf und ist in einem Betrieb, also außerhalb geschützter Einrichtungen, einsetzbar. Wer aber in einem Betrieb unter den dort üblicherweise herrschenden Bedingungen arbeiten kann, ist auch imstande, "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts" tätig zu sein.
- 19
-
b) Soweit unter den Begriff der üblichen Bedingungen "auch tatsächliche Umstände" gefasst werden (BSG Urteil vom 19.10.2011, aaO, RdNr 29), "wie zB die für die Ausübung einer Verweisungstätigkeit allgemein vorausgesetzten Mindestanforderungen an Konzentrationsvermögen, geistige Beweglichkeit, Stressverträglichkeit und Frustrationstoleranz", handelt es sich ausschließlich um kognitive Grundfähigkeiten, die krankheitsbedingt herabgesetzt sein können. Der "nicht auf einer gesundheitlichen Störung beruhende Analphabetismus" gehört nicht dazu. Wie der berufliche Werdegang der Klägerin exemplarisch und stellvertretend für eine Vielzahl von Arbeitsverhältnissen zeigt, zählen Lese- und Schreibkompetenzen keinesfalls zu den üblichen Grundbedingungen eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses. Andernfalls könnten primäre Analphabeten nie unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig werden, wären schon vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit (voll) erwerbsgemindert und könnten Rente wegen voller Erwerbsminderung erst erhalten, nachdem sie die Wartezeit von 20 Jahren zurückgelegt haben (§ 43 Abs 6 iVm § 50 Abs 2 SGB VI).
- 20
-
4. Folglich kommt es entscheidend darauf an, ob die Klägerin trotz ihrer qualitativen Leistungseinschränkungen noch imstande ist, "erwerbstätig zu sein", dh durch (irgend)eine Tätigkeit Erwerb(seinkommen) zu erzielen. Diese Frage ist zu bejahen.
- 21
-
a) Um nachprüfbar zu machen, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, hat das BSG bereits zum Parallelproblem im Recht der Renten wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit (§§ 1246, 1247 RVO bzw §§ 43, 44 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Altfassung - aF) die Pflicht der Rentenversicherungsträger entwickelt, dem Versicherten zumindest eine zumutbare Tätigkeit (sog Verweisungstätigkeit) konkret zu benennen, die er mit seinem verbliebenen Restleistungsvermögen noch ausüben kann (sog Benennungsgebot), wenn eine Rente wegen fehlender Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit abgelehnt werden sollte (BSGE 80, 24, 31 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24; SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 S 229; SozR 2200 § 1246 Nr 72, 74, 98 und 104). Zu benennen war eine Berufstätigkeit mit ihren typischen, das Anforderungsprofil bestimmenden Merkmalen (BSGE 80, 24, 31 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 72 S 229 und Nr 74 S 234; SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 S 229). Die Angabe einzelner Arbeitsvorgänge oder Tätigkeitsmerkmale genügte nicht (BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 34 S 130 f mwN; BSG Urteil vom 27.3.2007 - B 13 R 63/06 R - Juris RdNr 30). Andererseits musste kein konkreter Arbeitsplatz bezeichnet werden (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 104 S 324). Die zu benennende Tätigkeit musste auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tatsächlich in ausreichendem Umfang vorkommen (BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 28), dh es mussten grundsätzlich mehr als 300 Stellen (besetzt oder offen) vorhanden sein (BSGE 78, 207, 222 f = SozR 3-2600 § 43 Nr 13 S 34 f; BSG Urteile vom 29.7.2004 - B 4 RA 5/04 R - Juris RdNr 24, 33 und vom 26.4.2007 - B 4 R 5/06 R - Juris RdNr 18).
- 22
-
b) Abweichend von diesem Grundsatz war die Benennung einer Verweisungstätigkeit entbehrlich, sofern der Versicherte - wenn auch mit qualitativen Einschränkungen - noch vollschichtig zu mittelschweren oder leichten Arbeiten in der Lage war und auf eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden durfte (BSGE 80, 24, 31 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24 mwN). Auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden durften bei der Prüfung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit grundsätzlich alle Versicherten (BSGE 19, 147, 149 f = SozR Nr 6 zu § 1247 RVO; BSG SozR 2200 § 1247 Nr 7 S 12 f; SozR 5850 § 2 Nr 12 S 25; SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 S 18), bei der Prüfung der Rente wegen Berufsunfähigkeit hingegen nur ungelernte Arbeiter bzw sog Angelernte im unteren Bereich (BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 21 S 72 f mwN). In diesen Fällen war regelmäßig davon auszugehen, dass das Restleistungsvermögen dem Versicherten noch körperliche Verrichtungen erlaubte, wie sie in ungelernten Tätigkeiten gefordert zu werden pflegen (wie zB Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw). Dem lag die Überlegung zugrunde, dass sich die nicht oder nur ganz wenig qualifizierten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts ("Hilfsarbeiten") einerseits einer knappen Benennung, die aussagekräftig Art und Anforderungen der Tätigkeiten beschreiben würde, entzogen, das Arbeitsfeld andererseits aber so heterogen war, dass mit einem Restleistungsvermögen für körperlich leichte Tätigkeiten jedenfalls noch von ausreichenden Erwerbsmöglichkeiten ausgegangen werden konnte (BSGE 80, 24, 31 ff = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24 ff).
- 23
-
c) Trotz der praktischen Schwierigkeiten war - im Sinne einer Rückausnahme - die konkrete Benennung zumindest einer Verweisungstätigkeit erforderlich, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorlag: In diesen Fällen einer überdurchschnittlich starken Leistungsminderung bestanden - entgegen der oben skizzierten tatsächlichen Vermutung bzw Annahme - ernsthafte Zweifel, dass der allgemeine Arbeitsmarkt für die dem Versicherten an sich noch mögliche Vollzeittätigkeit eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen bereithielt oder dass der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar war (BSGE 80, 24, 34 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 27; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 104 S 324 und Nr 136 S 434). Auch die Möglichkeit der praktischen Verschlossenheit des Arbeitsmarkts durch die sog Katalog- und Seltenheitsfälle ist in diesem Zusammenhang bedeutsam (vgl die Zusammenstellung der Katalog- und Seltenheitsfälle in BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 28). Diese Maßstäbe haben auch für die seit dem 1.1.2001 geltende Rechtslage weiterhin Gültigkeit (BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 5 RdNr 18 und BSG Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R - RdNr 19).
