Bundessozialgericht Beschluss, 04. Juli 2018 - B 11 AL 22/18 B

ECLI:ECLI:DE:BSG:2018:040718BB11AL2218B0
bei uns veröffentlicht am04.07.2018

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 22. Februar 2018 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der Kläger die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht in der gebotenen Weise dargelegt bzw bezeichnet hat (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die Beschwerde ist daher ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG, § 169 SGG).

2

Wird das Vorliegen eines Verfahrensmangels nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend gemacht, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels wie bei einer Verfahrensrüge innerhalb einer zugelassenen Revision zunächst die diesen Verfahrensmangel des LSG (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargelegt werden(vgl nur BSG SozR 1500 § 160a Nr 14 und 36; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 160a RdNr 16 mwN). Darüber hinaus ist bei der Rüge einer Gehörsverletzung die Darlegung zu verlangen, dass und warum die Entscheidung - ausgehend von der Rechtsansicht des LSG - auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit der Beeinflussung des Urteils besteht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36), denn eine Gehörsverletzung stellt gemäß § 202 SGG iVm § 547 ZPO keinen absoluten Revisionsgrund dar.

3

Die Beschwerdebegründung des Klägers, der sich in der Sache gegen die Aufhebung der Bewilligung von Alg wegen Einkünften aus einer selbstständigen Tätigkeit sowie die damit verbundene Pflicht zur Erstattung von Leistungen wendet, wird diesen Darlegungserfordernissen nicht gerecht. Er rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör, die Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots auf ein faires Verfahren und eine Verletzung der richterlichen Hinweispflicht; nach dem Inhalt einer früheren Ladungsverfügung und eines Schreibens des Berichterstatters habe er darauf vertrauen dürfen, dass das LSG die Durchführung einer umfangreichen Beweisaufnahme für notwendig gehalten habe und sein Urteil nicht - wie geschehen - ohne vorherigen Hinweis auf vorliegende Steuerbescheide stützen würde.

4

Gemäß § 62 Halbsatz 1 SGG, der dem schon in Art 103 Abs 1 GG verankerten prozessualen Grundrecht entspricht(vgl Neumann in Hennig, SGG, § 62 RdNr 6 ff, Stand Juni 2015), ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren. Die richterliche Hinweispflicht (§ 106 Abs 1 SGG) konkretisiert den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Hauck in Hennig, SGG, § 106 RdNr 10, Stand September 2010) und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen (vgl BSG vom 26.7.2016 - B 4 AS 47/15 R - BSGE 122, 25 = SozR 4-1500 § 114 Nr 2, RdNr 34). Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt allerdings nur vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (vgl nur BSG vom 22.4.2015 - B 3 P 8/13 R - BSGE 118, 239 = SozR 4-3300 § 23 Nr 7, RdNr 37; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 62 RdNr 8b). Der Verfahrensmangel einer Überraschungsentscheidung ist deshalb nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt (BSG vom 7.6.2016 - B 13 R 40/16 B - RdNr 9).

5

Eine solche unerwartete Verfahrenswendung ist hier nicht nachvollziehbar dargelegt. Der Kläger hätte insbesondere aufzeigen müssen, warum für ihn das Absehen von einer weiteren förmlichen Beweisaufnahme durch das LSG nicht bereits dadurch erkennbar gewesen ist, dass zum abschließenden Termin zur mündlichen Verhandlung am 22.2.2018 keine Zeugen mehr geladen wurden und dementsprechend der Termin - von dem teilnehmenden Kläger und seinem Bevollmächtigen im Übrigen unbeanstandet - ohne weitere Beweisaufnahme durchgeführt wurde. Zudem trägt er vor, dass die Steuerbescheide, auf die das LSG seine Entscheidung ua gestützt hat, schon frühzeitig im Verfahren vorgelegt wurden, sodass auch nicht deutlich wird, warum deren Berücksichtigung für einen gewissenhaften Prozessbeteiligten eine unerwartete Wendung in dem Rechtsstreit darstellen soll, mit der dieser ohne besonderen Hinweis unter keinen Umständen zu rechnen brauchte. Die Steuerbescheide sind zudem bereits wesentliche Grundlage der Entscheidung des SG gewesen.

6

Soweit der Kläger die Verletzung einer besonderen Hinweispflicht des LSG geltend macht, fehlt es daneben an einer Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass Hinweispflichten tatsächliche und rechtliche Würdigungen voraussetzen, die sich regelmäßig erst aufgrund einer abschließenden Beratung des Gerichts ergeben können (vgl BSG vom 26.7.2016 - B 4 AS 47/15 R - BSGE 122, 25 = SozR 4-1500 § 114 Nr 2, RdNr 35 mwN), sodass aufklärende Hinweise zu allen Detailfragen nicht zu verlangen sind.

7

Die Beschwerde zeigt darüber hinaus nicht in der gebotenen Weise auf, warum das LSG auch im Falle weiteren Vorbringens des Klägers zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können. Insofern fehlt es vor dem Hintergrund, dass der Kläger im streitbefangenen Leistungszeitraum tatsächlich selbstständig tätig war und Einkommen erzielt hat, bereits an einer ausreichenden Darstellung der Sach- und Rechtslage, die dem Senat eine Beurteilung ermöglichen würde, ob und in welchem Umfang die Aufhebung der Leistungsbewilligung auch unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens rechtmäßig gewesen sein könnte.

8

Eine Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG hat der Kläger ebenfalls nicht formgerecht dargelegt. Hierzu ist aufzuzeigen, mit welcher genau bestimmten entscheidungserheblichen rechtlichen Aussage die angegriffene Entscheidung des LSG von welcher ebenfalls genau bezeichneten rechtlichen Aussage des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG abweicht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 21, 29 und 54). Allgemeine Ausführungen dazu, warum die Entscheidung des LSG im konkreten Fall von Rechtsprechung des BSG abweiche, ohne einzelne Rechtssätze aus den Entscheidungen herauszuarbeiten, reichen nicht aus.

9

Schließlich hat der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht formgerecht dargelegt. Wird eine grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG geltend gemacht, muss eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) aufgezeigt werden(vgl nur BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN). Der Kläger macht geltend, die grundsätzliche Bedeutung ergebe sich aus den dargelegten Rechtsfehlern. Damit fehlt es schon an der Formulierung einer vom Revisionsgericht beantwortbaren Rechtsfrage.

10

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

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(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

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(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

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(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder

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Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfa

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Eine Entscheidung ist stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen,1.wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war;2.wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Ges

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Das Bundessozialgericht hat zu prüfen, ob die Revision statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Revision als unzulässig zu verwerfen. Die Verwerfu

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(1) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlich

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Tenor Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. März 2015 wird zurückgewiesen.

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Tenor Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. Juni 2013 aufgehoben und der Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückverwiesen, soweit ein Ansp

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(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

Das Bundessozialgericht hat zu prüfen, ob die Revision statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Revision als unzulässig zu verwerfen. Die Verwerfung ohne mündliche Verhandlung erfolgt durch Beschluß ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen; Buch 6 der Zivilprozessordnung ist nicht anzuwenden. Die Vorschriften des Siebzehnten Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes sind mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt. In Streitigkeiten über Entscheidungen des Bundeskartellamts, die die freiwillige Vereinigung von Krankenkassen nach § 172a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch betreffen, sind die §§ 63 bis 80 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt.

Eine Entscheidung ist stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war;
2.
wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen war, sofern nicht dieses Hindernis mittels eines Ablehnungsgesuchs ohne Erfolg geltend gemacht ist;
3.
wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war;
4.
wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat;
5.
wenn die Entscheidung auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
6.
wenn die Entscheidung entgegen den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht mit Gründen versehen ist.

(1) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.

(2) Der Vorsitzende hat bereits vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen.

(3) Zu diesem Zweck kann er insbesondere

1.
um Mitteilung von Urkunden sowie um Übermittlung elektronischer Dokumente ersuchen,
2.
Krankenpapiere, Aufzeichnungen, Krankengeschichten, Sektions- und Untersuchungsbefunde sowie Röntgenbilder beiziehen,
3.
Auskünfte jeder Art einholen,
4.
Zeugen und Sachverständige in geeigneten Fällen vernehmen oder, auch eidlich, durch den ersuchten Richter vernehmen lassen,
5.
die Einnahme des Augenscheins sowie die Begutachtung durch Sachverständige anordnen und ausführen,
6.
andere beiladen,
7.
einen Termin anberaumen, das persönliche Erscheinen der Beteiligten hierzu anordnen und den Sachverhalt mit diesen erörtern.

(4) Für die Beweisaufnahme gelten die §§ 116, 118 und 119 entsprechend.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. März 2015 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Revisionsverfahren.

Tatbestand

1

Streitig ist die Aufhebung und Erstattung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

2

Auf den Antrag der 1955 geborenen Klägerin auf aufstockende Leistungen nach dem SGB II, dem sie den Bescheid der Agentur für Arbeit Reutlingen vom 22.8.2011 über die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) in der Zeit vom September 2011 bis Februar 2013 iHv 20,85 Euro kalendertäglich beifügte, erkannte der Beklagte Arbeitslosengeld II (Alg II) für den Zeitraum vom Januar 2012 bis Juli 2012 zu (Bescheid vom 9.2.2012). Nur für die Monate Januar/Februar 2012 rechnete er Alg in unterschiedlicher Höhe an; ab März 2012 berücksichtigte er kein Einkommen.

3

Nachdem der Beklagte bemerkt hatte, dass die Klägerin über den Februar 2012 hinaus weiterhin Alg bezogen hatte, hörte er sie mit Fristsetzung bis 26.7.2012 zur beabsichtigten Aufhebung und Erstattung von überzahlten SGB II-Leistungen an (Schreiben vom 9.7.2012). Die Klägerin führte ua aus, sich keiner Schuld bewusst zu sein, weil sie im Leistungsantrag den Alg-Bezug angegeben habe; im SGB II-Bescheid sei dies auch angerechnet worden (Schreiben vom 27.7.2012). Bereits am letzten Tag der Anhörungsfrist hob der Beklagte die SGB II-Leistungen - gestützt auf § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X - teilweise in Höhe von 2393,70 Euro auf und forderte diese zurück(Bescheid vom 26.7.2012; für Februar 2012 in Höhe von 11,70 Euro, für März bis Juli 2012 in Höhe von monatlich 595,50 Euro). Dem hiergegen gerichteten Widerspruch, mit welchem die Klägerin das Verschulden des Beklagten an der Überzahlung geltend machte, gab der Beklagte nur zu einem geringen Teil statt (Reduzierung der Erstattungsforderung auf insgesamt 2329,01 Euro) und wies den Widerspruch im Übrigen - nunmehr gestützt auf § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X - als unbegründet zurück. Die Klägerin habe erkennen können und müssen, dass eine erhebliche Differenz der Leistungshöhe in den einzelnen Monaten bestehe (Widerspruchsbescheid vom 24.10.2012).

