Europäischer Gerichtshof Urteil, 10. Apr. 2018 - C-191/16

ECLI:ECLI:EU:C:2018:222
bei uns veröffentlicht am10.04.2018

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

10. April 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 18 und 21 AEUV – Auslieferung eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, an die Vereinigten Staaten von Amerika – Auslieferungsabkommen zwischen der Europäischen Union und diesem Drittstaat – Anwendungsbereich des Unionsrechts – Verbot der Auslieferung, das nur auf die eigenen Staatsangehörigen angewandt wird – Beschränkung der Freizügigkeit – Rechtfertigung mit der Verhinderung von Straflosigkeit – Verhältnismäßigkeit – Benachrichtigung des Herkunftsmitgliedstaats des Unionsbürgers“

In der Rechtssache C‑191/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Berlin mit Entscheidung vom 18. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 5. April 2016, in dem Verfahren

Romano Pisciotti

gegen

Bundesrepublik Deutschland

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, T. von Danwitz, J. L. da Cruz Vilaça, J. Malenovský, E. Levits und C. G. Fernlund (Berichterstatter), der Richter A. Borg Barthet, J. C. Bonichot, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und M. Vilaras,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Juli 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Pisciotti, vertreten durch Rechtsanwalt R. Karpenstein,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und M. Hellmann als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt F. Fellenberg,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

von Irland, vertreten durch M. Browne, L. Williams, E. Creedon und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, Barrister,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. M. Tátrai und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, A. M. de Ree und M. Gijzen als Bevollmächtigte,

der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, M. Nowak und K. Majcher als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. November 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 AEUV.

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Romano Pisciotti, einem italienischen Staatsangehörigen, und der Bundesrepublik Deutschland zu einem an diesen Mitgliedstaat gerichteten Ersuchen der Vereinigten Staaten von Amerika um seine Auslieferung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Das EU–USA-Abkommen

3

Das Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung vom 25. Juni 2003 (ABI. 2003, L 181, S. 27, im Folgenden: EU–USA-Abkommen) legt in seinem Art. 1 Folgendes fest:

„Die Vertragsparteien verpflichten sich gemäß den Bestimmungen dieses Abkommens Maßnahmen zur Verstärkung der Zusammenarbeit im Rahmen der für die Auslieferung von Straftätern geltenden Auslieferungsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Vereinigten Staaten von Amerika zu treffen.“

4

Das EU–USA-Abkommen sieht in seinem Art. 10 („Auslieferungs- und Überstellungsersuchen von Seiten mehrerer Staaten“) vor:

„(1)   Erhält der ersuchte Staat vom ersuchenden Staat und von einem anderen Staat oder anderen Staaten Ersuchen um Auslieferung derselben Person entweder wegen derselben Straftat oder wegen verschiedener Straftaten, so entscheidet die ausführende Behörde des ersuchten Staates, welchem Staat die Person gegebenenfalls überstellt wird.

(2)   Erhält ein ersuchter Mitgliedstaat ein Auslieferungsersuchen der Vereinigten Staaten von Amerika und ein Übergabeersuchen nach dem Europäischen Haftbefehl für dieselbe Person entweder wegen derselben Straftat oder wegen verschiedener Straftaten, so entscheidet die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats, welchem Staat die Person gegebenenfalls übergeben wird. Zu diesem Zweck ist die zuständige Behörde die ausführende Behörde des ersuchten Mitgliedstaats, wenn nach dem zwischen den Vereinigten Staaten und dem Mitgliedstaat geltenden bilateralen Auslieferungsvertrag die Entscheidungen über konkurrierende Ersuchen von jener Behörde getroffen werden; ist dies nicht in dem bilateralen Auslieferungsvertrag geregelt, so wird die zuständige Behörde von dem betroffenen Mitgliedstaat nach Artikel 19 benannt.

(3)   Bei seiner Entscheidung nach den Absätzen 1 und 2 berücksichtigt der ersuchte Staat alle maßgeblichen Umstände, einschließlich unter anderem solcher, die bereits im geltenden Auslieferungsvertrag genannt sind, und in Ermangelung solcher Angaben der folgenden Umstände:

a)

vertragliche Grundlage der Ersuchen;

b)

Orte der Begehung der Straftaten;

c)

jeweiliges Interesse der ersuchenden Staaten;

d)

Schwere der Straftaten;

e)

Staatsangehörigkeit des Opfers;

f)

Möglichkeit einer Weiterlieferung zwischen den ersuchenden Staaten;

g)

zeitliche Reihenfolge des Eingangs der Ersuchen der ersuchenden Staaten.“

5

Art. 17 („Nichtabweichung“) des EU–USA-Abkommens bestimmt:

„(1)   Dieses Abkommen schließt nicht aus, dass der ersuchte Staat Gründe für eine Ablehnung aufgrund eines Umstandes geltend macht, der durch dieses Abkommen nicht geregelt ist, sich jedoch aus einem geltenden bilateralen Auslieferungsvertrag zwischen einem Mitgliedstaat und den Vereinigten Staaten von Amerika ergibt.

