Oberlandesgericht Köln Urteil, 06. Nov. 2013 - 5 U 36/13
Tenor
Die Berufung der Kläger gegen das am 21. Januar 2013 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Bonn – 9 O 107/11 – wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden den Klägern auferlegt.
Das vorliegende Urteil und die angefochtene Entscheidung sind vorläufig vollstreckbar. Den Klägern wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
G r ü n d e
2I.
3Bei der Klägerin zu 3) kam es im Jahr 2005 zu einer eineiigen Zwillingsschwangerschaft mit gemeinsamer Plazenta und getrennten Fruchthüllen. Am 17.6.2005 wurde in der 21. Schwangerschaftswoche wegen eines fetofetalen Transfusionssyndroms eine Laserablation durchgeführt. Am 25.9.2005 wurden der Kläger und sein Zwillingsbruder in der 35. + 1 Schwangerschaftswoche nach vorzeitiger Wehentätigkeit und Blasensprung durch Kaiserschnitt geboren. Der CRP-Wert der Mutter war erhöht. Errechneter Geburtstermin war der 29.10.2005. Die Anpassung des Klägers zu 1) unmittelbar nach der Geburt verlief ohne Schwierigkeiten (Apgar-Wert 9/9/10 bei einem Geburtsgewicht von 2.050 g). Seine weitere Versorgung erfolgte auf der neonatologischen Intensivstation.
4Im Kurvenblatt sind am 27.9.2005 ein, am 28.9.2005 drei und am 29.9.2005 nachts drei Sauerstoffsättigungsabfälle, meist beim Trinken, verzeichnet. Am 29.9.2005 nachts kam es dabei zu Apnoen. Für den Morgen des 29.9.2005 ist als ärztlicher Untersuchungsbefund im Kurvenblatt eingetragen: „stabiler AZ, seit heute Morgen keine Apnoen mehr geboten, ruhiges Atembild, gutes Trinkverhalten, hämodynamisch unauffällig.“ Um 9.00 Uhr kam es beim Trinken zu einem weiteren Abfall der Sauerstoffsättigung.
5In der Nacht vom 30.9.2005 zum 1.10.2005 wurde der Infusionszugang neu angelegt. Am Morgen des 1.10.2005 kam es zu einem Sauerstoffsättigungsabfall. In der ärztlichen Dokumentation findet sich der Eintrag: „stabiler AZ, keine Probleme“. In der Pflegedokumentation des Spätdienstes heißt es: „wach, meldet sich, trinkt mäßig, Temperatur erhöht, Babytherm runtergestellt.“ Ausweislich des Kurvenblatts betrug die Temperatur 37,5°.
6In der Nacht vom 1.10.2005 zum 2.10.2005 heißt es im Pflegebericht um 0.00 Uhr „Kind trinkt mäßig, DT-Punktionsstelle reizfrei, rosig-ikterisch, rege“ und um 4.00 Uhr „Kind wird geweckt, trinkt schleppend, Po gerötet, sonst idem“. Zwischen 3.00 Uhr und 4.00 Uhr kam es zu zwei Herzfrequenzabfällen bis 75 bpm.
7Am 2.10.2005 ab 8.00 Uhr ist eine Temperatur von 38° in der Fieberkurve verzeichnet. Zwischen 7.30 Uhr und 9.00 Uhr kam es zu zwei Herzfrequenzabfällen und vier Sauerstoffsättigungsabfällen. Die Blutgasanalyse zeigte um 8.02 Uhr eine Laktaterhöhung (3,3 mmol/l). In der ärztlichen Dokumentation heißt es für 8.30 Uhr: „rosig-ikterisch, RFZ 2 Sek, Turgor +, keine Ödeme, Fontanelle im Niveau, cp auskultatorisch o.p.B., Abdomen leicht gebläht, weich DG +, kein Druckschmerz, keine AS, keine HSSM, Fem.-Pulse +/+“. Die Ärztin Dr. L veranlasste Untersuchungen von Blut, Stuhl und Urin. Eine Blutgaskontrolle ergab um 8.53 Uhr eine Laktaterhöhung auf 3,7 mmol/l und um 10.11 Uhr eine Laktaterhöhung auf 5,8 mmol/l. Bei verschlechtertem Aussehen des Kindes (blass-graues Colorit) und weiter bestehender Temperaturerhöhung (38.0°) leitete Dr. L um 10.40 Uhr eine Antibiotika-Therapie mit Vancomycin, ergänzt ab 11.10 Uhr um Meroponem, ein. Der um 10.14 Uhr ausgedruckte Laborbefund mit einem CRP-Wert von 14,5 mg/l (Norm < 3 mg/l), deutlich erhöhtem IL 6-Wert und Abfall der Leukozyten- und Thrombozytenzahl lag ihr ausweislich der Dokumentation bei Einleitung der Antibiose noch nicht vor.