4

Im sozialgerichtlichen Klageverfahren hat die Klägerin vorgetragen, ihr sei der Grund für die geänderte Leistungshöhe ab März 2012 mangels Kenntnis der Verrechnungsmodalitäten zwischen dem Beklagten und der Agentur für Arbeit nicht klar gewesen. Der Bewilligungsbescheid sei höchst kompliziert. Sie habe alle Umstände mitgeteilt und davon ausgehen dürfen, dass die Berechnung richtig durchführt werde. Mit ihrer gegen den klageabweisenden Gerichtsbescheid des SG (vom 30.9.2013) eingelegten Berufung hat sie eingeschränkte Sprachkenntnisse und eine starke psychische Beeinträchtigung geltend gemacht und die fehlende Nachvollziehbarkeit der komplexen und unübersichtlichen Darstellungen im Leistungsbescheid des Beklagten beanstandet. Nach Hinweis des Berichterstatters des LSG an den Beklagten, dass die Anhörung zu den Voraussetzungen des § 45 SGB X, auf den der Beklagte seinen Widerspruchsbescheid erstmals gestützt habe, problematisch sei(Verfügung vom 13.3.2015), hat der Beklagte der Klägerin mit Frist bis 25.3.2015 Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten teilweisen Rücknahme der Leistungen und zu dem Vorwurf gegeben, ihr sei die fehlerhafte Bewilligung bekannt gewesen bzw sie habe erkennen können, dass ihr die Leistungen in dieser Höhe nicht zugestanden hätten. Nehme sie die Gelegenheit zur Stellungnahme nicht wahr, könnten für sie positive Umstände nicht berücksichtigt werden; nach Ablauf der Anhörungsfrist müsse sie mit einer Entscheidung rechnen, die ihr durch Bescheid mitgeteilt werde (Schreiben des Beklagten vom 18.3.2015).

5

Das LSG hat der Berufung der Klägerin in vollem Umfang stattgegeben (Urteil vom 26.3.2015). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der angefochtene Bescheid leide an einem Anhörungsmangel, weil die Klägerin zu der erstmals im Widerspruchsbescheid angeführten inneren Tatsache der grob fahrlässigen Unkenntnis nicht ordnungsgemäß angehört worden sei. Erst im gerichtlichen Verfahren habe sie umfassender zum Vorwurf der groben Fahrlässigkeit sowie zu ihrer Urteils-, Kritik- und Einsichtsfähigkeit vorgetragen. Im Gerichtsverfahren habe der Beklagte die fehlende Anhörung nicht nachgeholt. Die mit Schreiben vom 18.3.2015 gesetzte Äußerungsfrist bis zum 25.3.2015 - unter Berücksichtigung von Brieflaufzeiten von nur 4 Tagen einschließlich Samstag/Sonntag - sei für die Abfassung einer Stellungnahme, ggf nach Rücksprache mit dem Bevollmächtigten der Klägerin, der seinen Sitz nicht an ihrem Wohnsitz habe, selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Klägerin aus dem Widerspruchsbescheid und dem gerichtlichen Verfahren die Gründe des Beklagten für die Annahme grober Fahrlässigkeit bekannt seien, zu kurz gewesen. Die von dem Beklagten hilfsweise beantragte Aussetzung des Verfahrens sei als nicht sachdienlich abzulehnen.

6

Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 24 Abs 1 SGB X und § 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X, von § 114 Abs 2 S 1 SGG sowie des Gebots rechtlichen Gehörs. Eine Verletzung des § 24 SGB X liege vor, weil das LSG die Besonderheiten des Einzelfalls nicht berücksichtigt habe. Der Wechsel der Rechtsgrundlage von § 48 SGB X zu § 45 SGB X erfordere nicht stets eine erneute Anhörung. Bereits im Widerspruchsbescheid habe er Äußerungen der Klägerin zum Vorwurf der grob fahrlässigen Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung umfassend gewürdigt. § 41 SGB X sei verletzt, weil das Berufungsgericht eine Anhörungsfrist von zwingend mehr als 4 Tagen ohne Beachtung von Einzelfallumständen verlangt habe. Anders als bei einer erstmaligen Anhörung sei zu erwarten gewesen, dass sich die Klägerin bzw ihr Prozessbevollmächtigter eine Woche vor der mündlichen Verhandlung in dem bereits lange andauernden Gerichtsverfahren mit der Sache befasst hätten. Ein Verstoß gegen seinen Anspruch auf rechtliches Gehör sei darin zu sehen, dass in dem Hinweis des Berichterstatters - mit zu kurzer Frist zur Stellungnahme - allein auf die Anhörungsproblematik, nicht aber auch auf die Heilungsmöglichkeit hingewiesen worden sei, weshalb eine unzulässige Überraschungsentscheidung vorliege. Das LSG habe auch gegen § 114 Abs 2 S 1 SGG verstoßen, indem es seinen Aussetzungsantrag abgelehnt habe. Wegen des Verstoßes gegen das rechtliche Gehör sei das Aussetzungsermessen auf Null reduziert und das Gericht zur Aussetzung verpflichtet gewesen.

7

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26.03.2015 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 30.09.2013 zurückzuweisen.

8

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Sie führt aus, eine erneute Anhörung durch den Beklagten sei stets erforderlich und ein gerichtlicher Hinweis nicht notwendig gewesen. Es fehle an einer ordnungsgemäß nachgeholten Anhörung im Berufungsverfahren, weil das Schreiben an sie und nicht an ihren Bevollmächtigten gerichtet gewesen sei. Eine Pflicht des Gerichts, dem Beklagten "auf die Sprünge zu helfen", habe nicht bestanden. Nach dem Hinweis des LSG habe dieser ausreichend Zeit für eine Stellungnahme gehabt und eine solche in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG auch abgegeben. Das Berufungsgericht sei nicht zur Aussetzung der Verhandlung zur Heilung des Anhörungsmangels verpflichtet gewesen. Eine Fristeinräumung zur Ermöglichung der Heilung wäre mit der verfassungsrechtlichen Position der Klägerin auch nicht vereinbar.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat zu Recht entschieden, dass der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 26.7.2012 idF des Widerspruchsbescheids vom 24.10.2012 wegen eines Anhörungsmangels formell rechtswidrig und daher aufzuheben war (1). Das LSG hat weder § 114 Abs 2 S 2 SGG(2) noch den Anspruch auf rechtliches Gehör des Beklagten verletzt (3).

11

1. Das LSG hat den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 26.7.2012 idF des Widerspruchsbescheids vom 24.10.2012 zu Recht ungeachtet der Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit wegen formeller Rechtswidrigkeit aufgehoben, weil der Beklagte die Klägerin vor Erlass des Bescheides nicht ordnungsgemäß angehört hat (a) und dieser Anhörungsmangel auch weder im Widerspruchsverfahren (b) noch im Gerichtsverfahren (c) geheilt worden ist.

12

a) Der Aufhebungsanspruch der Klägerin folgt aus § 42 Abs 1 S 1 und 2 SGB X, wonach die Aufhebung eines Verwaltungsaktes allein deshalb beansprucht werden kann, weil die erforderliche Anhörung unterblieben oder nicht wirksam nachgeholt worden ist. Nach § 24 Abs 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Nach Abs 2 der Vorschrift kann davon unter bestimmten - hier nicht einschlägigen - Voraussetzungen abgesehen werden.

13

Das Berufungsgericht ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass es an einer ordnungsgemäßen Anhörung der Klägerin schon deshalb fehlte, weil der Beklagte den Aufhebungsbescheid auf § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X und sodann den Widerspruchsbescheid auf § 45 Abs 1, Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X gestützt hat. Wie der Senat bereits entschieden hat, ist für den Fall, dass sich eine Behörde erstmals im Widerspruchsbescheid auf die innere Tatsache, dass die betroffene Person die Rechtswidrigkeit des Bescheids zumindest infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hat, bezieht, weil sie den Ausgangsbescheid noch auf § 48 SGB X gestützt hat, erneut Gelegenheit zu einer vorherigen Stellungnahme einzuräumen(BSG Urteil vom 9.11.2010 - B 4 AS 37/09 R - SozR 4-1300 § 41 Nr 2, RdNr 12 f). Ein solcher Fall liegt hier vor, weil der Beklagte in seinem Anhörungsschreiben vom 9.7.2012 vor Erlass des angefochtenen Bescheides ausdrücklich nur auf den Aufhebungsgrund der Einkommenserzielung, nicht jedoch auf die subjektiven Gesichtspunkte einer Rücknahme wegen grob fahrlässigem Verhalten bzw grob fahrlässiger Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung hingewiesen hat.

14

b) Das Vorbringen der Revision, das LSG habe die Rechtsprechung des BSG unzutreffend angewandt und damit § 24 SGB X verletzt, weil es trotz vom Beklagten substantiiert dargelegter Indizien isoliert nur auf rein formale Kriterien abstelle und damit unabhängig vom Einzelfall in der vorliegenden Konstellation generell eine erneute formalisierte Anhörung auch im Vorverfahren für erforderlich erachte, geht ins Leere.

15

Es bedarf keiner Entscheidung des Senats darüber, ob eine erneute (§ 24 SGB X)oder nachzuholende Anhörung (§ 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X) im Widerspruchsverfahren im Einzelfall entbehrlich sein kann, wenn der Betroffene die von der Behörde (bewusst oder unbewusst) unterlassene Verfahrenshandlung der Anhörung selbst vornimmt, die im Ergebnis das bewirkt, was herbeizuführen der Behörde oblag (offen gelassen von BSG Urteil vom 26.9.1991 - 4 RK 4/91 - BSGE 69, 247, 253 f = SozR 3-1300 § 24 Nr 4 S 10 f - juris RdNr 32, 35). Eine Heilung des Anhörungsmangels allein durch die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens setzt zumindest voraus, dass der Ausgangsbescheid alle wesentlichen (Haupt-)Tatsachen, dh alle Tatsachen, die die Behörde ausgehend von ihrer materiell-rechtlichen Rechtsansicht berücksichtigen muss und kann (BSG Urteil vom 20.12.2012 - B 10 LW 2/11 R - SozR 4-5868 § 12 Nr 1, RdNr 35; BSG Urteil vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 ff = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 21 mwN), nennt. Hier fehlte es schon an der Bezeichnung der Umstände, aus denen der Beklagte in seinem Widerspruchsbescheid eine grobe Fahrlässigkeit der Klägerin abgeleitet hat.

