Landessozialgericht NRW Urteil, 22. Juli 2015 - L 11 KA 7/14

ECLI:ECLI:DE:LSGNRW:2015:0722.L11KA7.14.00
bei uns veröffentlicht am22.07.2015

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 13.11.2013 wird zurückgewiesen. Der Kläger trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens. Die Revision wird nicht zugelassen.


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Landessozialgericht NRW Urteil, 22. Juli 2015 - L 11 KA 7/14 zitiert 8 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 197a


(1) Gehört in einem Rechtszug weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 genannten Personen oder handelt es sich um ein Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2), werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskosten

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 48 Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse


(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltun

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 131


(1) Wird ein Verwaltungsakt oder ein Widerspruchsbescheid, der bereits vollzogen ist, aufgehoben, so kann das Gericht aussprechen, daß und in welcher Weise die Vollziehung des Verwaltungsakts rückgängig zu machen ist. Dies ist nur zulässig, wenn die

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 49 Rücknahme und Widerruf im Rechtsbehelfsverfahren


§ 45 Abs. 1 bis 4, §§ 47 und 48 gelten nicht, wenn ein begünstigender Verwaltungsakt, der von einem Dritten angefochten worden ist, während des Vorverfahrens oder während des sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufgehoben wird, soweit da

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Bundessozialgericht Beschluss, 27. Nov. 2014 - B 3 KR 22/14 B

bei uns veröffentlicht am 27.11.2014

Tenor Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Juni 2014 wird zurückgewiesen.

Bundessozialgericht Beschluss, 08. Feb. 2012 - B 5 RS 76/11 B

bei uns veröffentlicht am 08.02.2012

Tenor Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 23. August 2011 aufgehoben.

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(1) Wird ein Verwaltungsakt oder ein Widerspruchsbescheid, der bereits vollzogen ist, aufgehoben, so kann das Gericht aussprechen, daß und in welcher Weise die Vollziehung des Verwaltungsakts rückgängig zu machen ist. Dies ist nur zulässig, wenn die Verwaltungsstelle rechtlich dazu in der Lage und diese Frage ohne weiteres in jeder Beziehung spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Hält das Gericht die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsakts für begründet und diese Frage in jeder Beziehung für spruchreif, so ist im Urteil die Verpflichtung auszusprechen, den beantragten Verwaltungsakt zu erlassen. Im Übrigen gilt Absatz 3 entsprechend.

(3) Hält das Gericht die Unterlassung eines Verwaltungsakts für rechtswidrig, so ist im Urteil die Verpflichtung auszusprechen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(4) Hält das Gericht eine Wahl im Sinne des § 57b oder eine Wahl zu den Selbstverwaltungsorganen der Kassenärztlichen Vereinigungen oder der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen ganz oder teilweise oder eine Ergänzung der Selbstverwaltungsorgane für ungültig, so spricht es dies im Urteil aus und bestimmt die Folgerungen, die sich aus der Ungültigkeit ergeben.

(5) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Satz 1 gilt auch bei Klagen auf Verurteilung zum Erlass eines Verwaltungsakts und bei Klagen nach § 54 Abs. 4; Absatz 3 ist entsprechend anzuwenden. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, dass Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluss kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit

1.
die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2.
der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3.
nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4.
der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum auf Grund der besonderen Teile dieses Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes.

(2) Der Verwaltungsakt ist im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt; § 44 bleibt unberührt.

(3) Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 nicht zurückgenommen werden und ist eine Änderung nach Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Satz 1 gilt entsprechend, soweit einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zugrunde liegt, der nach § 45 nicht zurückgenommen werden kann.

(4) § 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 gelten entsprechend. § 45 Abs. 4 Satz 2 gilt nicht im Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1.

§ 45 Abs. 1 bis 4, §§ 47 und 48 gelten nicht, wenn ein begünstigender Verwaltungsakt, der von einem Dritten angefochten worden ist, während des Vorverfahrens oder während des sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufgehoben wird, soweit dadurch dem Widerspruch abgeholfen oder der Klage stattgegeben wird.

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Juni 2014 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 106 071,59 Euro festgesetzt.

Gründe

1

I. Der Kläger begehrt die Rückerstattung einer Zahlung in Höhe von insgesamt 106 071,59 Euro, die er aufgrund eines gegenüber der beklagten Krankenkasse abgegebenen Schuldanerkenntnisses geleistet hat.

2

Der Kläger ist ein seit 1997 zugelassener Leistungserbringer für Hilfsmittel der Orthopädie-Schuhtechnik. Die Beigeladene ist seit September 2008 Inhaberin der unter dem Namen des Klägers geführten Firma, nachdem über das Vermögen des Klägers im Mai 2008 das Insolvenzverfahren wegen Zahlungsunfähigkeit eröffnet wurde und der Geschäftsbetrieb aus der Insolvenzmasse freigegeben wurde. Nach Klageerhebung trat der Kläger die gegen die Beklagte geltend gemachte Forderung an die Beigeladene ab; die Abtretung wurde von der Gläubigerversammlung genehmigt.

3

Im Jahre 2001 stellte die Beklagte fest, dass die vom Kläger in der Zeit von Januar 1997 bis Juni 2001 für 961 Fälle abgerechneten Kosten erheblich über den durchschnittlichen Werten für entsprechende Versorgungen lägen, und überprüfte 19 Versorgungsfälle mit dem Ergebnis, von den hierfür in Rechnung gestellten 41 930,92 DM seien 14 395,42 DM zu Unrecht abgerechnet worden.