8Um 11.35 Uhr wurde der Kläger zu 1) im Rahmen eines septischen Schocks intubiert. Es erfolgten eine kreislaufunterstützende Therapie und – bei diagnostizierter disseminierter intravasaler Gerinnungsstörung mit Hautblutungen der unteren Extremitäten – die Gabe von Thrombozytenkonzentraten. Am 3.10.2005 wurde eine Lumbalpunktion durchgeführt. Die Untersuchungen von Blut, Stuhl, Urin und Liquor führten nicht zum Nachweis eines bestimmten Erregers. Der CRP-Wert erreichte am 4.10.2005, 19.25 Uhr, den höchsten Wert mit 195 mg/l. Die maschinelle Beatmung dauerte bis zum 7.10.2005. Am Hinterkopf des Klägers zu 1) bildete sich eine Nekrose, die später eine Narbe hinterließ. Am 24.10.2005 wurde der Kläger zu 1) entlassen.
9Im Mai 2007 führte eine Vorstellung des Klägers zu 1) in der Kinderklinik T zur Diagnose einer unklaren Wachstumsstörung beider Beine. Bei Schädigung der proximalen und distalen Femurepiphysenfugen sowie der proximalen Tibiaepiphysenfugen wurden ab Januar 2009 sechs Operation im Universitätsklinikum N mit dem Ziel der Beinverlängerung und Achskorrektur durchgeführt.
10Die Kläger haben der Beklagten vorgeworfen, dass die hygienischen Anforderungen nicht eingehalten worden seien. Nach dem Entlassungsbericht der Beklagten sei am ehesten von einer Sepsis durch Keimtranslokation, möglicherweise durch den peripheren Zugang, auszugehen. Auch sei die Sepsis zu spät erkannt und behandelt worden. Die Wachstumsstörung der Beine sei auf den Behandlungsfehler und die Sepsis, nicht jedoch auf das vorgeburtliche fetofetale Transfusionssyndrom zurückzuführen. Außerdem seien ein Waterhouse-Friedrichsen Syndrom (infektionsbedingte Schädigung der Nebennieren) und eine Schädigung der Augen mit der Notwendigkeit einer Brille entstanden. Der Kläger zu 1) hält ein Schmerzensgeld von 70.000 € für angemessen. Die Kläger zu 2) und 3) machen zur Begründung des von ihnen gestellten Feststellungsantrags geltend, dass ihnen durch den für den Kläger zu 1) bestehenden erhöhten Pflegeaufwand Nachteile bei der Haushaltsführung entstünden.
11Die Kläger haben ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 17.12.2012 und des dort in Bezug genommenen Schriftsatzes vom 25.9.2012 (Bl. 240a f. d.A.) beantragt,
121. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zu 1) ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Festsetzung der Höhe nach in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit,
132. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zu 1) eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von mindestens 100 € zu zahlen, beginnend ab dem 1.4.2011 rückwirkend,
143. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger zu 1) sämtliche aus der fehlerhaften Behandlung resultierenden weiteren materiellen Schäden für Vergangenheit und Zukunft sowie die nicht vorhersehbaren immateriellen Zukunftsschäden zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen,
154. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin zu 2) und dem Kläger zu 3) als Gesamtgläubigern sämtliche aus der fehlerhaften Behandlung resultierenden weiteren materiellen Schäden für Vergangenheit und Zukunft zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen,
165. die Beklagte zu verurteilen, die Kläger als Gesamtgläubiger von den nach dem RVG nicht konsumierten außergerichtlichen Kosten bei den Prozessbevollmächtigten in Höhe von 6.479,55 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit im Wege der Nebenforderung freizustellen.
17Die Beklagte hat beantragt,
18die Klage abzuweisen.
19Sie ist dem Vorwurf eines Behandlungsfehlers entgegen getreten. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers zu 1) seien durch das fetofetale Transfusionssyndrom und die vorgeburtliche Laserbehandlung verursacht worden.
