Gründe

 
I.
Das erstinstanzliche Strafverfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart richtet sich gegen vier seit über einem Jahr in Untersuchungshaft befindliche Angeklagte mit dem jeweiligen Vorwurf der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (DHKP-C) nach § 129 b StGB. Die Ermittlungsakten umfassen insgesamt 140 Stehordner. Darin sind eine Fülle von Dokumenten (schriftliche Mitteilungen, E-Mail-Verkehr, der Organisation zugeschriebene Satzungen und Beschlüsse, Anweisungen, Berichte, verschriftete TKÜ-Maßnahmen etc) aufgenommen. Die Hauptverhandlung hat begonnen. Die Angeklagten machen keinerlei Angaben zur Person oder Sache. Die Dauer des Verfahrens läßt sich noch nicht absehen. Das Gericht hat zu Beginn der Hauptverhandlung 5 Stehordner (ca. 1.550 Blatt) an verlesbaren Selbstlesedokumenten zusammengestellt und in Kopien an die Verfahrensbeteiligten ausgegeben. Gegen die ergangenen Selbstleseverfügungen des Vorsitzenden haben die Verteidiger Widersprüche erhoben und diese mit dem Verstoß gegen Verfahrensgrundsätze und Verfahrensrechte der Angeklagten begründet. Der Senat hat die Widersprüche durch Beschluss zurückgewiesen.
II.
Die Widersprüche sind unbegründet; die von der Verteidigung behaupteten Verstöße gegen allgemeine strafprozessuale Verfahrensmaximen liegen nicht vor. Auch im Lichte der Vorgaben durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (vgl. hierzu etwa BGH, Beschl. v. 28.12.2012 - Az. 5 StR 251/12) ist festzustellen, dass die Angeklagten durch die in Rede stehenden Selbstleseverfahren in ihren Rechten nicht verletzt werden. Auch allgemeine Verfahrensgrundsätze sind nicht beeinträchtigt. Hierzu im Einzelnen:
1. Das vom Gesetzgeber zur Verfahrensstraffung beim Urkundenbeweis konzipierte Selbstleseverfahren dient in erster Linie der Verfahrenskonzentration / -beschleuni-gung bei der Beweisaufnahme umfangreichen Urkundenmaterials (vgl. hierzu Meyer-Goßner, StPO, 57. Aufl., § 249 Rdnr. 17).
Der (legitime) Zweck der Vorgehensweise nach § 249 Abs. 2 StPO besteht mithin darin, „durch Vereinfachung des Beweisverfahrens ein zeitraubendes und ermüdendes Vorlesen umfangreichen Schriftmaterials in der Hauptverhandlung“ zu vermeiden und so deren Dauer zu verkürzen (vgl. KK-Diemer, StPO, 7. Aufl., § 249 Rdnr. 32). Mit der Durchführung des - auf Prozesswirtschaftlichkeit ausgerichteten - Selbstleseverfahrens soll letztlich auch dem Beschleunigungsgebot sowie dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der genaue Inhalt eines Schriftstücks durch eigenes Lesen häufig besser und schneller erfasst bzw. inhaltlich verstanden werden kann als durch längere Verlesungen im Gerichtssaal (vgl. L-R-Mosbacher, StPO, 26. Aufl., § 249 Rdnr. 53 f., zitiert n. juris).
Demzufolge kommt die Anordnung und Durchführung des Selbstleseverfahrens insbesondere dann in Betracht, wenn in Großverfahren durch die Einführung von Urkunden nach § 249 Abs. 2 StPO die Hauptverhandlung von langwierigen Verlesungen zahlreicher Schriftstücke entlastet werden soll. In entsprechenden Umfangsverfahren würde das „monotone Verlesen in öffentlicher Hauptverhandlung das Verfahren nur aufhalten, ohne den Verfahrensbeteiligten oder dem Publikum den Überblick über das Verfahren und das Erfassen der wesentlichen Verfahrensvorgänge zu erleichtern.“ (vgl. L-R-Mosbacher, a. a. O., Rdnr. 54 m. w. N.).
Im Hinblick auf die Qualität des Erkenntnisvorgangs ist der Urkundenbeweis durch das Selbstlesen dem Verlesen in der Hauptverhandlung gleichwertig. Die Durchführung des Selbstleseverfahrens, dem im Hinblick auf die Vorgaben des historischen Gesetzgebers ein „Ausnahmecharakter“ im System der strafprozessualen Beweiserhebung zugeschrieben werden kann (vgl. BGH, a. a. O.), ist immer dann in Erwägung zu ziehen, wenn umfangreiche Schriften oder ganze Druckwerke vorliegen, deren genauer Wortlaut im Einzelnen festzustellen ist (vgl. Meyer-Goßner, a. a. O., Rdnr. 19 m. w. N.). Potentiell mit der Durchführung des Verfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO verbundene „Einbußen der Qualität des Urkundenbeweises“ sind „von den Verfahrensbeteiligten prinzipiell zu akzeptieren“ (vgl. BGH, a. a. O., m. w. N.).
2. Allgemeine strafprozessuale Verfahrensgrundsätze werden nicht verletzt.
Der (verfassungsrechtlich garantierte) Anspruch auf rechtliches Gehör wird durch das Selbstleseverfahren nicht eingeschränkt: Jeder Verfahrensbeteiligte behält das Recht und die Möglichkeit, vom Inhalt der jeweiligen, in die Selbstleseliste aufgenommenen Urkunden Kenntnis zu nehmen, sich in der Hauptverhandlung hierzu zu äußern und gegebenenfalls für erforderlich gehaltene Anträge zu stellen.