4

Am 20.7.2001 führte die Beklagte ein Gespräch mit dem Kläger, in dessen Verlauf dieser folgende Erklärung unterzeichnete:

"1.     

Hiermit erkenne ich an, bei Versicherten der AOK Märkischer Kreis in zahlreichen Fällen Versorgungen von orthopädischen Maßschuhen und Zurichtungen an Konfektionsschuhen abgegeben zu haben, die den ärztlichen Verordnungen nicht entsprachen.

2.    

Außerdem wurden in einer Vielzahl von Fällen Kostenvoranschläge und Abrechnungen über die Versorgungen mit der AOK vorgenommen, die den Leistungen nicht entsprachen. Den daraus entstandenen Schaden i.H.v. 184 000,-- DM bin ich bereit zurückzuzahlen.

3.    

Innerhalb von 10 Tagen teile ich der AOK Märkischer Kreis die Zahlungsmodalitäten mit.

4.    

Mir ist bekannt und bewusst, dass es sich dabei um äußerst schwerwiegende Vertragsverstöße handelt.

5.    

Ich werde in Zukunft dafür Sorge tragen, dass Fehlabrechnungen der mir vorgetragenen Art nicht mehr vorkommen. Die AOK hat erklärt, dass ausdrücklich künftige Prüfungen der mir vorgenommenen Versorgungen vorbehalten bleiben.

6.    

Ich erkenne an, dass im Falle künftiger Vertragsverstöße eine Mitteilung an alle übrigen Kassen und deren Verbände sowie der im Zug meiner Zulassung sofortige Folge sein kann; ich kann dann zu Lasten aller gesetzlichen Krankenkassen keine Leistungen mehr erbringen."

5

Mit Schreiben vom 27.7.2001 unterbreitete der Kläger den Vorschlag, monatlich 3000 DM plus Zinsen in Höhe von monatlich weiteren 613,30 DM zurückzuzahlen. Daraufhin unterzeichneten die Beklagte am 6.8.2001 und der Kläger am 21.8.2001 ein "unwiderrufliches Schuldanerkenntnis gemäß § 781 BGB, Zahlungsvereinbarung und Abtretungserklärung", in dem diese Rückzahlungsmodalitäten festgehalten waren und der Kläger anerkannte, der Beklagten "184 000,-- DM aus Anlass von Fehlversorgungen und Falschabrechnungen zu schulden".

6

Der Kläger zahlte zunächst die monatlichen Raten an die Beklagte, die im Einvernehmen mit dieser ab 15.9.2002 auf monatlich 1200 Euro reduziert wurden. Einem Vorschlag des Klägers aus Dezember 2005, es bei den bis dahin geleisteten knapp 60 000 Euro zu belassen, folgte die Beklagte nicht. Der Kläger stellte die Zahlungen ein, und die Beklagte nahm bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens Verrechnungen mit Ansprüchen des Klägers aus Abrechnungsfällen vor. Ausweislich einer Aufstellung der Beklagten ist noch ein Restbetrag von 861,15 Euro offen.

7

Am 3.1.2007 hat der Kläger Klage erhoben und die Rückzahlung der bereits geleisteten Zahlungen sowie die Feststellung begehrt, zu weiteren Zahlungen nicht verpflichtet zu sein. Das abstrakte Schuldanerkenntnis sei wegen eines Verstoßes gegen die guten Sitten nach § 138 BGB nichtig. Der Anerkennungsbetrag sei etwa zehnmal so hoch wie der möglicherweise in Betracht kommende Schadensbetrag. In dem Gespräch sei er erstmals mit dem Vorwurf des Abrechnungsbetruges konfrontiert und von der Situation überrumpelt worden. Ein Schadensersatzanspruch scheide zudem bereits aus Rechtsgründen aus, da ihm nicht das Recht zur Nachbesserung eingeräumt worden sei; im Übrigen seien Gewährleistungsansprüche nach sechs Monaten verjährt.

8

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 8.2.2012). Das LSG hat das Urteil zunächst aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückverwiesen (Urteil vom 29.11.2012). Auf die darauf erhobene Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat der Senat dieses LSG-Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen (Beschluss vom 19.9.2013). In dem zurückverwiesenen Rechtsstreit hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 8.2.2012 zurückgewiesen (Urteil vom 12.6.2014). Es hat ausgeführt, ein Schuldanerkenntnis sei in entsprechender Anwendung der §§ 780, 781 BGB auch im Verhältnis zwischen Krankenkasse und Leistungserbringer zulässig. Es habe der Festlegung und Konkretisierung eines Rückforderungsanspruchs der Beklagten und damit der Erfüllung der ihr obliegenden öffentlich-rechtlichen Aufgabe gedient, überzahlte Leistungen zurückzufordern. Der Kläger habe ein selbstständiges, vom zugrunde liegenden Rechtsverhältnis unabhängiges Schuldanerkenntnis abgegeben. Dieses sei nicht wegen eines Verstoßes gegen die guten Sitten gemäß § 138 Abs 1 BGB unwirksam. Es sei nach seiner Formulierung aus Anlass von "Fehlversorgungen und Falschabrechnungen" abgegeben worden. Dabei gehe es nicht um schlechte oder mangelhafte Leistungen des Klägers und etwaige Gewährleistungsansprüche, sondern um ein betrügerisches Verhalten. Ein auffälliges Missverhältnis zwischen den in Betracht kommenden Überzahlungen von mehr als 400 000 DM und dem Anerkenntnisbetrag in Höhe von 184 000 DM sei nicht ersichtlich.

