Europäischer Gerichtshof Urteil, 22. Dez. 2017 - C-571/17

ECLI: ECLI:EU:C:2017:1026
published on 22/12/2017 00:00
Europäischer Gerichtshof Urteil, 22. Dez. 2017 - C-571/17
ra.de-Urteilsbesprechung zu {{shorttitle}}
Referenzen - Gesetze

Gericht

There are no judges assigned to this case currently.
addJudgesHint

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

22. Dezember 2017 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Vollstreckungsvoraussetzungen – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann – Mit dem Rahmenbeschluss 2009/299/JI eingeführter Art. 4a Abs. 1 – Zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellter Haftbefehl – Wendung ‚Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat‘ – Bedeutung – Person, die nach Abschluss eines in ihrer Anwesenheit abgelaufenen Verfahrens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist – Strafe, deren Vollstreckung nachträglich unter bestimmten Auflagen teilweise ausgesetzt worden ist – Nachfolgendes Verfahren, das zum Widerruf der Aussetzung wegen Nichteinhaltung der Auflagen geführt hat – Widerrufsverfahren, das in Abwesenheit des Betroffenen abgelaufen ist“

In der Rechtssache C‑571/17 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) mit Entscheidung vom 28. September 2017, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren betreffend die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen

Samet Ardic

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger sowie des Richters F. Biltgen (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. November 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des Openbaar Ministerie, vertreten durch K. van der Schaft und U. E. A. Weitzel als Bevollmächtigte,

von Herrn Ardic, vertreten durch T. O. M. Dieben, L. J. Woltring und J. W. Ebbink, advocaten,

der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer und M. K. Bulterman als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und M. Hellmann als Bevollmächtigte,

von Irland, vertreten durch G. Hodge als Bevollmächtigte im Beistand von G. Mullan, BL,

der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Dezember 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).

2

Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in den Niederlanden, der von der Staatsanwaltschaft Stuttgart (Deutschland) gegen Herrn Samet Ardic zur Vollstreckung zweier Freiheitsstrafen in Deutschland ausgestellt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3

Art. 6 („Recht auf ein faires Verfahren“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt:

„(1)   Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. …

(2)   Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.

(3)   Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:

a)

innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;

b)

ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;

c)

sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;

d)

Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;

e)

unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.“

Unionsrecht

Charta

4

Die Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) gehören zu deren Titel VI („Justizielle Rechte“).

5

In Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) der Charta heißt es:

„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.

…“

6

Die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) stellen in Bezug auf Art. 47 Abs. 2 der Charta klar, dass diese Bestimmung Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht.

7

Art. 48 („Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte“) der Charta bestimmt:

„(1)   Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.

(2)   Jedem Angeklagten wird die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet.“

8

Die in Rn. 6 des vorliegenden Urteils angeführten Erläuterungen stellen insoweit Folgendes klar:

„Artikel 48 entspricht Artikel 6 Absätze 2 und 3 EMRK …

Nach Artikel 52 Absatz 3 hat dieses Recht dieselbe Bedeutung und dieselbe Tragweite wie das durch die EMRK garantierte Recht.“

9

In Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) der Charta heißt es:

„…

(3)   Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.

(7)   Die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung dieser Charta verfasst wurden, sind von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen.“

Rahmenbeschlüsse 2002/584 und 2009/299

10

Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 sieht vor:

„(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“

11

In den Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses sind die Gründe abschließend aufgezählt, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist oder abgelehnt werden kann.

12

Der Rahmenbeschluss 2009/299 nennt die Gründe, aus denen die vollstreckende Justizbehörde eines Mitgliedstaats die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern kann, wenn die betroffene Person nicht zu ihrer Verhandlung erschienen ist.

13

In Art. 1 („Ziele und Anwendungsbereich“) des Rahmenbeschlusses 2009/299 heißt es:

„(1)   Die Ziele dieses Rahmenbeschlusses bestehen darin, die Verfahrensrechte von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist, zu stärken, zugleich die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zu erleichtern und insbesondere die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern.

(2)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Artikel 6 des Vertrags einschließlich des Verteidigungsrechts von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist; die Verpflichtungen der Justizbehörden in dieser Hinsicht bleiben unberührt.

(3)   In diesem Rahmenbeschluss werden gemeinsame Regeln geschaffen für die Anerkennung und/oder Vollstreckung von Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat (Ausstellungsmitgliedstaat) im Anschluss an ein Gerichtsverfahren, zu dem die betroffene Person nicht erschienen ist, ergangen sind, durch einen anderen Mitgliedstaat (Vollstreckungsmitgliedstaat) ...“

14

Art. 4a („Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich erschienen ist“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 wurde durch Art. 2 des Rahmenbeschlusses 2009/299 eingefügt. Art. 4a Abs. 1 lautet:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls auch verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die Person im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats

a)

rechtzeitig

i)

entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte,

und

ii)

davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

oder

b)

in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist;

oder

c)

nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann:

i)

ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht;

oder

ii)

innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat;

oder

d)

die Entscheidung nicht persönlich zugestellt erhalten hat, aber

i)

sie unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten wird und ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden wird, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann:

und

ii)

von der Frist in Kenntnis gesetzt werden wird, über die sie gemäß dem einschlägigen Europäischen Haftbefehl verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen.“

15

Art. 8 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

„Der Europäische Haftbefehl enthält entsprechend dem im Anhang beigefügten Formblatt folgende Informationen:

a)

die Identität und die Staatsangehörigkeit der gesuchten Person;

b)

Name, Adresse, Telefon- und Telefaxnummer sowie Email-Adresse der ausstellenden Justizbehörde;

c)

die Angabe, ob ein vollstreckbares Urteil, ein Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung nach den Artikeln 1 und 2 vorliegt;

d)

die Art und rechtliche Würdigung der Straftat, insbesondere in Bezug auf Artikel 2;

e)

die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatortes und der Art der Tatbeteiligung der gesuchten Person;

f)

im Fall eines rechtskräftigen Urteils die verhängte Strafe oder der für die betreffende Straftat im Ausstellungsmitgliedstaat gesetzlich vorgeschriebene Strafrahmen;

g)

soweit möglich, die anderen Folgen der Straftat.“

16

Art. 15 („Entscheidung über die Übergabe“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 sieht vor:

„(1)   Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen.

(2)   Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen, insbesondere hinsichtlich der Artikel 3 bis 5 und Artikel 8; sie kann eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 zu beachten ist.