- 24
-
5. Für den Regelfall darf damit auch für die Renten wegen Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI nF (iS einer widerlegbaren tatsächlichen Vermutung) davon ausgegangen werden, dass ein Versicherter, der zumindest körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten - wenn auch mit qualitativen Einschränkungen - wenigstens sechs Stunden täglich verrichten kann, noch in der Lage ist, "erwerbstätig zu sein", dh durch (irgend)eine Tätigkeit Erwerb(seinkommen) zu erzielen(s auch § 43 Abs 3 SGB VI nF). Es ist mehrschrittig zu prüfen (vgl dazu BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 21 S 73 und Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R - RdNr 35):
- 25
-
a) Im ersten Schritt ist festzustellen, ob das Restleistungsvermögen dem Versicherten Verrichtungen oder Tätigkeiten erlaubt (wie zB Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw
) , die in ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden. Es genügt die Benennung von "Arbeitsfeldern", von "Tätigkeiten der Art nach" oder von "geeigneten Tätigkeitsfeldern", die der Versicherte ausfüllen könnte (vgl BSGE 80, 24, 31 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24; Senatsurteile vom 24.2.1999 - SozR 3-2600 § 44 Nr 12 S 43; vom 11.5.1999 - SozR 3-2600 § 43 Nr 21 S 73 f; vom 10.12.2003 - SozR 4-2600 § 44 Nr 1 RdNr 23; BSG vom 19.8.1997 - 13 RJ 29/95 - SozSich 1998, 111 - Juris RdNr 30; BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 62 f; vom 9.9.1998 - B 13 RJ 35/97 R - Juris RdNr 24; vom 14.7.1999 - B 13 RJ 65/97 R - Juris RdNr 32; sog "kleines Benennungsgebot": vgl Köbl in Ruland/Försterling, Gemeinschaftskommentar zum SGB VI, § 43 RdNr 168, Stand Oktober 2006; Gürtner in Kasseler Komm, § 43 SGB VI RdNr 47, Stand April 2010; Spiolek, SGb 1999, 509, 510; kritisch Kamprad in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 43 RdNr 42, Stand März 2012; aA wohl Blaser, Der Begriff der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" im Sozialrecht, 2009, S 108). Damit können "ernste Zweifel" an der beschriebenen Einsatzfähigkeit des Versicherten als Folge von qualitativen Leistungseinschränkungen ausgeräumt werden.
- 26
-
b) Lassen sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben und kommen deshalb "ernste Zweifel" an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen auf, stellt sich im zweiten Schritt die Rechtsfrage, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine besondere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt (vgl Senatsurteil vom 24.2.1999 - SozR 3-2600 § 44 Nr 12 S 44 sowie BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 62 f und Nr 21 S 73 f sowie Beschluss vom 9.9.1998 - B 13 RJ 35/97 - Juris RdNr 24). Hierbei handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, die schwierig zu konkretisieren (BSGE 81, 15, 19 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 23 S 69 sowie SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 60 f) und vernünftig zu handhaben sind (BSGE 80, 24, 39 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 33 ). Da es für die Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, keinen konkreten Beurteilungsmaßstab gibt, können auch für die tatrichterliche Begründung und die dazu nötigen Tatsachenfeststellungen keine allgemeingültigen Anforderungen aufgestellt werden (BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 9 RdNr 23). Auch der jeweilige Begründungsaufwand richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere hängt er von der Anzahl, Art und Schwere der bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen ab. Je mehr diese geeignet erscheinen, gerade auch typische Arbeitsplätze für körperlich leichte Tätigkeiten zu versperren, umso eingehender und konkreter muss das Tatsachengericht seine Entscheidung zur Frage einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung begründen (BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 9 RdNr 23; BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 61). Wie sich der Richter die jeweils erforderliche Tatsachenkenntnis verschafft, liegt in seinem Ermittlungsermessen (vgl § 103 SGG). Angesichts des unzulänglichen Gesamtüberblicks über typische Anforderungen ungelernter Verrichtungen ist ihm dabei ein weiter Freiraum für Einschätzungen zuzugestehen. Gleichwohl muss aber aus rechtsstaatlichen Gründen ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidung gesichert bleiben (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 60 ff und BSG Urteil vom 19.8.1997 - 13 RJ 25/95 - SozSich 1998, 113 - Juris RdNr 25).
- 27
-
c) Erst wenn nach diesen Maßstäben eine "schwere spezifische Leistungsbehinderung" oder "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" vorliegt, ist dem Versicherten im dritten Schritt mindestens eine konkrete Verweisungstätigkeit mit ihren typischen, das Anforderungsprofil bestimmenden Merkmalen (kein konkreter Arbeitsplatz) zu benennen, um seinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung auszuschließen (vgl BSGE 80, 24, 39 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 33). Hierbei sind dann nicht nur das körperliche, geistige und kognitive Leistungsvermögen einerseits und das berufliche Anforderungsprofil andererseits miteinander zu vergleichen und in Deckung zu bringen, sondern es muss auch individuell geprüft werden, ob der Versicherte die notwendigen fachlichen Qualifikationen und überfachlichen Schlüsselkompetenzen besitzt oder zumindest innerhalb von drei Monaten erlernen kann. Außerdem ist dann zu beachten, dass auf Tätigkeiten nicht verwiesen werden darf, die auf dem Arbeitsmarkt nur in ganz geringer Zahl vorkommen (Katalogfall Nr 3), die an Berufsfremde nicht vergeben werden (Katalogfall Nr 4) oder für Betriebsfremde unzugänglich sind, weil es sich um reine Schonarbeitsplätze (Katalogfall Nr 5) oder Aufstiegspositionen (Katalogfall Nr 6) handelt (vgl die Zusammenstellung der Katalog- und Seltenheitsfälle in BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 28). Kann der Versicherte die Verweisungstätigkeit krankheits- oder behinderungsbedingt nicht mehr ausüben, oder kann er sich die fehlenden fachlichen oder überfachlichen Kompetenzen nicht innerhalb von drei Monaten aneignen, so ist er auch dann (voll) erwerbsgemindert, wenn sein zeitliches (quantitatives) Leistungsvermögen uneingeschränkt erhalten ist.
- 28
-
6. Zu Recht hat das LSG eine schwere spezifische Leistungsbehinderung verneint. Sie liegt nur vor, wenn bereits eine erhebliche (krankheitsbedingte) Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt (BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 60; Blaser, Der Begriff der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" im Sozialrecht, 2009, S 108; Spiolek, NZS 1997, 415, 416 f). Hierzu können - unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallumstände (vgl BSG SozR 3- 2600 § 43 Nr 17 S 61 ; BSG SozR 3- 2600 § 43 Nr 19 S 68 ; BSGE 81, 15, 19 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 23 S 69 ) - beispielsweise Einäugigkeit (Senatsurteile vom 12.5.1982 - 5b/5 RJ 170/80 - Juris RdNr 8 und vom 14.9.1995 - 5 RJ 50/94 - SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 S 230; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 30, 90), Einarmigkeit (Senatsurteil vom 14.9.1995 - 5 RJ 50/94 - SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 S 230; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 30) und Einschränkungen der Arm- und Handbeweglichkeit (BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 S 19) sowie besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz zählen (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 104, 117; weitere Beispiele bei BSGE 80, 24, 33 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 26 und bei Spiolek, NZS 1997, 415, 416 f). Der "nicht auf einer gesundheitlichen Störung beruhende Analphabetismus" gehört nicht dazu, weil er keine "Behinderung" ist (s Gliederungspunkt 2 a) und damit auch keine "Leistungsbehinderung" sein kann.