(2)   In den Fällen, in denen die Verfassungsgrundsätze des ersuchten Staates oder die für diesen verbindlichen endgültigen richterlichen Entscheidungen ein Hindernis für die Erfüllung seiner Auslieferungspflicht darstellen können und dieses Abkommen oder der geltende bilaterale Vertrag keine Regelung dieser Angelegenheit vorsehen, konsultieren sich der ersuchte und der ersuchende Staat.“

Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI

6

Zu den unionsrechtlichen Bestimmungen über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gehört der Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI) (ABl. 2002, L 190, S. 1).

Das deutsche Recht

Grundgesetz

7

Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. 1949 S. 1) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung lautet:

„Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat … oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.“

Der Auslieferungsvertrag Deutschland–USA

8

In Art. 7 Abs. 1 des Auslieferungsvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika vom 20. Juni 1978 (BGBl. 1980 II S. 646, im Folgenden: Auslieferungsvertrag Deutschland–USA) heißt es:

„Die Vertragsparteien sind nicht verpflichtet, ihre eigenen Staatsangehörigen auszuliefern. …“

Das IRG

9

§ 12 („Bewilligung der Auslieferung“) des Gesetzes über internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 23. Dezember 1982 (BGBl. 1982 I S. 2071, im Folgenden: IRG) sieht in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung vor:

„Die Auslieferung darf … nur bewilligt werden, wenn das Gericht sie für zulässig erklärt hat.“

10

§ 13 IRG („Sachliche Zuständigkeit“) sieht in Abs. 1 vor:

„Die gerichtlichen Entscheidungen erlässt … das Oberlandesgericht. Die Entscheidungen des Oberlandesgerichts sind unanfechtbar.“

11

§ 23 IRG („Entscheidung über Einwendungen des Verfolgten“) lautet:

„Über Einwendungen des Verfolgten gegen den Auslieferungshaftbefehl oder gegen dessen Vollzug entscheidet das Oberlandesgericht.“

12

§ 74 Abs. 1 IRG sieht vor:

„Über ausländische Rechtshilfeersuchen und über die Stellung von Rechtshilfeersuchen an ausländische Staaten entscheidet das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und mit anderen Bundesministerien, deren Geschäftsbereich von der Rechtshilfe betroffen wird. …“

Strafgesetzbuch

13

Nach § 7 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs (BGBl. 1998 I S. 3322) gilt das deutsche Strafrecht für Taten, die im Ausland begangen werden, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt und wenn der Täter zur Zeit der Tat Ausländer war, im Inland betroffen und, obwohl das Auslieferungsgesetz seine Auslieferung nach der Art der Tat zuließe, nicht ausgeliefert wird, weil ein Auslieferungsersuchen innerhalb angemessener Frist nicht gestellt oder abgelehnt wird oder die Auslieferung selbst nicht ausführbar ist.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14

Herr Pisciotti ist italienischer Staatsangehöriger. Die amerikanischen Behörden ermittelten seit 2007 gegen ihn in den USA wegen der Teilnahme an wettbewerbsbeschränkenden Submissions- und Preisabsprachen und beantragten zum Zweck der Strafverfolgung seine Auslieferung.

15

Am 26. August 2010 erging gegen ihn ein Haftbefehl des US District Court for the Southern District of Florida in Fort Lauderdale (Bundesbezirksgericht der Vereinigten Staaten von Amerika für den südlichen Gerichtsbezirk des Staates Florida in Fort Lauderdale) sowie eine Anklageschrift der Grand Jury desselben Gerichts. Herr Pisciotti wurde beschuldigt, Teil einer Arbeitsgruppe von Vertriebsmitarbeitern der Herstellerfirmen von Marineschläuchen gewesen zu sein, die von 1999 bis Ende 2006 im Staat Florida (Vereinigte Staaten) und andernorts durch Aufteilung des Marktes für den Verkauf dieser Schläuche den Wettbewerb beschränkten.