16

Unbesehen des Umstandes, dass der Klägerin die erheblichen Tatsachen iS des § 24 Abs 1 SGB X mit dem Ausgangsbescheid nicht vollständig bekannt gegeben waren, hat sie sich nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG, die der Beklagte nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen hat(§ 163 SGG), im Widerspruchsverfahren auch nicht sachgerecht und vollständig zur erforderlichen grob fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit äußern können. Sie hat insbesondere erst im Gerichtsverfahren zu ihren Sprachschwierigkeiten, ihrer psychischen Beeinträchtigung und ihrer Unkenntnis von der Berechnungsgrundlage sowie zur Kompliziertheit der Berechnungen vorgetragen. Es ist daher - entgegen der Ansicht des Beklagten - revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht im Rahmen seiner nur in engen Grenzen überprüfbaren Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der Klägerin vor Erlass des Widerspruchsbescheids Äußerungsmöglichkeiten versagt geblieben sind, weil sie sich zwar allgemein zum "Verschulden" geäußert, jedoch erst im Gerichtsverfahren umfassender zum Vorwurf der groben Fahrlässigkeit und zu ihrer Urteils-, Kritik- und Einsichtsfähigkeit vorgetragen habe. Durch ein Teilvorbringen - wie hier - kann die fehlende Anhörung nicht ordnungsgemäß nachgeholt und der Verfahrensfehler nicht geheilt werden.

17

c) Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Anhörungsmangel auch im gerichtlichen Verfahren vor dem SG und dem LSG nicht geheilt worden ist.

18

Zwar ist nach § 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X idF des 4. Euro-Einführungsgesetzes vom 21.12.2000 (BGBl I 1983) eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die den Verwaltungsakt nach § 40 SGB X nicht nichtig macht, unbeachtlich, wenn ua die erforderliche Anhörung eines Beteiligten bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt wird.

19

Nach der Rechtsprechung des Senats, zu deren Aufgabe kein Anlass besteht, setzt die Nachholung der fehlenden Anhörung während des Gerichtsverfahrens aber voraus, dass die Behörde dem Betroffenen in einem mehr oder minder förmlichen Verwaltungsverfahren Gelegenheit zur Stellungnahme zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und im Anschluss zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält. Dieses formalisierte Verfahren erfordert regelmäßig ein gesondertes Anhörungsschreiben, eine angemessene Äußerungsfrist, die Kenntnisnahme des Vorbringens durch die Behörde und deren abschließende Äußerung zum Ergebnis der Überprüfung (BSG Urteil vom 9.11.2010 - B 4 AS 37/09 R - SozR 4-1300 § 41 Nr 2, RdNr 15; zustimmend hierzu Vogelgesang, SGb 2011, 483, 484; BSG Urteil vom 20.12.2012 - B 10 LW 2/11 R - SozR 4-5868 § 12 Nr 1, RdNr 39; für die Notwendigkeit des durch die Behörde selbst durchzuführenden Anhörungsverfahrens mit zumindest formloser Entscheidung über das Festhalten an ihrer Entscheidung bereits BSG Urteil vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R - juris RdNr 15).

20

Nach diesen Maßstäben für eine ordnungsgemäße Anhörung begegnet die von dem Beklagten während des Berufungsverfahrens mit Schreiben vom 18.3.2015 eingeleitete Anhörung in mehrfacher Hinsicht Bedenken. Es ist fraglich, ob - wie der Beklagte meint - die mit diesem Schreiben für die Klägerin bestimmte Anhörungsfrist bis 25.3.2015 nach den Umständen des Einzelfalls noch als angemessen anzusehen ist (zur "Regelanhörungszeit" von 2 Wochen vgl BSG Urteil vom 23.8.2005 - B 4 RA 29/04 R - SozR 4-2600 § 313 Nr 4 RdNr 18; zur gerichtlichen Überprüfbarkeit und Berücksichtigung der Einzelfallumstände vgl BSG Urteil vom 24.7.1980 - 5 RKnU 1/79 - SozR 1200 § 34 Nr 12 S 53). Eine unangemessen kurze Frist steht dabei der unterlassenen Anhörung gleich (vgl zu einer nur einwöchigen Frist: BSG Urteil vom 14.11.1984 - 1 RA 3/84 - juris RdNr 14; BSG Urteil vom 24.7.1980 - 5 RKnU 1/79 - SozR 1200 § 34 Nr 12 S 54)ohne dass zu prüfen ist, ob der Betroffene sich auch tatsächlich zu dem Verwaltungsakt geäußert hatte oder hätte äußern wollen (Mutschler in Kasseler Kommentar, § 24 SGB X RdNr 18 f mwN, Stand September 2015). Der Heilung des Anhörungsmangels könnte auch entgegenstehen, dass der Beklagte auch für den Fall der Nichtäußerung im nachgeholten Anhörungsverfahren eine Entscheidung durch Bescheid angekündigt, eine Mitteilung an die Klägerin jedoch unterlassen hat. Für eine abschließende Stellungnahme im Sinne eines vom Senat geforderten formalisierten Verfahrens genügt jedenfalls nicht eine Äußerung der Behörde gegenüber dem Gericht bzw eine Klageerwiderung oder der Austausch von Schriftsätzen unter Wiedergabe der Standpunkte (BSG Urteil vom 20.12.2012 - B 10 LW 2/11 R - SozR 4-5868 § 12 Nr 1 RdNr 39; BSG Urteil vom 7.7.2011 - B 14 AS 144/10 R, juris RdNr 21; BSG Urteil vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R - juris RdNr 15).

21

Die Heilung des Anhörungsmangels durch deren Nachholung in einem ordnungsgemäßen förmlichen Verfahren scheitert aber jedenfalls daran, dass der Beklagte sich mit dem Schreiben vom 18.3.2015 nicht an den bereits im Widerspruchsverfahren beauftragten Prozessbevollmächtigten der Klägerin, sondern direkt an diese gewandt hat. Denn nach § 13 Abs 3 S 1 SGB X, der hier für die Nachholung des formalisierten Anhörungsverfahrens Anwendung findet, muss sich eine Behörde an den für das Verfahren bestellten Bevollmächtigten wenden; dies steht nicht in ihrem Ermessen (Mutschler in Kasseler Kommentar, § 13 SGB X RdNr 14, Stand September 2013). Diese "Kommunikationsverpflichtung" bezweckt neben einer zweckmäßigen Verfahrensgestaltung den Schutz des Verfahrensbeteiligten, der durch die Bevollmächtigung zu erkennen gegeben hat, dass dieser das Verfahren für ihn betreiben soll (Pitz in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand 5.1.2016, § 13 RdNr 13).

22

Auf Grund der erteilten Prozessvollmacht konnte die Klägerin darauf vertrauen, dass alle prozessrelevanten Erklärungen und Verfügungen an ihren Bevollmächtigten gerichtet werden und von ihr keine Kenntnis bzw Reaktion erwartet werden konnte. Der Beklagte durfte das Anhörungsschreiben auch nicht nach § 13 Abs 3 S 2 SGB X an die Klägerin adressieren, wonach sich eine Behörde, soweit ein Beteiligter zur Mitwirkung verpflichtet ist, an diesen selbst wenden kann, weil schon keine Mitwirkungspflicht der Klägerin bestand. Auch kann nicht mit Bezug auf § 37 Abs 1 S 2 SGB X von einem Ermessen des Beklagten hinsichtlich einer möglichen Bekanntgabe an die Klägerin ausgegangen werden. Zwar bestimmt § 37 Abs 1 S 2 SGB X für die Bekanntgabe von Verwaltungsakten, dass die Bekanntgabe dem Bevollmächtigten gegenüber vorgenommen werden kann, wenn ein solcher bestellt ist. Abgesehen davon, dass während eines bei Gericht anhängigen Rechtsstreits das Ermessen der Behörde hinsichtlich der Bekanntgabe von Verwaltungsakten, die den Klagegegenstand betreffen, ohnehin dahingehend auf Null reduziert ist, dass eine Bekanntgabe gegenüber dem Prozessbevollmächtigten zu erfolgen hat (Pattar in jurisPK-SGB X, 2013, § 37 SGB X RdNr 87; vgl zur Bekanntgabe gegenüber dem aktuellen Prozessbevollmächtigten BFH vom 24.2.2005 - IV R 28/00, juris RdNr 10; vgl BFH vom 5.5.1994 - VI R 98/93 - BFHE 174, 208, 211 f, BStBl II 1994, 806, 807 f - juris RdNr 14 ff), ist § 37 SGB X hier schon mangels Verwaltungsaktqualität des Anhörungsschreibens vom 18.3.2015 nicht anwendbar.

23

2. a) Die von dem Beklagten gerügte Verletzung des § 114 Abs 2 S 2 SGG, eingefügt durch Art 21 und 68 des Gesetzes zur Einführung des Euro im Sozial- und Arbeitsrecht sowie zur Änderung anderer Vorschriften vom 21.12.2000 (BGBl I 1983), liegt nicht vor. Auch wenn der Beklagte in der Revisionsbegründung fehlerhaft die Vorschrift des § 114 Abs 2 S 1 SGG genannt hat, ist die Verletzung des § 114 Abs 2 S 2 SGG nach dem Inhalt und Zusammenhang seiner Darlegungen in der Revisionsbegründung trotz versehentlich ungenauer Bezeichnung ordnungsgemäß gerügt.

24

Die in der Berufungszurückweisung und damit Entscheidung in der Sache enthaltene Ablehnung der Aussetzung durch das LSG (vgl zur Zulässigkeit der Ablehnung des Aussetzungsantrags im Urteil: Hauck in Zeihe, SGG, § 114 RdNr 6a, Stand April 2016)ist im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Es lagen schon die tatbestandlichen Voraussetzungen der Aussetzung gemäß § 114 Abs 2 S 2 SGG, wonach das Gericht auf Antrag die Verhandlung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern aussetzen kann, soweit dies im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdienlich ist, nicht vor.

25

Eine Sachdienlichkeit der Aussetzung im Sinne der Verfahrenskonzentration kann nur dann bejaht werden, wenn durch eine Heilung von Verfahrens- und Formmängeln im Gerichtsverfahren eine Verkürzung der Dauer des gesamten Verfahrens unter Berücksichtigung eines zu erwartenden neuen Verwaltungs- und anschließenden Gerichtsverfahrens zur erneuten Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit erreicht werden kann (vgl zur Verkürzung der Gesamtdauer sowohl des Verwaltungs- als auch des Gerichtsverfahrens: BSG Urteil vom 12.6.2001 - B 4 RA 37/00 R - SozR 3-2600 § 243 Nr 9 S 38). Nur dann ist für eine Ermessensentscheidung Raum (so auch Hauck in Zeihe, SGG, § 114 SGG RdNr 23, Stand April 2016). Allein die noch mögliche Heilung eines Form- oder Verfahrensfehlers genügt dagegen nicht. Dies ergibt sich aus einer am Wortlaut des § 114 Abs 2 S 2 SGG, der Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Vorschrift orientierten engen Auslegung.