9

Mit der Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG.

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II. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Beschwerdebegründung den Formerfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG in vollem Umfang genügt, denn die geltend gemachten Revisionszulassungsgründe liegen nicht vor.

11

1. Der Kläger rügt eine ungenügende Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht und damit einen Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz nach § 103 SGG. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG kann eine Verletzung dieser Verfahrensnorm nur darauf gestützt werden, das LSG sei einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt(vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Nach dem Sinn der Regelung soll das Übergehen von Beweisanträgen die Revisionsinstanz nur eröffnen, wenn das LSG vor der Entscheidung durch einen Beweisantrag ausdrücklich darauf hingewiesen worden ist, dass ein Beteiligter die Sachaufklärungspflicht noch nicht als erfüllt ansieht. Daher muss nach der Rechtsprechung des BSG ein bereits gestellter Beweisantrag grundsätzlich in der letzten mündlichen Verhandlung ausdrücklich aufrechterhalten werden. Ist das nicht geschehen, kann ein vorher zB in einem Schriftsatz gestellter Beweisantrag grundsätzlich nicht im Rahmen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG berücksichtigt werden(vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9; SozR 3-1500 § 124 Nr 3; SozR 3-1500 § 160 Nr 29; SozR 3-1500 § 160 Nr 31 sowie Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160 RdNr 18a, 18c mwN). Weitere Voraussetzung ist, dass das LSG dem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

12

a) Ausweislich des Sitzungsprotokolls hat der Kläger in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG keinen Beweisantrag gestellt oder einen bereits zuvor schriftlich gestellten Beweisantrag ausdrücklich aufrechterhalten. Deshalb kommt es nicht darauf an, ob der Antrag auf Vernehmung der Beigeladenen aus der Klageschrift vom 2.1.2007, auf den die Beschwerdebegründung Bezug nimmt, als formgerechter Beweisantrag zu werten ist.

13

b) Der Kläger hat darüber hinaus auch in der Beschwerdebegründung keine Tatsachen dargelegt, die das LSG hätte aufklären sollen. Er führt lediglich aus, das LSG sei einseitig der Sachverhaltsdarstellung der Beklagten gefolgt und sogar von einem Abrechnungsbetrug ausgegangen, wovon nicht einmal die Beklagte gesprochen habe. Welche der festgestellten Tatsachen jedoch nicht zutreffen, hat er weder dargelegt, noch ist dies ersichtlich. Er verkennt, dass der Amtsermittlungsgrundsatz nicht zu Ermittlungen ins Blaue hinein nötigt. Nachdem der Kläger in der schriftlichen Erklärung vom 20.7.2001 anerkannt hatte, dass er in zahlreichen Fällen Versorgungen von orthopädischen Maßschuhen und Zurichtungen an Konfektionsschuhen abgegeben habe, die den ärztlichen Verordnungen nicht entsprachen, und in einer Vielzahl von Fällen Kostenvoranschläge und Abrechnungen nicht den Leistungen entsprochen hätten, und dass daraus ein Schaden in Höhe von 184 000 DM entstanden sei, hätte er dem Gericht aufzeigen müssen, wie dieses sich vom Gegenteil - nämlich seines stets einwandfreien Abrechnungsverhaltens - hätte überzeugen können. Der Kläger hat aber nicht einmal behauptet, es seien keine Abrechnungsfehler vorgekommen, und er hat auch keine Tatsachen angegeben, die eine solche Behauptung stützen könnten.

14

Der Kläger geht vielmehr davon aus, dass die Beklagte bei dem (feststehenden) Sachverhalt aus Rechtsgründen keinen Anspruch gegen ihn hatte und daher das Schuldanerkenntnis ohne Rechtsgrund abgegeben wurde. Damit rügt der Kläger in der Sache aber keine ungenügende Sachverhaltsaufklärung, sondern eine abweichende Rechtsauffassung.

15

c) Auch wenn die vom LSG festgestellten Tatsachen die Annahme eines Abrechnungsbetruges nicht rechtfertigen sollten, ist dem LSG jedenfalls kein Verfahrensfehler unterlaufen, auf dem sein Urteil beruhen könnte. Ein möglicher Anspruch der Beklagten auf Erstattung überzahlter Leistungen kommt nicht nur bei Abrechnungsbetrug in Betracht, sondern auch dann, wenn die Abrechnungen lediglich fehlerhaft gewesen sind (zum öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch bei überzahlten Leistungen vgl zB BSG Urteil vom 18.6.2014 - B 3 KR 10/13 R - juris und BSG Urteil vom 1.7.2014 - B 1 KR 2/13 R - juris, jeweils mwN). Dieser Erstattungsanspruch der Krankenkasse bei fehlerhaften Abrechnungen und überhöhten Kostenvoranschlägen setzt nicht voraus, dass dem Leistungserbringer zuvor die Möglichkeit einer Nachbesserung eingeräumt worden ist. Ein solches Recht kommt von vornherein nur in Betracht, wenn die vom Orthopädietechniker angefertigten Maßschuhe oder Schuhzurichtungen handwerklich-technische oder funktionelle Defizite aufweisen. Darum geht es hier jedoch nicht. Der Kläger hat zugestanden, Schuhe und Zurichtungen angefertigt zu haben, die so nicht ärztlich verordnet worden waren und unkorrekte Kostenvoranschläge und Abrechnungen erstellt zu haben. Beides hat zu ungerechtfertigten Zahlungen der Beklagten geführt, die diese zurückverlangt hat. Ein entsprechender Anspruch kann der Beklagten auch zustehen, wenn diese eine konkrete orthopädietechnische Versorgung eines Versicherten genehmigt hat, dieser Genehmigung aber etwa ein manipulierter Kostenvoranschlag zu Grunde lag. Dass ihm Abrechnungsfehler unterlaufen sind, hat der Kläger weder im Jahr 2001 noch im Dezember 2005 in Frage gestellt. Anders ist sein Vorschlag, es vergleichsweise bei den bis Dezember 2005 geleisteten Zahlungen zu belassen, nicht zu deuten.