20Das Landgericht hat ein neonatologisches Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. N2 eingeholt (Bl. 110 ff. d.A.) und die Sachverständige angehört (Bl. 149 ff. d.A.).
21Daraufhin hat es die Klage abgewiesen. Anhaltspunkte für einen Hygienemangel lägen nicht vor. Fehler bei der Diagnose und Behandlung der Sepsis ließen sich nicht feststellen. Die beiden in den frühen Morgenstunden des 2.10.2005 dokumentierten Herztonabfälle bei leicht erhöhter Körpertemperatur seien angesichts der Situation des Klägers zu 1) nichts Ungewöhnliches gewesen. Der Verdacht einer beginnenden Sepsis habe sich erstmals gegen 8.00 Uhr wegen erneuten Herztonabfalls bei weiterer Temperaturerhöhung und einem Laktatwert von 3,3 mmol/l ergeben. Eine Antibiose sei zwar ab etwa 9.00 Uhr sinnvoll, aber nicht zwingend erforderlich gewesen. Angesichts der mit einer Antibiose verbundenen Risiken einschließlich des Aufbaus von Resistenzen sei es zulässig gewesen, bis zum Eintreffen der Laborwerte oder bis zu einer Verdichtung der klinischen Symptome zu warten.
22Hiergegen wenden sich die Kläger mit der Berufung, mit der sie ihre erstinstanzlichen Anträge weiter verfolgen. Entscheidend für eine erfolgreiche Therapie einer Sepsis sei der frühzeitige Beginn beim ersten klinischen Verdacht. Dieser müsse entstehen, wenn die typischen Symptome einer Sepsis aufträten. Hierzu gehörten unter anderem Temperaturschwankungen, Apnoen, Trinkverweigerung und Berührungsempfindlichkeit. Die zwar unspezifischen, jedoch typischen Symptome wie Temperaturschwankungen, Apnoen (Atemaussetzer), Trinkverweigerung sowie Berührungsempfindlichkeiten seien beim Kläger zu 1) ausweislich der Pflegeberichte bereits am 27.9.2005 und an den Folgetagen regelmäßig dokumentiert worden. Bei Vorliegen dieser Warnzeichen, vor allem bei einer Gesamtbetrachtung, hätten Befunderhebungen zum Ausschluss einer Sepsis veranlasst werden müssen, insbesondere Laborkontrollen am 30.9.2005 und 1.10.2005.
23Ebenfalls sei nicht nachvollziehbar, dass die zwingend gebotene Antibiotikatherapie trotz aufkommenden Verdachts auf eine Sepsis-Erkrankung nicht bereits um 8.00 Uhr, sondern erst mehrere Stunden später veranlasst worden sei. Mit dem Abwarten der Laborwerte könne die Verzögerung nicht gerechtfertigt werden, da der IL 6-Wert den behandelnden Ärzten bereits am frühen Morgen telefonisch mitgeteilt worden sei.
24Ferner sei unberücksichtigt geblieben, dass es sich beim Kläger zu 1) um eine Risikopatienten gehandelt habe. Der vorzeitige Blasensprung, die Streptokokkeninfektion und die erhöhten Entzündungsparameter der Klägerin zu 2) sowie der Umstand der Frühgeburt hätten erhebliche Risikofaktoren dargestellt.
25Die Sachverständige Prof. Dr. N2 habe die entscheidenden Einträge in der Behandlungsdokumentation nicht oder nicht umfassend gewürdigt. Ab dem 27.9.2005 seien Temperaturschwankungen in den Pflegeunterlagen dokumentiert. Am 1.10.2005 seien im Lauf des Tages niedrigere Temperaturen um die 35° gemessen worden, während die Temperatur zum Abend hin auf 37,5° angestiegen sei. Zudem seien ab dem 27.9.2005 immer wieder erhebliche Sauerstoffsättigungsabfälle aufgetreten, denen selbst durch stärkste Stimulation erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung zu begegnen gewesen sei. In der Nacht zum 2.10.2005 seien deutliche Herzfrequenzabfälle hinzugekommen.
26Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und vertieft ihren Vortrag. Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
27II.
28Die Berufung ist unbegründet.
29Der Kläger zu 1) und die Kläger zu 2) und 3) können von der Beklagten gemäß §§ 280 Abs. 1, 823 Abs. 1, 831 Abs. 1 BGB weder die Zahlung eines Schmerzensgeldes noch materiellen Schadensersatz verlangen.