16

Am 17. Juni 2013 wurde Herr Pisciotti bei einer Zwischenlandung seines Fluges von Nigeria nach Italien auf dem Flughafen in Frankfurt am Main (Deutschland) von Beamten der deutschen Bundespolizei festgenommen.

17

Am 18. Juni 2013 wurde Herr Pisciotti dem Amtsgericht Frankfurt am Main (Deutschland) zum Zweck der Eröffnung des Festnahmeersuchens der Vereinigten Staaten von Amerika zugeführt. Er erklärte sich mit einer vereinfachten formlosen Auslieferung nicht einverstanden.

18

Aufgrund eines Beschlusses des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (Deutschland) vom 24. Juni 2013 wurde Herr Pisciotti in vorläufige Auslieferungshaft genommen. Am 7. August 2013 übermittelten die Vereinigten Staaten von Amerika das förmliche Auslieferungsersuchen an die Bundesrepublik Deutschland.

19

Am 16. August 2013 ordnete das Oberlandesgericht Frankfurt am Main die Fortdauer der vorläufigen Auslieferungshaft Herrn Pisciottis als förmliche Auslieferungshaft an.

20

Durch Beschluss vom 22. Januar 2014 erklärte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main die Auslieferung von Herrn Pisciotti für zulässig.

21

Am 6. Februar 2014 beantragte Herr Pisciotti beim Bundesverfassungsgericht (Deutschland) den Erlass einer einstweiligen Anordnung, um den Vollzug des Beschlusses des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22. Januar 2014 zu unterbinden. Das Bundesverfassungsgericht wies diesen Antrag mit Beschluss vom 17. Februar 2014 zurück.

22

Mit Schreiben vom 26. Februar 2014 wies Herr Pisciotti das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Deutschland) darauf hin, dass seine Auslieferung gegen das Unionsrecht verstoße, da eine wortlautgetreue, auf deutsche Staatsangehörige beschränkte Anwendung des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot verstoße.

23

Am 17. März 2014 bewilligte die Bundesrepublik Deutschland die Auslieferung Herrn Pisciottis, die am 3. April 2014 vollzogen wurde.

24

Ebenfalls am 17. März 2014 hat Herr Pisciotti vor dem Landgericht Berlin (Deutschland) Klage erhoben, mit der er beantragt, die Haftung der Bundesrepublik Deutschland für die Bewilligung seiner Auslieferung festzustellen und sie zur Zahlung einer Entschädigung zu verurteilen.

25

Herr Pisciotti bekannte sich in dem gegen ihn in den Vereinigten Staaten geführten Strafverfahren schuldig und wurde zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe, auf die die in Deutschland verbrachte Haftzeit von neuneinhalb Monaten angerechnet wurde, sowie zu einer Geldstrafe von 50000 US-Dollar (USD) (ca. 40818 Euro) verurteilt. Herr Pisciotti verbüßte seine Haftstrafe bis zu seiner Entlassung am 14. April 2015 in den Vereinigten Staaten.

26

Das vorlegende Gericht erläutert, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Bundesrepublik Deutschland die aus Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes folgende Pflicht zu einer eigenen Rechtmäßigkeitskontrolle einer Bewilligung der Auslieferung und Beachtung etwaiger völkerrechtlicher Bindungen treffe. Das Bundesverfassungsgericht habe, u. a. auch im Fall von Herrn Pisciotti, entschieden, dass das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Sinne von Art. 18 AEUV im Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten nicht anwendbar sei, da diese Materie dem sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht unterfalle.

27

Das vorlegende Gericht hält – anders als das Bundesverfassungsgericht – das Unionsrecht im vorliegenden Fall für anwendbar. Herr Pisciotti habe von seinem Recht auf Freizügigkeit aus Art. 21 Abs. 1 AEUV Gebrauch gemacht, als er auf seinem Flug von Nigeria nach Italien in Frankfurt am Main zwischengelandet sei. Ferner könne seine Auslieferung an die Vereinigten Staaten auch wegen des EU–USA-Abkommens in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen.

28

Das vorlegende Gericht fragt sich in diesem Zusammenhang, ob Art. 17 Abs. 2 dieses Abkommens jedoch dahin verstanden werden könnte, dass damit eine Ausnahme von der Anwendung des Unionsrechts eingeführt werde und daher eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gerechtfertigt werden könnte. Es neigt jedoch zu der Auffassung, dass diese Rechtfertigung wegen des Primärrechts der Union nicht durchgreift.