(3)   Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.“

Nationales Recht

Niederländisches Recht

17

Der Rahmenbeschluss 2002/584 wurde mit der Overleveringswet (Übergabegesetz) vom 29. April 2004 (Stb. 2004, Nr. 195) in niederländisches Recht umgesetzt.

18

Art. 12 des Gesetzes lautet:

„Die Übergabe ist nicht gestattet, wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung eines Urteils dient und der Verdächtige zu der Verhandlung, die zu dem Urteil geführt hat, nicht persönlich erschienen ist, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass der Verdächtige im Einklang mit den verfahrensrechtlichen Vorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats

a)

rechtzeitig persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Datum und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Datum und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass er von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte, und davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn er zu der Verhandlung nicht erscheint, oder

b)

von der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde und einen Rechtsanwalt seiner Wahl oder einen vom Staat bestellten Rechtsanwalt mit seiner Verteidigung beauftragt hat und dieser Rechtsanwalt ihn in der Verhandlung verteidigt hat, oder

c)

nachdem ihm die Entscheidung zugestellt und er ausdrücklich von seinem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem der Verdächtige teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann,

ausdrücklich erklärt hat, dass er die Entscheidung nicht anficht, oder

innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat, oder

d)

ihm die Entscheidung nicht persönlich zugestellt wurde, aber

unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt werden wird, wobei er ausdrücklich von seinem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden wird, an dem der Verdächtige teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann;

er von der Frist in Kenntnis gesetzt werden wird, über die er gemäß dem einschlägigen Europäischen Haftbefehl verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen.“

Deutsches Recht

19

§ 56a des Strafgesetzbuchs (im Folgenden: StGB) bestimmt:

(1)   Das Gericht bestimmt die Dauer der Bewährungszeit. Sie darf fünf Jahre nicht überschreiten und zwei Jahre nicht unterschreiten.

(2)   Die Bewährungszeit beginnt mit der Rechtskraft der Entscheidung über die Strafaussetzung. Sie kann nachträglich bis auf das Mindestmaß verkürzt oder vor ihrem Ablauf bis auf das Höchstmaß verlängert werden.

20

In § 56b StGB heißt es zusammengefasst:

(1)   Das Gericht kann dem Verurteilten Auflagen erteilen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen. Dabei dürfen an den Verurteilten keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden.

(2)   Das Gericht kann dem Verurteilten auferlegen, nach Kräften den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen, einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung zu zahlen, wenn dies im Hinblick auf die Tat und die Persönlichkeit des Täters angebracht ist, sonst gemeinnützige Leistungen zu erbringen oder einen Geldbetrag zugunsten der Staatskasse zu zahlen.

21

In § 56c StGB heißt es zusammengefasst:

(1)   Das Gericht erteilt dem Verurteilten für die Dauer der Bewährungszeit Weisungen, wenn er dieser Hilfe bedarf, um keine Straftaten mehr zu begehen. Dabei dürfen an die Lebensführung des Verurteilten keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden.

(2)   Das Gericht kann den Verurteilten namentlich anweisen, Anordnungen zu befolgen, die sich auf Aufenthalt, Ausbildung, Arbeit oder Freizeit oder auf die Ordnung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse beziehen, sich zu bestimmten Zeiten bei Gericht oder einer anderen Stelle zu melden, zu der verletzten Person oder bestimmten Personen oder Personen einer bestimmten Gruppe, die ihm Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, keinen Kontakt aufzunehmen, mit ihnen nicht zu verkehren, sie nicht zu beschäftigen, auszubilden oder zu beherbergen, bestimmte Gegenstände, die ihm Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, nicht zu besitzen, bei sich zu führen oder verwahren zu lassen oder Unterhaltspflichten nachzukommen.

22

§ 56d StGB bestimmt:

(1)   Das Gericht unterstellt die verurteilte Person für die Dauer oder einen Teil der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung einer Bewährungshelferin oder eines Bewährungshelfers, wenn dies angezeigt ist, um sie von Straftaten abzuhalten.

(2)   Eine Weisung nach Absatz 1 erteilt das Gericht in der Regel, wenn es eine Freiheitsstrafe von mehr als neun Monaten aussetzt und die verurteilte Person noch nicht 27 Jahre alt ist.

(3)   Die Bewährungshelferin oder der Bewährungshelfer steht der verurteilten Person helfend und betreuend zur Seite. Sie oder er überwacht im Einvernehmen mit dem Gericht die Erfüllung der Auflagen und Weisungen sowie der Anerbieten und Zusagen und berichtet über die Lebensführung der verurteilten Person in Zeitabständen, die das Gericht bestimmt. Gröbliche oder beharrliche Verstöße gegen Auflagen, Weisungen, Anerbieten oder Zusagen teilt die Bewährungshelferin oder der Bewährungshelfer dem Gericht mit.

23

§ 56f („Widerruf der Strafaussetzung“) StGB sieht zusammengefasst vor:

(1)   Das Gericht widerruft die Strafaussetzung, wenn die verurteilte Person in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat, gegen Weisungen gröblich oder beharrlich verstößt oder sich der Aufsicht und Leitung der Bewährungshelferin oder des Bewährungshelfers beharrlich entzieht und dadurch Anlass zu der Besorgnis gibt, dass sie erneut Straftaten begehen wird, oder gegen Auflagen gröblich oder beharrlich verstößt.

(2)   Das Gericht sieht jedoch von dem Widerruf ab, wenn es ausreicht, weitere Auflagen oder Weisungen zu erteilen, insbesondere die verurteilte Person einer Bewährungshelferin oder einem Bewährungshelfer zu unterstellen, oder die Bewährungs- oder Unterstellungszeit zu verlängern. In den Fällen der Nummer 2 darf die Bewährungszeit nicht um mehr als die Hälfte der zunächst bestimmten Bewährungszeit verlängert werden.

24

In § 57 („Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe“) StGB heißt es zusammengefasst:

(1)   Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbüßt sind, dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, und die verurteilte Person einwilligt. Bei der Entscheidung sind insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind.

(2)   Schon nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe, mindestens jedoch von sechs Monaten, kann das Gericht die Vollstreckung des Restes zur Bewährung aussetzen, wenn die verurteilte Person erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt und diese zwei Jahre nicht übersteigt oder die Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit der verurteilten Person und ihrer Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass besondere Umstände vorliegen, und die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind.