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Da das Anerkenntnis dazu diente, die näheren Umstände dieser Abrechnungsfehler nicht weiter aufklären zu müssen und auch die genaue Höhe der insgesamt eingetretenen Überzahlungen nicht ermitteln zu müssen, ist nicht erkennbar, aus welchem Grund das abgegebene konstitutive Schuldanerkenntnis unwirksam oder kondizierbar gewesen sein könnte. Es war gerade Sinn und Zweck des Anerkenntnisses, mögliche Prozessrisiken für beide Seiten auszuschließen.

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Zum Nachteil des Klägers stand bei weiteren Ermittlungen nicht nur ein möglicherweise erheblich höherer Rückforderungsanspruch der Beklagten sondern ggf sogar der Widerruf seiner Zulassung im Raum. Denn Falschabrechnungen in dem von der Beklagten behaupteten Umfang konnten ggf einen Widerruf der Zulassung rechtfertigen. Zu dem Zeitpunkt, als der Kläger das Anerkenntnis abgab, folgte die Versorgung der Versicherten mit Hilfsmitteln noch dem sog Zulassungsmodell; § 126 Abs 1 SGB V(in der Fassung durch das Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung [Gesundheitsstrukturgesetz] vom 21.12.1992, die bis 31.12.2003 galt - im Folgenden: aF) sah eine Versorgung der Versicherten nur durch zugelassene Leistungserbringer vor; die Zulassung konnte nach § 126 Abs 4 SGB V aF widerrufen werden, wenn der Betroffene keine ordnungsgemäße Versorgung der Versicherten mehr gewährleisten konnte. Diesen Widerruf, hier als "Zulassungsentziehung" bezeichnet, hat der Kläger durch sein Anerkenntnis vermieden. Wenn auf der anderen Seite die Beklagte trotz fehlerhafter Abrechnungen des Klägers Rückforderungen aus Rechtsgründen möglicherweise nicht in dem von ihr damals zu Grunde gelegten Umfang hätte geltend machen können, spricht dies allein noch nicht für die Unwirksamkeit oder Kondizierbarkeit des Anerkenntnisses, solange solche Ansprüche nicht von vornherein ausgeschlossen waren. Das ist aber vorliegend nicht der Fall gewesen.

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2. Dem Urteil fehlen auch nicht die wesentlichen Urteilsgründe. Das LSG hat entscheidend darauf abgestellt, dass der Zweck des Schuldanerkenntnisses in der Beseitigung der Ungewissheit über das Ausmaß der fehlerhaften Abrechnungen und Überzahlungen und der Vermeidung weiterer Auseinandersetzungen liege. Dabei war das Gericht nicht gehalten, zu den rechtlichen Erwägungen des Klägers zum Nachbesserungsrecht und zur Genehmigung der Leistungen durch die Beklagte im Einzelnen Stellung zu nehmen, solange zumindest möglich und sogar wahrscheinlich war, dass der Kläger erhaltene Vergütungen zurückzahlen musste.

19

3. Der in der Klageschrift enthaltenen Anregung des Klägers, die Beigeladene als Zeugin dafür zu vernehmen, dass er zur Abgabe der Unterschrift auf der Erklärung vom 20.7.2001 mit dem Hinweis auf ansonsten drohenden Zulassungswiderruf gedrängt worden sei, war das LSG nicht gehalten zu folgen. Schwerwiegende Vertragsverstöße insbesondere bei Abrechnungen konnten einen Widerruf der Zulassung nach § 126 Abs 4 SGB V aF rechtfertigen. Einen so zu verstehenden Hinweis enthält bereits die vom Kläger am 20.7.2001 unterzeichnete Erklärung. Dies allein führt aber nicht zu ihrer Unwirksamkeit, da in einem Hinweis auf die Rechtslage keine widerrechtliche Drohung gesehen werden kann. Der Kläger allein konnte beurteilen, inwieweit die von ihm dem Grunde nach zugestandenen Abrechnungsfehler nach Dauer und Intensität den Widerruf der Zulassung rechtfertigen könnten. Der Kläger hat nicht dargelegt, dass er am 20.7.2001 die Tragweite des von ihm abgegebenen Anerkenntnisses nicht hätte erkennen können. Soweit er sich darauf beruft, unter Druck gestanden zu haben, beruht das darauf, dass er sehr konkret damit rechnen musste, dass als Folge seiner fehlerhaften Abrechnungen seine berufliche und wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel stand. Vor diesem Hintergrund hat er im gerichtlichen Verfahren keine Tatsachen geschildert, welche im Wege des Zeugenbeweises aufgeklärt werden könnten, um eine rechtswidrige Drohung seitens der Beklagten zu belegen, oder eine über die objektiv feststehenden, ihn belastenden Umstände hinausgehende Zwangssituation, aufgrund derer das Anerkenntnis unwirksam sein könnte.