301. Das Landgericht hat Behandlungsfehler nach Einholung eines neonatologischen Gutachtens der Sachverständigen Prof. Dr. N2 verneint. Konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit dieser Würdigung begründen, sind weder dargetan noch erkennbar (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
31a) Es lässt sich nicht feststellen, dass die für die Beklagte tätigen Ärzte und Pflegekräfte gegen die von ihnen zu beachtenden hygienischen Anforderungen verstoßen haben.
32Wie das Landgericht zutreffend und im Berufungsverfahren von den Klägern nicht angegriffen ausgeführt hat, gibt es für einen Hygieneverstoß keine Anhaltspunkte. Aus dem Umstand, dass es am 2.10.2005 zu einer Sepsis gekommen ist, lässt sich nicht auf eine Missachtung hygienischer Standards zurückschließen. Dies gilt schon deshalb, weil der Erreger bei fehlendem Keimnachweis in Blut, Stuhl, Urin und Liquor aus dem kindlichen oder mütterlichen Keimspektrum stammen kann, mithin aus einem von der Beklagten keinesfalls voll beherrschbaren Bereich. Es kommt daher im Streitfall nicht einmal darauf an, dass sich eine Verschleppung von im Krankenhaus befindlichen Keimen auch bei Beachtung der hygienischen Standards nicht völlig sicher ausschließen lässt.
33b) Es kann nicht angenommen, dass die sich entwickelnde Sepsis seitens der Beklagten zu spät erkannt und behandelt worden ist.
34Die Sachverständige Prof. Dr. N2 hat dargelegt, dass die auf eine Sepsis hinweisenden klinischen Symptome zunächst unspezifisch seien. Anzuführen seien Temperaturinstabilität, erhöhte zentrale-periphere Temperaturdifferenz, Zentralisierung mit verlängerter Rekapilllarisierungszeit, vermehrte Apnoen oder Bradykardien, Trinkverweigerung, Magenreste, Berührungsempfindlichkeit und schrilles Schreien (Bl. 123 d.A.). Zudem könnten verschiedene Entzündungsparameter als Warnzeichen einer neonatalen Infektion angesehen werden, insbesondere der CRP- und IL6-Wert. Mit einem Konzentrationsanstieg des CRP-Werts sei erst 12 bis 24 Stunden nach Beginn einer Infektion im Plasma zu rechnen. Deshalb sei es empfehlenswert, die Bestimmung des CRP-Werts mit der Bestimmung des IL6-Werts zu kombinieren. Interleukine seien nach bakterieller Infektion schon früh im Plasma nachweisbar (Bl. 123 f. d.A.). Eine bei neonatologischen Intensivpatienten durchgeführte Studie habe gezeigt, dass bei Vorliegen von mindestens drei klinischen Infektparametern eine Sepsis mit einer Sensitivität von 78 % vorgelegen habe (Bl. 124 d.A.). Entscheidend für eine erfolgreiche Therapie sei der frühzeitige Beginn beim ersten klinischen Verdacht (Bl. 128 d.A.). Die antibiotische Therapie müsse zügig und breit begonnen werden (Bl. 123 d.A.).
35Hiervon ausgehend ist Prof. Dr. N2 bezogen auf die Behandlung des Klägers zu 1) zu der zusammenfassenden Bewertung gelangt, dass es keine Symptome gegeben habe, auf die man früher hätte reagieren müssen (Bl. 131 d.A.). Auch wenn die Einleitung einer Antibiotikatherapie nach der um 08.53 Uhr festgestellten weiteren Erhöhung des Laktatwerts auf 3,7 mmol/l sinnvoll gewesen wäre, sei die Vorgehensweise der Ärztin Dr. L am Morgen des 2.10.2005 nicht zu beanstanden gewesen (Bl. 149R d.A.).