(3)   Die §§ 56a bis 56e gelten entsprechend; die Bewährungszeit darf, auch wenn sie nachträglich verkürzt wird, die Dauer des Strafrestes nicht unterschreiten. Hat die verurteilte Person mindestens ein Jahr ihrer Strafe verbüßt, bevor deren Rest zur Bewährung ausgesetzt wird, unterstellt sie das Gericht in der Regel für die Dauer oder einen Teil der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung einer Bewährungshelferin oder eines Bewährungshelfers.

(4)   Soweit eine Freiheitsstrafe durch Anrechnung erledigt ist, gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne der Absätze 1 bis 3.

(5)   Die §§ 56f und 56g gelten entsprechend. Das Gericht widerruft die Strafaussetzung auch dann, wenn die verurteilte Person in der Zeit zwischen der Verurteilung und der Entscheidung über die Strafaussetzung eine Straftat begangen hat, die von dem Gericht bei der Entscheidung über die Strafaussetzung aus tatsächlichen Gründen nicht berücksichtigt werden konnte und die im Fall ihrer Berücksichtigung zur Versagung der Strafaussetzung geführt hätte; als Verurteilung gilt das Urteil, in dem die zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten.

(6)   Das Gericht kann davon absehen, die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn die verurteilte Person unzureichende oder falsche Angaben über den Verbleib von Gegenständen macht, die der Einziehung von Taterträgen unterliegen.

25

§ 33a („Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Nichtgewährung rechtlichen Gehörs“) der Strafprozessordnung (im Folgenden: StPO) sieht vor:

„Hat das Gericht in einem Beschluss den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt und steht ihm gegen den Beschluss keine Beschwerde und kein anderer Rechtsbehelf zu, versetzt es, sofern der Beteiligte dadurch noch beschwert ist, von Amts wegen oder auf Antrag insoweit das Verfahren durch Beschluss in die Lage zurück, die vor dem Erlass der Entscheidung bestand. § 47 gilt entsprechend.“

26

§ 35 („Bekanntmachung“) StPO lautet:

„(1)   Entscheidungen, die in Anwesenheit der davon betroffenen Person ergehen, werden ihr durch Verkündung bekanntgemacht. Auf Verlangen ist ihr eine Abschrift zu erteilen.

(2)   Andere Entscheidungen werden durch Zustellung bekanntgemacht. Wird durch die Bekanntmachung der Entscheidung keine Frist in Lauf gesetzt, so genügt formlose Mitteilung.

(3)   Dem nicht auf freiem Fuß Befindlichen ist das zugestellte Schriftstück auf Verlangen vorzulesen.“

27

In § 37 („Zustellungsverfahren“) StPO heißt es:

„(1)   Für das Verfahren bei Zustellungen gelten die Vorschriften der Zivilprozessordnung entsprechend.

(2)   Wird die für einen Beteiligten bestimmte Zustellung an mehrere Empfangsberechtigte bewirkt, so richtet sich die Berechnung einer Frist nach der zuletzt bewirkten Zustellung.

…“

28

§ 40 („Öffentliche Zustellung“) StPO lautet:

„(1)   Kann eine Zustellung an einen Beschuldigten, dem eine Ladung zur Hauptverhandlung noch nicht zugestellt war, nicht in der vorgeschriebenen Weise im Inland bewirkt werden und erscheint die Befolgung der für Zustellungen im Ausland bestehenden Vorschriften unausführbar oder voraussichtlich erfolglos, so ist die öffentliche Zustellung zulässig. Die Zustellung gilt als erfolgt, wenn seit dem Aushang der Benachrichtigung zwei Wochen vergangen sind.

(2)   War die Ladung zur Hauptverhandlung dem Angeklagten schon vorher zugestellt, dann ist die öffentliche Zustellung an ihn zulässig, wenn sie nicht in der vorgeschriebenen Weise im Inland bewirkt werden kann.

(3)   Die öffentliche Zustellung ist im Verfahren über eine vom Angeklagten eingelegte Berufung bereits zulässig, wenn eine Zustellung nicht unter einer Anschrift möglich ist, unter der letztmals zugestellt wurde oder die der Angeklagte zuletzt angegeben hat.“

29

§ 311 („Sofortige Beschwerde“) StPO lautet:

„(1)   Für die Fälle der sofortigen Beschwerde gelten die nachfolgenden besonderen Vorschriften.

(2)   Die Beschwerde ist binnen einer Woche einzulegen; die Frist beginnt mit der Bekanntmachung (§ 35) der Entscheidung.

(3)   Das Gericht ist zu einer Abänderung seiner durch Beschwerde angefochtenen Entscheidung nicht befugt. Es hilft jedoch der Beschwerde ab, wenn es zum Nachteil des Beschwerdeführers Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet hat, zu denen dieser noch nicht gehört worden ist, und es auf Grund des nachträglichen Vorbringens die Beschwerde für begründet erachtet.“

30

§ 453 („Nachträgliche Entscheidung über Strafaussetzung zur Bewährung oder Verwarnung mit Strafvorbehalt“) StPO bestimmt:

„(1)   Die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf eine Strafaussetzung zur Bewährung oder eine Verwarnung mit Strafvorbehalt beziehen (§§ 56a bis 56g, 58, 59a, 59b des Strafgesetzbuches), trifft das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss. Die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte sind zu hören. § 246a Absatz 2 und § 454 Absatz 2 Satz 4 gelten entsprechend. Hat das Gericht über einen Widerruf der Strafaussetzung wegen Verstoßes gegen Auflagen oder Weisungen zu entscheiden, so soll es dem Verurteilten Gelegenheit zur mündlichen Anhörung geben. Ist ein Bewährungshelfer bestellt, so unterrichtet ihn das Gericht, wenn eine Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung oder den Straferlass in Betracht kommt; über Erkenntnisse, die dem Gericht aus anderen Strafverfahren bekannt geworden sind, soll es ihn unterrichten, wenn der Zweck der Bewährungsaufsicht dies angezeigt erscheinen lässt.

(2)   Gegen die Entscheidungen nach Absatz 1 ist Beschwerde zulässig. Sie kann nur darauf gestützt werden, dass eine getroffene Anordnung gesetzwidrig ist oder dass die Bewährungszeit nachträglich verlängert worden ist. Der Widerruf der Aussetzung, der Erlass der Strafe, der Widerruf des Erlasses, die Verurteilung zu der vorbehaltenen Strafe und die Feststellung, dass es bei der Verwarnung sein Bewenden hat (§§ 56f, 56g, 59b des Strafgesetzbuches), können mit sofortiger Beschwerde angefochten werden.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

31

Der Vorlageentscheidung zufolge stellte der Officier van justitie bij de rechtbank (Staatsanwaltschaft bei der Rechtbank [Bezirksgericht], Niederlande) am 13. Juni 2017 beim vorlegenden Gericht, der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande), einen Antrag auf Vollstreckung eines am 9. Mai 2017 von der Staatsanwaltschaft Stuttgart (Deutschland) ausgestellten Europäischen Haftbefehls.

