Landgericht Wuppertal Urteil, 01. Okt. 2015 - 9 S 114/15

Gericht
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Amtsgerichts Mettmann vom 04.05.2015 (Az. 25 C 301/14) wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Dieses und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
G r ü n d e :
2I.
3Von einer Sachverhaltsdarstellung wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO abgesehen.
4II.
5Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Weder die Beweiswürdigung des Amtsgerichts noch seine rechtliche Beurteilung sind zu beanstanden.
6Soweit es für die rechtliche Beurteilung des Schadensereignisses darauf ankommt, ob sich die Jogginghose der Beklagten tatsächlich in der Fahrradkette verfangen hat, was letztlich zu dem Schaden geführt haben soll, so sind gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO der Berufungsentscheidung die vom Amtsgericht festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, wenn nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen. Der Kläger zweifelt indes lediglich die Beweiswürdigung des Amtsgerichts an, ohne dabei aufzuzeigen, dass oder warum die vom Amtsgericht vorgenommene Würdigung gegen die Grundsätze der inneren Logik verstoßen, wesentliche Aspekte unberücksichtigt oder anerkannte Kriterien der Beweiswürdigung außer Acht gelassen hätte. Auch dafür, dass die Tatsachenfeststellung durch das erstinstanzliche Gericht unrichtig oder unvollständig wäre, ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte. Selbst unter Berücksichtigung des Grundsatzes, dass sich konkrete Zweifel an den Feststellungen auch aus einer unterschiedlichen Wertung seitens des Berufungsgerichts, insbesondere aus einer abweichenden Beweiswürdigung, ergeben können (vgl. BGH, NJW 2005, 1583), erscheinen die Feststellungen des Amtsgericht nicht fehlerhaft.
7Dass das Amtsgericht kein Sachverständigengutachten zur Frage eingeholt hat, ob sich die Jogginghose der Beklagten tatsächlich in der Kette bzw. im Zahnkranz ihres Fahrrads hat verfangen können, ist nicht zu beanstanden, denn es bedurfte eines solchen Gutachtens nicht, da bereits anhand des in der Akte befindlichen Fotos des Fahrrads (Bl. 104 d.A.) ohne weiteres erkennbar ist, dass eben dies möglich ist. Es handelt sich – wie vom Amtsgericht zu Recht festgestellt – um ein geländegängiges Fahrrad ohne Kettenschutz mit freiliegendem vorderen Zahnkranz („Ritzel“). Es erscheint ohne weiteres denkbar, dass sich eine Hose aus weichem Stoff in diesem Zahnkranz bzw. zwischen Zahnkranz und Kette verfangen kann.
8Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass die Beklagte die streitbefangene Jogginghose auf Anforderung der Kammer nicht mehr vorlegen konnte. Zwar kann eine Beweisvereitelung im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO nachteilig bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden. Voraussetzung dafür wäre aber ein zu missbilligendes Verhalten vor oder während des Prozesses; eine Beweisvereitelung liegt also nicht vor, wenn für das Verhalten der Partei verständliche Gründe angeführt werden können (BGH, NJW-RR 1996, 1534). Vorliegend kann der Beklagten aber kein Vorwurf gemacht werden, dass die bei dem Unfallereignis nach Angaben der Beklagten „sehr zerfetzte“ Hose entsorgt wurde. Anders als hinsichtlich des Fahrrads selbst war kaum zu erwarten, dass es im hiesigen Prozess auf die Beschaffenheit der Hose ankommen würde.
9Auch die Beweiswürdigung des Amtsgerichts ist nicht zu beanstanden. Dass die Beklagte die Frage des Gerichts, ob die Hose „sehr bollerig“ war, bejaht hat, steht nicht im Widerspruch zu der Aussage ihres Bruders, wonach die Hose unten ein Gummiband hatte und darüber weiter war. Denn jedenfalls handelte es sich – was bei Jogginghosen auch üblich ist – nach den übereinstimmenden Angaben der Beklagten bzw. ihres Bruders nicht um eine eng anliegende, sondern um eine weiter fallende Hose. Ob diese nun über ein Gummiband verfügte oder nicht, konnte offen bleiben, da sie jedenfalls oberhalb des Gummibandes weit geschnitten war und sich damit im Zahnkranz bzw. der Kette verfangen konnte, da sich der weiter ausfallende Bereich der Hose je nach Pedalstellung jedenfalls auf Höhe des Zahnkranzes befand.