- 29
-
7. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts liegt auch keine "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" vor, die es ausnahmsweise notwendig machen könnte, den Ausschluss eines Rechts auf Rente nicht lediglich abstrakt mit der Einsetzbarkeit der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu begründen, sondern hierfür die konkrete Benennung einer noch in Betracht kommenden Verweisungstätigkeit zu fordern. Insofern kann vorliegend offen bleiben, ob es sich bei dem muttersprachlichen Analphabetismus der Klägerin für sich um eine ungewöhnliche Leistungseinschränkung in diesem Sinne handelt (vgl dazu Senatsurteile vom 10.12.2003 - B 5 RJ 64/02 R - SozR 4-2600 § 44 Nr 1 RdNr 17 ff und vom 20.10.2004 - B 5 RJ 48/03 R - Juris RdNr 19 sowie BSG Urteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 13/98 R - SozR 3-2200 § 1246 Nr 62 S 288). Nach der unverändert einschlägigen Verweisungsrechtsprechung des Großen Senats des BSG (BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8) begründet nämlich bei zeitlich uneingeschränkt leistungsfähigen Versicherten allein die "Summierung" - notwendig also eine Mehrheit von wenigstens zwei ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen als tauglichen Summanden - die Benennungspflicht, nicht aber, wie das Berufungsgericht meint, bereits das Zusammentreffen einer - potenziell - ungewöhnlichen und einer oder mehrerer "gewöhnlicher" Leistungseinschränkungen. Durch die genannte Rechtsprechung des Großen Senats und den ausdrücklichen Ausschluss einer Berücksichtigung der "jeweiligen Arbeitsmarktlage" in § 43 Abs 3 Halbs 2 SGB VI ist auch bereits entschieden, dass weitere Fälle einer Benennungspflicht nicht in Betracht kommen. Im Hinblick auf die qualitativen Einschränkungen, die bei der Klägerin zu beachten sind, hat das LSG jedoch unangefochten festgestellt, dass diese sämtlich nicht ungewöhnlich sind. Das ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die "vernünftige Handhabung" des unbestimmten Rechtsbegriffs der Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen gewährleistet nach der Rechtsprechung des Großen und des erkennenden Senats, dass abweichend vom Regelfall der abstrakten Betrachtungsweise die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit als unselbstständiger Zwischenschritt, nur aber auch immer dann erfolgen muss, wenn ernsthafte Zweifel unter anderem an der betrieblichen Einsetzbarkeit bestehen. Ob und ggf in welcher Intensität Zweifel aufkommen und ob in der Gesamtschau eine "Summierung" ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen zu bejahen ist, lässt sich nur anhand des konkreten Einzelfalls entscheiden, weil die denkbaren Kombinationsmöglichkeiten der qualitativen Leistungseinschränkungen unüberschaubar sind und die Summanden je nach Schweregrad, Anzahl und Wechselwirkungen unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Feste Grenzlinien lassen sich nicht festlegen, zumal auch der Begriff "leichte Arbeiten", auf den sich die genannten Merkmale als Ausnahmen beziehen, erhebliche Unschärfen enthält, die es erforderlich machen, die im Einzelfall vorliegenden Leistungseinschränkungen insgesamt in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt zu bewerten (BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 61). Nur so erscheint eine "vernünftige Handhabung dieser weiten Begriffe" gewährleistet, wie sie der Große Senat des BSG (BSGE 80, 24, 39 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 33) vorausgesetzt hat. Im Hinblick auf diese Gegebenheiten sind die bisherigen Entscheidungen des BSG zum Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung nur als Einzelfallentscheidungen zu werten, die den Besonderheiten der jeweiligen Sachlage Rechnung zu tragen suchen. Auch wenn die Leistungseinschränkungen dort gleich oder vergleichbar formuliert sind, handelt es sich keinesfalls um identische Sachverhalte. Vielmehr liefern die jeweiligen Beurteilungen allenfalls Anhaltspunkte für weitere Entscheidungen; ihnen lassen sich jedoch keine generellen Abgrenzungskriterien entnehmen (BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 61). Deshalb steht dem Tatrichter bei der Würdigung des Gesamtbildes der Verhältnisse ein weiter Freiraum für Einschätzungen zu (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 60 f und BSG Urteil vom 19.8.1997 - 13 RJ 25/95 - SozSich 1998, 113 - Juris RdNr 25). Denn die Begriffe der "Ungewöhnlichkeit" von Leistungseinschränkungen und ihre "Summierung" lassen sich nicht mit einem abschließenden Katalog unabdingbarer Merkmale und Untermerkmale im Voraus definieren (Klassen- oder Allgemeinbegriff), sondern nur einzelfallbezogen durch eine größere und unbestimmte Zahl von (charakteristischen) Merkmalen umschreiben (offener Typus- oder Ordnungsbegriff), wobei das eine oder andere Merkmal gänzlich fehlen oder je nach Einzelfall mehr oder weniger bedeutsam sein kann. Ob an der Einsetzbarkeit eines individuellen Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Zweifel bestehen und sich ggf überwinden lassen, ob Leistungseinschränkungen "ungewöhnlich" sind und wie sie sich nach Art, Umfang und Ausprägung wechselseitig beeinflussen ("summieren"), beurteilt sich anhand einer Vielzahl in Betracht kommender Kriterien nach dem Gesamtbild der Verhältnisse durch einen wertenden Ähnlichkeitsvergleich. Eine solche Würdigung des Einzelfalls nach dem Gesamtbild der Verhältnisse vollzieht sich auf tatsächlichem Gebiet und obliegt im Wesentlichen dem Tatrichter; seine Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse ist revisionsrechtlich nur begrenzt überprüfbar. Bei derartigen richterlichen Wertungsakten gibt es keine logisch ableitbare einzig richtige Entscheidung, sondern einen Bereich, der sich letztlich der logischen Nachprüfbarkeit entzieht. Rational argumentativ ist dieser (originäre) Wertungsakt nur eingeschränkt überprüfbar, nämlich darauf, ob er auf einer zutreffenden und rechtlich verwertbaren Tatsachengrundlage beruht, ob die richtigen Wertungsmaßstäbe erkannt und angewandt wurden und ob er sich innerhalb eines gewissen Spielraums der Angemessenheit bzw des Vertretbaren bewegt ("vernünftige Handhabung"). Bei derartigen genuinen Wertungsakten sind mehrere Entscheidungen gleichermaßen richtig, weil sich nach rein logischen Maßstäben nicht mehr entscheiden lässt, welche innerhalb eines Spielraums nach zutreffenden Maßstäben getroffene Entscheidung richtiger als die andere ist.
- 30
-
Das LSG hat vorliegend Inhalt und Grenzen des unbestimmten Rechtsbegriffs der ungewöhnlichen Leistungseinschränkung, wie sie sich hiernach ergeben, berücksichtigt und im Rahmen der ihm vorbehaltenen tatrichterlichen Bewertung die von ihm festgestellten Leistungseinschränkungen - mit Ausnahme des Analphabetismus der Klägerin - als "gewöhnlich", also keine Benennungspflicht auslösend, eingestuft. Dabei hat es sich im Wesentlichen an der vom Großen Senat rezipierten beispielhaften Auflistung derartiger Einschränkungen orientiert. Insofern bedarf es auf der Ebene der Feststellung tatsächlicher Umstände jeweils der Bewertung, ob mit einer festgestellten Leistungseinschränkung für sich und im Zusammenwirken mit gleichwertigen anderen gerade im konkreten Einzelfall die Gefahr verbunden ist, dass der Versicherte auf in Wahrheit nicht existierende Arbeitsmöglichkeiten verwiesen wird, deren Feststellung wiederum Aufgabe des Tatsachengerichts ist. Solange daher der Tatrichter - wie hier das LSG - von einem rechtlich zutreffenden Verständnis der Benennungspflicht und ihrer Voraussetzungen ausgeht, handelt es sich um die Feststellung von Individualtatsachen, an die das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG und in dessen Grenzen gebunden ist. Vorliegend ist daher rechtlich ohne konkreten Vergleich der Leistungsfähigkeit mit dem Anforderungsprofil einer bestimmten Tätigkeit im Sinne einer tatsächlichen Vermutung davon auszugehen, dass die Klägerin ihr Restleistungsvermögen noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verwerten kann, also noch imstande ist, "erwerbstätig zu sein", dh durch (irgend)eine (unbenannte) Tätigkeit Erwerb(seinkommen) zu erzielen. Damit scheidet auch ein Recht auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung aus (§ 43 Abs 1, § 240 Abs 1 SGB VI).