Vor diesem Hintergrund wird auch der Grundsatz der Mündlichkeit der Beweisaufnahme, dessen Einschränkung der Gesetzgeber mit der Einführung der Regelung des § 249 Abs. 2 StPO bewusst in Kauf genommen hat, in seinem Kern nicht tangiert (vgl. L-R-Mosbacher, a. a. O., § 249 Rdnr. 56). Da den Verfahrensbeteiligten das vom Verfahren nach § 249 Abs. 2 StPO erfasste Schriftwerk vollumfänglich zugänglich und dadurch gewährleistet ist, dass das entsprechende Beweismaterial selbstständig aufgenommen bzw. erfasst und bewertet werden kann, bleiben damit verknüpfte Beweisthemen, deren konkrete Verfahrensrelevanz und hieraus ableitbare Einschätzungen insbesondere auch für die Verteidigung und die Angeklagten ausreichend erkenn- / fixier- sowie in mündlicher Hauptverhandlung (ggf.) ohne Einschränkung hinterfragbar.
10 
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit des Verfahrens wird durch das Vorgehen des Gerichts nach § 249 Abs. 2 StPO nicht berührt; vielmehr ist die Selbstlesung eines Schriftstücks die (denkbar) unmittelbarste Möglichkeit, vom Inhalt eines Schriftstücks Kenntnis zu nehmen.
11 
Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist gewährleistet, wenn Zuhörer / -schauer die Hauptverhandlung so mitverfolgen können, wie sie im konkreten Einzelfall nach der Verfahrensordnung abläuft. Ein Anspruch dahingehend, dass der Öffentlichkeit sämtliche Wahrnehmungen (direkt) durch den Richter bzw. das Gericht vermittelt werden, besteht hingegen nicht.
12 
Eine allenfalls in temporärer Hinsicht mit der Durchführung des Selbstleseverfahrens verbundene Transparenzreduktion kann im Wege zusammenfassender Erörterungen des wesentlichen Inhalts der in Rede stehenden Schriftstücke und ergänzenden Hinweisen auf ihre jeweilige Bedeutung für die Beweisführung im Rahmen offener Verhandlungsführung in gebotener Kürze (vollständig) kompensiert werden (vgl. dazu auch Ventzke, StV 2014, 114, ff.).
13 
Überdies bleibt es den Verfahrensbeteiligten unbenommen, durch Erklärungen nach § 257 StPO, Antragstellungen oder etwa im Rahmen sonstiger Ausführungen die Inhalte der im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführten Urkunden zu thematisieren und auf diesem Wege die Gerichtsöffentlichkeit hierüber in Kenntnis zu setzen. Weiter bleibt festzustellen, dass der Gesetzgeber mit der Einführung der Regelung des § 249 Abs. 2 StPO eine ggf. damit verbundene „Einschränkung vor allem des Öffentlichkeitsprinzips (…) bewusst in Kauf genommen“ hat (vgl. KK-Diemer, a. a. O., a. E., m. w. N.).
14 
Schließlich wird auch die gerichtliche (Amts-) Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO durch das Selbstleseverfahren nicht verletzt: Durch das Verfahren nach § 249 Abs. 2 StPO wird der Inhalt eines Schriftstücks in vollem Umfang der Kognition des Gerichts erschlossen; (auch) insoweit lässt sich die entsprechende Beweiserhebung gegenüber der Verlesung eines Dokuments in der Hauptverhandlung nicht als defizitär beurteilen (L-R-Mosbacher, a. a. O., Rdnr. 66).
15 
3. Bei Zugrundlegung dieser Maßstäbe ist die Durchführung der Selbstleseverfahren vorliegend nicht zu beanstanden:
16 
Die Strafsache richtet sich gegen vier Angeklagte und ist im Hinblick auf den Aktenumfang und die voraussichtliche Dauer des Verfahrens als Großverfahren zu beurteilen In entsprechenden Umfangssachen liegt eine Beweiserhebung im Wege der Anordnung und Durchführung des Selbstleseverfahrens nahe. Dies gilt unter Berücksichtigung bzw. zur Gewährleistung des Beschleunigungsgebots insbesondere dann, wenn – wie hier – Untersuchungshaft vollzogen wird.
17 
Anhand der in den zugehörigen Verfügungen des Vorsitzenden enthaltenen Listung der erfassten Urkunden mit Angabe der zugehörigen Fundstelle(n) in den Sach- / Gerichtsakten ist das Beweisprogramm und der geplante Gang der gerichtlichen Beweisaufnahme ohne Weiteres ersichtlich und für sämtliche Verfahrensbeteiligte hinreichend transparent. Eine Gefährdung von Verteidigungsbelangen ist hiernach ausgeschlossen. Anzumerken bleibt, dass im Hinblick auf den bezeichneten Gesamtumfang der Sachakten lediglich ein geringer Teil des zugehörigen Schriftwerks von den in Rede stehenden Selbstleseverfahren erfasst wird.
18 
Im Zuge der Hauptverhandlung haben sämtliche Verfahrensbeteiligte im Rahmen anstehender (zahlreicher) Zeugenvernehmungen, die Gelegenheit, die entsprechenden (Auskunfts-) Personen zu den von den Selbstleseverfahren erfassten Beweisthemen mit den jeweils zugehörigen Schriftstücken (insbesondere auch zu den aufgenommenen Erklärungen der Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen) ausführlich zu befragen bzw. im Zuge dessen Stellungnahmen abzugeben. Eine umfassende und detaillierte Erörterung ist hiernach sowohl hinsichtlich relevanter Fragen zur Entstehung, Zielsetzung und den strukturellen Gegebenheiten bzw. Aktivitäten der Organisation (DHKP-C) wie auch zu den persönlichen Verhältnissen der Angeklagten bzw. dem gegen sie erhobenen Tatvorwurf gewährleistet und somit sichergestellt, dass der Prozessstoff den Beteiligten nicht nur zur Kenntnis gebracht, sondern gleichzeitig zur Diskussion unterbreitet wird.
19 
Allem nach bleibt auch für die - im Zuge der Widerspruchsbegründung(en) vorgebrachte - Annahme, die Durchführung der Selbstleseverfahren beeinträchtige das Recht der Angeklagten auf ein faires Verfahren, kein Raum.