26

b) Schon aus dem Wortlaut des § 114 Abs 2 S 2 SGG ("soweit") ist darauf zu schließen, dass die Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration Voraussetzung der Aussetzung und nicht nur - so offenbar das LSG - Ermessensgesichtspunkt ist; eine allgemeine Sachdienlichkeit genügt hierfür allerdings nicht (vgl zur Auslegung der Verfahrenskonzentration in Bezug auf das gerichtliche Verfahren: BSG Urteil vom 31.10.2002 - B 4 RA 15/01 R - SozR 3-1300 § 24 Nr 22, S 75).

27

Dass die Aussetzung nach § 114 Abs 2 S 2 SGG voraussetzt, dass ein weiteres, unnötiges Verfahren vermieden wird und dass durch die Aussetzung die Gesamtdauer des Gerichts- und Verwaltungsverfahrens verkürzt wird, wird durch Sinn und Zweck der Vorschrift, wie sie der Gesetzeshistorie zu entnehmen sind, bestätigt. Der Gesetzgeber hat die Übernahme der seit 1.1.1997 geltenden Regelung des § 94 S 2 VwGO(idF des 6. VwGOÄndG vom 1.11.1996, BGBl I 1626, aufgehoben durch das Rechtsmittelbereinigungsgesetz vom 20.12.2001 ), der eine Aussetzung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ermöglichte und der Verfahrensbeschleunigung diente, in das SGG damit begründet, dass auch im sozialgerichtlichen Verfahren unnötige Verzögerungen vermieden werden sollten (BT-Drucks 14/4375, S 63; vgl zur Ergänzung der Voraussetzung "sachdienlich" durch die Wörter "im Sinne der Verfahrenskonzentration" in der zwischenzeitlich aufgehobenen Parallelregelung in § 94 S 2 VwGO aF die Ausführungen zur Entstehungsgeschichte bei Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 94 VwGO RdNr 4,Stand Februar 2016). § 94 S 2 VwGO diente der Prozessökonomie durch Vermeidung eines unnötigen zweiten Prozesses in derselben Sache bzw der Vermeidung der Fortsetzung in höherer Instanz. Auch § 114 Abs 2 S 2 SGG verfolgt diesen Zweck(Lowe in Hintz/Lowe, SGG, 2012, § 114 SGG RdNr 3; Hauck in Zeihe, SGG, § 114 SGG RdNr 4, Stand April 2016). Entsprechend ging der Gesetzgeber hinsichtlich des inzwischen aufgehobenen § 94 S 2 VwGO davon aus, dass die Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration Tatbestandsvoraussetzung der Aussetzung ist und nicht nur im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen ist. Gleiches gilt für § 114 SGG(vgl zur Entstehungsgeschichte des § 94 S 2 VwGO auch BT-Drucks 13/3993 S 5, 12, 20 sowie die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses im Hinblick auf eine Reduzierung der Vorschrift auf eine Ermessensregelung und Anknüpfung an die Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration; dagegen wohl allgemein von einem reduzierten Ermessen im Rahmen des § 114 Abs 2 S 2 SGG ausgehend Wehrhahn in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 114 SGG RdNr 11).

28

§ 114 Abs 2 S 2 SGG bezweckt daher nicht, der Behörde allgemein die Möglichkeit einzuräumen, einen bereits bestehenden Anspruch des Bürgers auf Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes nachträglich wieder zu beseitigen(Knittel in Hennig, SGG, § 114 RdNr 15b, Stand September 2010, im Sinne einer generell abzulehnenden Aussetzung des Verfahrens zur Beseitigung eines Anhörungsmangels; vgl zur Kritik an einer nachträglichen Anhörung mit Blick auf die Gefahr einer "Indienstnahme der Gerichte für die Effizienz der Verwaltung" Köhler in WzS 2010, 296, 301).

29

In systematischer Hinsicht steht § 114 Abs 2 S 2 SGG zwar in Zusammenhang mit § 41 SGB X(vgl zur funktionalen Einheit der Vorschriften, die einander ergänzen sollen mit Hinweis auf die Gesetzesbegründung BSG Urteil vom 12.6.2001 - B 4 RA 37/00 R - SozR 3-2600 § 243 Nr 9 S 38; siehe auch Knittel in Hennig, SGG, § 114 RdNr 15a, Stand September 2010). Daraus folgt jedoch nicht, dass § 114 Abs 2 S 2 SGG generell die Heilung von Verfahrensfehlern durch das Gericht ermöglichen soll. § 41 Abs 2 SGB X dehnt die Heilungsmöglichkeit vielmehr rein zeitlich aus, ohne aber das Gericht gleichzeitig zwingend und unbesehen der Voraussetzung der Sachdienlichkeit im Sinne einer Verfahrenskonzentration zur Ermöglichung der Heilung zu verpflichten(vgl Knittel in Hennig, SGG, Stand September 2010, § 114 SGG RdNr 15b).

30

c) Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe hat das LSG die Aussetzung mangels Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Es kann dahingestellt bleiben, ob - wie das LSG meint - diese Voraussetzung schon deshalb nicht vorliegt, weil mit einer weiteren Verzögerung des Verfahrens zu rechnen sei. Bei der vom Senat für erforderlich gehaltenen engen Interpretation der tatbestandlichen Voraussetzungen der Aussetzung nach § 114 Abs 2 S 2 SGG aus den vorstehenden Gründen ist eine Sachdienlichkeit im Sinne einer Verfahrenskonzentration jedenfalls schon deshalb zu verneinen, weil kein weiteres Verwaltungs- und Gerichtsverfahren in der gleichen Sache drohte, welches durch die Aussetzung zur Heilung des Anhörungsmangels überflüssig würde. Dem steht die Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB X entgegen, wonach die Behörde eine Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen vornehmen muss, welche dies rechtfertigen.

31

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG waren dem Beklagten zum Zeitpunkt seines Aussetzungsantrags vom 26.3.2015 auch diejenigen (weiteren) Tatsachen, die § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X für die Rücknahme für die Vergangenheit voraussetzt, länger als ein Jahr bekannt. Die den Beginn der Jahresfrist bestimmende Kenntnis ist nach der Rechtsprechung des BSG dann anzunehmen, wenn mangels vernünftiger objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen besteht (BSG Urteil vom 27.7.2000 - B 7 AL 88/99 R - SozR 3-1300 § 45 Nr 42, S 139). Der Einjahreszeitraum beginnt in jedem Fall schon dann, wenn die Behörde der Ansicht ist, dass ihr die vorliegenden Tatsachen für eine Rücknahme bzw Aufhebung der Bewilligung genügen (BSG Urteil vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R - juris RdNr 13 mwN), denn es ist insoweit vorrangig auf den Standpunkt der Behörde abzustellen (Padé in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2013, § 45 RdNr 108 mwN). Vor diesem Hintergrund kann die Aussetzung zur Durchführung eines förmlichen Anhörungsverfahrens auf den erst am 26.3.2015 gestellten Antrag des Beklagten jedenfalls nicht mehr als im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdienlich angesehen werden, weil dies im Ergebnis zu einer Umgehung der Rücknahmefrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB X führen würde.

32

Da demnach bereits die Tatbestandsvoraussetzung der Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration für die Aussetzung nach § 114 Abs 2 S 2 SGG nicht vorlag, kommt es auf das weitere Vorbringen des Beklagten nicht mehr an, dass sich das Aussetzungsermessen auf Null reduziert habe, weil der Hinweis auf die Anhörungsproblematik verspätet gewesen sei.

33

3. Die Rüge des Beklagten, das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem es 17 Monate versäumt habe, auf die Anhörungsproblematik einzugehen und Heilungsmöglichkeiten - auch durch Aussetzung des Verfahrens nach § 114 SGG - aufzuzeigen, greift nicht durch.

34

Gemäß § 62 Halbs 1 SGG, der dem schon in Art 103 Abs 1 GG verankerten prozessualen Grundrecht entspricht(zur verfassungsrechtlichen Verankerung und den Dimensionen des rechtlichen Gehörs: Neumann in Hennig, SGG, § 62 RdNr 6 ff, Stand Juni 2015), ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts das rechtliche Gehör zu gewähren. Die richterliche Hinweispflicht (§ 106 Abs 1 SGG) konkretisiert den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Hauck in Hennig, SGG, § 106 RdNr 10, Stand September 2010) und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen. Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt jedoch nur vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (BSG Urteil vom 12.12.1990 - 11 RAr 137/89 - SozR 3-4100 § 103 Nr 4 S 23 mwN; vgl auch Beschluss des Senats vom 27.9.2011 - B 4 AS 42/11 B).

35

Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, wie schon der Aussetzungsantrag des Beklagten zeigt. Eine allgemeine Pflicht des Gerichts, auf die Beseitigung von Verfahrens- und Formfehlern des Verwaltungsverfahrens einer Behörde hinzuwirken, besteht nicht (vgl zu gesteigerten Hinweispflichten auf prozessuale Rechte nur bei erkennbar nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten: Neumann in Hennig, SGG, § 62 RdNr 65, Stand Juni 2015; vgl zur Gefahr der Annahme einer Parteilichkeit: Hauck in Hennig, SGG, § 106 RdNr 9, Stand September 2010). Die von dem Beklagten geltend gemachte Hinweispflicht des LSG setzte zudem eine tatsächliche und rechtliche Würdigung voraus, die sich regelmäßig erst auf Grund einer abschließenden Beratung des Gerichts ergeben kann (vgl hierzu BVerwG Beschluss vom 21.9.2011 - 5 B 11/11, RdNr 3). Auch war das Erfordernis einer ordnungsgemäßen Anhörung den Beteiligten als zu berücksichtigender Umstand bekannt, sodass richterliche Hinweispflicht zur Beantragung einer Aussetzung nach § 114 SGG zum Zweck der Nachholung der fehlenden Handlung ebenfalls nicht bestand(vgl auch Wehrhahn in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 114 RdNr 11).