(1) Erwerbsfähig ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
(2) Im Sinne von Absatz 1 können Ausländerinnen und Ausländer nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Die rechtliche Möglichkeit, eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 des Aufenthaltsgesetzes aufzunehmen, ist ausreichend.
(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
- 1.
teilweise erwerbsgemindert sind, - 2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und - 3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
(2) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
- 1.
voll erwerbsgemindert sind, - 2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und - 3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
- 1.
Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und - 2.
Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
(3) Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
(4) Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich um folgende Zeiten, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind:
- 1.
Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, - 2.
Berücksichtigungszeiten, - 3.
Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach Nummer 1 oder 2 liegt, - 4.
Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung.
(5) Eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit ist nicht erforderlich, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist.
(6) Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren und seitdem ununterbrochen voll erwerbsgemindert sind, haben Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie die Wartezeit von 20 Jahren erfüllt haben.
Tenor
-
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. April 2011 wird zurückgewiesen.
-
Außergerichtliche Kosten für das Revisionsverfahren sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
- 1
-
Im Streit steht der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung ab 1.9.2008 infolge eingeschränkter Wegefähigkeit.
- 2
-
Die im Jahre 1963 geborene Klägerin bezieht seit April 2007 Leistungen der Grundsicherung (SGB II). Sie ist schwerbehindert und in ihrer Gehfähigkeit eingeschränkt (Bescheid des Versorgungsamts Berlin vom 26.11.2007: GdB von 60 und Merkzeichen "G"). Dem liegen im Wesentlichen ein fortgeschrittenes arteriosklerotisches Gefäßleiden mit Ausbildung einer arteriellen Verschlusskrankheit der Beine und eine Herzerkrankung zugrunde. Im Rahmen einer sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung wurde festgestellt, dass es der Klägerin nicht mehr zumutbar war, viermal täglich Wegstrecken von 500 m innerhalb von 20 Minuten zurückzulegen (Gutachten Dr. W. vom 24.1.2007).
- 3
-
Der im Juni 2007 gestellte Rentenantrag blieb erfolglos (Bescheid vom 24.10.2007, Widerspruchsbescheid vom 26.11.2008). Die Klägerin könne noch körperlich mittelschwere Arbeiten ständig im Sitzen für mindestens sechs Stunden täglich unter Berücksichtigung von qualitativen Einschränkungen verrichten. Die bei ihr bestehende Wegeunfähigkeit sei durch den im Widerspruchsverfahren ergangenen Bescheid der Beklagten vom 1.8.2008 entfallen; hiermit hat die Beklagte für den Zeitraum vom 11.8.2008 bis zum 31.8.2009 die Übernahme der notwendigen Kosten für Fahrten mit dem Taxi zur Wahrnehmung von Vorstellungsgesprächen bewilligt und sich bereit erklärt, "im Falle der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses (im genannten Zeitraum) ab dem Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme Leistungen zur Erhaltung eines Arbeitsplatzes" in Form der "tatsächlich anfallenden Beförderungskosten" zu übernehmen.
- 4
-
Während des Klageverfahrens hat die Beklagte mit weiterem Bescheid vom 22.10.2009 der Klägerin über den 31.8.2009 hinaus zunächst bis zum 31.8.2010 dieselben Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wie im Bescheid vom 1.8.2008 gewährt. Das SG Berlin hat nach weiteren Ermittlungen (internistisches Gutachten Dr. K. vom 2.6.2009 mit ergänzender Stellungnahme vom 7.8.2009) die Beklagte verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1.6.2007 zu gewähren (Urteil vom 29.4.2010). Es hat im Wesentlichen ausgeführt, dass die Wegeunfähigkeit der Klägerin nicht durch die Bescheide über Teilhabeleistungen (vom 1.8.2008 und 22.10.2009) entfallen sei, weil sich die Leistungen nicht auf ein bestehendes oder konkret in Aussicht gestelltes Arbeitsverhältnis bezogen hätten.
- 5
-
Im Verfahren über die Berufung der Beklagten hat diese - entsprechend der Zusage der Beförderungskosten vor dem SG am 29.4.2010 - mit weiterem Bescheid vom 17.9.2010 über den 31.8.2010 hinaus zunächst bis zum 31.8.2011 die Übernahme der notwendigen Kosten für Taxifahrten zu Vorstellungsgesprächen bewilligt und die Kostenzusage für die tatsächlich anfallenden Beförderungskosten im Falle der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses im Bewilligungszeitraum erneuert. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG hat die Beklagte die Berufung hinsichtlich des Zeitraums vom 1.6.2007 bis zum 31.8.2008 zurückgenommen.
- 6
-
Im Übrigen hat das LSG Berlin-Brandenburg das Urteil des SG Berlin aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 13.4.2011). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin sei weder teilweise noch voll erwerbsgemindert, sodass ihr kein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung (§ 43 Abs 1, Abs 2 SGB VI)zustehe. Sie sei noch in der Lage, leichte körperliche Tätigkeiten mit gewissen qualitativen Einschränkungen arbeitstäglich für mindestens sechs Stunden zu verrichten. Dies folge aus dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen im Verwaltungs- und Klageverfahren. Einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung könne sie nicht aus ihrer mangelnden Wegefähigkeit herleiten. Zwar sei sie nicht mehr in der Lage, Wegstrecken von 500 m Länge in angemessener Zeit zurückzulegen, und auch die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei ihr nicht mehr zumutbar, sodass ein Minimum an Mobilität zum Aufsuchen der Arbeitsstelle als Teil des nach § 43 SGB VI versicherten Risikos nicht mehr vorliege(Hinweis auf BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10). Gleichwohl sei ihre Wegeunfähigkeit ab dem 1.9.2008 durch die konkret bewilligten Leistungen zur Rehabilitation (Bescheide der Beklagten vom 1.8.2008, 22.10.2009 und 17.9.2010 gemäß § 16 SGB VI, § 33 SGB IX) als behoben anzusehen (Hinweis auf BSG SozR Nr 101 zu § 1246 RVO; SozR 2200 § 1247 Nr 47 und Nr 53). Zur Beseitigung der rentenrechtlichen Wegeunfähigkeit reiche es aus, wenn der Leistungsträger geeignete Mobilitätshilfen anbiete (Hinweis auf BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10; SozR 3-2600 § 44 Nr 10; BSG vom 30.1.2002 - B 5 RJ 36/01 R und Senatsurteil vom 14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R). Nicht erforderlich sei, dass das Mobilitätsdefizit dadurch behoben werde und der Versicherte tatsächlich am Arbeitsleben teilnehme. Es müssten aber rechtlich verbindliche Erklärungen des Versicherungsträgers - regelmäßig in Form eines Verwaltungsakts (§ 31 SGB X) -ergehen, auf die der Versicherte vertrauen dürfe; die Regelung letzter Detailfragen sei nicht erforderlich. Entgegen der Ansicht des SG (und des Sächsischen LSG, Urteil vom 21.1.2003 - L 5 RJ 190/01) müsse kein konkretes Arbeitsverhältnis bestehen oder dies in Aussicht gestellt worden sein, um das Mobilitätsdefizit zu beheben. Denn dies würde eine große Anzahl arbeitsuchender oder arbeitsunwilliger Versicherter von vornherein ausschließen. Im Übrigen würde diese Sichtweise dem Grundsatz "Reha vor Rente" widersprechen (§ 9 Abs 1 S 2 SGB VI, § 8 Abs 2 SGB IX).