32

Dieser Europäische Haftbefehl ist auf die Festnahme und Übergabe von Herrn Ardic, einem in den Niederlanden wohnhaften deutschen Staatsangehörigen, gerichtet, um in Deutschland zwei Freiheitsstrafen von jeweils einem Jahr und acht Monaten zu vollstrecken, die mit rechtskräftigen Urteilen vom 4. März 2009 und 10. November 2010 verhängt wurden, die das Amtsgericht Böblingen (Deutschland) und das Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt (Deutschland) im Anschluss an Verhandlungen erlassen hatten, zu denen Herr Ardic persönlich erschienen war.

33

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die zuständigen deutschen Gerichte die Vollstreckung des Restes der beiden Strafen aussetzten, nachdem Herr Ardic einen Teil davon verbüßt hatte. Mit Beschlüssen vom 4. und 18. April 2013 widerrief das Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt jedoch diese Aussetzungen und ordnete die Vollstreckung des Restes der Strafen – d. h. 338 und 340 Tage – an, weil der Betroffene gegen die vorgeschriebenen Auflagen beharrlich verstoßen und sich der Aufsicht und Leitung seines Bewährungshelfers und der Aufsicht der Gerichte beharrlich entzogen hatte.

34

Das vorlegende Gericht entnimmt den Angaben in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehl, dass Herr Ardic zu den Verfahren, die zu den Widerrufsbeschlüssen geführt haben, nicht erschienen ist.

35

In dem Europäischen Haftbefehl steht ferner, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Widerrufsbeschlüsse gemäß § 40 StPO nur öffentlich zugestellt worden sind, so dass Herrn Ardic nachträglich rechtliches Gehör in Bezug auf diese Entscheidungen zu gewähren sein wird, ohne dass dies jedoch ihre Vollstreckbarkeit beeinflusst.

36

Herr Ardic hat bestätigt, dass er zu den Verfahren, die zu den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Widerrufsbeschlüssen geführt haben, nicht erschienen war, und erklärt, dass er, wenn er den Zeitpunkt und Ort dieser Verfahren gekannt hätte, erschienen wäre, um die deutschen Gerichte dazu zu bewegen, von den Widerrufen abzusehen.

37

Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts müssen deutsche Gerichte die Aussetzung insbesondere widerrufen, wenn sich die verurteilte Person der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers beharrlich entzieht oder gegen die erteilten Auflagen beharrlich verstößt. Deutsche Gerichte müssen dagegen von einem Widerruf der Aussetzung absehen, wenn es im Wesentlichen ausreicht, weitere Auflagen zu erteilen oder die Bewährungszeit zu verlängern.

38

Aus den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Widerrufsbeschlüssen geht hervor, dass das Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt feststellte, dass eine Erweiterung der Auflagen oder eine Verlängerung der Bewährungszeit nicht ausreichten und der Widerruf der Aussetzungen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprach.

39

Das vorlegende Gericht schließt daraus, dass deutsche Gerichte beim Erlass einer Widerrufsentscheidung über einen Ermessensspielraum verfügen, der ihnen die Berücksichtigung der Situation oder der Persönlichkeit des Betroffenen ermöglicht.

40

In diesem Zusammenhang stellt das vorlegende Gericht fest, dass der Gerichtshof im Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629), zwischen Maßnahmen zur Neubemessung einer verhängten Freiheitsstrafe und Maßnahmen, die sich auf die Modalitäten der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bezögen, unterschieden habe. In Rn. 85 des Urteils habe der Gerichtshof nämlich darauf hingewiesen, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf Maßnahmen, die sich auf die Modalitäten der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bezögen, „namentlich auf Fragen der vorläufigen Haftentlassung“, nicht anwendbar sei.

41

Im vorliegenden Fall hätten die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Widerrufsbeschlüsse das Maß der gegen Herrn Ardic verhängten Freiheitsstrafen jedoch nicht verändert, denn er habe die Gesamtdauer dieser Strafen abzüglich der bereits absolvierten Dauer zu verbüßen.

42

Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gehe in der Tat hervor, dass Fragen der Strafvollstreckung nicht die strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK beträfen (EGMR, 17. September 2009, Enea/Italien, CE:ECHR:2009:0917JUD007491201, § 97, und 23. Oktober 2012, Ciok/Polen, CE:ECHR:2012:1023DEC000049810, § 38).

43

Dieser Ansatz entspreche der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Begriff „verurteilt“ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK, nach der dieser Begriff in engem Zusammenhang mit dem Begriff der Entscheidung „über eine … strafrechtliche Anklage“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK stehe. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe nämlich entschieden, dass es sich auch bei Rechtssachen, die die Strafvollstreckung beträfen, nicht um eine solche Verurteilung handele (EGMR, 10. Juli 2003, Grava/Italien, CE:ECHR:2003:0710JUD004352298, § 51, und 23. Oktober 2012, Giza/Polen, CE:ECHR:2012:1023DEC000199711, § 36).

44

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 3. April 2012, Boulois/Luxemburg (CE:ECHR:2012:0403JUD003757504), auf das der Gerichtshof in Rn. 85 des Urteils vom 10. August 2017, Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629), verwiesen habe, sowie die übrigen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, auf das dieser in § 87 des erstgenannten Urteils verwiesen habe, hätten Inhaftierte betroffen, die ein Verfahren geführt hätten über die Erlaubnis, das Gefängnis vorübergehend zu verlassen, über die Aufhebung der Untersuchungshaft, über die Überstellung in eine Hochsicherheitsanstalt bzw. über einen Straferlass.

45

Ferner habe die Europäische Kommission für Menschenrechte die Ansicht vertreten, dass ein Verfahren über den Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder über den Widerruf einer Entlassung unter Auflagen nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK falle. Im Rahmen solcher Verfahren gehe es nämlich nicht darum, über Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine strafrechtliche Anklage zu entscheiden (Europäische Kommission für Menschenrechte, 5. Oktober 1967, X./Bundesrepublik Deutschland, CE:ECHR:1967:1005DEC000242865; 6. Dezember 1977, X./Schweiz, CE:ECHR:1977:1206DEC000764876, und 9. Mai 1994, Sampson/Zypern, CE:ECHR:1994:0509DEC001977492).