36

In gleicher Weise liegt die vom Beklagten gerügte Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör durch einen mit zu kurzer Frist vor der mündlichen Verhandlung erfolgten Hinweis des Berichterstatters des LSG im Schreiben vom 13.3.2015 nicht vor. Die erfolgreiche Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass der Betroffene alles getan hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Dazu gehört es regelmäßig auch, ggf einen Verlegungs- bzw Vertagungsantrag zu stellen (vgl BVerwG Beschluss vom 21.9.2011 - 5 B 11/11 - Juris RdNr 7; vgl BSG Beschluss vom 1.6.2011 - B 4 AS 82/11 B, RdNr 14). Einen solchen Verlegungs- bzw Vertagungsantrag oder einen Antrag auf Einräumung einer Frist für eine weitere schriftsätzliche Stellungnahme hat der Beklagte jedoch weder nach dem gerichtlichen Hinweis im Vorfeld zur mündlichen Verhandlung noch in der Verhandlung vor dem LSG gestellt. Die gerügte Verletzung rechtlichen Gehörs wegen einer zu kurzen Frist zwischen dem gerichtlichen Hinweis vom 13.3.2015 auf die Anhörungsproblematik des § 24 SGB X und der anberaumten mündlichen Verhandlung des LSG am 26.3.2015 greift daher nicht durch.

37

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. Juni 2013 aufgehoben und der Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückverwiesen, soweit ein Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe II für die Zeit vom 31. Mai 2011 bis 30. November 2011 betroffen ist. Für den Zeitraum vom 1. August 2005 bis zum 30. Mai 2011 wird die Revision zurückgewiesen.

Tatbestand

1

Im Revisionsverfahren ist noch ein Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe II für die Zeit vom 1.8.2005 bis zum 30.11.2011 streitig.

2

Die 1947 geborene Klägerin ist bei dem beklagten privaten Krankenversicherungsunternehmen pflegeversichert und beantragte im August 2005 Leistungen für die häusliche Pflege. Die Beklagte beauftragte die "Gesellschaft für medizinische Gutachten MedicProof GmbH" (im Folgenden: MedicProof) mit der Erstellung eines Gutachtens. Die für die MedicProof tätige Ärztin K.
ermittelte am 8.10.2005 einen Pflegebedarf der Klägerin im Bereich der Grundpflege von 23 Minuten und im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von 45 Minuten täglich. Auf dieser Grundlage lehnte die Beklagte Leistungen wegen Pflegebedürftigkeit ab, und die Klägerin hat am 26.6.2006 Klage beim SG erhoben. Im laufenden Klageverfahren holte die Beklagte ein weiteres Gutachten ein, weil die Klägerin eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes geltend gemacht hat. Der für die MedicProof tätige Facharzt für Innere Medizin und Arbeitsmedizin Dr. Z. stellte in einem Gutachten vom 11.7.2009 einen seit März 2009 bestehenden Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 70 Minuten und im Bereich der Hauswirtschaft von 45 Minuten täglich fest. Die Beklagte gewährte der Klägerin daraufhin ab 1.4.2009 Pflegegeld nach der Pflegestufe I.

3

Das SG hat neben diversen Unterlagen und ärztlichen Stellungnahmen ein Gutachten von Dr. S., Facharzt für Allgemeinmedizin und physikalische und rehabilitative Medizin vom 27.6.2011 eingeholt, nach welchem sich der Hilfebedarf der Klägerin seit dem Tag der Begutachtung am 30.5.2011 im Bereich der Grundpflege auf 123 Minuten und im Bereich der Hauswirtschaft auf 60 Minuten täglich erhöht habe. Für den Zeitraum davor sei jeweils den Gutachten der MedicProof zu folgen. Das SG hat - nach einer Zeugenvernehmung der Pflegeperson der Klägerin - die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung des für das Pflegegeld jeweils vorgesehenen Betrages unter Abzug bereits gewährter Zahlungen verurteilt, und zwar für die Zeit vom 1.8.2005 bis zum 15.11.2008 entsprechend der Pflegestufe II und seit dem 16.11.2008 entsprechend der Pflegestufe III (Urteil vom 16.11.2011). Es hielt die Gutachten der MedicProof für offensichtlich fehlerbehaftet und folgte weitgehend den Aussagen der Zeugin, die ua ausgeführt hatte, die Klägerin gehe zweimal pro Woche zur Lymphdrainage und zweimal pro Woche zur ärztlich angeordneten Physiotherapie (Massage) und müsse jede Woche einen Termin zur ärztlichen Untersuchung wahrnehmen.

4

Im Berufungsverfahren holte die Beklagte - wegen geltend gemachter weiterer Verschlechterungen - ein weiteres Gutachten der MedicProof von dem Arzt H. vom 10.5.2012 ein, der einen grundpflegerischen Hilfebedarf der Klägerin von täglich 143 Minuten und einen unveränderten hauswirtschaftlichen Hilfebedarf feststellte. Die Beklagte bewilligte schließlich im Wege eines Teilanerkenntnisses Pflegegeld nach der Pflegestufe I auch für den Monat März 2009 sowie seit Dezember 2011 nach der Pflegestufe II.

5

Das Hessische LSG hat das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen, soweit sie über das angenommene Anerkenntnis hinaus geht (Urteil vom 20.6.2013). Es hat ausgeführt, es könne offenbleiben, ob der Rechtsprechung des BSG zu folgen sei, dass nach dem Versicherungsvertragsgesetz (VVG) die ärztlichen Feststellungen in den von privaten Pflegeversicherungsunternehmen eingeholten Gutachten grundsätzlich verbindlich und nur im Falle einer offenbar von der wirklichen Sachlage erheblichen Abweichung unverbindlich seien. Die Voraussetzungen für Pflegegeld nach höheren als den jeweils anerkannten Pflegestufen lägen auch unter Berücksichtigung des vom SG eingeholten Gutachtens nicht vor. Der darin für den Zeitraum nach dem 30.5.2011 angegebene Hilfebedarf von 123 Minuten täglich sei jedenfalls auf unter 120 Minuten täglich zu korrigieren, da der Gutachter einen zu hohen Zeitbedarf für regelmäßige Arztbesuche angesetzt habe.

6

Mit ihrer infolge der Zulassung auf die Gewährung von Pflegegeld nach der Pflegestufe II für die Zeit vom 1.8.2005 bis zum 30.11.2011 beschränkten Revision macht die Klägerin geltend, der Gesetzgeber habe die Versicherten der privaten Pflegeversicherung denen der sozialen Pflegeversicherung im Hinblick auf Leistungsumfang, Versicherungsbedingungen und Rechtsschutz im Wesentlichen gleichstellen wollen (§ 23 Abs 6 Nr 1 SGB XI). Deshalb seien die Feststellungen der von der Beklagten beauftragten medizinischen Sachverständigen nicht verbindlich, und das vom SG eingeholte Sachverständigengutachten sei verwertbar. Die Verbindlichkeit der Feststellungen der Sachverständigen sei in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die private Pflegeversicherung - Bedingungsteil (MB/PPV) nicht vereinbart. Zudem beruft sich die Klägerin auf offenbare erhebliche Abweichungen der in den Gutachten der MedicProof getroffenen Feststellungen von der wirklichen Sachlage. Die Häufigkeit der Arztbesuche sei nicht thematisiert worden.

7

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20.6.2013 zu ändern und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen, soweit sie über das Anerkenntnis hinausgeht.

8

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Nach den Regelungen des VVG seien die Feststellungen in den von ihr eingeholten Sachverständigengutachten nur dann nicht verbindlich, wenn sie offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abwichen. Die Durchführung eines Sachverständigenverfahrens sei nach den wirksamen MB/PPV zwischen ihr und den Versicherten verbindlich vereinbart. Auch in der datenschutzrechtlichen Einwilligungs- und Schweigepflichtentbindungserklärung des Versicherten sei eine Vereinbarung über die Durchführung des Sachverständigenverfahrens zu sehen. Für die Versicherten ergebe sich daraus keine Benachteiligung, da bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit und der Zuordnung zu einer Pflegestufe dieselben Maßstäbe angelegt würden, wie in der sozialen Pflegeversicherung. Sie sei auch selbst an die Feststellungen der Gutachter gebunden und habe keine Möglichkeit, sich von einer Leistungszusage zu lösen, selbst wenn die Feststellungen erheblich von der wirklichen Sachlage abwichen.

Entscheidungsgründe

10

Die Revision der Klägerin scheitert weder bereits am Vorliegen der Sachurteilsvoraussetzungen (dazu 1.) noch an einer verspäteten gerichtlichen Geltendmachung des Leistungsanspruchs (dazu 2.). Zur Beurteilung des Anspruchs der Klägerin auf Pflegegeld ist das vom SG eingeholte Gutachten voll verwertbar. Der Senat hält nicht an der Auffassung fest, die Feststellungen in den von privaten Versicherungsunternehmen eingeholten Gutachten seien für die Sozialgerichte verbindlich, solange und soweit sie nicht "offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweichen" (dazu 3.). Die Gutachten der MedicProof sind daneben grundsätzlich gleichwertig, jeweils entsprechend ihrer Überzeugungskraft zu werten (dazu 4.). Auf dieser Grundlage ist die Revision für den Zeitraum vom 1.8.2005 bis zum 30.5.2011 unbegründet, weil der Klägerin für diese Zeit über die bereits anerkannten Leistungen nach der Pflegestufe I kein weiteres Pflegegeld zusteht (dazu 5.). Für den Zeitraum vom 31.5.2011 bis zum 30.11.2011 ist die Revision im Sinne einer Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet, denn der Senat vermag auf der Grundlage der Feststellungen des LSG nicht abschließend über einen Leistungsanspruch nach der Pflegestufe II für diesen Zeitraum zu entscheiden (dazu 6.).

11

1. Die auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfenden Sachurteilsvoraussetzungen liegen vor. Die Klage ist als isolierte Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG) zulässig. Als privates Versicherungsunternehmen erlässt die Beklagte keine Verwaltungsakte, sodass es weder einer zusätzlichen Anfechtungsklage bedurfte, noch der Durchführung eines Vorverfahrens oder der Einhaltung einer Klagefrist. Nach der endgültigen Leistungsablehnung durch die Beklagte konnte Rechtsschutz nur durch Beschreitung des Klageweges erlangt werden (vgl BSG SozR 4-3300 § 23 Nr 2).

12

2. Der Leistungsanspruch ist nicht bereits wegen verspäteter gerichtlicher Geltendmachung ausgeschlossen. Nach § 12 Abs 3 VVG(in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung der Verordnung zur Vereinheitlichung des Rechts der Vertragsversicherung vom 19.12.1939, RGBl 2443, 2444) ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Anspruch auf die Leistung nicht innerhalb von sechs Monaten gerichtlich geltend gemacht wird. Diese Frist beginnt jedoch nach § 12 Abs 3 Satz 2 VVG(in der oben genannten Fassung) erst, nachdem der Versicherer dem Versicherungsnehmer gegenüber den erhobenen Anspruch unter Angabe der mit dem Ablauf der Frist verbundenen Rechtsfolge schriftlich abgelehnt hat. Die Beklagte hat in keinem ihrer Schreiben die mit dem Ablauf der Frist verbundenen Rechtsfolgen angegeben, sodass die Frist nicht in Gang gesetzt wurde. Gleiches gilt nach § 17 Abs 2 MB/PPV in der zur Zeit der Klageerhebung geltenden Fassung(Stand 1.6.2005), weil auch danach die Frist erst beginnt, nachdem der Versicherer den Anspruch unter Angabe der mit dem Ablauf der Frist verbundenen Rechtsfolgen schriftlich abgelehnt hat.