- 7
-
Den aufgezeigten Anforderungen genügten die Bescheide der Beklagten über die Teilhabeleistungen. Die in Form eines Verwaltungsakts (§§ 31, 33 SGB X) erteilte Erklärung, Kosten für Fahrten mit dem Taxi zur Wahrnehmung von Vorstellungsgesprächen und im Fall der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses die tatsächlich anfallenden Beförderungskosten zu übernehmen, stellten eine hinreichend konkrete Festlegung der Art und Ausgestaltung der Rehabilitationsleistung dar. Die zeitliche Einschränkung der jeweiligen Bewilligungszeiträume auf ein Jahr stehe der Bestimmtheit des Leistungsangebots nicht entgegen. Die Beklagte habe auch deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie Rehabilitationsleistungen in Form einer Mobilitätshilfe nach der Kraftfahrzeughilfe-Verordnung (KfzHV - vom 28.9.1987, BGBl I 2251, zuletzt geändert durch Gesetz vom 23.12.2003, BGBl I 2848) dem Grunde nach gewähre und dass sie ihrem Ermessen entsprechend von der Härtefallregelung (§ 9 Abs 1 KfzHV) Gebrauch mache. Sie habe die Klägerin so behandelt, als stehe ihr für das Zurücklegen des Weges von und zur Arbeitsstätte kein eigenes Fahrzeug zur Verfügung. Zudem habe sie ihr Ermessen dahingehend ausgeübt, dass die Kosten eines Beförderungsdienstes nicht nur bezuschusst, sondern unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Situation der Klägerin voll übernommen würden (§ 9 Abs 1 S 2 KfzHV). Unerheblich sei, dass die Klägerin die Teilhabeleistungen tatsächlich nicht in Anspruch genommen habe. Auch wenn dem Versicherten Teilhabeleistungen nicht gegen seinen Willen aufgedrängt werden könnten (§ 115 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGB VI), dürfe der Versicherte seinem Rentenbegehren nicht durch die Ablehnung der angebotenen Teilhabeleistungen zum Erfolg verhelfen. Auch dies widerspreche dem Grundsatz "Reha vor Rente".
- 8
-
Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin. Entgegen der Ansicht des LSG habe die Beklagte die rentenrechtliche Wegefähigkeit nicht durch die Bescheide über Teilhabeleistungen am Arbeitsleben wiederherstellen können. Es mangele an der Bezugnahme auf ein bestehendes oder konkret in Aussicht gestelltes Arbeitsverhältnis. Auch fehlten Bestimmungen über die Höhe der Beförderungskosten bzw den Umfang der Beförderungsdienste. Die im Vorfeld eines Arbeitsverhältnisses abgegebenen Erklärungen seien notwendigerweise abstrakt und daher unverbindlich. Gemäß § 13 Abs 2 SGB VI seien Teilhabeleistungen aber in Form eines Verwaltungsakts gemäß § 31 SGB X zu bestimmen. Die von der Beklagten abgegebenen Erklärungen stellten noch nicht einmal Zusicherungen iS von § 34 SGB X dar. Auch reiche der bloße Hinweis auf eine nach der KfzHV mögliche Bewilligung von Teilhabeleistungen nicht aus. Es widerspreche dem Grundgedanken des Rehabilitationsrechts, dass die tatsächliche Aufhebung des Mobilitätsdefizits zur Beseitigung der Wegeunfähigkeit nicht erforderlich sei. Die vom LSG vertretene Ansicht führe dazu, dass ein bestehender Rentenanspruch mit Hilfe des Rehabilitationsrechts ausgehöhlt werde.
- 9
-
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. April 2011 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. April 2010 auch für den Zeitraum ab dem 1. September 2008 zurückzuweisen.
- 10
-
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
- 11
-
Sie hält das angefochtene Berufungsurteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
- 12
-
Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das Urteil des LSG hält der revisionsgerichtlichen Überprüfung stand.
- 13
-
Zu Recht hat das LSG entschieden, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung ab 1.9.2008 hat.
- 14
-
Die rentenrechtliche Wegeunfähigkeit der Klägerin (1.) ist nach den Maßstäben der Rechtsprechung des BSG (2.) durch geeignete Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beseitigt worden. Es liegt eine Ausnahme von dem Grundsatz vor, dass die zum Rentenanspruch führende Wegeunfähigkeit erst durch die erfolgreiche Durchführung einer bewilligten Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben behoben ist (3.).
- 15
-
1. Der Rentenanspruch richtet sich nach § 43 SGB VI(idF der Bekanntmachung vom 19.2.2002, BGBl I 754).
- 16
-
Auf der Grundlage der nicht mit Revisionsrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen ist die Klägerin weder teilweise (§ 43 Abs 1 SGB VI) noch voll (Abs 2 aaO) erwerbsgemindert. Ihr Leistungsvermögen ist zwar in qualitativer, nicht aber in quantitativer Hinsicht eingeschränkt (körperlich leichte Tätigkeiten, täglich mindestens sechs Stunden).
- 17
-
Auch wegen ihrer eingeschränkten Wegefähigkeit steht ihr keine Rente wegen Erwerbsminderung zu.
- 18
-
a) Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit des Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen.
- 19
-
Eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die dem Versicherten dies nicht erlaubt, stellt eine derart schwere Leistungseinschränkung dar, dass der Arbeitsmarkt trotz eines vorhandenen vollschichtigen Leistungsvermögens als verschlossen anzusehen ist (Großer Senat in BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 28). Diese Kriterien hat das BSG zum Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit entwickelt, wie ihn § 1247 RVO und § 44 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung (aF) umschrieben hatten (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 mwN; SozR 3-2600 § 44 Nr 10). Auch der erkennende Senat hat das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität als Teil des von §§ 43, 44 SGB VI aF versicherten Risikos erachtet(BSG vom 14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R - Juris RdNr 20 mwN). Diese Maßstäbe gelten für den Versicherungsfall der vollen Erwerbsminderung (§ 43 Abs 2 SGB VI) unverändert fort (vgl BSG vom 28.8.2002 - B 5 RJ 12/02 R - Juris RdNr 12; BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 8 RdNr 15; Senatsurteil vom 12.12.2011 - B 13 R 21/10 R - Juris).