20

4. Das Urteil weicht auch nicht von einer Entscheidung des BSG ab, insbesondere nicht von dem vom Kläger angeführten Urteil des Senats vom 28.11.2013 (B 3 KR 24/12 R). Es geht vorliegend weder um die Herausgabe von Abrechnungsunterlagen, die Gegenstand des Senatsurteils vom 28.11.2013 war, noch um eine nachträgliche Rechnungskorrektur. Umstritten ist allein, ob der Kläger Zahlungen zurückfordern kann, die er auf der Grundlage eines konstitutiven Anerkenntnisses geleistet hat, das er zur Beilegung rechtlicher und tatsächlicher Unsicherheiten in Bezug auf einen im Raum stehenden Rückerstattungsanspruch der Beklagten abgegeben hat. Zudem hat der Senat in der genannten Entscheidung vom 28.11.2013 nicht in Frage gestellt, dass einer Krankenkasse bei konkret belegten Falschabrechnungen Rückforderungsansprüche zustehen könnten.

21

5. Der Rechtsstreit hat auch keine grundsätzliche Bedeutung. Der Kläger hat folgende Fragen aufgeworfen:

        

"Ist eine Regelung von Rückforderungsansprüchen über ein abstraktes Schuldanerkenntnis überhaupt zulässig?

        

Käme man zu dem Ergebnis, dass abstrakte Schuldanerkenntnisse grundsätzlich zulässig wären, wäre zu fragen, wie konkret die zur Begründung dienenden Tatsachen sein müssen, um ein solches Anerkenntnis zu rechtfertigen.

        

Müssen gesetzliche Krankenkassen im Bereich der Versorgung mit Hilfsmitteln vor Annahme eines abstrakten Schuldanerkenntnisses Nachweise für eine Vertragsverletzung, einen Abrechnungsbetrug vorlegen, bevor eine Schätzung eines 'Schadens' oder eines Rückforderungsanspruchs der Höhe nach zulässig sind?

        

Müssen Ansprüche dem Grunde nach nachgewiesen werden, bevor eine Schätzung der Höhe eines Anspruchs in Betracht kommt?

        

Muss einem Leistungserbringer die Möglichkeit eingeräumt werden, bei einer pauschalen Berechnung nachweisen zu dürfen, dass der Schaden überhaupt nicht oder erheblich geringer eingetreten ist als dem Anerkenntnis zugrunde liegt?

        

Darf eine gesetzliche Krankenkasse ein abstraktes Schuldanerkenntnis annehmen, wenn sich aus Rechtsgründen ergibt, dass ein zugrundeliegender Anspruch in keinem Falle vorliegen kann oder nachgewiesen werden kann?

        

Kann ein abstraktes Schuldanerkenntnis kondiziert werden mit der Folge, dass auf das Anerkenntnis geleistete Zahlungen zurückverlangt werden können?

        

Wen trifft die Feststellungslast/die objektive Beweislast dafür, dass eine Rechtsgrundlage vorhanden ist oder nicht?

        

Welche Anforderungen sind an die Tatsachenfeststellungen der Sozialgerichte zu stellen, wenn es um die Frage geht, ob ein Rechtsgrund für ein Schuldanerkenntnis besteht oder nicht?

        

Sind die Regelungen zu § 812 BGB entsprechend heranzuziehen, soweit es um die negative Tatsache 'ohne Rechtsgrund' geht?

        

Ist ein abstraktes Schuldanerkenntnis unwirksam, wenn die anerkannte Leistung doppelt so hoch ist wie die zugrundeliegende Forderung, die das Anerkenntnis stützen soll?"

22

Diese Fragen sind insgesamt nicht klärungsbedürftig, da es nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf, um zu erkennen, dass auch in öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnissen zur Ausräumung von tatsächlichen und rechtlichen Zweifeln über das Bestehen, die Durchsetzbarkeit und/oder die Höhe von Ansprüchen ein verbindliches Anerkenntnis einer Seite abgegeben werden kann. Als Prozesshandlung im sozialgerichtlichen Verfahren findet das Anerkenntnis sogar eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage in § 101 Abs 2 SGG. Aus der Doppelnatur des Anerkenntnisses als Prozesshandlung (vgl hierzu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 101 RdNr 21 mwN) ergibt sich ohne Weiteres, dass solche Erklärungen auch außerhalb von Gerichtsverfahren wirksam abgegeben werden können. Krankenkassen haben gegenüber Leistungserbringern keine besonderen Schutz- oder Aufklärungspflichten und können schon nach dem Gesetz einzelvertragliche Regelungen treffen (vgl zB § 127 Abs 3 SGB V in der aktuellen Fassung sowie § 127 Abs 2 Satz 2 SGB V aF, nach der Krankenkassen zumindest einzelvertragliche Regelungen über die Preise schließen konnten). Da der Kläger nicht nachgewiesen hat, dass er der Beklagten keinen Schaden verursacht hat, sind die darauf gerichteten Fragen, sowie die Frage der grundsätzlichen Möglichkeit, ein Schuldanerkenntnis zu kondizieren, unerheblich. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl nur BSG Urteil vom 18.6.2014 - B 3 KR 10/13 R - juris und BSG Urteil vom 1.7.2014 - B 1 KR 2/13 R - juris, jeweils mwN) kann eine Krankenkasse eine Überzahlung, die auf einer fehlerhaften Abrechnung des Leistungserbringers beruht, im Wege eines öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs zurückerstattet verlangen, wenn die Zahlung ohne Rechtsgrund erfolgte.