29

Für den Fall eines Verstoßes gegen Unionsrecht durch die Bundesrepublik Deutschland möchte das vorlegende Gericht wissen, ob dieser Verstoß „hinreichend qualifiziert“ ist, um einen Entschädigungsanspruch zu verleihen. Es neigt dazu, diese Frage zu bejahen, da seiner Ansicht nach der Mitgliedstaat im vorliegenden Fall nur über einen erheblich verringerten oder gar auf null reduzierten Gestaltungsspielraum verfüge. Jedoch hat das vorlegende Gericht in dieser Hinsicht Zweifel, zumal es keine Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Frage gegeben habe, als die Bundesrepublik Deutschland ihre Entscheidung getroffen habe.

30

Unter diesen Umständen hat das Landgericht Berlin das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

a)

Ist der Auslieferungsverkehr eines Mitgliedstaats mit einem Drittstaat eine Materie, die, unabhängig vom Einzelfall, nie in den sachlichen Anwendungsbereich der Verträge fällt, so dass das europarechtliche Diskriminierungsverbot aus Art. 18 Abs. 1 AEUV bei der (wortlautgetreuen) Anwendung einer verfassungsrechtlichen Norm (hier: Art. 16 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz), die nur die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Drittstaaten verbietet, nicht zu berücksichtigen ist?

b)

Falls diese Frage zu bejahen ist: Ist die Frage 1 anders zu beantworten, wenn der Auslieferungsverkehr eines Mitgliedstaats mit den Vereinigten Staaten von Amerika auf der Grundlage des Auslieferungsübereinkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika betroffen ist?

2.

Soweit die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Verträge im Hinblick auf den mitgliedstaatlichen Auslieferungsverkehr mit den Vereinigten Staaten von Amerika nicht von vornherein ausgeschlossen ist:

Ist Art. 18 Abs. 1 AEUV und die dazu ergangene einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat in ungerechtfertigter Weise gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 Abs. 1 AEUV verstößt, wenn er auf der Grundlage einer verfassungsrechtlichen Norm (hier: Art. 16 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz) bei Auslieferungsersuchen von Drittstaaten eigene Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich behandelt, indem er nur Letztere ausliefert?

3.

Falls in den vorbenannten Fällen ein Verstoß gegen das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Art. 18 Abs. 1 AEUV bejaht wird:

Ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dahin zu verstehen, dass in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem der Bewilligung der Auslieferung durch die zuständige Behörde eine Rechtmäßigkeitskontrolle durch ein gerichtliches Verfahren zwingend vorausgeht, dessen Ergebnis die Behörde aber nur bindet, wenn die Auslieferung für unzulässig erklärt wird, ein qualifizierter Verstoß bereits bei einem einfachen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 18. Abs. 1 AEUV vorliegen kann, oder ist ein offenkundiger Verstoß erforderlich?

4.

Falls ein offenkundiger Verstoß nicht erforderlich ist:

Ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dahin auszulegen, dass ein hinreichend qualifizierter Verstoß in einem Fall wie dem vorliegenden bereits deshalb zu verneinen ist, wenn, bei fehlender Rechtsprechung des Gerichtshofs bezüglich der konkreten Fallkonstellation (hier: die sachliche Anwendbarkeit des allgemeinen Diskriminierungsverbots aus Art. 18 Abs. 1 AEUV im Bereich des mitgliedstaatlichen Auslieferungsverkehrs mit den Vereinigten Staaten von Amerika), die nationale Exekutivspitze zur Begründung ihrer Entscheidung auf die Konformität mit in derselben Sache zuvor ergangenen Entscheidungen nationaler Gerichte verweisen kann?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

31

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem ein Unionsbürger, gegen den sich ein auf das EU–USA-Abkommen gestütztes Ersuchen auf Auslieferung in die Vereinigten Staaten richtete, in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen seiner Staatsangehörigkeit zum Zwecke des etwaigen Vollzugs dieses Ersuchens festgenommen wurde, die Situation dieses Bürgers in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.

32

Hierzu ist festzustellen, dass das EU–USA-Abkommen auf ein Auslieferungsersuchen wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende anwendbar ist, weil das Ersuchen nach Inkrafttreten des Abkommens in dessen Rahmen gestellt wurde.

33

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 30), zu einem Auslieferungsersuchen eines Drittstaats, mit dem die Union kein Auslieferungsabkommen geschlossen hatte, entschieden hat, dass die Auslieferungsvorschriften mangels eines solchen Abkommens zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, zu den Situationen, die in den Anwendungsbereich von Art. 18 AEUV in Verbindung mit den Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Unionsbürgerschaft fallen, aber diejenigen gehören, die die Ausübung der durch Art. 21 AEUV verliehenen Freiheit betreffen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten.