10Die auf dieser Grundlage (Verfangen der Hose im Zahnkranz des Fahrrads) basierende rechtliche Würdigung des Amtsgerichts ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Zu Recht ist das Amtsgericht zunächst davon ausgegangen, dass § 828 Abs. 2 BGB hier keine Anwendung findet (BGH, NJW-RR 2005, 347). Ebenfalls zu Recht ist es davon ausgegangen, dass der Beklagten der – ihr obliegende – Beweis der fehlenden Zurechnungsfähigkeit im Sinne des § 828 Abs. 3 BGB gelungen ist. Hierzu hat der BGH ausgeführt (BGH, LM Nr 3 zu § 828 BGB, juris):
11„Die Einsichtsfähigkeit ist zu bejahen, wenn der Jugendliche diejenige geistige Entwicklung erreicht hat, die ihn befähigt, das Unrechtmäßige seiner Handlung und zugleich die Verpflichtung zu erkennen, in irgendeiner Weise für die Folgen seines Tuns einstehen zu müssen. Dabei ist nur ein allgemeines Verständnis dafür zu fordern, dass die Handlung gefährlich ist und seine Verantwortung begründen kann. Kennt ein Jugendlicher die Gefährlichkeit seiner Handlung, so wird er im allgemeinen auch wissen, dass er zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn er sie dennoch begeht. Die Erkenntnis, dass sein Handeln gefährlich sei, setzt nicht die Vorstellung voraus, welche besondere Gefahr droht. Es genügt vielmehr die Erkenntnis einer allgemeinen Gefahr und eines allgemeinen Schadens.“
12In diesem Sinne ist davon auszugehen, dass die Beklagte die Gefährlichkeit ihrer Handlung nicht kannte. Denn Handlung im vorgenannten Sinne war nicht das Fahrradfahren als solches, sondern das gefahrgesteigerte Fahrradfahren mit einer (weiten bzw. „bollerigen“) Jogginghose. Insoweit fehlte das Verständnis der Beklagten, dass die Handlung gefährlich ist und eine Verantwortung begründen kann. Zwar wurde die Beklagte in der persönlichen Anhörung vom Amtsgericht hierzu nicht ausdrücklich befragt. Sie hatte sich aber schriftsätzlich auf eine fehlende Zurechnungsfähigkeit berufen. Die Angabe der Beklagten in der persönlichen Anhörung, sie habe eine „ganz normale Sporthose“ angehabt, lässt erkennen, dass ein diesbezügliches Gefahrbewusstsein nicht vorhanden war.
13Ein solches ist bei der Beklagten auch nicht zu erwarten gewesen. Die Gefahr, dass die Hose in oder an die Kette gerät, wird heutzutage allgemein als nicht (mehr) als besonders hoch angesehen wird, was daran erkennbar ist, dass die Benutzung von Hosenklammern vollständig aus der Mode gekommen ist. Dies mag auch daran liegen, dass Fahrräder heute üblicherweise über einen Kettenschutz verfügen. Die neunjährige Beklagte konnte aber nicht erkennen, dass bei ihrem Fahrrad aufgrund des fehlenden Kettenschutzes eine ungleich höhere Gefahr des Verfangens der Hose bestand. Zudem handelte es sich – wie es die Beklagte selbst bezeichnet hat – um eine „Sporthose“. Kinder werden im Allgemeinen angehalten, beim Fahrradfahren gerade Sporthosen zu benutzen, um die „guten“ Hosen zu schonen. Dass mit dieser Handhabung eine gesteigerte Gefährlichkeit einhergeht, muss ein neunjähriges Kind nicht erkennen. Es erscheint daher nicht fehlerhaft, dass das Amtsgericht davon ausgegangen ist, dass der Beklagten nicht bewusst war, dass gerade die Nutzung der Sporthose zu einer gesteigerten Gefährlichkeit des Fahrradfahrens führte.
14Selbst wenn man eine Zurechnungsfähigkeit im Sinne des § 828 Abs. 3 BGB bejahen würde, so wäre aber jedenfalls ein Verschulden der Beklagten, also Fahrlässigkeit im Sinne des § 276 BGB, zu verneinen. Insoweit wäre darauf abzustellen, ob ein normal entwickeltes Kind dieses Alters die Gefährlichkeit des Tuns hätte voraussehen und dieser Einsicht gemäß hätte handeln können und müssen (vgl. Palandt-Sprau, BGB, 74. Aufl., § 828, Rn. 7, m.w.N.). In diesem Sinne wäre für einen Fahrlässigkeitsvorwurf Voraussetzung, dass ein Kind erkennen kann, welche Konsequenzen es hat, wenn sich eine Hose im Zahnkranz des Fahrrads verfängt und wie sich dies auf die Steuerungsfähigkeit des Fahrrades auswirkt. Diese Einsicht kann von einem Kind im Alter von neun Jahren aber nicht erwartet werden. Ebenso kann nicht erwarten werden, dass ein Kind, wenn sich denn die Hose im Zahnkranz verfangen hat, sofort kontrolliert anhält, um einen Sturz zu vermeiden.
15Die Kammer hat sich insoweit in der Lage gesehen, die Einsichtsfähigkeit von Kindern der betroffenen Altersstufe aus eigener Sachkenntnis zu beurteilen, da sämtliche Kammermitglieder Kinder haben, die sich zur Zeit etwa im Alter der Beklagten zum Zeitpunkt des Unfallereignisses befinden bzw. noch vor wenigen Jahren in diesem Alter waren.