13

3. Für die Beurteilung des Anspruchs auf Pflegegeld ist auch das vom SG eingeholte Gutachten uneingeschränkt zu berücksichtigen. Die Feststellungen, die die von der Beklagten beauftragten Gutachter getroffen haben, sind für die Gerichte nicht verbindlich. § 64 Abs 1 Satz 1 VVG(in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung des Gesetzes über den Versicherungsvertrag vom 30.5.1908, RGBl 263, 276 f) sowie der seit 1.1.2008 geltende, wortgleiche § 84 Abs 1 Satz 1 VVG(idF des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 23.11.2007, BGBl I 2631), der im Folgenden allein aufgeführt wird, ist auf private Pflegepflichtversicherungsverträge nicht anwendbar. Insoweit gibt der Senat seine bisherige anderslautende Rechtsprechung (vgl BSG SozR 4-7690 § 64 Nr 1 = SozR 4-3300 § 23 Nr 3 = SozR 4-1500 § 103 Nr 3; BSGE 88, 262 = SozR 3-3300 § 23 Nr 5; BSGE 88, 268 = SozR 3-3300 § 23 Nr 6) ausdrücklich auf. Nach § 84 Abs 1 Satz 1 VVG ist - wenn nach dem Vertrag einzelne Voraussetzungen des Anspruchs aus der Versicherung oder die Höhe des Schadens durch Sachverständige festgestellt werden sollen - die getroffene Feststellung nicht verbindlich, wenn sie offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweicht. Die Vorschrift ordnet damit grundsätzlich die Verbindlichkeit der Feststellungen eines Sachverständigen an, wenn vertraglich die Durchführung eines Sachverständigenverfahrens vereinbart wurde und die Feststellungen nicht offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweichen (vgl Langheid in Römer/Langheid, VVG, 4. Aufl 2014, § 84 RdNr 14; Kloth/Neuhaus in Schwintowski/Brömmelmeyer , Praxiskommentar zum Versicherungsvertragsrecht, 2. Aufl 2011, § 84 VVG RdNr 14; Beckmann in Honsell , Berliner Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 1999, § 64 RdNr 20; Voit/Knappmann in Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl 2004, § 64 RdNr 22 ff). Die Verbindlichkeitsanordnung dieser Regelung lässt sich nicht mit den für private Pflegepflichtversicherungsverträge spezielleren Regelungen des § 23 SGB XI vereinbaren.

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a) § 23 SGB XI enthält Sonderregelungen für private Pflegepflichtversicherungsverträge, die gegenüber den allgemeinen Regelungen des VVG vorrangig zu berücksichtigen sind, und - soweit die Vorschriften nicht in Einklang zu bringen sind - die allgemeinen Normen des VVG verdrängen. Private Versicherungsverhältnisse zur Durchführung der Pflegepflichtversicherung unterliegen zwar grundsätzlich dem zivilrechtlichen Versicherungsvertragsrecht; die private Vertragsfreiheit ist jedoch durch die Ausgestaltung als Pflichtversicherung erheblichen gesetzlichen Einschränkungen unterworfen, die sich im Wesentlichen aus § 23 SGB XI ergeben. Der Gesetzgeber hat sich zur Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit für eine allgemeine Versicherungspflicht entschieden. Er hat dabei die Systementscheidung getroffen, die Versicherung nur für die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung in der gesetzlichen sozialen Pflegeversicherung durchzuführen (§ 20 Abs 1 Satz 1 SGB XI). Die private Pflegeversicherung ist zwar als Pflichtversicherung ausgestaltet, sie wird aber als privatrechtliches Versicherungsvertragsverhältnis durchgeführt. Personen, die gegen das Risiko Krankheit bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen mit Anspruch auf allgemeine Krankenhausleistungen oder im Rahmen von Versicherungsverträgen, die der Versicherungspflicht nach § 193 Abs 3 VVG genügen, versichert sind, sind verpflichtet, bei diesem Unternehmen zur Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit einen Versicherungsvertrag abzuschließen oder aufrechtzuerhalten(§ 23 Abs 1 Satz 1 SGB XI), es sei denn, der Versicherte schließt einen entsprechenden Vertrag mit einem anderen privaten Versicherungsunternehmen (§ 23 Abs 2 Satz 1 SGB XI). Mit der Ausgestaltung als Pflichtversicherung hat der Gesetzgeber aber nicht nur die Vertragsabschlussfreiheit eingeschränkt, sondern auch weitgehende inhaltliche Vorgaben gemacht. Nach § 23 Abs 1 Satz 2 SGB XI muss der Vertrag Leistungen vorsehen, die nach Art und Umfang den Leistungen des 4. Kapitels des SGB XI gleichwertig sind. Dabei tritt an die Stelle der Sachleistungen eine der Höhe nach gleiche Kostenerstattung (§ 23 Abs 1 Satz 3 SGB XI). Nach § 23 Abs 6 Nr 1 SGB XI sind das private Krankenversicherungsunternehmen oder ein anderes die Pflegeversicherung betreibendes Versicherungsunternehmen verpflichtet, für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie für die Zuordnung zu einer Pflegestufe dieselben Maßstäbe wie in der sozialen Pflegeversicherung anzulegen. Diese Regelungen verdrängen die für private Versicherungsverhältnisse allgemein geltenden Vorschriften des VVG, soweit sie nicht miteinander vereinbar sind (vgl zum Ganzen bereits BVerfG Urteil vom 3.4.2001 - 1 BvR 2014/95 - BVerfGE 103, 197, 217 f = SozR 3-1100 Art 74 Nr 4 S 22 f = Juris RdNr 69 f). Seit 1.1.2008 stellt § 192 Abs 6 Satz 3 VVG klar, dass die Regelungen des Elften Buches Sozialgesetzbuch über die private Pflegeversicherung (von den Vorschriften des VVG) unberührt bleiben. Damit hat der Gesetzgeber den Vorrang der Regelungen des SGB XI gegenüber denen des VVG ausdrücklich normiert. Das schließt im Ergebnis die Anwendbarkeit der Verbindlichkeitsanordnung des § 84 Abs 1 Satz 1 VVG auf Gutachten im Auftrag des privaten Versicherungsunternehmens aus.

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b) Wegen der weitgehenden gesetzlichen Vorgaben zur Ausgestaltung des privaten Pflegepflichtversicherungsverhältnisses kann bereits in der Sache kaum noch von einem vertraglich ausgehandelten Sachverständigenverfahren ausgegangen werden, für dessen Feststellungen § 84 Abs 1 Satz 1 VVG Verbindlichkeit anordnet(so bereits LSG NRW Urteil vom 11.7.2002 - L 16 P 9/01 - Juris; ebenfalls kritisch: Bastian, NZS 2004, 76 <80 ff>; vgl auch Heinemann, Medizinische Begutachtung in der privaten und sozialen Pflegeversicherung, 2009, 53 f). § 84 Abs 1 Satz 1 VVG setzt voraus, dass "nach dem Vertrag" einzelne Voraussetzungen des Anspruchs aus der Versicherung oder die Höhe des Schadens durch Sachverständige festgestellt werden. Die Vorschrift findet daher nur auf vertraglich vereinbarte Sachverständigenverfahren Anwendung (vgl Langheid in Römer/Langheid, VVG, 4. Aufl 2014, § 84 RdNr 1; Kloth/Neuhaus in Schwintowski/Brömmelmeyer , Praxiskommentar zum Versicherungsvertragsrecht, 2. Aufl 2011, § 84 RdNr 4; Johannsen in Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl, Bd 3, 2009, § 84 RdNr 21; Beckmann in Honsell , Berliner Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 1999, § 64 RdNr 21; Voit/Knappmann in Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl 2004, § 64 RdNr 22).

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Die MB/PPV der Beklagten sehen die Durchführung eines Sachverständigenverfahrens vor. Nach § 6 Abs 2 Satz 1 MB/PPV(Stand 1.6.2005 sowie die bis zu der Fassung mit Stand vom 1.1.2010 insoweit - bis auf die durch die Klammersetzung gekennzeichneten Worte - identisch gebliebenen Fassungen, die den hier streitigen Zeitraum bis zum 30.11.2011 erfassen) sind Eintritt, Stufe und Fortdauer der Pflegebedürftigkeit, die Eignung, Notwendigkeit und Zumutbarkeit von Maßnahmen zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit, die Voraussetzungen des zusätzlichen Betreuungsbedarfs und die Notwendigkeit der Versorgung mit beantragten Pflegehilfsmitteln (und technischen Hilfen) durch einen von dem Versicherer beauftragten Arzt festzustellen. Mit der Durchführung der Untersuchungen kann der Medizinische Dienst der privaten Pflegepflichtversicherung beauftragt werden (§ 6 Abs 2 Satz 3 MB/PPV in den og Fassungen). Die Kosten der Untersuchungen trägt der Versicherer, es sei denn, es wird innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten erneut der Eintritt eines Versicherungsfalles behauptet, ohne dass der Versicherer seine Leistungspflicht anerkennt (§ 6 Abs 2 Satz 8 MB/PPV in den og Fassungen). Auch in der Regelung des § 1 Abs 9 MB/PPV(in den og Fassungen) kommt zum Ausdruck, dass die Durchführung eines Sachverständigenverfahrens vorgesehen ist.

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Diese Vertragsbedingungen sind jedoch nicht Ausdruck der Vertragsfreiheit, sondern zeichnen im Wesentlichen das Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI nach(vgl auch Heinemann, Medizinische Begutachtung in der privaten und sozialen Pflegeversicherung, 2009, 54; ähnlich Johannsen in Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl, Bd 3, 2009, § 84 RdNr 10, die von einer zwingend vorgeschriebenen ärztlichen Begutachtung spricht). Das private Versicherungsunternehmen ist bei der Ausführung der privaten Pflegeversicherung nach § 23 Abs 6 Nr 1 SGB XI verpflichtet, zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit dieselben Maßstäbe anzulegen, wie in der sozialen Pflegeversicherung. Damit ist eine möglichst enge Anlehnung an das im SGB XI für die soziale Pflegeversicherung vorgegebene Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit bereits gesetzlich vorgegeben; wesentliche Abweichungen dürfen nicht vereinbart werden. Die grundsätzlich unterschiedlichen Rechtsschutzmöglichkeiten für vertraglich vereinbarte Versicherungsbedingungen und solche, die auf gesetzlichen Vorgaben beruhen, machen deutlich, dass die Verbindlichkeitsanordnung des § 84 Abs 1 Satz 1 VVG nur für vertraglich vereinbarte, nicht für gesetzlich vorgegebene Sachverständigenverfahren gelten kann.