34

Somit ist unter Berücksichtigung dieses Urteils festzustellen, dass die Situation eines Unionsbürgers wie Herrn Pisciotti, eines italienischen Staatsangehörigen, der von seinem Recht auf Freizügigkeit in der Union Gebrauch gemacht hat, als er während einer Rückreise aus Nigeria in Deutschland zwischenlandete, in den Anwendungsbereich der Verträge im Sinne von Art. 18 AEUV fällt. Der Umstand, dass er sich lediglich auf Durchreise in Deutschland befand, als er festgenommen wurde, ändert nichts an dieser Feststellung.

35

Daher ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem ein Unionsbürger, gegen den sich ein Ersuchen auf Auslieferung in die USA richtet, in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen seiner Staatsangehörigkeit zum Zwecke des etwaigen Vollzugs dieses Ersuchens festgenommen wurde, die Situation dieses Bürgers in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, sofern dieser Bürger sein Recht auf Freizügigkeit in der Union ausgeübt hat und dieses Auslieferungsersuchen im Rahmen des EU–USA-Abkommens gestellt wurde.

Zur zweiten Frage

36

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob in einem wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils dargelegten Fall Art. 18 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einem ersuchten Mitgliedstaat verwehrt, auf der Grundlage einer verfassungsrechtlichen Norm eigene Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten unterschiedlich zu behandeln und die Auslieferung Letzterer zu gestatten, obwohl er die Auslieferung eigener Staatsangehöriger nicht erlaubt.

37

Die zweite Frage ist unter dem Gesichtspunkt des EU–USA-Abkommens zu untersuchen.

38

Hierzu ist festzustellen, dass dieses Abkommen, dessen Zweck es nach seinem Art. 1 ist, die Zusammenarbeit zwischen der Union und den Vereinigten Staaten von Amerika im Rahmen der geltenden Auslieferungsbeziehungen zu verstärken, eine etwaige Ungleichbehandlung zwischen eigenen Staatsangehörigen und Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten durch den ersuchten Staat nicht als solche thematisiert. Darüber hinaus sieht dieses Abkommen mit Ausnahme seines Art. 13 („Todesstrafe“) keine eigenen Gründe für die Ablehnung einer Auslieferung vor.

39

Allerdings bestimmt Art. 17 Abs. 1 des EU–USA-Abkommens ausdrücklich, dass ein Mitgliedstaat als ersuchter Staat Gründe für eine Ablehnung einer Auslieferung aufgrund eines Umstands geltend machen kann, der durch dieses Abkommen nicht geregelt ist, sich jedoch aus einem geltenden bilateralen Auslieferungsvertrag zwischen diesem Mitgliedstaat und den Vereinigten Staaten von Amerika ergibt. Was den Auslieferungsvertrag Deutschland–USA anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 7 Abs. 1 dieses Vertrags den Vertragsstaaten gestattet wird, ihre eigenen Staatsangehörigen nicht auszuliefern.

40

Außerdem konsultieren sich der ersuchte und der ersuchende Staat gemäß Art. 17 Abs. 2 des EU–USA-Abkommens in den Fällen, in denen die Verfassungsgrundsätze des ersuchten Staates ein Hindernis für die Erfüllung seiner Auslieferungspflicht darstellen können und weder das EU–USA-Abkommen noch der geltende bilaterale Vertrag eine Regelung dieser Angelegenheit vorsehen.

41

Dieser Art. 17 erlaubt also im Grundsatz, dass ein Mitgliedstaat entweder auf der Grundlage eines bilateralen Abkommens oder auf der Grundlage seines Verfassungsrechts seinen eigenen Staatsangehörigen einen Sonderstatus einräumt, indem er ihre Auslieferung verbietet.

42

Gleichwohl muss diese Befugnis im Einklang mit dem Primärrecht ausgeübt werden, insbesondere gemäß den Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Gleichbehandlung und die Freizügigkeit von Unionsbürgern.

43

Somit muss die mitgliedstaatliche Anwendung einer Bestimmung zur Ablehnung der Auslieferung in einem Abkommen zwischen einem Mitgliedstaat und den Vereinigten Staaten von Amerika auf Grundlage von Art. 17 Abs. 1 oder 2 des EU–USA-Abkommens, wie Art. 7 Abs. 1 des Auslieferungsvertrags Deutschland–USA oder Art. 16 des Grundgesetzes, wonach kein Deutscher ausgeliefert wird, im Einklang mit dem AEU-Vertrag, insbesondere dessen Art. 18 und 21, stehen.