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Strafprozeßordnung - StPO | § 244 Beweisaufnahme; Untersuchungsgrundsatz; Ablehnung von Beweisanträgen


(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme. (2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

Strafprozeßordnung - StPO | § 249 Führung des Urkundenbeweises durch Verlesung; Selbstleseverfahren


(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind. (2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen

Strafprozeßordnung - StPO | § 257 Befragung des Angeklagten und Erklärungsrechte nach einer Beweiserhebung


(1) Nach der Vernehmung eines jeden Mitangeklagten und nach jeder einzelnen Beweiserhebung soll der Angeklagte befragt werden, ob er dazu etwas zu erklären habe. (2) Auf Verlangen ist auch dem Staatsanwalt und dem Verteidiger nach der Vernehmung

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Bundesgerichtshof Beschluss, 28. Aug. 2012 - 5 StR 251/12

bei uns veröffentlicht am 28.08.2012

Nachschlagewerk: ja BGHSt : ja Veröffentlichung : ja StPO § 249 Abs. 2 Satz 2, § 337 Abs. 1 Unterbliebener Gerichtsbeschluss bei Widerspruch gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens und Beruhen. BGH, Beschluss vom 28. August 2012

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Nachschlagewerk: ja
BGHSt : ja
Veröffentlichung : ja
Unterbliebener Gerichtsbeschluss bei Widerspruch gegen die
Anordnung des Selbstleseverfahrens und Beruhen.
BGH, Beschluss vom 28. August 2012 – 5 StR 251/12
LG Dresden –

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 28. August 2012
in der Strafsache
gegen
1.
2.
3.
wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. August 2012