46

Das vorlegende Gericht leitet daraus ab, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Widerrufsbeschlüsse wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht anwendbar sei.

47

Das habe jedoch nicht zwingend zur Folge, dass diese Entscheidungen auch nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fielen.

48

Zum einen nämlich seien solche Entscheidungen nicht von derselben Art wie die Entscheidungen, die in der Rechtssache in Rede gestanden hätten, in der das Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629), ergangen sei.

49

Zum anderen entspreche zwar Art. 47 Abs. 2 der Charta in der Tat Art. 6 Abs. 1 EMRK, so dass die durch die erstgenannte Bestimmung garantierten Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite haben müssten, wie sie ihnen in der EMRK verliehen würden, doch könne das Unionsrecht nach Art. 52 Abs. 3 der Charta einen weiter gehenden Schutz als den nach Art. 6 Abs. 1 EMRK gewähren.

50

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ziele Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 darauf ab, ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten (Urteile vom 24. Mai 2016, Dworzecki, C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346, Rn. 37, und vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 58).

51

Zudem lasse sich die Ansicht vertreten, dass ein Beschluss, mit dem eine Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe widerrufen werde, für die verurteilte Person aufgrund seiner Folgen für die individuelle Freiheit die gleiche Bedeutung haben könne wie ein „eine Gesamtstrafe verhängendes Urteil“, das zu einer Neubemessung der verhängten Freiheitsstrafen führe, so dass diese Person deshalb in einem Verfahren, das zu einem Widerruf der Aussetzung führen könne und in dem das Gericht beim Erlass dieses Beschlusses über einen Ermessensspielraum verfüge, ihre Verteidigungsrechte ausüben können müsse (vgl. entsprechend Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 88).

52

Auch wenn schließlich Rn. 85 des Urteils vom 10. August 2017, Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629), offenbar darauf hinweise, dass Beschlüsse, mit denen eine Aussetzung widerrufen werde, nicht unter Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fielen, könne dieser Umstand in Anbetracht der vorstehenden Erwägungen kein ausreichender Grund dafür sein, eigenständig zu entscheiden, dass diese Bestimmung im vorliegenden Fall tatsächlich keine Anwendung finde.

53

Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sofern der Gesuchte in einem in seiner Gegenwart geführten Verfahren rechtskräftig für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, deren Vollstreckung unter Auflagen zur Bewährung ausgesetzt wurde: Ist ein späteres Verfahren, in dem der Richter in Abwesenheit des Gesuchten den Widerruf dieser Strafaussetzung anordnet, weil der Gesuchte gegen Auflagen verstoßen und sich der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers entzogen hat, eine „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“, im Sinne von Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584?

Zum Eilvorabentscheidungsverfahren

54

Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

55

Zur Begründung seines Antrags hat es darauf hingewiesen, dass sich Herr Ardic derzeit in den Niederlanden in Haft befinde, bis über die Vollstreckung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls entschieden sei, den die zuständigen Behörden der Bundesrepublik Deutschland gegen ihn erlassen hätten.

56

Es könne insoweit keine Entscheidung erlassen, bevor der Gerichtshof über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen entschieden habe. Die Antwort des Gerichtshofs auf die gestellte Frage sei somit für die Dauer der Haft von Herrn Ardic in den Niederlanden im Hinblick auf seine eventuelle Übergabe in Vollstreckung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls von unmittelbarer und entscheidender Bedeutung.

57

Insoweit ist erstens festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 betrifft, der zu den von Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags erfassten Bereichen gehört. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.

58

Zweitens ist hinsichtlich des Kriteriums der Dringlichkeit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen, dass der Person, um die es im Ausgangsverfahren geht, derzeit ihre Freiheit entzogen ist und dass ihre weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt. Ferner ist bei der Beurteilung der Situation des Betroffenen auf den Zeitpunkt der Prüfung des Antrags abzustellen, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen (Urteile vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59

Im vorliegenden Fall steht zum einen fest, dass Herrn Ardic zu diesem Zeitpunkt seine Freiheit entzogen war. Zum anderen hängt seine weitere Inhaftierung vom Ausgang des Ausgangsverfahrens ab, da seine Inhaftierung nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts im Rahmen der Vollstreckung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls angeordnet wurde.

60

Deshalb hat die Fünfte Kammer des Gerichtshofs am 12. Oktober 2017 auf Vorschlag des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, dem Antrag des vorlegenden Gerichts stattzugeben und das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

Zur Vorlagefrage

61

Zunächst ist festzustellen, dass im vorliegenden Fall Herr Ardic zwar zu den Verhandlungen, die zu den Urteilen führten, mit denen er rechtskräftig zu Freiheitsstrafen verurteilt wurde, persönlich erschienen ist, dass aber unstreitig die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anschließenden Beschlüsse, die Aussetzung zu widerrufen, in seiner Abwesenheit erlassen worden sind.

62

Daher ist die Frage des vorlegenden Gerichts so zu verstehen, dass mit ihr im Wesentlichen geklärt werden soll, ob in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem der Betroffene zu dem Strafprozess persönlich erschienen war, der zu der gerichtlichen Entscheidung geführt hat, mit der er rechtskräftig einer Straftat für schuldig befunden und infolgedessen eine Freiheitsstrafe gegen ihn verhängt wurde, deren Vollstreckung nachträglich unter der Bedingung der Einhaltung bestimmter Auflagen teilweise ausgesetzt wurde, die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass sie auch ein nachfolgendes Verfahren erfasst, das zum Widerruf dieser Aussetzung wegen Verstoßes gegen die Auflagen in der Bewährungszeit führt.

63

Zur Beantwortung dieser Frage ist erstens festzustellen, dass die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 unabhängig von den materiell- und verfahrensrechtlichen Wertungen und Vorschriften in den verschiedenen Mitgliedstaaten, die ihrem Wesen nach im Strafrecht unterschiedlich ausfallen, eine autonome und einheitliche Auslegung in der Union erhalten muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 65, 67 und 76).

64

Zweitens hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass diese Wendung so zu verstehen ist, dass sie sich auf das Verfahren bezieht, das zu der justiziellen Entscheidung geführt hat, durch die die Person, um deren Übergabe im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ersucht wird, rechtskräftig verurteilt wurde (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 74).

65

Für den Fall, dass der Strafprozess aus mehreren Instanzen bestanden hat, die zu aufeinanderfolgenden Entscheidungen geführt haben, hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Wendung auf die letzte Instanz des Strafprozesses Bezug nimmt, in der ein Gericht den Betroffenen nach Prüfung des Sachverhalts in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht rechtskräftig für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 81, 83, 89, 90 und 98).