23

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO.

24

7. Die Streitwertfestsetzung basiert auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 47 Abs 3, § 52 Abs 1 GKG und entspricht der Festsetzung für die zweite Instanz.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 23. August 2011 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Mit Gerichtsbescheid vom 12.4.2011, der dem Kläger am 18.4.2011 zugestellt worden ist, hat das SG Chemnitz die Feststellung der Zeiten vom 1.10.1966 bis 16.1.1972 und vom 1.7.1986 bis 16.4.1990 als Zeiten der Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz (AVItech) einschließlich der dabei erzielten Arbeitsentgelte verneint. Der Berufungsschriftsatz des Klägers vom 17.5.2011 trägt den Posteingangsstempel des Sächsischen LSG von Donnerstag, den "19. Mai 2011", sowie den Zusatz "Nachtbriefkasten". Das LSG wies den Kläger darauf hin, dass die Berufung nach Lage der Akten verfristet sei, und übermittelte ihm eine Auskunft der Poststelle zur Funktionsweise des Nachtbriefkastens. Der Klägerbevollmächtigte versicherte anwaltlich, er habe den kuvertierten Berufungsschriftsatz am 18.5.2011 zwischen 18.30 Uhr und 18.45 Uhr persönlich in den Nachtbriefkasten des LSG eingelegt, hilfsweise werde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Mit Urteil vom 23.8.2011 hat das LSG die Berufung als unzulässig verworfen. Der Vortrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers sei - ebenso wie seine anwaltliche, gegebenenfalls eidesstattliche Versicherung - nicht geeignet, "die Richtigkeit des Posteingangsstempels" zu widerlegen und den Nachweis eines fristgerechten Berufungseingangs zu erbringen. Zum streitgegenständlichen Zeitpunkt seien am Nachtbriefkasten keine technischen Defekte aufgetreten; Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Bearbeitung durch das zuständige Personal bestünden nicht. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht.

2

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.

3

Der Kläger hat ordnungsgemäß dargetan, dass das LSG gegen §§ 62, 128 Abs 2 SGG verstoßen habe und das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruhen könne(§ 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 2 S 3 SGG).

4

Der gerügte Verfahrensmangel liegt auch vor. Der Eingangsstempel auf der bei Gericht eingegangenen Berufungsschrift des Klägers ist eine öffentliche Urkunde iS von § 418 Abs 1 ZPO und erbringt damit grundsätzlich den vollen Beweis für den Zeitpunkt der Ausstellung(BSG SozR 4100 § 59e Nr 1). Auch die rechtzeitige Vornahme einer Prozesshandlung - hier die fristgerechte Einlegung der Berufung - wird im Regelfall durch den Eingangsstempel des angegangenen Gerichts auf dem Berufungsschriftsatz bewiesen (BSG Beschluss vom 9.3.2011 - B 4 AS 60/10 BH - Juris RdNr 5). Das LSG ist davon ausgegangen, dass der durch den Eingangsstempel bezeugte Tag vorliegend dem Tag des Eingangs, dh des Zugangs in den Zugriffsbereich des Berufungsgerichts entspricht. Doch ist vorbehaltlich abweichenden Landesrechts gemäß § 418 Abs 2 ZPO grundsätzlich der Gegenbeweis zulässig. Hinsichtlich dieses Gegenbeweises hat das LSG gegen § 128 Abs 2 SGG verstoßen. Bei den negativen Feststellungen des LSG, zum "streitgegenständlichen Zeitpunkt" seien am Nachtbriefkasten keine technischen Defekte aufgetreten und es hätten auch keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Bearbeitung durch das zuständige Personal bestanden, kann es sich jeweils nur um die schlussfolgernde Erkenntnis des Wahrheitsgehalts dieser Aussagen im Sinne des Beweises handeln. Ihnen müssen daher denknotwendig vom Berufungsgericht bereits als feststehend und rechtlich relevant erkannte Einzelumstände (Tatsachen) und/oder Beweismittel und Beweisergebnisse vorangehen, die nach der Auffassung des Tatsachengerichts derartige Schlussfolgerungen mit der notwendigen Verlässlichkeit erlauben. Umstände dieser Art hat das LSG dem Kläger indessen weder vor dem noch im Termin zur mündlichen Verhandlung mitgeteilt; auch ergibt sich nicht umgekehrt, dass er hiervon auf sonstige Weise Kenntnis erlangt und Stellung genommen bzw die an sich eröffnete Gelegenheit zur Stellungnahme nur ungenutzt gelassen hat. Er hatte damit vor Abschluss des Verfahrens in der Tatsacheninstanz keine Gelegenheit zur Stellungnahme, obwohl § 62 SGG gebietet, den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren und das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten(§ 128 Abs 2 SGG).