- 20
-
Konkret gilt: Hat wie hier der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht angeboten, bemessen sich die Wegstrecken, deren Zurücklegung ihm möglich sein müssen, - auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs - nach einem generalisierenden Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 S 30; BSG SozR 2200 § 1247 Nr 53 S 106, Nr 56 S 111; Senatsurteil vom 14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R - Juris RdNr 21). Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel sowie vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege absolvieren muss. Eine (volle) Erwerbsminderung setzt danach grundsätzlich voraus, dass der Versicherte nicht vier Mal am Tag Wegstrecken von über 500 m mit zumutbarem Zeitaufwand (also jeweils innerhalb von 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und ferner zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (zB Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 S 30 f). Dazu gehört zB auch die zumutbare Benutzung eines eigenen Kfz (vgl BSGE 24, 142, 145 = SozR Nr 56 zu § 1246 RVO Bl Aa 44 Rückseite; Senatsurteil vom 14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R - Juris RdNr 21).
- 21
-
b) Auf dieser Grundlage tragen die tatsächlichen Feststellungen des LSG seine Annahme, dass die Klägerin nicht mehr über die erforderliche Mobilität verfügt, um eine Arbeitsstelle des allgemeinen Arbeitsmarktes aus eigener Kraft aufzusuchen. Sie kann weder Wegstrecken von 500 m Länge in angemessener Zeit zurücklegen, noch ist ihr die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar. Zwar ist sie im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis und verfügt über langjährige Fahrpraxis. Das Kfz des Ehemannes steht ihr jedoch nicht jederzeit zur Verfügung, sodass sie nicht auf dessen ansonsten zumutbare Benutzung verwiesen werden kann.
- 22
-
Diese Feststellungen sind für den Senat bindend (§ 163 SGG), da sie nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden sind. Auch die Beklagte geht davon aus, dass der Klägerin kein geeignetes Fahrzeug zur Bewältigung des Weges von und zur Arbeitsstätte zur Verfügung steht.
- 23
-
Die Beklagte hat jedoch die rentenrechtliche Wegeunfähigkeit der Klägerin für die streitige Zeit wieder beseitigt.
- 24
-
2. Dies ist nach der Rechtsprechung des BSG möglich, wenn der Rentenversicherungsträger durch geeignete Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben eine ausreichende Mobilität des Versicherten wiederherstellt (vgl BSG SozR 3-2600 § 44 Nr 10 S 38; Senatsurteil vom 14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R - Juris RdNr 23).
- 25
-
Rehabilitationsleistungen des Rentenversicherungsträgers richten sich nach § 9 Abs 1 S 1 Nr 2 und Abs 2 SGB VI, wonach Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zur möglichst dauerhaften Wiedereingliederung in das Erwerbsleben erbracht werden können, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen(§§ 10, 11 SGB VI) erfüllt sind und kein gesetzlicher Leistungsausschluss (§ 12 SGB VI) vorliegt. Die Entscheidung der Frage, "ob" einem Versicherten Rehabilitationsleistungen zu gewähren sind, ist anhand der og Vorschriften zu beurteilen. Erst die Entscheidung, "wie" die Rehabilitationsleistungen, etwa nach Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung (§ 13 S 1 SGB VI) zu erbringen sind, dh welche Leistungen in Betracht kommen, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Rentenversicherungsträgers (stRspr, vgl BSGE 85, 298, 300 = SozR 3-2600 § 10 Nr 2 S 3; BSG SozR 3-5765 § 10 Nr 1 S 3 f; Nr 3 S 15; BSG SozR 3-1200 § 39 Nr 1 S 3 f; BSG SozR 4-3250 § 14 Nr 3 RdNr 35; BSG SozR 4-5765 § 7 Nr 1 RdNr 11). Der Rentenversicherungsträger erbringt Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach den bereichsübergreifenden Vorschriften der §§ 33 bis 38 SGB IX(§ 16 SGB VI). Die Leistungen nach § 33 Abs 3 Nr 1 und Nr 6 SGB IX(Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes; sonstige Hilfen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben, um eine angemessene Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit zu ermöglichen oder zu erhalten), umfassen ua die Kraftfahrzeughilfe nach der KfzHV (§ 33 Abs 8 S 1 Nr 1 SGB IX). Die KfzHV enthält eigene Leistungsvoraussetzungen (zu §§ 3, 4 KfzHV vgl Senatsurteil vom 9.12.2010 - BSGE 107, 157 = SozR 4-5765 § 4 Nr 1, RdNr 16 ff)und besondere Ermessensregelungen (§ 9 KfzHV, vgl BSG SozR 4-5765 § 7 Nr 1 RdNr 11 mwN).
- 26
-
Hierzu hat der 5. Senat des BSG klarstellend ausgeführt, dass nicht bereits das Angebot von Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation genüge, um den Eintritt des Versicherungsfalls abzuwenden, sondern erst mit deren erfolgreicher Durchführung die den Versicherungsfall begründende fehlende Mobilität effektiv wiederhergestellt sei. Offengelassen hat der 5. Senat, unter welchen Voraussetzungen ausnahmsweise Fälle denkbar seien, in denen nicht erst die Durchführung einer Rehabilitationsmaßnahme, sondern bereits eine geeignete Leistungsbewilligung die Wegeunfähigkeit eines arbeitslosen Versicherten beseitige. Eine Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung könne daher nur in Betracht kommen, wenn die bewilligte Leistung den Versicherten in eine Lage versetze, die derjenigen eines Versicherten gleiche, der einen Führerschein und ein privates Kfz besitze und dem die Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses sowie die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auch an einem über 500 m entfernt liegenden Arbeitsplatz zuzumuten sei, weil er mit einigermaßen verlässlich einzuschätzendem Aufwand an Zeit und Kosten dorthin gelangen könne. Nur wenn der gehbehinderte Versicherte jederzeit ein Kfz tatsächlich nutzen könne, sei es ihm möglich, trotz der Beschränkung der Wegefähigkeit ein neues Arbeitsverhältnis einzugehen, sodass bei vollschichtigem Leistungsvermögen der Arbeitsmarkt trotz Wegeunfähigkeit nicht als verschlossen anzusehen sei (BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 8 RdNr 16, 22).
- 27
-
Diesen aufgezeigten Maßstäben schließt sich der erkennende Senat an.
- 28
-
3. Die von der Beklagten bewilligten bzw zugesicherten Teilhabeleistungen haben das Mobilitätsdefizit der arbeitsuchenden Klägerin im streitigen Zeitraum beseitigt. Es liegt eine Ausnahme von dem Grundsatz vor, wonach die zum Rentenanspruch führende Wegeunfähigkeit erst durch die erfolgreiche Durchführung einer vom Versicherungsträger bewilligten Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben behoben ist.
- 29
-
a) Nach zutreffender Auslegung des LSG erfüllen die Bescheide der Beklagten vom 1.8.2008, 22.10.2009 und vom 17.9.2010 die oben genannten Anforderungen.
- 30
-
Der erste Regelungskomplex der Bescheide betrifft die jeweils auf ein Jahr befristete Bewilligung der Übernahme der notwendigen Kosten für Taxifahrten zur Wahrnehmung von Vorstellungsgesprächen in voller Höhe. Hierbei handelt es sich um einen Verwaltungsakt gemäß § 31 S 1 SGB X, der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gemäß §§ 9, 13, 16 SGB VI iVm § 33 Abs 1 und Abs 3 Nr 1 SGB IX konkret bewilligt.