66

Der Gerichtshof hat ferner klargestellt, dass diese Wendung auch ein nachfolgendes Verfahren erfasst, nach dessen Abschluss eine justizielle Entscheidung erlassen wird, durch die eine oder mehrere zuvor verhängte Strafen endgültig neu bemessen werden, sofern die betreffende Behörde beim Erlass dieser Entscheidung über ein Ermessen verfügte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 83, 90 und 96).

67

Nach alledem ist Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass der darin genannte Begriff „Entscheidung“ auf die gerichtliche(n) Entscheidung(en) Bezug nimmt, die die strafrechtliche Verurteilung des Betroffenen betreffen, d. h. die Entscheidung(en), mit der oder denen nach Prüfung des Sachverhalts in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht rechtskräftig über die Schuld des Betroffenen und gegebenenfalls über die gegen ihn zu verhängende Strafe befunden wurde.

68

Im vorliegenden Fall ist zu klären, ob ein Beschluss, eine Aussetzung der Vollstreckung einer zuvor verhängten Freiheitsstrafe zu widerrufen, für die Anwendung dieser Bestimmung einer Entscheidung gleichgestellt werden kann, wie sie in der vorangegangenen Randnummer umrissen worden ist.

69

Der Rahmenbeschluss 2002/584 ist darauf gerichtet, durch die Einführung eines vereinfachten und wirksamen Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, wobei er entsprechend dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraussetzt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 36 und 37, und vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 75 und 76).

70

Hierfür stellt der Rahmenbeschluss 2002/584 in seinem Art. 1 Abs. 2 die Regel auf, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses zu vollstrecken. Die vollstreckenden Justizbehörden können also die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls – abgesehen von außergewöhnlichen Umständen – nur in den in diesem Rahmenbeschluss abschließend aufgezählten Fällen ablehnen, und seine Vollstreckung kann nur an eine der Bedingungen geknüpft werden, die dort erschöpfend aufgeführt sind. Folglich stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

71

Was insbesondere den durch Art. 2 des Rahmenbeschlusses 2009/299 eingefügten Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 anbelangt, so ist er darauf gerichtet, die Möglichkeit, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen, einzuschränken, indem er genau und einheitlich die Bedingungen angibt, unter denen die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der die betroffene Person nicht persönlich erschienen ist, nicht verweigert werden dürfen (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

72

Nach dieser Bestimmung ist die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet, einen Europäischen Haftbefehl ungeachtet der Abwesenheit des Betroffenen in der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, zu vollstrecken, wenn nachweislich einer der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a, b, c oder d dieses Rahmenbeschlusses genannten Fälle vorliegt (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 55).

73

Somit soll diese Bestimmung die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen dadurch verbessern, dass sie die Voraussetzungen für die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle, die zur Vollstreckung in Abwesenheit ergangener Entscheidungen ausgestellt werden, harmonisiert, wodurch die gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten erleichtert werden kann. Zugleich stärkt diese Bestimmung die Verfahrensrechte von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist, indem sie ihnen durch die uneingeschränkte Achtung ihrer aus dem u. a. in Art. 6 EMRK verankerten Recht auf ein faires Verfahren abgeleiteten Verteidigungsrechte ein hohes Schutzniveau gewährleistet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 51, und vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 58 bis 60).

74

Hierzu achtet der Gerichtshof darauf, dass Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 entsprechend den Anforderungen des Art. 6 EMRK und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgelegt und angewandt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 78 bis 80, und vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 87 bis 89).

75

Zwar fällt die rechtskräftige justizielle Entscheidung, mit der der Betroffene verurteilt wird, einschließlich der Entscheidung, mit der die zu verbüßende Freiheitsstrafe festgesetzt wird, vollständig unter Art. 6 EMRK, doch ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass diese Bestimmung dagegen auf Fragen der Modalitäten der Vollstreckung oder Anwendung einer solchen Freiheitsstrafe keine Anwendung findet (vgl. in diesem Sinne EGMR, 3. April 2012, Boulois/Luxemburg, CE:ECHR:2012:0403JUD003757504, § 87, 25. November 2014, Vasilescu/Belgien, CE:ECHR:2014:1125JUD006468212, § 121, und 2. Juni 2015, Pacula/Belgien, CE:ECHR:2015:0602DEC006849512, § 47).

76

Etwas anderes gilt nur, wenn im Anschluss an eine Entscheidung, mit der der Betroffene für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, eine neue justizielle Entscheidung entweder die Art oder das Maß der zuvor verhängten Strafe ändert, was der Fall ist, wenn eine Gefängnisstrafe durch eine Ausweisung ersetzt wird (EGMR, 15. Dezember 2009, Gurguchiani/Spanien, CE:ECHR:2009:1215JUD001601206, §§ 40, 47 und 48) oder wenn die Dauer der zuvor angeordneten Haft verlängert wird (EGMR, 9. Oktober 2003, Ezeh und Connors/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2003:1009JUD003966598).

77

Nach alledem ist daher festzustellen, dass der Begriff „Entscheidung“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 eine Entscheidung über die Vollstreckung oder Anwendung einer zuvor verhängten Freiheitsstrafe nicht erfasst, es sei denn, dass diese Entscheidung eine Änderung der Art oder des Maßes der Strafe bezweckt oder bewirkt und die sie erlassende Behörde insoweit über ein Ermessen verfügt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 78 bis 80, und vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 85, 90 und 96).

78

Was insbesondere die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beschlüsse anbelangt, die Aussetzung der Vollstreckung zuvor verhängter Freiheitsstrafen zu widerrufen, geht aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervor, dass diese Beschlüsse hier weder die Art noch das Maß der Freiheitsstrafen berührt haben, die mit den zuvor ergangenen rechtskräftigen Verurteilungen des Betroffenen verhängt wurden, die die Grundlage des Europäischen Haftbefehls darstellen, um dessen Vollstreckung in den Niederlanden die deutschen Behörden ersuchen.

79

Die Verfahren, die zu diesen Widerrufsbeschlüssen geführt haben, bezweckten nämlich keine erneute materielle Prüfung dieser Rechtssachen, sondern betrafen nur die Folgen, die sich im Hinblick auf die Anwendung der Strafen, die ursprünglich verhängt wurden und deren Vollstreckung anschließend unter der Bedingung der Einhaltung bestimmter Auflagen teilweise ausgesetzt worden war, aus dem Umstand ergeben, dass die verurteilte Person diesen Auflagen in der Bewährungszeit nicht nachgekommen ist.