16Soweit die Berufung darauf abstellt, dass zwischen dem Verfangen der Hose und dem Verreißen des Lenkers kein Zusammenhang bestünde, so ist auch dem nicht zu folgen. Es mag sein, dass die Beklagte noch eine Weile weitergefahren ist. Dies ändert aber nichts daran, dass sie schließlich ihre Konzentration auf die verfangene Hose richtete, deswegen sie nicht mehr in der Lage war, das Fahrrad adäquat zu steuern und es deswegen zur Kollision mit dem klägerischen PKW kam.
17Schließlich ist das Amtsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass auch eine Ersatzpflicht aus Billigkeitsgründen nach § 829 BGB nicht in Betracht kommt. Dies folgt bereits aus dem Umstand, dass es durchaus denkbar erscheint, dass sich die Eltern der Beklagten, wenn sie ihr Kind mit einer hierzu ungeeigneten Hose haben Fahrrad fahren lassen, gegebenenfalls selbst – aufgrund einer Verletzung ihrer Aufsichtspflichten (§ 832 BGB) – schadensersatzpflichtig gemacht haben.
18III.
19Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
20Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.
21Streitwert für die Berufungsinstanz: 1.768,13 €

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(1) Das Berufungsgericht hat seiner Verhandlung und Entscheidung zugrunde zu legen:
- 1.
die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten; - 2.
neue Tatsachen, soweit deren Berücksichtigung zulässig ist.
(2) Auf einen Mangel des Verfahrens, der nicht von Amts wegen zu berücksichtigen ist, wird das angefochtene Urteil nur geprüft, wenn dieser nach § 520 Abs. 3 geltend gemacht worden ist. Im Übrigen ist das Berufungsgericht an die geltend gemachten Berufungsgründe nicht gebunden.
(1) Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.
(2) An gesetzliche Beweisregeln ist das Gericht nur in den durch dieses Gesetz bezeichneten Fällen gebunden.
(1) Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich.
(2) Wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. Dies gilt nicht, wenn er die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt hat.
(3) Wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist, sofern seine Verantwortlichkeit nicht nach Absatz 1 oder 2 ausgeschlossen ist, für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat.
(1) Der Schuldner hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, wenn eine strengere oder mildere Haftung weder bestimmt noch aus dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses, insbesondere aus der Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos, zu entnehmen ist. Die Vorschriften der §§ 827 und 828 finden entsprechende Anwendung.
(2) Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.
(3) Die Haftung wegen Vorsatzes kann dem Schuldner nicht im Voraus erlassen werden.
Wer in einem der in den §§ 823 bis 826 bezeichneten Fälle für einen von ihm verursachten Schaden auf Grund der §§ 827, 828 nicht verantwortlich ist, hat gleichwohl, sofern der Ersatz des Schadens nicht von einem aufsichtspflichtigen Dritten erlangt werden kann, den Schaden insoweit zu ersetzen, als die Billigkeit nach den Umständen, insbesondere nach den Verhältnissen der Beteiligten, eine Schadloshaltung erfordert und ihm nicht die Mittel entzogen werden, deren er zum angemessenen Unterhalt sowie zur Erfüllung seiner gesetzlichen Unterhaltspflichten bedarf.
(1) Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustands der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde.
(2) Die gleiche Verantwortlichkeit trifft denjenigen, welcher die Führung der Aufsicht durch Vertrag übernimmt.
(1) Die unterliegende Partei hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, insbesondere die dem Gegner erwachsenen Kosten zu erstatten, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren. Die Kostenerstattung umfasst auch die Entschädigung des Gegners für die durch notwendige Reisen oder durch die notwendige Wahrnehmung von Terminen entstandene Zeitversäumnis; die für die Entschädigung von Zeugen geltenden Vorschriften sind entsprechend anzuwenden.
(2) Die gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts der obsiegenden Partei sind in allen Prozessen zu erstatten, Reisekosten eines Rechtsanwalts, der nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassen ist und am Ort des Prozessgerichts auch nicht wohnt, jedoch nur insoweit, als die Zuziehung zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig war. Die Kosten mehrerer Rechtsanwälte sind nur insoweit zu erstatten, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen oder als in der Person des Rechtsanwalts ein Wechsel eintreten musste. In eigener Sache sind dem Rechtsanwalt die Gebühren und Auslagen zu erstatten, die er als Gebühren und Auslagen eines bevollmächtigten Rechtsanwalts erstattet verlangen könnte.
(3) Zu den Kosten des Rechtsstreits im Sinne der Absätze 1, 2 gehören auch die Gebühren, die durch ein Güteverfahren vor einer durch die Landesjustizverwaltung eingerichteten oder anerkannten Gütestelle entstanden sind; dies gilt nicht, wenn zwischen der Beendigung des Güteverfahrens und der Klageerhebung mehr als ein Jahr verstrichen ist.
(4) Zu den Kosten des Rechtsstreits im Sinne von Absatz 1 gehören auch Kosten, die die obsiegende Partei der unterlegenen Partei im Verlaufe des Rechtsstreits gezahlt hat.
(5) Wurde in einem Rechtsstreit über einen Anspruch nach Absatz 1 Satz 1 entschieden, so ist die Verjährung des Anspruchs gehemmt, bis die Entscheidung rechtskräftig geworden ist oder der Rechtsstreit auf andere Weise beendet wird.