5

Um den Verfahrensmangel darzulegen, durfte sich die Beschwerdebegründung zunächst auf die negative Beweiskraft der Sitzungsniederschrift (§ 122 SGG iVm § 165 S 1 ZPO) berufen. Diese erbringt vorbehaltlich der Fälle des § 165 S 2 ZPO grundsätzlich abschließend ("nur") Beweis über die Beachtung der für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten, beweist also bei Fehlen einer Feststellung im Protokoll auch negativ, dass eine Förmlichkeit nicht beachtet wurde (Stöber in Zöller, ZPO, 29. Aufl 2012, § 165 RdNr 3). Zu den Förmlichkeiten in diesem Sinne gehören ua die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung iS von § 160 Abs 2 ZPO, dh der Verfahrensablauf, soweit er für die Entscheidung und die Prüfung der Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens durch das Rechtsmittelgericht erforderlich ist(Stöber aaO § 160 RdNr 3). Im Rahmen der entsprechenden Anwendung von § 160 Abs 2 ZPO in Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit gehört hierzu ua § 128 Abs 2 SGG. Die Vorschrift gebietet, dass das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Ein Hinweis darauf, dass der Kläger zu den Tatsachen und Beweisergebnissen hätte Stellung nehmen können, die den genannten Feststellungen des LSG zugrunde liegen, findet sich im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 23.8.2011 nicht. Nicht anders als bei Verletzungen der Pflicht der Zivilgerichte, das Beweisergebnis mit den Parteien "zu erörtern" (§ 279 Abs 3 ZPO) steht damit hinsichtlich der mündlichen Verhandlung der Verstoß gegen § 128 Abs 2 SGG und damit zugleich gegen das Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör bereits allein aufgrund der fehlenden Erwähnung im Protokoll exklusiv und abschließend fest(vgl BGH Beschluss vom 20.12.2005 - VI ZR 307/04 - BGHReport 2006, 529).

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Der in der Sitzungsniederschrift enthaltene Satz "Das Sach- und Streitverhältnis wird mit ihnen (den Beteiligten) erörtert", ist demgegenüber für sich allein keinesfalls geeignet, verlässlichen Nachweis für eine ausreichende Unterrichtung der Beteiligten über die entscheidungserheblichen Tatsachen und Erkenntnisquellen zu liefern. Als bloß formelhafte Wiederholung des Gesetzeswortlauts lässt er weder Inhalt noch Umfang der Erörterung erkennen, sondern gibt Raum für Spekulationen. Infolge dieser Unschärfe kann er keinesfalls Grundlage für die Entscheidung sein, ob das Gericht seine konkreten Mitteilungs- und Erörterungspflichten erfüllt, dh den Grundsatz des rechtlichen Gehörs im Einzelfall be- oder missachtet hat (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 4 S 5 f).

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Hinsichtlich des Gangs der mündlichen Verhandlung kommt es unter diesen Umständen auch von vornherein weder auf die nachrangige und allein positive Beweiskraft des Protokolls als öffentlicher Urkunde iS von § 418 ZPO(vgl BGH Urteil vom 8.12.1993 - XII ZR 133/92 - FamRZ 1994, 300 ff) noch auf die ebenfalls nachrangige und nur positiv auf das mündliche Parteivorbringen beschränkte Beweiskraft des Urteilstatbestandes (§ 314 S 1 ZPO) an. Beide haben neben der exklusiven negativen Beweiswirkung des § 165 S 1 ZPO keine eigenständige Bedeutung.

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Schließlich ergibt sich hinsichtlich des Verfahrensgangs im Übrigen aus den Akten des Berufungsgerichts kein positiver Hinweis darauf, dass der Kläger außerhalb der mündlichen Verhandlung auf Tatsachen und Beweisergebnisse hingewiesen worden wäre, denen das Berufungsgericht entnehmen will, zum "streitgegenständlichen Zeitpunkt" seien am Nachtbriefkasten keine technischen Defekte aufgetreten und es hätten auch keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Bearbeitung durch das zuständige Personal bestanden. Insofern hätte sich bei Beachtung des sozialgerichtlichen Verfahrensrechts ein Hinweis darauf finden müssen, dass dem Kläger gemäß § 107 SGG nach Anordnung des Vorsitzenden entweder eine Abschrift der Niederschrift einer durchgeführten Beweisaufnahme oder deren Inhalt und bei Anordnungen nach § 106 SGG jedenfalls eine Unterrichtung von der durchgeführten Maßnahme und ihrer Bedeutung für eine Entscheidung des Rechtsstreits mitgeteilt wurde(vgl BSG Beschluss vom 19.1.2005 - B 11a/11 AL 215/04 B -, Juris RdNr 9 f). Ebenso wenig lässt der Akteninhalt auch nur andeutungsweise erkennen, dass dem Kläger entsprechende Umstände auf sonstige Weise bekannt gewesen sein könnten und er hierzu schriftlich Stellung genommen haben oder trotz Kenntnis der rechtlichen Relevanz dieser Umstände von einer Stellungnahme Abstand genommen haben könnte. Da auch die Beweiskraft in der Gerichtsakte des Berufungsgerichts enthaltener öffentlicher und privater Urkunden stets nur auf einen positiven Inhalt beschränkt wäre (§§ 415 ff ZPO), steht damit die Verletzung von § 128 Abs 2 SGG zwar hinsichtlich des Verfahrensgangs außerhalb der mündlichen Verhandlung nicht auch abschließend negativ fest, doch gilt auch bei der Feststellung der Sachurteilsvoraussetzungen, dass § 103 S 1 Halbs 1 SGG keine Ermittlungen "ins Blaue hinein" gebietet. Gibt daher auch der Akteninhalt keinen Anlass, der Frage weiter nachzugehen, ob sich der Kläger zu den Grundlagen der in Frage stehenden Beweisfeststellungen des LSG äußern konnte, darf das Revisionsgericht seine abschließende Überzeugung, dass dies entsprechend dem Beschwerdevorbringen nicht der Fall war, auch ohne Durchführung aller nur denkbaren Maßnahmen der Sachaufklärung bilden. Dies gilt vorliegend umso mehr, als auch der Prozessgegner des Klägers dessen Vorbringen im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nur mit einer nicht näher substantiierten Verneinung der gesetzlichen Revisionszulassungsgründe entgegentritt.