80

In diesem Rahmen hatte das zuständige Gericht nach den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften nur festzustellen, ob ein solcher Umstand es rechtfertige, die verurteilte Person tatsächlich dazu zu verpflichten, die ursprünglich verhängten Freiheitsstrafen, deren Vollstreckung anschließend teilweise ausgesetzt worden war, teilweise oder vollständig zu verbüßen. Wie der Generalanwalt in Nr. 71 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, verfügte dieses Gericht insoweit zwar über einen Ermessensspielraum, doch betraf dieses Ermessen nicht die Höhe oder die Art der gegen den Betroffenen verhängten Strafen, sondern nur die Frage, ob die Aussetzungen zu widerrufen waren oder gegebenenfalls unter Erteilung weiterer Auflagen fortbestehen konnten.

81

Somit bewirken die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beschlüsse, die Aussetzung zu widerrufen, lediglich, dass der Betroffene allenfalls die Restdauer der ursprünglich gegen ihn verhängten Strafe verbüßen muss. Wenn die Aussetzung wie im Ausgangsverfahren insgesamt widerrufen wird, entfaltet die Verurteilung wieder ihre ganze Wirkung und ergibt sich die Bestimmung des noch zu vollstreckenden Strafmaßes aus einer reinen Rechenoperation, wobei die Zahl der bereits im Gefängnis verbrachten Tage einfach von der Gesamtstrafe, wie sie mit der rechtskräftigen Verurteilung verhängt wurde, abgezogen wird.

82

Unter diesen Umständen und in Anbetracht der Ausführungen in Rn. 77 des vorliegenden Urteils werden die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beschlüsse, die Aussetzung zu widerrufen, von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht erfasst, da diese Beschlüsse die Art und das Maß der Strafen unverändert lassen, die mit den rechtskräftig gewordenen Verurteilungen verhängt wurden.

83

Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass eine Maßnahme des Widerrufs einer Aussetzung die Situation des Betroffenen beeinflussen kann, doch kann sich dieser nicht über die Folgen im Unklaren sein, die ein Verstoß gegen die Auflagen, unter denen die Aussetzung gewährt wird, nach sich ziehen kann.

84

Zudem hat im vorliegenden Fall gerade der Umstand, dass der Betroffene unter Verstoß gegen eine Auflage, von der die Aussetzung ausdrücklich abhängig gemacht worden war, das deutsche Hoheitsgebiet verließ, dazu geführt, dass es den zuständigen deutschen Behörden nicht möglich war, ihm die Information über die Einleitung von Verfahren im Hinblick auf einen möglichen Widerruf der zuvor gewährten Aussetzungen persönlich zuzustellen, und mithin dazu, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Widerrufsbeschlüsse in seiner Abwesenheit erlassen wurden.

85

Gleichwohl ist eine verurteilte Person selbst dann, wenn gegen sie – wie im Ausgangsverfahren – im Anschluss an ein Verfahren, zu dem sie nicht erschienen ist, ein Beschluss über den Widerruf einer Aussetzung ergeht, nicht rechtlos gestellt, da sie – wie den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften zu entnehmen ist – insbesondere die Möglichkeit hat, nachträglich vom Gericht angehört zu werden, und dieses zu klären hat, ob in Anbetracht dieser Anhörung der Beschluss über den Widerruf der Aussetzung geändert werden muss.

86

Im Rahmen von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ist – wie aus den Rn. 75 bis 77 des vorliegenden Urteils hervorgeht – jedenfalls das einheitlich anwendbare Kriterium erheblich, das auf die Art der darin genannten „Entscheidung“ abstellt.

87

Wie in Rn. 70 des vorliegenden Urteils bereits ausgeführt worden ist, könnte im Übrigen eine Auslegung des Begriffs „Entscheidung“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584, die weiter gefasst ist als die in Rn. 77 dieses Urteils genannte, die Wirksamkeit des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls beeinträchtigen.

88

Darüber hinaus bedeutet die Auslegung, die der Gerichtshof in Rn. 77 des vorliegenden Urteils vorgenommen hat, lediglich, dass eine Entscheidung, die nur die Vollstreckung oder Anwendung einer nach Abschluss des Strafprozesses rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe betrifft und weder die Feststellung der Schuld noch die Art oder das Maß dieser Strafe berührt, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fällt, so dass die Abwesenheit des Betroffenen während des Verfahrens, das zu dieser Entscheidung geführt hat, kein gültiger Grund sein kann, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen.

89

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 76 und 77 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und im Übrigen aus Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2009/299 ausdrücklich hervorgeht, bedeutet diese Auslegung dagegen nicht, dass die Mitgliedstaaten von der Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Art. 6 EUV einschließlich des Verteidigungsrechts von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist, zu achten, oder von der Pflicht, ihren Justizbehörden die Achtung dieser Rechte und Grundsätze aufzugeben, befreit sind.

90

Diese Verpflichtung unterstreicht gerade den hohen Grad des Vertrauens, das zwischen den Mitgliedstaaten bestehen muss, und infolgedessen den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, auf den der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls gestützt ist. Dieser Grundsatz beruht nämlich auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene anerkannten Grundrechte zu bieten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. Mai 2013, F., C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 49 und 50, sowie vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 77 und 78).

91

In diesem Zusammenhang und im Hinblick auf eine wirksame justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen müssen die ausstellenden und die vollstreckenden Justizbehörden umfassend von den Instrumenten Gebrauch machen, die insbesondere in Art. 8 Abs. 1 und in Art. 15 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehen sind, um das gegenseitige Vertrauen zu fördern, das dieser Zusammenarbeit zugrunde liegt.

92

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass in dem Fall, in dem der Betroffene zu dem Strafprozess persönlich erschienen war, der zu der gerichtlichen Entscheidung geführt hat, mit der er rechtskräftig einer Straftat für schuldig befunden und infolgedessen eine Freiheitsstrafe gegen ihn verhängt wurde, deren Vollstreckung nachträglich unter der Bedingung der Einhaltung bestimmter Auflagen teilweise ausgesetzt wurde, die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass sie ein nachfolgendes Verfahren, das zum Widerruf dieser Aussetzung wegen Verstoßes gegen die Auflagen in der Bewährungszeit führt, nicht erfasst, sofern der im Anschluss an dieses Verfahren erlassene Widerrufsbeschluss weder die Art noch das Maß der ursprünglich verhängten Strafe verändert.