18

c) Das grundrechtlich geschützte Recht auf effektiven Rechtsschutz gebietet gerichtliche Kontrollmöglichkeiten, die nicht auf den Zugang zu den Gerichten beschränkt sind, sondern auch eine inhaltliche gerichtliche Kontrolle gewährleisten. Dies gilt nach Art 19 Abs 4 GG zunächst für die gerichtliche Kontrolle von Akten der öffentlichen Gewalt, die in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht grundsätzlich in vollem Umfang von den Gerichten zu überprüfen sind. Die Maßstäbe für die gerichtliche Beurteilung privat-rechtlicher Streitigkeiten ergeben sich demgegenüber aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip (vgl zum Ganzen zB Schulze-Fielitz in Dreier , Grundgesetz-Kommentar, Bd 1, 2013, Art 19 IV RdNr 36 f, 80 f, 116 f; Jarass in Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 13. Aufl 2014, Art 20 RdNr 91 f).

19

Der gerichtlichen Inhaltskontrolle von frei zwischen gleichen Partnern ausgehandelten Verträgen liegt der Gedanke zugrunde, dass bei vergleichbarer Verhandlungsstärke beider Vertragspartner die Vertragsfreiheit im allgemeinen zu ausgewogenen Vertragsinhalten führt, sodass sich die gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle regelmäßig auf grobe Unbilligkeit, Sittenwidrigkeit, Treuwidrigkeit uÄ beschränken kann. Werden die Vertragsinhalte von einer Vertragspartei in allgemeinen Vertragsbedingungen vorgegeben, ist nach den §§ 305 ff BGB eine weitergehende Inhaltskontrolle vorgesehen, zB auf überraschende Klauseln oder auf eine unangemessene Benachteiligung des Vertragspartners. Der Gesetzgeber hat die Verbindlichkeit der Feststellungen in einem vertraglich vereinbarten Sachverständigenverfahren nach § 84 Abs 1 Satz 1 VVG daher vor dem Hintergrund angeordnet, dass auch die vertraglichen Regelungen zur Durchführung eines Sachverständigenverfahrens mit einer grundsätzlich hinreichenden materiellen Gerechtigkeitsgewähr vereinbart bzw durch die Gerichte entsprechend korrigiert werden. Regelmäßig sehen die allgemeinen Versicherungsbedingungen vor, dass jede Partei einen Sachverständigen benennt und diese gemeinsam einen Obmann bestimmen (vgl Langheid in Römer/Langheid, VVG, 4. Aufl 2014, § 84 RdNr 4 ff, 11; Johannsen in Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl, Bd 3, 2009, § 84 RdNr 28; Beckmann in Honsell , Berliner Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 1999, § 64 RdNr 22). Behält sich ein Versicherungsunternehmen jedoch - wie hier - in allgemeinen Geschäftsbedingungen das Recht vor, allein den Gutachter zu bestimmen, der dann verbindliche Regelungen trifft, wird darin regelmäßig eine entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessene Benachteiligung des Versicherungsnehmers (§ 307 BGB) gesehen, insbesondere wenn der Gutachter dem Verwender der Klausel aufgrund einer regelmäßigen Zusammenarbeit besonders nahe steht (vgl BGH Urteil vom 9.7.1981 - VII ZR 139/80 - BGHZ 81, 229, 236 = Juris RdNr 25; ähnlich BGH NJW-RR 2007, 1466 ; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 11.7.2002 - L 16 P 9/01 - Juris; vgl auch Johannsen in Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl, Bd 3, 2009, § 84 RdNr 31 mwN; Heinemann, Medizinische Begutachtung in der privaten und sozialen Pflegeversicherung, 2009, 54; Bastian, NZS 2004, 76 <81 f>; Voit/Knappmann in Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl 2004, § 64 RdNr 7; ähnlich Grüneberg in Palandt, BGB, 72. Aufl 2013, § 307 RdNr 129 f). Eine entsprechende Klausel kann daher regelmäßig nicht wirksamer Vertragsbestandteil werden. Die für die MedicProof tätigen Sachverständigen werden zudem einseitig von Seiten der Versicherer geschult, was neben der regelmäßigen Zusammenarbeit ebenfalls für ein besonderes Näheverhältnis spricht.

20

Vorliegend muss diese zivilrechtliche Inhaltskontrolle jedoch versagen. Denn die Durchführung des nach den MB/PPV vorgesehenen Sachverständigenverfahrens beruht auf den gesetzlichen Vorgaben des SGB XI und zeichnet das dort vorgesehene Verfahren ganz weitgehend nach. Es ist jedenfalls sachgerecht, wenn das die private Pflegepflichtversicherung betreibende Versicherungsunternehmen in seinen allgemeinen Versicherungsbedingungen möglichst weitgehende Parallelen zu dem im SGB XI für die soziale Pflegeversicherung vorgesehenen Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vorsieht. Es ist dazu nach § 23 Abs 6 Nr 1 SGB XI sogar verpflichtet. Darin kann weder eine überraschende Klausel noch eine unangemessene Benachteiligung des Versicherungsnehmers oder ein Verstoß gegen Treu und Glauben gesehen werden. In dieser Konstellation kann somit ersichtlich nicht die Vertragsfreiheit und die dazu vorgesehene Inhaltskontrolle als Argument für eine materielle Gerechtigkeitsgewähr herangezogen werden. Die Verbindlichkeitsanordnung ist aber nur vor dem Hintergrund der bestehenden zivilrechtlichen Wirksamkeitskontrolle der vertraglichen Regelungen zum Sachverständigenverfahren vom Gesetzgeber gewollt. Denn den privat Pflege(pflicht)versicherten können nicht sowohl die zivilrechtlichen als auch die sozialrechtlichen Kontrollmöglichkeiten, die ua eine grundsätzlich uneingeschränkte Überprüfung der von den Versicherungsträgern veranlassten Gutachten vorsehen (näher dazu unter e) aa)), versagt werden. Eine solche Auslegung könnte den Grundsätzen zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht mehr gerecht werden.

21

d) Um Akte öffentlicher Gewalt geht es hingegen im beamtenrechtlichen Beihilferecht, sodass die Beeinträchtigung des effektiven Rechtsschutzes durch eingeschränkte Überprüfungsmöglichkeiten der Gutachten in diesem Bereich besonders deutlich wird. Nach § 23 Abs 3 SGB XI sind Personen, die nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen bei Pflegebedürftigkeit Anspruch auf Beihilfe haben, ebenfalls zum Abschluss einer entsprechenden anteiligen beihilfekonformen Versicherung im Sinne des § 23 Abs 1 SGB XI verpflichtet, sofern sie nicht nach § 20 Abs 3 SGB XI versicherungspflichtig sind, und diese beihilfekonforme Versicherung ist so auszugestalten, dass ihre Vertragsleistungen zusammen mit den Beihilfeleistungen den in § 23 Abs 1 Satz 2 SGB XI vorgeschriebenen Versicherungsschutz gewährleisten. In den Beihilfeverordnungen des Bundes und der Länder wird regelmäßig das Gutachten zugrunde gelegt, das für die private oder soziale Pflegeversicherung zum Vorliegen von Pflegebedürftigkeit sowie zu Art und Umfang der notwendigen Pflege erstellt worden ist. Nur wenn (ausnahmsweise) kein Gutachten für die private oder soziale Pflegeversicherung erstellt worden ist, zB weil die beihilfeberechtigte oder berücksichtigungsfähige Person nicht in der privaten oder sozialen Pflegeversicherung versichert ist, lässt die Festsetzungsstelle ein entsprechendes Gutachten erstellen (vgl § 51 Abs 2 BBhV idF vom 18.7.2014; ähnlich auch § 40 Satz 2 BayBhV idF vom 2.1.2007; § 51 Abs 2 Satz 1 LBhVO für Berlin idF vom 8.5.2012; nach § 9 Abs 8 Satz 3 erster Halbsatz BVO für Baden-Württemberg idF vom 20.12.2013 ist die von der privaten oder sozialen Pflegeversicherung festgestellte Pflegestufe bindend). Wird danach regelmäßig der Entscheidung der Beihilfestelle das Gutachten oder die Entscheidung der privaten Pflegeversicherung zugrunde gelegt, würde sich die Bindungswirkung des von der privaten Pflegeversicherung eingeholten Gutachtens bei Anwendung der Verbindlichkeitsanordnung nach § 84 VVG auch auf die beamtenrechtliche Beihilfe erstrecken. Den versicherten Beamten, die einen erheblichen Teil der Versicherten der privaten Pflegeversicherung ausmachen, wäre dann die Möglichkeit verschlossen, die Einstufung in eine höhere Pflegestufe mit der Folge auch höherer Leistungen der Beihilfe zu erreichen, so lange das Gutachten der privaten Pflegeversicherung nicht "offenbar" unzutreffend ist. Hier wird deutlich, dass es um Akte öffentlicher Gewalt geht, deren gerichtliche Überprüfung durch die Anwendung des § 84 VVG im Vergleich mit den Versicherten der sozialen Pflegeversicherung in einer nicht gerechtfertigten und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nicht gerecht werdenden Weise eingeschränkt wird.

22

e) Es gibt vor diesem Hintergrund keinen sachlichen Grund dafür, den von einem privaten Krankenversicherungsunternehmen eingeholten Gutachten einen höheren Beweiswert zukommen zu lassen als den von den Trägern der sozialen Pflegeversicherung eingeholten Gutachten.

23

aa) Durch die Anordnung der Verbindlichkeit der Feststellungen der von dem privaten Versicherungsunternehmen eingeholten Gutachten wird diesen bis zur Grenze offenbarer, erheblicher Abweichung von der wirklichen Sachlage der alleinige Beweiswert zugeschrieben. Das widerspricht grundsätzlichen sozialgerichtlichen Verfahrensregelungen. Denn nach § 128 SGG entscheidet das Gericht grundsätzlich nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Deshalb werden die von einer Pflegekasse im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung eingeholten Gutachten im sozialgerichtlichen Prozess genauso bewertet wie die gerichtlich eingeholten Gutachten, gleichwertig und allein nach ihrer jeweiligen Überzeugungskraft (vgl hierzu Keller in Meyer-LadewigKeller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014 § 128 RdNr 4 ff). Regelungen zur Beweiskraft enthält das Gesetz nicht. Der Versicherte hat sogar darüber hinaus nach § 109 Abs 1 Satz 1 SGG noch die Möglichkeit, (zusätzlich) vom Gericht ein Gutachten von einem von ihm benannten Arzt einholen zu lassen. Dieses Recht wird ihm genommen, wenn die Feststellungen des vom privaten Versicherungsunternehmen eingeholten Gutachters bereits verbindlich sind. Der Gesetzgeber hat mit der Zuordnung der Rechtsstreitigkeiten aus dem Bereich der privaten Pflegeversicherung in die Sozialgerichtsbarkeit aber deutlich gemacht, dass sich auch das gerichtliche Verfahren nach den Vorschriften des SGG richten soll. Den von einem privaten Krankenversicherungsunternehmen eingeholten Gutachten einen höheren Beweiswert zukommen zu lassen als den von der sozialen Pflegeversicherung eingeholten Gutachten, widerspricht dieser Intention des Gesetzgebers.