9

Auf dem Verfahrensmangel kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das Urteil anders ausgefallen wäre, wenn der Kläger zuvor Gelegenheit gehabt hätte, sich zu denjenigen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern, denen das LSG entnehmen will, dass am Nachtbriefkasten keine technischen Defekte aufgetreten seien und auch keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Bearbeitung durch das zuständige Personal bestanden hätten. Er hätte dann ihm während des Verfahrens bekannt gewordene Umstände möglicherweise qualifiziert bestreiten und damit erreichen können, dass das LSG - nach einer etwaigen weiteren Beweiserhebung - zu einer abweichenden Entscheidung gekommen wäre (BSG vom 19.1.2005 aaO RdNr 11). Mögliche Konkretisierungsdefizite bei der Darlegung dieses Vorbringens im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde können dem Kläger, dem das rechtliche Gehör durch das Verschweigen entscheidungsrelevanter Umstände verweigert wurde und der die für die Beweiserkenntnis des LSG maßgeblichen Umstände auch nicht wenigstens nachträglich dem angefochtenen Urteil oder den Prozessakten entnehmen konnte, nicht entgegengehalten werden. Eine Verpflichtung "ins Blaue hinein" vorzutragen, obwohl das Berufungsgericht Tatsachen oder Beweisergebnisse nicht mitgeteilt hat, stünde Art 19 Abs 4 GG entgegen. Der Kläger hat darüber hinaus auch Umstände dargelegt, die es als möglich erscheinen lassen, dass der gemäß § 418 Abs 2 ZPO erforderliche Beweis der Unrichtigkeit des gerichtlichen Eingangsstempels als öffentliche Urkunde aufgrund am Schluss der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisanträge zu seinen Gunsten als geführt angesehen werden könnte. Er hätte dann zumindest die Zeugenvernehmungen seines Prozessbevollmächtigten, der Rechtsanwaltsfachangestellten R. und der Auszubildenden G. zum Zeitpunkt von Kuvertierung und Einwurf des Berufungsschriftsatzes, die Zeugenvernehmung des zuständigen Poststellenmitarbeiters zur Nachtbriefkastenleerung und Postbearbeitung sowie die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Funktionsweise des Nachtbriefkastens beantragen können, um der Tatsacheninstanz unmittelbar vor deren Entscheidung zu signalisieren, dass er die bisherige Sachaufklärung für defizitär hält ("Warnfunktion") und wie diesem Mangel konkret abgeholfen werden kann ("Hinweisfunktion").

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Darauf, ob sich aus den Darlegungen des Klägers weitere Verfahrensfehler - so etwa eine weitere Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Zurückweisung seines Vorbringens zu den Umständen der Berufungseinlegung ohne jede inhaltliche Auseinandersetzung oder das teilweise Fehlen von Urteilsgründen - ergeben, bedarf unter diesen Umständen keiner näheren Erörterung.

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Nach § 160a Abs 5 SGG kann das erkennende Gericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Damit entfällt gleichzeitig auch die Ablehnungsentscheidung des LSG über den hilfsweise gestellten Wiedereinsetzungsantrag. Denn über ihn ist erst und nur dann zu entscheiden, wenn nicht festgestellt werden kann, dass der Kläger die Berufungsfrist gewahrt hat (vgl dazu BGH Beschluss vom 27.5.2003 - VI ZB 77/02 - NJW 2003, 2460). Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt, weil ungeklärt ist, ob der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Berufungsschrift noch fristgerecht am 18.5.2011 in den Nachtbriefkasten des LSG eingeworfen hat.

12

Das LSG wird schließlich auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Gehört in einem Rechtszug weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 genannten Personen oder handelt es sich um ein Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2), werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes erhoben; die §§ 184 bis 195 finden keine Anwendung; die §§ 154 bis 162 der Verwaltungsgerichtsordnung sind entsprechend anzuwenden. Wird die Klage zurückgenommen, findet § 161 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung keine Anwendung.

(2) Dem Beigeladenen werden die Kosten außer in den Fällen des § 154 Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung auch auferlegt, soweit er verurteilt wird (§ 75 Abs. 5). Ist eine der in § 183 genannten Personen beigeladen, können dieser Kosten nur unter den Voraussetzungen von § 192 auferlegt werden. Aufwendungen des Beigeladenen werden unter den Voraussetzungen des § 191 vergütet; sie gehören nicht zu den Gerichtskosten.

(3) Die Absätze 1 und 2 gelten auch für Träger der Sozialhilfe einschließlich der Leistungen nach Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch, soweit sie an Erstattungsstreitigkeiten mit anderen Trägern beteiligt sind.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.