Kosten

93

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

In dem Fall, in dem der Betroffene zu dem Strafprozess persönlich erschienen war, der zu der gerichtlichen Entscheidung geführt hat, mit der er rechtskräftig einer Straftat für schuldig befunden und infolgedessen eine Freiheitsstrafe gegen ihn verhängt wurde, deren Vollstreckung nachträglich unter der Bedingung der Einhaltung bestimmter Auflagen teilweise ausgesetzt wurde, ist die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass sie ein nachfolgendes Verfahren, das zum Widerruf dieser Aussetzung wegen Verstoßes gegen die Auflagen in der Bewährungszeit führt, nicht erfasst, sofern der im Anschluss an dieses Verfahren erlassene Widerrufsbeschluss weder die Art noch das Maß der ursprünglich verhängten Strafe verändert.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

ra.de-Urteilsbesprechung zu {{shorttitle}}
{{count_recursive}} Urteilsbesprechungen zu {{shorttitle}}

10 Referenzen - Gesetze

moreResultsText

{{title}} zitiert {{count_recursive}} §§.

Annotations

(1) Das Gericht bestimmt die Dauer der Bewährungszeit. Sie darf fünf Jahre nicht überschreiten und zwei Jahre nicht unterschreiten.

(2) Die Bewährungszeit beginnt mit der Rechtskraft der Entscheidung über die Strafaussetzung. Sie kann nachträglich bis auf das Mindestmaß verkürzt oder vor ihrem Ablauf bis auf das Höchstmaß verlängert werden.

(1) Das Gericht kann dem Verurteilten Auflagen erteilen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen. Dabei dürfen an den Verurteilten keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden.

(2) Das Gericht kann dem Verurteilten auferlegen,

1.
nach Kräften den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen,
2.
einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung zu zahlen, wenn dies im Hinblick auf die Tat und die Persönlichkeit des Täters angebracht ist,
3.
sonst gemeinnützige Leistungen zu erbringen oder
4.
einen Geldbetrag zugunsten der Staatskasse zu zahlen.
Eine Auflage nach Satz 1 Nr. 2 bis 4 soll das Gericht nur erteilen, soweit die Erfüllung der Auflage einer Wiedergutmachung des Schadens nicht entgegensteht.

(3) Erbietet sich der Verurteilte zu angemessenen Leistungen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen, so sieht das Gericht in der Regel von Auflagen vorläufig ab, wenn die Erfüllung des Anerbietens zu erwarten ist.

(1) Das Gericht erteilt dem Verurteilten für die Dauer der Bewährungszeit Weisungen, wenn er dieser Hilfe bedarf, um keine Straftaten mehr zu begehen. Dabei dürfen an die Lebensführung des Verurteilten keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden.

(2) Das Gericht kann den Verurteilten namentlich anweisen,

1.
Anordnungen zu befolgen, die sich auf Aufenthalt, Ausbildung, Arbeit oder Freizeit oder auf die Ordnung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse beziehen,
2.
sich zu bestimmten Zeiten bei Gericht oder einer anderen Stelle zu melden,
3.
zu der verletzten Person oder bestimmten Personen oder Personen einer bestimmten Gruppe, die ihm Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, keinen Kontakt aufzunehmen, mit ihnen nicht zu verkehren, sie nicht zu beschäftigen, auszubilden oder zu beherbergen,
4.
bestimmte Gegenstände, die ihm Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, nicht zu besitzen, bei sich zu führen oder verwahren zu lassen oder
5.
Unterhaltspflichten nachzukommen.

(3) Die Weisung,

1.
sich einer Heilbehandlung, die mit einem körperlichen Eingriff verbunden ist, oder einer Entziehungskur zu unterziehen oder
2.
in einem geeigneten Heim oder einer geeigneten Anstalt Aufenthalt zu nehmen,
darf nur mit Einwilligung des Verurteilten erteilt werden.

(4) Macht der Verurteilte entsprechende Zusagen für seine künftige Lebensführung, so sieht das Gericht in der Regel von Weisungen vorläufig ab, wenn die Einhaltung der Zusagen zu erwarten ist.

(1) Das Gericht unterstellt die verurteilte Person für die Dauer oder einen Teil der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung einer Bewährungshelferin oder eines Bewährungshelfers, wenn dies angezeigt ist, um sie von Straftaten abzuhalten.

(2) Eine Weisung nach Absatz 1 erteilt das Gericht in der Regel, wenn es eine Freiheitsstrafe von mehr als neun Monaten aussetzt und die verurteilte Person noch nicht 27 Jahre alt ist.

(3) Die Bewährungshelferin oder der Bewährungshelfer steht der verurteilten Person helfend und betreuend zur Seite. Sie oder er überwacht im Einvernehmen mit dem Gericht die Erfüllung der Auflagen und Weisungen sowie der Anerbieten und Zusagen und berichtet über die Lebensführung der verurteilten Person in Zeitabständen, die das Gericht bestimmt. Gröbliche oder beharrliche Verstöße gegen Auflagen, Weisungen, Anerbieten oder Zusagen teilt die Bewährungshelferin oder der Bewährungshelfer dem Gericht mit.

(4) Die Bewährungshelferin oder der Bewährungshelfer wird vom Gericht bestellt. Es kann der Bewährungshelferin oder dem Bewährungshelfer für die Tätigkeit nach Absatz 3 Anweisungen erteilen.

(5) Die Tätigkeit der Bewährungshelferin oder des Bewährungshelfers wird haupt- oder ehrenamtlich ausgeübt.

(1) Kann eine Zustellung an einen Beschuldigten, dem eine Ladung zur Hauptverhandlung noch nicht zugestellt war, nicht in der vorgeschriebenen Weise im Inland bewirkt werden und erscheint die Befolgung der für Zustellungen im Ausland bestehenden Vorschriften unausführbar oder voraussichtlich erfolglos, so ist die öffentliche Zustellung zulässig. Die Zustellung gilt als erfolgt, wenn seit dem Aushang der Benachrichtigung zwei Wochen vergangen sind.

(2) War die Ladung zur Hauptverhandlung dem Angeklagten schon vorher zugestellt, dann ist die öffentliche Zustellung an ihn zulässig, wenn sie nicht in der vorgeschriebenen Weise im Inland bewirkt werden kann.

(3) Die öffentliche Zustellung ist im Verfahren über eine vom Angeklagten eingelegte Berufung oder Revision bereits zulässig, wenn eine Zustellung nicht unter einer Anschrift möglich ist, unter der letztmals zugestellt wurde oder die der Angeklagte zuletzt angegeben hat.