beschlossen:
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dresden vom 6. Dezember 2011 werden nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten A. wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen und wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und acht Monaten verurteilt. Die Angeklagten V. und J. O. hat es jeweils wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt. Gegen alle Angeklagten ist Wertersatzverfall angeordnet worden.
2
Die gegen dieses Urteil gerichteten, mit der Sachrüge und von A. zudem mit Verfahrensrügen begründeten Revisionen der Angeklagten sind unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Der Erörterung bedarf nur die auf die Verletzung des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO gestützte Verfahrensrüge des Angeklagten A. .
3
1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
4
Nachdem der Vorsitzende zunächst bekannt gegeben hatte, dass beabsichtigt sei, bestimmte – in einer Liste im Einzelnen bezeichnete – Wortprotokolle der überwachten Telefongespräche sowie Observationsberichte im Wege des Selbstleseverfahrens in die Hauptverhandlung einzuführen, widersprach der Verteidiger des Angeklagten A. der beabsichtigten Einführung der Protokolle aus den Erkenntnissen der Telefonüberwachung und kündigte mit spezifischen Einwänden gegen deren Aufnahmequalität „für den Fall der Anordnung des Selbstleseverfahrens Widerspruch an“. Nachdem der Vorsitzende den Prozessbeteiligten eine weitere Liste der Urkunden überreicht hatte, deren Einführung im Selbstleseverfahren beabsichtigt war, widersprach ein weiterer Verteidiger im Folgetermin gemäß § 249 Abs. 2 StPO ausdrücklich der Einführung der im Einzelnen benannten Urkunden im Selbstleseverfahren.
5
Ohne die Widersprüche zu bescheiden, wurde dann mit den Prozessbeteiligten erörtert, welche Urkunden im Selbstleseverfahren eingeführt werden sollten. Anschließend wurde festgestellt, dass die Angeklagten, die Verteidiger und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft Gelegenheit hatten, die in den Anlagen näher bezeichneten Urkunden und Schriftstücke zu lesen. Die Schöffen und Berufsrichter erklärten ausdrücklich, dass sie diese Urkunden und Schriftstücke bereits gelesen hätten. Sodann erging die Verfügung des Vorsitzenden, dass hinsichtlich dieser Urkunden auf die Verlesung verzichtet und gemäß § 249 Abs. 2 StPO das Selbstleseverfahren angeordnet werde. Nachdem anschließend festgestellt worden war, dass der Angeklagte V. O. tatsächlich noch keine Gelegenheit gehabt hatte, die Urkunden zu lesen, wurde die Aushändigung der Urkunden an ihn veranlasst. Im nächsten Hauptverhandlungstermin wiederholte der Vorsitzende die Feststellung und ordnete in der gleichen Weise wie bereits am vorangegangenen Verhandlungstag nochmals das Selbstleseverfahren an. Eine Entscheidung über den Widerspruch der Verteidigung des Angeklagten A. gegen die Durchführung des Selbstleseverfahrens erging bis zur Urteilsverkündung nicht.
6
2. Die zulässige Rüge hat in der Sache letztlich keinen Erfolg. Gegenstand dieser Rüge ist nicht etwa die Frage eines Vorrangs der Augenscheinseinnahme bezogen auf abgehörte Gespräche vor deren Einführung durch Urkundenverlesung, sondern allein die Art und Weise der Einführung durch Urkundenbeweis.
7
a) Der Beschwerdeführer beanstandet mit Recht einen Verstoß bei der Anordnung des Selbstleseverfahrens. Über den Widerspruch des Verteidigers ist nicht durch Gerichtsbeschluss entschieden worden. Dies war nach § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO geboten, und zwar ungeachtet dessen, dass der Widerspruch hier bereits vor der eigentlichen Vorsitzendenanordnung, indes nach deren ausdrücklicher Ankündigung erhoben worden ist. Dies gilt jedenfalls angesichts der strukturell allzu spät erst nach Feststellung der Selbstlesemodalitäten getroffenen ausdrücklichen Vorsitzendenanordnung.