- 31
-
Der zweite Regelungskomplex der Bescheide enthält die jeweils auf ein Jahr befristete Zusage, die tatsächlich entstehenden Beförderungskosten ohne finanzielle Eigenbeteiligung der Klägerin im Fall der Arbeitsaufnahme zur Erhaltung des Arbeitsplatzes zu übernehmen. Hierbei handelt es sich um eine Zusicherung gemäß § 34 Abs 1 S 1 SGB X, die als solche ebenfalls die Rechtsqualität eines Verwaltungsakts hat(stRspr, vgl BSG SozR 3-1300 § 34 Nr 2 S 4; BSGE 56, 249, 251 = SozR 5750 Art 2 § 9a Nr 13 S 43; SozR 2200 § 1237 Nr 10 S 10). Die Zusicherung hat die Aufgabe, dem Adressaten als verbindliche Zusage über das zukünftige Verhalten der Verwaltungsbehörde bei Erlass des Verwaltungsakts Gewissheit zu verschaffen (vgl BSG SozR 3-1300 § 34 Nr 2 S 4 mwN). Die Beklagte hat sich zu der Behandlung eines in der Zukunft liegenden, konkreten Sachverhalts verpflichtet. Der Regelungswille der Behörde ist in den Bescheiden deutlich erkennbar geworden. Damit folgt aus der wirksamen Zusicherung ein Rechtsanspruch auf die zugesagte Regelung (BSG SozR 4-1500 § 55 Nr 9 RdNr 15).
- 32
-
Ob die erteilten Bescheide über die Teilhabeleistungen eine zutreffende Rechtsgrundlage haben, kann hier dahinstehen. Die Klägerin hat die Bescheide nicht angegriffen (§ 77 SGG).
- 33
-
Durch die bestandskräftigen Bescheide war für die Klägerin ab 1.9.2008 aber hinreichend klar bestimmt, mit welchen konkreten finanziellen Mobilitätshilfen sie im Fall der Wahrnehmung von Vorstellungsgesprächen und bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit rechnen konnte. Ihnen war deutlich zu entnehmen, dass die Klägerin die volle Kostenerstattung ihrer tatsächlichen Beförderungskosten (einschließlich Taxikosten) jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt erhalten sollte, wie die Beklagte bei Begründung einer dauerhaften Erwerbstätigkeit abschließend über Leistungen der Kraftfahrzeughilfe (§ 2 Abs 1 KfzHV)unter Festlegung eines ggf zu tragenden Eigenanteils (vgl dazu BSG SozR 3-5765 § 9 Nr 2)bzw über Zuschüsse zu Beförderungskosten gemäß der Härtefallregelung des § 9 KfzHV(BSG SozR 4-5765 § 9 Nr 1; BSG SozR 3-4100 § 56 Nr 10)nach den dann gegebenen individuellen wirtschaftlichen Verhältnissen der Klägerin neu entscheiden würde. Dass eine solche Prüfung und Ermessensentscheidung erst nach Aufnahme einer dauerhaften Erwerbstätigkeit möglich war, steht der Wiederherstellung der fehlenden Mobilität durch geeignete Teilhabeleistungen bis dahin nicht entgegen.
- 34
-
b) Zutreffend hat das LSG ausgeführt, dass entgegen der Ansicht der Klägerin die ihre Wegeunfähigkeit beseitigende Bewilligung von Teilhabeleistungen nicht erst ab dem Zeitpunkt eines bestehenden oder konkret in Aussicht gestellten Arbeitsverhältnisses erfolgen durfte (so aber Sächsisches LSG, vom 21.1.2003 - L 5 RJ 190/01; dem folgend SG Berlin vom 8.1.2008 - S 6 R 1224/06, beide in Juris). Zum einen hat die Beklagte entsprechende Leistungen bindend bewilligt. Zum anderen widerspräche ein solches Erfordernis bereits dem Wortlaut von § 33 Abs 3 Nr 1 SGB IX, wonach Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben ua als Hilfen zur "Erlangung eines Arbeitsplatzes" erfolgen können. Auch die Härtefallregelung von § 9 Abs 1 S 1 Nr 2 KfzHV sieht Hilfen zur "Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit" vor. Dem Rehabilitationsrecht lassen sich keine rechtlichen Anhaltspunkte für die von der Klägerin vertretene Sichtweise entnehmen, mit der Prüfung von Teilhabeleistungen müsse so lange zugewartet werden, bis der Versicherte zumindest eine konkrete Aussicht auf eine Erwerbstätigkeit hat. Im Gegenteil, aus den bereichsübergreifenden Vorschriften des Rehabilitationsrechts (SGB IX) ergibt sich, dass Leistungen zur Teilhabe bezwecken, Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit zu vermeiden oder zu überwinden (§ 4 Abs 1 Nr 2 SGB IX). § 9 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB VI normiert zudem als Aufgabe rentenrechtlicher Teilhabeleistungen die Verhinderung von Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Leistungen zur Teilhabe haben daher Vorrang vor Rentenleistungen, die im Falle des Erfolgs der Teilhabeleistungen nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind (§ 9 Abs 1 S 2 SGB VI). Der hieraus abgeleitete Grundsatz "Rehabilitation vor Rente" war schon unter Geltung des Rehabilitationsangleichungsgesetzes (§ 7 Abs 1 RehaAnglG) anerkannt (vgl BSGE 43, 75 = SozR 2200 § 1246 Nr 13). Er war dann verletzt, wenn der Rentenversicherungsträger berufsfördernde Leistungen der Rehabilitation erst nach einem Arbeitsangebot oder einer Arbeitsaufnahme zu prüfen begann (BSG SozR 3-2600 § 44 Nr 10 S 39). Nach Inkrafttreten des SGB IX ist dieser Grundsatz für alle Rehabilitationsträger im Vorrang von Leistungen zur Teilhabe vor Rentenleistungen fortgeschrieben worden (§ 8 Abs 2 SGB IX). Hieran zeigt sich, dass das frühe Eingreifen von Rehabilitationsleistungen zur Vermeidung von Einschränkungen in der Erwerbsfähigkeit gesetzlich bezweckt ist (vgl Welti in Lachwitz/Schellhorn/Welti, HandKomm zum SGB IX, 3. Aufl 2010, § 8 RdNr 26; ders in jurisPR-SozR 2/2007 Anm 4).
- 35
-
c) Auch dies übersieht die Klägerin, wenn sie meint, die Beklagte habe lediglich abstrakte Erklärungen über zukünftige Sachverhalte abgegeben. Vielmehr haben sich die konkret bewilligten oder zugesicherten Teilhabeleistungen auf die aktuelle Situation der Arbeitsuche bezogen, die mit Hilfe konkreter Teilhabeleistungen ermöglicht werden soll. Zu diesem Zeitpunkt können aber noch keine konkreten Teilhabeleistungen bewilligt oder zugesichert werden, die erst im Fall einer dauerhaften Erwerbstätigkeit (nach Ablauf der Probezeit) unter veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen in Betracht kommen. Denn diese Leistungen setzen eine erneute Prüfung und Ermessensentscheidung der Beklagten schon im Hinblick auf eine Eigenbeteiligung des Versicherten voraus (§ 2 Abs 1, § 9 KfzHV).