36Bis zum 2.10.2005 habe der klinische Verlauf dem entsprochen, was nach dem Lebensalter des Kindes zu erwarten gewesen sei. Apnoen mit Sättigungsabfällen seien kein seltenes Krankheitsbild bei Frühgeborenen, so dass dieses Symptom insbesondere bei gutem Allgemeinzustand nicht als auf eine Sepsis verdächtig gewertet werden müsse (Bl. 128 d.A.). Die am Abend des 1.10.2005 gemessene Körpertemperatur von 37,5° und die beiden in der Nacht auf den 2.10.2005 zwischen 3.00 Uhr und 4.00 Uhr aufgetretenen Herzfrequenzabfälle hätten noch keinen Anlass zu Maßnahmen oder Befunderhebungen gegeben (Bl. 150 d.A.). Am Morgen des 2.10.2005 hätten die Temperaturerhöhung auf 38°, die Zunahme der Apnoen und insbesondere das neue Auftreten von Bradykardien in der Zusammenschau mit der Laktaterhöhung auf 3,3 mmol/l (8.02 Uhr) als – wie geschehen und in einen Behandlungsplan umgesetzt – auf Vorliegen einer Sepsis verdächtige Symptome gedeutet werden müssen (Bl. 128 d.A.). Die Ärztin Dr. L habe diagnostische Maßnahmen eingeleitet (Labor, Stuhluntersuchung, Urinstatus). Da der klinische Status ausweislich der ärztlichen Dokumentation (oben für 8.30 Uhr wörtlich zitiert) als gut eingeordnet worden sei, sei zunächst auf den Erhalt der Laborergebnisse gewartet worden. Als die geplante Blutgaskontrolle um 8.53 Uhr eine Laktaterhöhung bestätigt und einen Wert von 3,7 mmol/l gezeigt habe, wäre – so die Sachverständige weiter – die Einleitung einer Antibiotikatherapie sinnvoll gewesen. Bei verschlechtertem Aussehen des Kindes (blass-graues Colorit) sei dann um 10.40 Uhr, wie von der Ärztin Dr. L aufgezeichnet, empirisch, das heißt ohne Erhalt der Laborwerte, eine Therapie mit Antibiotika begonnen worden (Bl. 128 d.A.). Was die Wahl der Antibiotika und die Dauer der Therapie angehe, sei die Behandlung adäquat erfolgt (Bl. 129 d.A.). Die Komplikationen im Rahmen des septischen Schocks – eine arterielle Hypotension und eine Verbrauchskoagulopathie – seien richtig erkannt und behandelt worden (Bl. 128 d.A.).
37Die Beurteilung der Sachverständigen Prof. Dr. N2 überzeugt. Sie hat dargelegt, welche klinischen Symptome für eine Sepsis eines Neugeborenen richtungsweisend sein können und die Behandlungsunterlagen umfassend daraufhin überprüft und ausgewertet, welche dieser Symptome vor dem und am 2.10.2005 beim Kläger zu 1) vorlagen und aufgetreten sind. Dies lässt sich anhand der Dokumentation der Beklagten, insbesondere der für jeden Tag ausführlich geführten Überwachungskurven und Pflegeberichte, nachvollziehen. Von dem so ermittelten Sachverhalt ausgehend hat Prof. Dr. N2 nachvollziehbar geprüft und erläutert, wann sich die für sich genommen zunächst unspezifischen, nur isoliert und vorübergehend auftretenden einzelnen klinischen Symptome so verdichteten, dass sie in einer Gesamtschau ex ante den weiter abzuklärenden Verdacht einer Sepsis begründeten. Die Verzögerung vom ersten Verdacht (8.02 Uhr) oder seiner Erhärtung durch die angeordnete Blutgaskontrolle mit weiterem Laktatanstieg (8.53 Uhr) bis zur Einleitung der Antibiotikatherapie (10.40 Uhr) hat sie nachvollziehbar mit dem ausweislich der ärztlichen Dokumentation guten klinischen Zustand des Kindes begründet und deshalb auch insoweit einen Behandlungsfehler verneint. Die Wertung des klinischen Zustands des Klägers zu 1) als gut kann sich auf eine umfassende Befunderhebung um 8.30 Uhr und die Dokumentation der dabei gewonnenen Befunde stützen.