8
Dass der klar und unbedingt, nicht etwa nur vorläufig erklärte und später ausweislich des Revisionsvorbringens weder in Frage gestellte noch gar zurückgenommene Widerspruch nach Erlass der schließlich allein vom Vorsitzenden getroffenen Anordnung des Selbstleseverfahrens nicht wiederholt worden ist, begründet bei dem hier gegebenen Verfahrensablauf nicht etwa einen Verlust der Revisionsrüge.
9
b) Der durch das Unterbleiben eines Gerichtsbeschlusses trotz Widerspruchs gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens begründete Verstoß gegen § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO kann grundsätzlich mit der Revision gerügt werden. Entgegen einer verbreiteten Ansicht im Schrifttum (vgl. etwa MeyerGoßner , StPO, 55. Aufl., § 249 Rn. 31; Mosbacher in LR-StPO, 26. Aufl., § 249 Rn. 110; Frister in SK-StPO, 4. Aufl., § 249 Rn. 116; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 7. Aufl., Rn. 2069) ist auch nicht regelmäßig auszu- schließen, dass das Urteil auf einem solchen Verstoß beruht. Vielmehr ist stets die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass aufgrund des Gerichtsbeschlusses vom Selbstleseverfahren Abstand genommen worden wäre. Da der gemäß § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO erhobene Widerspruch lediglich das Absehen von der Verlesung – mithin die Art der Beweiserhebung und nicht die Verwertung der Urkunden als solche – betrifft, ist mit dem Revisionsvortrag bei der Beruhensprüfung darauf abzustellen, ob ausgeschlossen werden kann, dass für den Fall alternativer Verlesung nach § 249 Abs. 1 StPO der in dem mangelhaft angeordneten Selbstleseverfahren eingeführten Urkunden ein abweichendes Beweisergebnis denkbar wäre, und zwar namentlich infolge hierbei erhobener erheblicher Einwände von Verfahrensbeteiligten. Eine derartige Prüfung vermag nicht ohne weiteres stets einen Ausschluss des Beruhens des Urteils auf dem Verstoß zu rechtfertigen. Bereits aus dem unter anderem in §§ 250, 261, 264 StPO zum Ausdruck kommenden Prinzip der Mündlichkeit der Beweisaufnahme, das auch gewährleisten soll, dass der Prozessstoff den Beteiligten zur Kenntnis gebracht und zur Diskussion gestellt wird (vgl. hierzu etwa Pfeiffer/Hannich in KK-StPO, 6. Aufl., Einl. Rn. 8), lässt sich der Ausnahmecharakter des Selbstleseverfahrens – gegenüber dem Regelfall der Urkundenverlesung in der Hauptverhandlung gemäß § 249 Abs. 1 StPO – ableiten. Dieser findet in der speziell für das Selbstleseverfahren als besondere Form der Einführung von Urkunden geregelten Widerspruchsmöglichkeit und dem durch den Widerspruch begründeten Erfordernis eines Gerichtsbeschlusses seinen gesetzlichen Ausdruck.
10
Vor dem Hintergrund dieser gesetzlichen Wertung ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Verlesung jenseits prozessökonomischer Erwägungen die im Vergleich zum Selbstleseverfahren vorzugswürdige Methode der Einführung von Beweisstoff in die Hauptverhandlung darstellt. Dies dürfte letztlich auch der Vorstellung des historischen Gesetzgebers entsprechen. Zwar war das Selbstleseverfahren im Gesetzgebungsverfahren, wonach unter anderem die bis dahin geltende Voraussetzung des Verzichts aller Prozessbeteiligten auf die Urkundenverlesung gestrichen wurde, ur- sprünglich als gleichwertige Alternative zu der Verlesung in der Hauptverhandlung konzipiert (vgl. Regierungsentwurf BT-Drucks. 