44

Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass die nationalen Auslieferungsvorschriften eines Mitgliedstaats, die eine Ungleichbehandlung in Abhängigkeit davon schaffen, ob die betroffene Person ein Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats oder ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, geeignet sind, die Freizügigkeit der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten in der Union zu beeinträchtigen, da sie dazu führen, dass Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich in das Hoheitsgebiet des ersuchten Mitgliedstaats begeben haben, der Schutz vor Auslieferung, den die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats genießen, nicht gewährt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 32).

45

Folglich führt in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren die Ungleichbehandlung, die darin besteht, dass ein Unionsbürger, der wie Herr Pisciotti einem anderen als dem ersuchten Mitgliedstaat angehört, ausgeliefert werden kann, zu einer Beschränkung der Freizügigkeit im Sinne von Art. 21 AEUV (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 33).

46

Eine solche Beschränkung muss auf objektiven Erwägungen beruhen und in angemessenem Verhältnis zu dem legitimerweise verfolgten Zweck stehen (vgl. u. a. Urteile vom 12. Mai 2011, Runevič-Vardyn und Wardyn, C‑391/09, EU:C:2011:291, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 34).

47

Der Gerichtshof hat anerkannt, dass das Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Personen, die eine Straftat begangen haben, straflos bleiben, sich in den Rahmen der Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität einfügt. Dieses Ziel ist im Kontext eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 EUV im Unionsrecht als legitim einzustufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 36 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Maßnahmen, durch die eine Grundfreiheit wie die in Art. 21 AEUV vorgesehene eingeschränkt wird, können jedoch nur dann durch objektive Erwägungen gerechtfertigt werden, wenn sie zum Schutz der Belange, die sie gewährleisten sollen, erforderlich sind, und auch nur insoweit, als diese Ziele nicht mit weniger einschränkenden Maßnahmen erreicht werden können (Urteile vom 12. Mai 2011, Runevič-Vardyn und Wardyn, C‑391/09, EU:C:2011:291, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 38).

49

Herr Pisciotti trägt vor, da die Bundesrepublik Deutschland in ihrem innerstaatlichen Recht in § 7 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs die Möglichkeit vorsehe, auf ihrem Hoheitsgebiet eine Person aus einem anderen Mitgliedstaat zu verfolgen, wenn die Auslieferung nicht ausführbar sei, hätte sie diese weniger beschränkende Lösung wählen müssen und ihn nicht ausliefern dürfen. Die deutsche Regierung tritt allerdings der Auslegung dieser Bestimmung, auf der dieses Argument beruht, entgegen.

50

Im vorliegenden Fall stellt sich jedoch nur die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf Herrn Pisciotti über eine Handlungsmöglichkeit verfügt hätte, die weniger stark in die Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit eingegriffen hätte, indem sie in Erwägung gezogen hätte, ihn der Italienischen Republik zu übergeben, statt ihn an die Vereinigten Staaten von Amerika auszuliefern.

51

Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass dem Informationsaustausch mit dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene hat, der Vorzug gegeben werden muss, um den Behörden dieses Mitgliedstaats gegebenenfalls die Möglichkeit zu geben, einen Europäischen Haftbefehl zu Verfolgungszwecken zu erlassen. Ein Mitgliedstaat, in den sich ein Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, begeben hat, ist daher im Fall eines Auslieferungsersuchens eines Drittstaats, mit dem der erstgenannte Mitgliedstaat ein Auslieferungsabkommen geschlossen hat, verpflichtet, den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, zu informieren und ihm gegebenenfalls auf sein Ersuchen im Einklang mit den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 den Unionsbürger zu übergeben, sofern dieser Mitgliedstaat nach seinem nationalen Recht für die Verfolgung dieser Person wegen im Ausland begangener Straftaten zuständig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 48 und 50).

52

Obwohl diese Lösung – wie aus Rn. 46 des Urteils vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), hervorgeht – in einem Zusammenhang ohne internationales Abkommen zwischen der Union und dem betroffenen Drittstaat entwickelt wurde, ist sie auch auf eine Situation wie die des Ausgangsrechtsstreits, in der das EU–USA-Abkommen dem ersuchten Mitgliedstaat die Befugnis überträgt, seine eigenen Staatsangehörigen nicht auszuliefern, anwendbar.