38Die von den Klägern demgegenüber erhobenen Einwendungen greifen nicht durch. Sie ergeben insbesondere keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Verdacht einer Sepsis, der diagnostisch abzuklären gewesen wäre oder sogleich eine Antibiotikabehandlung erforderlich gemacht hätte, vor dem Morgen des 2.10.2005 bestanden hat. Anders als es in der Berufungsbegründung anklingt, ist die Sachverständige Prof. Dr. N2 in Bezug auf die klinischen Symptome, die den Verdacht einer neonatalen Sepsis zu begründen vermögen, nicht von einer fehlerhaften oder unvollständigen Tatsachengrundlage ausgegangen. Soweit die Kläger konkret geltend machen, dass am 1.10.2005 im Lauf des Tages niedrigere Temperaturen um die 35° gemessen worden seien, während die Temperatur zum Abend hin auf 37,5° angestiegen sei, widerspricht dies der Dokumentation der Beklagten. Die eingetragenen Werte liegen knapp unter, knapp über oder genau bei 37°. Andere Sauerstoffsättigungsabfälle, Apnoen oder Herzfrequenzabfälle, als sie im Gutachten aufgeführt sind, werden in der Berufungsbegründung nicht aufgezeigt und sind nach Einsicht in die Behandlungsunterlagen auch nicht erkennbar. Einzelne Phasen mäßigen, langsamen oder schleppenden Trinkens, denen – wie die Überwachungskurve und die Pflegedokumentation zeigen – zügiges oder gutes Trinken gegenüberstand, sind im Gutachten verzeichnet. Für eine gesteigerte Berührungsempfindlichkeit, auf die sich die Kläger in der Berufungsbegründung noch beziehen, um einen früheren Sepsis-Verdacht zu begründen, gibt für die Zeit bis zum Morgen des 2.10.2005 weder der Vortrag der Kläger, noch das Sachverständigengutachten noch die Einsicht in die Behandlungsunterlagen der Beklagten etwas her.
39Dass bei dem Kläger zu 1) besondere Risikofaktoren vorlagen in Gestalt der Frühgeburt sowie des vorzeitigen Blasensprungs und des B-Streptokokkennachweises bei der Klägerin zu 2), war der Sachverständigen Prof. Dr. N2 bei der Beurteilung des Sachverhalts bewusst (vgl. die Ausführungen Bl. 116 d.A.). Wie sich aus dem Gutachten ergibt, handelt es sich dabei allerdings in erster Linie um Risikofaktoren für eine früh einsetzende Infektion und Sepsis (Bl. 122 d.A.), die hier nicht in Rede steht.
40In der Sache stellt sich daher die Berufungsbegründung als Versuch dar, die eigene Wertung, ab welchem Zeitpunkt die vorliegenden unspezifischen Symptome den Verdacht einer Sepsis hätten begründen müssen, an die Stelle derjenigen der Sachverständigen zu setzen. Dies geschieht, indem zunächst zeitlich versetzt und isoliert aufgetretene Symptome unter Außerachtlassung zwischenzeitlicher Besserung zusammen betrachtet werden. Dies vermag die gegenteilige Beurteilung von Prof. Dr. N2 nicht in Frage zu stellen. Es liegt auf der Hand, dass ein an eine unspezifische klinische Symptomatik anknüpfender Krankheitsverdacht regelmäßig voraussetzt, dass eine zeitgleiche Symptomatik, also ein Miteinander unspezifischer Symptome, vorliegt, die sich auf diese Weise als Hinweis auf ein bestimmtes Krankheitsbild verdichten und verstehen lassen.
41Soweit sich die Kläger gegen die Beurteilung von Prof. Dr. N2 wenden, dass das Zuwarten von 8.02 Uhr oder von 8.53 Uhr bis zum Therapiebeginn um 10.40 Uhr nicht behandlungsfehlerhaft gewesen sei, enthält die Berufungsbegründung keine Gesichtspunkte, die die Begründung der Sachverständigen erschüttern. Hierfür ist auch nichts ersichtlich. Prof. Dr. N2 hat auf den von Dr. L dokumentierten, zunächst noch guten klinischen Zustand des Klägers zu 1) am Morgen des 2.10.2005 verwiesen, der ein Abwarten auf die Laborergebnisse zuließ. Auch vor der Einleitung einer Antibiotikatherapie sind der mögliche Nutzen und die Risiken der Behandlung einschließlich der Gefahr von Resistenzbildungen abzuwägen, so dass die Wertung der Sachverständigen nachvollziehbar und angemessen ist, einen Beginn der Therapie vor der Verdichtung und Konkretisierung des Krankheitsbildes nicht als zwingend anzusehen.
422. Im Übrigen lässt sich nicht feststellen, dass die Verzögerung der Antibiotikatherapie von 8.02 Uhr oder 8.53 Uhr bis 10.40 Uhr am 2.10.2005 den Verlauf der Sepsis beeinflusst und damit möglicherweise ursächlich für einen gesundheitlichen Schaden des Klägers zu 1) geworden ist. Als gesundheitlicher Schaden kommen die Wachstumsstörung beider Beine, ein Waterhouse-Friedrichsen Syndrom und eine Schädigung der Augen in Betracht.