10/1313 S. 28). In der Begründung der dann Gesetz gewordenen Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, durch die die Widerspruchsmöglichkeit in den Entwurf eingebracht wurde, wird jedoch darauf abgestellt, dass „der Staatsanwalt- schaft, dem Angeklagten und dem Verteidiger eine formalisierte Einflussnahme auf die Entscheidung darüber, ob von der Verlesung abgesehen wer- den soll, weiterhin ermöglicht werden sollte“ (BT-Drucks. 10/6592 S. 22). Mit der Einfügung des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO in den ursprünglichen Entwurf hat der Gesetzgeber somit am Ausnahmecharakter des Selbstleseverfahrens festgehalten und einer mit ihm verbundenen gewissen Beeinträchtigung der Teilhaberechte von Verfahrensbeteiligten Rechnung getragen. Dementsprechend hat auch der Bundesgerichtshof schon zum Ausdruck gebracht, dass mit dem Selbstleseverfahren potentielle Einbußen der Qualität des Urkundenbeweises verbunden sind, die der Gesetzgeber allerdings in Kauf genommen hat und die daher von den Verfahrensbeteiligten prinzipiell zu akzeptieren sind (BGH, Beschluss vom 14. September 2010 – 3 StR 131/10, Rn. 13, NStZ-RR 2011, 20).
11
Neben normativen Überlegungen streiten auch rein tatsächliche Erwägungen dafür, ein Beruhen des Urteils auf einem Verstoß gegen § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht von vornherein als ausgeschlossen anzusehen. Eine Verlesung in der Hauptverhandlung kann den Verfahrensbeteiligten eine Chance geben, eher zu erkennen, welchen Urkunden oder Urkundeninhalten das Gericht besondere Bedeutung beimisst. Insbesondere ergibt sich durch die Verlesung die Gelegenheit für Erörterungen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einführung des jeweiligen Beweismittels (vgl. Krahl, GA 1998, 329, 336). Schwächen des Selbstleseverfahrens werden auch nicht etwa durch – jenseits des freilich in vielen Umfangsverfahren besonders wichtigen Gesichtspunkts der Prozessökonomie – denkbare Vorteile gegenüber dem Verlesen in der Hauptverhandlung ausgeglichen. Denn es bleibt neben den Richtern auch dem Staatsanwalt, dem Verteidiger und dem An- geklagten in der Regel unbenommen, in der Hauptverhandlung verlesene Urkunden selbst noch einmal zu lesen.
12
c) Im zu entscheidenden Fall kann gleichwohl ausgeschlossen werden , dass das Urteil auf dem gerügten Verstoß beruht. Dies kann zwar nicht schon daraus gefolgert werden, dass in der Revisionsbegründung nicht angegeben ist, in welcher Weise sich die Art der Beweiserhebung, also die Einführung der dem Urteil zugrunde liegenden Urkunden im Selbstleseverfahren statt durch Verlesung, auf das Beweisergebnis ausgewirkt hat und welche anderweitigen Erkenntnisse im Fall des Verlesens zu gewinnen gewesen wären (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Januar 2010 – 1 StR 587/09, Rn. 28, StV 2012, 74). In Anbetracht der im Urteil der Beweiswürdigung zugrunde gelegten Urkundeninhalte ist indessen nicht ansatzweise ersichtlich, wie eine Verlesung in der Hauptverhandlung zu einer anderen Bewertung der eingeführten Telefongespräche und Observationsberichte hätte führen sollen. Insbesondere angesichts der Vielzahl der aus diesen gewonnenen Indizien, für die es durchweg auf Formulierungsdetails nicht angekommen ist, ist nicht vorstellbar, dass diese seitens der Strafkammer nach Verlesung in der Hauptverhandlung anders als geschehen hätten bewertet werden können oder dass der Angeklagte durch Aufdeckung von Missverständnissen oder die Abgabe von entlastenden Erklärungen für das dokumentierte Verhalten die Schlussfolgerungen der Strafkammer ernsthaft hätte in Frage stellen können. Insoweit fällt zusätzlich ins Gewicht, dass die durch die im Selbstleseverfahren eingeführten Urkunden gewonnenen Erkenntnisse zu einem erheblichen Teil durch Zeugenaussagen, im Fall II.4 der Urteilsgründe auch durch objektive Beweismittel maßgeblich gestützt werden.
Basdorf Raum Schaal Dölp Bellay