53

Dieses Ergebnis wird nicht durch das Vorbringen einiger Regierungen, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben, in Frage gestellt, wonach die Priorisierung eines Übergabeersuchens aufgrund eines Europäischen Haftbefehls gegenüber einem Auslieferungsersuchen der Vereinigten Staaten von Amerika letztlich die Regel in Art. 10 Abs. 2 und 3 des EU–USA-Abkommens wirkungslos werden ließe, wonach die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats bei einem solchen Zusammentreffen den Staat bestimmt, an den die Person auf der Grundlage aller relevanten Faktoren übergeben wird.

54

Die in Rn. 51 des vorliegenden Urteils dargestellte Zusammenarbeit, bei der dem Europäischen Haftbefehl Vorrang eingeräumt wird, um weniger stark in die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit einzugreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 49), erweist sich nämlich nicht zwangsläufig als ein Hindernis für das Ersuchen auf Auslieferung an einen Drittstaat. Denn im Einklang mit dem Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass eine Person wegen der ihr im Auslieferungsersuchen angelasteten Taten straflos bleibt, muss der von einem anderen als dem ersuchten Mitgliedstaat gegebenenfalls erlassene Europäische Haftbefehl zumindest denselben Sachverhalt betreffen und – wie aus Rn. 50 des Urteils vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630), hervorgeht – der Ausstellungsmitgliedstaat nach seinem Recht für die Verfolgung dieser Person wegen dieser Taten, selbst wenn sie außerhalb seines Hoheitsgebiets begangen worden sind, zuständig sein.

55

Wie der Generalanwalt in Nr. 52 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist im vorliegenden Fall den dem Gerichtshof vorliegenden Verfahrensunterlagen und der mündlichen Verhandlung zu entnehmen, dass die konsularischen Behörden der Italienischen Republik über die Situation von Herrn Pisciotti vor dem Vollzug des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auslieferungsersuchens informiert worden sind, ohne dass die italienischen Justizbehörden einen Europäischen Haftbefehl gegen diese Person erlassen hätten.

56

Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem ein Unionsbürger, gegen den sich im Rahmen des EU–USA-Abkommens ein Ersuchen auf Auslieferung in die Vereinigten Staaten richtete, in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen seiner Staatsangehörigkeit zum Zwecke des etwaigen Vollzugs dieses Ersuchens festgenommen wurde, die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie dem ersuchten Mitgliedstaat nicht verwehren, auf der Grundlage einer verfassungsrechtlichen Norm eigene Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten unterschiedlich zu behandeln und diese Auslieferung zu gestatten, obwohl er die Auslieferung eigener Staatsangehöriger nicht erlaubt, sofern er vorher den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehöriger dieser Betroffene ist, die Möglichkeit eingeräumt hat, ihn im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls für sich zu beanspruchen, und dieser letztgenannte Mitgliedstaat keine entsprechende Maßnahme ergriffen hat.

Zur dritten und zur vierten Frage

57

Unter Berücksichtigung der Antwort auf die zweite Frage brauchen die dritte und die vierte Frage nicht beantwortet zu werden.

Kosten

58

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem ein Unionsbürger, gegen den sich ein Ersuchen auf Auslieferung in die Vereinigten Staaten von Amerika richtete, in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen seiner Staatsangehörigkeit zum Zwecke des etwaigen Vollzugs dieses Ersuchens festgenommen wurde, die Situation dieses Bürgers in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, sofern dieser Bürger sein Recht auf Freizügigkeit in der Europäischen Union ausgeübt hat und dieses Auslieferungsersuchen im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung vom 25. Juni 2003 gestellt wurde.

 

2.

In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem ein Unionsbürger, gegen den sich im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung vom 25. Juni 2003 ein Ersuchen auf Auslieferung in die Vereinigten Staaten von Amerika richtete, in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen seiner Staatsangehörigkeit zum Zwecke des etwaigen Vollzugs dieses Ersuchens festgenommen wurde, sind die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen, dass sie dem ersuchten Mitgliedstaat nicht verwehren, auf der Grundlage einer verfassungsrechtlichen Norm eigene Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten unterschiedlich zu behandeln und diese Auslieferung zu gestatten, obwohl er die Auslieferung eigener Staatsangehöriger nicht erlaubt, sofern er vorher den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehöriger dieser Betroffene ist, die Möglichkeit eingeräumt hat, ihn im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls für sich zu beanspruchen, und dieser letztgenannte Mitgliedstaat keine entsprechende Maßnahme ergriffen hat.