43Prof. Dr. N2 hat dargelegt, dass eine rasche Progredienz der neonatalen Sepsis bis hin zum septischen Schock auch bei adäquater Therapie möglich sei und nicht immer verhindert werden könne (Bl. 122 d.A.). Dies entspricht dem, was dem Senat aus anderen Fällen der Behandlung einer Sepsis bekannt ist. Es lasse sich – so die Sachverständige weiter – nicht beantworten, ob ein Therapiebeginn mit Antibiotika etwa 1 ½ oder zwei Stunden früher den schweren foudroyanten Verlauf mit disseminierter intravasaler Gerinnungsstörung verhindert hätte (Bl. 129, 132, 150 d.A.). Die zwischen den Parteien streitige Frage, ob die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers zu 1) überhaupt eine Folge der Sepsis darstellen oder aber auf die Zwillingsschwangerschaft mit fetofetalem Transfusionssyndrom zurückzuführen sind, ist daher im vorliegenden Zusammenhang bedeutungslos.
44Eine Beweislastumkehr unter dem Gesichtspunkt eines groben Behandlungsfehlers kommt nach den Ausführungen unter II 1 b nicht in Betracht. Die Gründe, die bereits der Annahme eines Behandlungsfehlers entgegenstehen, führen jedenfalls dazu, dass die Verzögerung der Antibiotikatherapie bis 10.40 Uhr am 2.10.2005 nicht unverständlich war.
45Soweit die Kläger eine frühzeitige telefonische Mitteilung des richtungsweisenden Interleukin-Werts behaupten, ist darauf zu verweisen, dass die Laborwerte nach dem Ausdruck des Instituts für Klinische Biochemie überhaupt erst um 10.14 Uhr vorlagen. Bei einer Blutentnahme gegen 8.30 Uhr liegt dies innerhalb des von der Sachverständigen Prof. Dr. N2 als üblich und tolerabel angesehenen Zeitraums von zwei bis drei Stunden (vgl. Bl. 149R d.A.). Selbst wenn man es als Organisations- und Behandlungsfehler werten würde, dass der Interleukin-6-Wert nicht bis 10.40 Uhr an die in diesem Zeitraum in erster Linie behandelnde und verantwortliche Ärztin Dr. L gelangt ist – wie es ihrer eigenen Dokumentation entspricht –, so wäre der hierin liegende Fehler bei der gebotenen Gesamtbetrachtung keinesfalls grob. Denn auch in diesem Fall wurde kurze Zeit nach dem frühestmöglichen Übermittlungszeitpunkt und zudem noch innerhalb des Zeitfensters von zwei bis drei Stunden therapeutisch gehandelt, das nach den Ausführungen von Prof. Dr. N2 für die Übermittlung von Laborwerten tolerabel ist.
463. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
47Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 543 Abs. 2 ZPO). Die entscheidungserheblichen Fragen sind ausschließlich solche des Einzelfalls.
48Berufungsstreitwert 202.400 € (wie in 1. Instanz)
ra.de-Urteilsbesprechung zu Oberlandesgericht Köln Urteil, 06. Nov. 2013 - 5 U 36/13
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Referenzen - Gesetze
(1) Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.
(2) Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung kann der Gläubiger nur unter der zusätzlichen Voraussetzung des § 286 verlangen.
(3) Schadensersatz statt der Leistung kann der Gläubiger nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 281, des § 282 oder des § 283 verlangen.
(1) Das Berufungsgericht hat seiner Verhandlung und Entscheidung zugrunde zu legen:
- 1.
die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten; - 2.
neue Tatsachen, soweit deren Berücksichtigung zulässig ist.
(2) Auf einen Mangel des Verfahrens, der nicht von Amts wegen zu berücksichtigen ist, wird das angefochtene Urteil nur geprüft, wenn dieser nach § 520 Abs. 3 geltend gemacht worden ist. Im Übrigen ist das Berufungsgericht an die geltend gemachten Berufungsgründe nicht gebunden.
(1) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen der Partei zur Last, die es eingelegt hat.
(2) Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind der obsiegenden Partei ganz oder teilweise aufzuerlegen, wenn sie auf Grund eines neuen Vorbringens obsiegt, das sie in einem früheren Rechtszug geltend zu machen imstande war.
(3) (weggefallen)