- 36
-
Hier haben die bewilligten bzw zugesicherten Teilhabeleistungen der Beklagten die Klägerin während des jeweils bewilligten Leistungszeitraums in jene Lage versetzt, die derjenigen eines Versicherten gleicht, der einen Führerschein und ein privates Kraftfahrzeug besitzt. Die Klägerin konnte jederzeit Beförderungsdienste (einschließlich Taxis) für Fahrten zu Vorstellungsgesprächen bzw zum Arbeitsplatz und zurück zur Wohnung in Anspruch nehmen. Sie durfte, wie ihr in der Begründung der Bescheide erläutert, darauf vertrauen, dass die Beklagte gegen Vorlage von Quittungen bzw entsprechenden Nachweisen die notwendigen tatsächlich entstandenen Beförderungskosten umgehend in voller Höhe erstatten würde. Der der Klägerin entstehende Zeit- und Kostenaufwand, auch an einen von ihr nicht zu Fuß erreichbaren Ort zu gelangen, war damit vorhersehbar und zumutbar geworden.
- 37
-
d) Dem steht schließlich nicht entgegen, dass die Beklagte die Teilhabeleistungen im Rahmen ihres Ermessens auf jeweils ein Jahr befristet hat. Der Senat hält die Dauer dieses Bewilligungszeitraums für noch ausreichend, wenngleich eine Bewilligung bis zur Begründung einer dauerhaften Erwerbstätigkeit das Problem der "Nahtlosigkeit" der Teilhabebescheide vermieden hätte. Auch wenn der Teilhabebescheid vom 22.10.2009 die Leistungen erst rückwirkend (über den 31.8.2009 hinaus) bewilligt hat, kann die Klägerin aus der insoweit fehlenden "Nahtlosigkeit" zum vorangegangenen Teilhabebescheid, der den Zeitraum bis 31.8.2009 abgedeckt hat, keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung herleiten. Denn nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG hat die Klägerin erklärt, die Beförderungsdienste weder wahrgenommen zu haben noch diese in Anspruch nehmen zu wollen. Aus der verzögerten Bescheiderteilung ergibt sich daher kein Umstand, der die Wegefähigkeit der Klägerin ab 1.9.2009 hätte in Frage stellen können.
- 38
-
Auch wenn Teilhabeleistungen von Amts wegen nur mit Zustimmung des Versicherten erbracht werden können (§ 115 Abs 4 S 2 SGB VI, § 9 Abs 4 SGB IX), darf das unberechtigte Ablehnen von Teilhabeleistungen oder die verweigerte Zustimmung nicht dem Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung zum Erfolg verhelfen. Nach den bindenden Feststellungen des LSG hat die Klägerin keine plausiblen, nachvollziehbaren Gründe oder berechtigten Wünsche (§ 9 Abs 1 SGB IX) geltend gemacht, weshalb sie die tatsächliche Inanspruchnahme der bewilligten Teilhabeleistungen hätte ablehnen dürfen. Sie hat die Teilhabebescheide vielmehr in Bestandskraft (§ 77 SGG) erwachsen lassen.
- 39
-
Nach alledem war es ihr trotz beschränkter Wegefähigkeit möglich, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen; damit war bei vollem quantitativem Leistungsvermögen der Arbeitsmarkt nicht verschlossen.
- 40
-
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
(1) Zur Eingliederung in Arbeit erbringt die Agentur für Arbeit Leistungen nach § 35 des Dritten Buches. Sie kann folgende Leistungen des Dritten Kapitels des Dritten Buches erbringen:
- 1.
die übrigen Leistungen der Beratung und Vermittlung nach dem Ersten Abschnitt mit Ausnahme der Leistung nach § 31a, - 2.
Leistungen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung nach dem Zweiten Abschnitt, - 3.
Leistungen zur Berufsausbildung nach dem Vierten Unterabschnitt des Dritten Abschnitts und Leistungen nach § 54a Absatz 1 bis 5, - 4.
Leistungen zur beruflichen Weiterbildung nach dem Vierten Abschnitt, mit Ausnahme von Leistungen nach § 82 Absatz 6, und Leistungen nach den §§ 131a und 131b, - 5.
Leistungen zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach dem Ersten Unterabschnitt des Fünften Abschnitts.
- 1.
die §§ 112 bis 114, 115 Nummer 1 bis 3 mit Ausnahme berufsvorbereitender Bildungsmaßnahmen und der Berufsausbildungsbeihilfe sowie § 116 Absatz 1, 2, 5 und 6 des Dritten Buches, - 2.
§ 117 Absatz 1 und § 118 Nummer 3 des Dritten Buches für die besonderen Leistungen zur Förderung der beruflichen Weiterbildung, - 3.
die §§ 127 und 128 des Dritten Buches für die besonderen Leistungen zur Förderung der beruflichen Weiterbildung.
(2) Soweit dieses Buch nichts Abweichendes regelt, gelten für die Leistungen nach Absatz 1 die Regelungen des Dritten Buches mit Ausnahme der Verordnungsermächtigung nach § 47 des Dritten Buches sowie der Anordnungsermächtigungen für die Bundesagentur und mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Arbeitslosengeldes das Bürgergeld nach § 19 Absatz 1 Satz 1 tritt. § 44 Absatz 3 Satz 3 des Dritten Buches gilt mit der Maßgabe, dass die Förderung aus dem Vermittlungsbudget auch die anderen Leistungen nach dem Zweiten Buch nicht aufstocken, ersetzen oder umgehen darf. Für die Teilnahme erwerbsfähiger Leistungsberechtigter an einer Maßnahme zur beruflichen Weiterbildung im Rahmen eines bestehenden Arbeitsverhältnisses werden Leistungen nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 4 in Verbindung mit § 82 des Dritten Buches nicht gewährt, wenn die betreffende Maßnahme auf ein nach § 2 Absatz 1 des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes förderfähiges Fortbildungsziel vorbereitet.
(3) Abweichend von § 44 Absatz 1 Satz 1 des Dritten Buches können Leistungen auch für die Anbahnung und Aufnahme einer schulischen Berufsausbildung erbracht werden.
(3a) Abweichend von § 81 Absatz 4 des Dritten Buches kann die Agentur für Arbeit unter Anwendung des Vergaberechts Träger mit der Durchführung von Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung beauftragen, wenn die Maßnahme den Anforderungen des § 180 des Dritten Buches entspricht und
- 1.
eine dem Bildungsziel entsprechende Maßnahme örtlich nicht verfügbar ist oder - 2.
die Eignung und persönlichen Verhältnisse der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten dies erfordern.
(3b) Abweichend von § 87a Absatz 2 des Dritten Buches erhalten erwerbsfähige Leistungsberechtigte auch im Rahmen eines bestehenden Arbeitsverhältnisses ein Weiterbildungsgeld, sofern sie die sonstigen Voraussetzungen nach § 87a Absatz 1 des Dritten Buches erfüllen.
(4) Die Agentur für Arbeit als Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende kann die Ausbildungsvermittlung durch die für die Arbeitsförderung zuständigen Stellen der Bundesagentur wahrnehmen lassen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates das Nähere über die Höhe, Möglichkeiten der Pauschalierung und den Zeitpunkt der Fälligkeit der Erstattung von Aufwendungen bei der Ausführung des Auftrags nach Satz 1 festzulegen.
(5) (weggefallen)
(1) Für Menschen mit Behinderungen können Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, um ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu sichern, soweit Art oder Schwere der Behinderung dies erfordern.
(2) Bei der Auswahl der Leistungen sind Eignung, Neigung, bisherige Tätigkeit sowie Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes angemessen zu berücksichtigen. Soweit erforderlich, ist auch die berufliche Eignung abzuklären oder eine Arbeitserprobung durchzuführen.
(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.
(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.
(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.
(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.