 

Lenaerts

Tizzano

Bay Larsen

von Danwitz

Da Cruz Vilaça

Malenovský

Levits

Fernlund

Borg Barthet

Bonichot

Rodin

Biltgen

Jürimäe

Lycourgos

Vilaras

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. April 2018.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Der Präsident

K. Lenaerts


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Europäischer Gerichtshof Urteil, 10. Apr. 2018 - C-191/16

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Referenzen - Gesetze

Europäischer Gerichtshof Urteil, 10. Apr. 2018 - C-191/16 zitiert 9 §§.

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 16


(1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. (2) Ke

Strafgesetzbuch - StGB | § 7 Geltung für Auslandstaten in anderen Fällen


(1) Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. (2) Für andere Taten, die im Ausland begangen werden, g

Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen - IRG | § 13 Sachliche Zuständigkeit


(1) Die gerichtlichen Entscheidungen erläßt vorbehaltlich der §§ 21, 22 und 39 Abs. 2 das Oberlandesgericht. Die Entscheidungen des Oberlandesgerichts sind unanfechtbar. (2) Die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht bereitet die Entscheidung

Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen - IRG | § 23 Entscheidung über Einwendungen des Verfolgten


Über Einwendungen des Verfolgten gegen den Auslieferungshaftbefehl oder gegen dessen Vollzug entscheidet das Oberlandesgericht.

Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen - IRG | § 74 Zuständigkeit des Bundes


(1) Über ausländische Rechtshilfeersuchen und über die Stellung von Rechtshilfeersuchen an ausländische Staaten entscheidet das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und mit anderen Bundesminis

Referenzen

(1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird.

(2) Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.

(1) Die gerichtlichen Entscheidungen erläßt vorbehaltlich der §§ 21, 22 und 39 Abs. 2 das Oberlandesgericht. Die Entscheidungen des Oberlandesgerichts sind unanfechtbar.

(2) Die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht bereitet die Entscheidung über die Auslieferung vor und führt die bewilligte Auslieferung durch.

Über Einwendungen des Verfolgten gegen den Auslieferungshaftbefehl oder gegen dessen Vollzug entscheidet das Oberlandesgericht.

(1) Über ausländische Rechtshilfeersuchen und über die Stellung von Rechtshilfeersuchen an ausländische Staaten entscheidet das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und mit anderen Bundesministerien, deren Geschäftsbereich von der Rechtshilfe betroffen wird. Ist für die Leistung der Rechtshilfe eine Behörde zuständig, die dem Geschäftsbereich eines anderen Bundesministeriums angehört, so tritt dieses an die Stelle des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Die nach den Sätzen 1 und 2 zuständigen Bundesministerien können die Ausübung ihrer Befugnisse auf nachgeordnete Bundesbehörden übertragen. Über Ersuchen nach den Unterabschnitten 2 und 3 von Abschnitt 2 des Neunten Teils dieses Gesetzes entscheidet das Bundesamt für Justiz.

(2) Die Bundesregierung kann die Ausübung der Befugnis, über ausländische Rechtshilfeersuchen zu entscheiden und an ausländische Staaten Rechtshilfeersuchen zu stellen, im Wege einer Vereinbarung auf die Landesregierungen übertragen. Die Landesregierungen haben das Recht zur weiteren Übertragung.

(3) Die Befugnisse des Bundeskriminalamtes zur Datenübermittlung, Ausschreibung und Identitätsfeststellung auf ausländisches Ersuchen richten sich nach § 27 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und § 33 Absatz 1 bis 4 des Bundeskriminalamtgesetzes.

(4) Als Ersuchen im Sinne der Absätze 1 und 2 gelten auch Datenübermittlungen nach den §§ 61a und 92c. Datenübermittlungen nach § 61a sind, soweit sie nicht in völkerrechtlichen Vereinbarungen nach § 1 Abs. 3 vorgesehen sind, von der Möglichkeit einer Übertragung nach Absatz 2 ausgeschlossen.

(1) Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt.

(2) Für andere Taten, die im Ausland begangen werden, gilt das deutsche Strafrecht, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt und wenn der Täter

1.
zur Zeit der Tat Deutscher war oder es nach der Tat geworden ist oder
2.
zur Zeit der Tat Ausländer war, im Inland betroffen und, obwohl das Auslieferungsgesetz seine Auslieferung nach der Art der Tat zuließe, nicht ausgeliefert wird, weil ein Auslieferungsersuchen innerhalb angemessener Frist nicht gestellt oder abgelehnt wird oder die Auslieferung nicht ausführbar ist.