(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind.

(2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Widerspricht der Staatsanwalt, der Angeklagte oder der Verteidiger unverzüglich der Anordnung des Vorsitzenden, nach Satz 1 zu verfahren, so entscheidet das Gericht. Die Anordnung des Vorsitzenden, die Feststellungen über die Kenntnisnahme und die Gelegenheit hierzu und der Widerspruch sind in das Protokoll aufzunehmen.

(1) Nach der Vernehmung eines jeden Mitangeklagten und nach jeder einzelnen Beweiserhebung soll der Angeklagte befragt werden, ob er dazu etwas zu erklären habe.

(2) Auf Verlangen ist auch dem Staatsanwalt und dem Verteidiger nach der Vernehmung des Angeklagten und nach jeder einzelnen Beweiserhebung Gelegenheit zu geben, sich dazu zu erklären.

(3) Die Erklärungen dürfen den Schlußvortrag nicht vorwegnehmen.

(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind.

(2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Widerspricht der Staatsanwalt, der Angeklagte oder der Verteidiger unverzüglich der Anordnung des Vorsitzenden, nach Satz 1 zu verfahren, so entscheidet das Gericht. Die Anordnung des Vorsitzenden, die Feststellungen über die Kenntnisnahme und die Gelegenheit hierzu und der Widerspruch sind in das Protokoll aufzunehmen.

(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.

(2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

(3) Ein Beweisantrag liegt vor, wenn der Antragsteller ernsthaft verlangt, Beweis über eine bestimmt behauptete konkrete Tatsache, die die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betrifft, durch ein bestimmt bezeichnetes Beweismittel zu erheben und dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll. Ein Beweisantrag ist abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Im Übrigen darf ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn

1.
eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist,
2.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung ist,
3.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, schon erwiesen ist,
4.
das Beweismittel völlig ungeeignet ist,
5.
das Beweismittel unerreichbar ist oder
6.
eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.

(4) Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen kann, soweit nichts anderes bestimmt ist, auch abgelehnt werden, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt. Die Anhörung eines weiteren Sachverständigen kann auch dann abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist; dies gilt nicht, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen.

(5) Ein Beweisantrag auf Einnahme eines Augenscheins kann abgelehnt werden, wenn der Augenschein nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Unter derselben Voraussetzung kann auch ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen abgelehnt werden, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre. Ein Beweisantrag auf Verlesung eines Ausgangsdokuments kann abgelehnt werden, wenn nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts kein Anlass besteht, an der inhaltlichen Übereinstimmung mit dem übertragenen Dokument zu zweifeln.

(6) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses. Einer Ablehnung nach Satz 1 bedarf es nicht, wenn die beantragte Beweiserhebung nichts Sachdienliches zu Gunsten des Antragstellers erbringen kann, der Antragsteller sich dessen bewusst ist und er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt; die Verfolgung anderer verfahrensfremder Ziele steht der Verschleppungsabsicht nicht entgegen. Nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme kann der Vorsitzende eine angemessene Frist zum Stellen von Beweisanträgen bestimmen. Beweisanträge, die nach Fristablauf gestellt werden, können im Urteil beschieden werden; dies gilt nicht, wenn die Stellung des Beweisantrags vor Fristablauf nicht möglich war. Wird ein Beweisantrag nach Fristablauf gestellt, sind die Tatsachen, die die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben, mit dem Antrag glaubhaft zu machen.

(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind.

(2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Widerspricht der Staatsanwalt, der Angeklagte oder der Verteidiger unverzüglich der Anordnung des Vorsitzenden, nach Satz 1 zu verfahren, so entscheidet das Gericht. Die Anordnung des Vorsitzenden, die Feststellungen über die Kenntnisnahme und die Gelegenheit hierzu und der Widerspruch sind in das Protokoll aufzunehmen.