24

bb) Die Verbindlichkeitsanordnung wird insbesondere der Eigenart der Pflegegutachten nicht gerecht. Denn die Feststellung des Pflegebedarfs gibt nur eine Momentaufnahme innerhalb einer gewissen Schwankungsbreite wieder und beruht im Wesentlichen auf Schätzwerten im Rahmen eines bestimmten Zeitkorridors. Die gerichtliche Erfahrung zeigt, dass bei mehreren Sachverständigengutachten zum Pflegebedarf einer bestimmten Person nur selten übereinstimmende Werte ermittelt werden (so auch Ladage in Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, 673, 687). Auch gut ausgebildete, unabhängige Sachverständige können daher im Einzelfall zu einem nicht dem tatsächlichen Hilfebedarf entsprechendem Zeitwert gelangen. Die Grenze offensichtlicher Abweichungen von der tatsächlichen Sachlage dürfte dennoch nur vergleichsweise selten überschritten werden. Zwar kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass ein gerichtliches Gutachten den tatsächlichen Bedarf des Versicherten besser erfasst, und es macht die gerichtliche Entscheidung auch nicht einfacher, wenn Gutachten mit unterschiedlichen Ergebnissen vorliegen. Werden aber verschiedene Gutachten einschließlich aller anderen vorliegenden Unterlagen zum Gesundheitszustand, Angaben der Pflegepersonen etc im Zusammenhang gewürdigt, wird das Gericht der tatsächlichen Sachlage besser gerecht werden können, als allein auf der Basis eines einzigen Gutachtens (aA offenbar Heinemann, Medizinische Begutachtung in der privaten und sozialen Pflegeversicherung, 2009, 48; Ladage in Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, 673, 687). Das gilt auch, weil die Pflegesituation schwer zu prognostizierenden Veränderungen unterliegt. Regelmäßige Überprüfungen sind deshalb ohnehin erforderlich. Im Einzelfall lässt sich aber schwer vorhersagen, wie lange der Gesundheitszustand die Einschätzung des Gutachters noch zu rechtfertigen vermag. Auch diesem Gesichtspunkt wird die Würdigung aller vorliegenden und ggf aktuelleren Unterlagen besser gerecht, als die auf einer Momentaufnahme basierende Feststellung nur eines Gutachters. Das wird in der Praxis der privaten Pflegeversicherung wohl ebenso gesehen, denn den privat Versicherten wird regelmäßig die Möglichkeit eingeräumt, ein Zweitgutachten zu beantragen (vgl Heinemann, aaO, 58 ff). Wären aber bereits die Feststellungen des Erstgutachtens verbindlich, wäre für ein Zweitgutachten rechtlich kein Raum.

25

cc) Anders als im Zivilgerichtsverfahren gibt es für die Anordnung der Verbindlichkeit der Feststellungen eines Gutachters im sozialgerichtlichen Verfahren keine nachvollziehbare Begründung. Im Zivilgerichtsverfahren bezweckt die gesetzliche Verbindlichkeitsanordnung des § 84 Abs 1 Satz 1 VVG den Feststellungen des Privatgutachters einen den Aufwand und die Kosten des Gutachtens rechtfertigenden Beweiswert zukommen zu lassen. Denn Privatgutachten werden im Zivilrecht regelmäßig wie substantiiertes, urkundlich belegtes Parteivorbringen oder als Urkundenbeweis gewertet (vgl Ladage in Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, 673, 685), wobei der Urkundenbeweis nach § 416 ZPO lediglich den Beweis begründen kann, dass die enthaltenen Erklärungen vom Aussteller abgegeben sind. Als Sachverständigenbeweis sind sie nur mit Zustimmung beider Parteien verwertbar (BGH NJW 1993, 2382; vgl auch Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 35. Aufl 2014, Vorbem § 402 RdNr 5). Im sozialgerichtlichen Verfahren gibt es demgegenüber keine Regelungen zur Beweiskraft; alle Gutachten können grundsätzlich gleichwertig zur Überzeugungsbildung des Gerichts herangezogen werden (BSG SozR 3-3300 § 15 Nr 11 = SozR 3-3300 § 18 Nr 1; zur beweisrechtlichen Würdigung von Verwaltungsgutachten und Privatgutachten vgl auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr 7d ff). Die Tatsachengerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben erst dann ein gerichtliches Gutachten einzuholen, wenn sie sich anhand der bereits vorliegenden und ggf beigezogenen Unterlagen einschließlich aller etwaiger Gutachten keine hinreichende Überzeugung bilden können. Sie können deshalb auch auf der Grundlage der von der Pflegekasse eingeholten Gutachten entscheiden, wenn sie keine Zweifel an deren Feststellungen haben. Eine Verbindlichkeitsanordnung ist daher weder erforderlich noch sachgerecht.

26

dd) Darüber hinaus hat der Gesetzgeber durch das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz vom 23.10.2012 (BGBl I 2246) das Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit (§ 18 SGB XI) erheblich geändert, die Tätigkeit des Medizinischen Dienstes der Kranken- und Pflegeversicherung (MDK) um den Einsatz unabhängiger Gutachter ergänzt und dabei die Rechte der Versicherten hinsichtlich der Auswahl eines Gutachters gestärkt (§ 18 Abs 3a SGB XI). Gleichwohl hat der Gesetzgeber den Feststellungen dieser unabhängigen Gutachter keinen höheren Beweiswert zuerkannt und nicht deren Verbindlichkeit im gerichtlichen Verfahren angeordnet, und zwar auch nicht in den Fällen, in denen der Gutachter vom Versicherten ausgewählt worden ist. Wenn selbst eine Verbesserung der Qualität der Gutachten und die Einräumung von Auswahloptionen an die Betroffenen in der sozialen Pflegeversicherung nicht zu einer anderen Beurteilung des Beweiswertes von gutachterlichen Feststellungen führen, ist nicht zu rechtfertigen, dass in der privaten Pflegeversicherung selbst Gutachten, denen kein derartiges Auswahlverfahren des Betroffenen vorangegangen ist, generell ein höherer Beweiswert zukommt und für die Gerichte verbindlich sind. Insbesondere diese Neugestaltung des Begutachtungsrechts veranlasst den Senat, an seiner abweichenden Auffassung zur Verbindlichkeit von Gutachten, die von einem privaten Krankenversicherungsunternehmen zur Ermittlung des Pflegebedarfs in Auftrag gegeben wurden (vgl BSG SozR 4-7690 § 64 Nr 1 = SozR 4-3300 § 23 Nr 3 = SozR 4-1500 § 103 Nr 3; BSGE 88, 262 = SozR 3-3300 § 23 Nr 5; BSGE 88, 268 = SozR 3-3300 § 23 Nr 6), nicht länger festzuhalten.

27

ee) Der Auffassung des Senats, dass § 84 Abs 1 Satz 1 VVG wegen des Vorrangs der spezielleren Vorschriften des § 23 SGB XI nicht zur Anwendung kommt, steht § 194 Abs 1 Satz 1 VVG nicht entgegen. Diese Vorschrift gehört zum 2. Teil des VVG, in dem sich die Regelungen für die einzelnen Versicherungszweige befinden, und dort zu Kapitel 8. Krankenversicherung. Danach sind die §§ 74 bis 80 und 82 bis 87 VVG anzuwenden, soweit der Versicherungsschutz nach den Grundsätzen der Schadensversicherung gewährt wird. Die Pflegekrankenversicherung wird in dieser Vorschrift, anders als in der auch zum 8. Kapitel gehörenden Regelung des § 192 Abs 6 VVG, nicht ausdrücklich erwähnt. Der Gesetzgeber hat demnach eine Anwendung des § 84 VVG auf die Pflegekrankenversicherung nicht ausdrücklich angeordnet. Er hat vielmehr in § 192 Abs 6 Satz 3 VVG für die Pflegekrankenversicherung ausdrücklich den Vorrang der Regelungen des SGB XI normiert. Die Vorschrift steht schon deshalb dem Auslegungsergebnis des Senats nicht entgegen. Es kann daher offenbleiben, ob und ggf inwieweit der Versicherungsschutz in der Pflegeversicherung nach den Grundsätzen der Schadensversicherung gewährt wird. Das Versicherungsvertragsrecht unterscheidet insoweit zwischen der auf die Deckung eines konkreten Schadens ausgerichteten Schadens- und der einen abstrakt zu berechnenden Bedarf deckenden Summenversicherung. Das Pflegegeld wurde nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats der Schadensversicherung zugerechnet, weil es sich zwar um eine pauschale Leistung handele, die Höhe aber von der Zuordnung zu einer Pflegestufe und damit vom Ausmaß der Pflegebedürftigkeit abhänge (BSGE 88, 262 = BSG SozR 3-3300 § 23 Nr 5 = SozR 3-1300 § 48 Nr 79). Der Fall bietet keinen Anlass, darüber zu entscheiden, ob und ggf inwieweit die private Pflegekrankenversicherung zu den Schadensversicherungen im Sinne des VVG gehört.

28

f) Im Ergebnis gibt es deshalb im sozialgerichtlichen Verfahren keine hinreichende Rechtfertigung dafür, dass Ermittlungsmöglichkeiten der Gerichte bei einem von einem privaten Pflegeversicherungsunternehmen eingeholten Gutachten auf den Fall einer offenbaren erheblichen Abweichung von der wirklichen Sachlage begrenzt sein sollten, obwohl die tatbestandlichen Anspruchsvoraussetzungen übereinstimmen und der Gesetzgeber die Entscheidung nach übereinstimmenden Maßstäben ausdrücklich vorschreibt. Eine Verbindlichkeit der Feststellungen des Gutachters wirkt sich für die Betroffenen insbesondere nachteilig aus, wenn in Bezug auf bereits abgelaufene Zeiträume eine höhere Einstufung begehrt wird. Für vergangene Zeiträume ist der Nachweis, dass die Feststellungen eines Gutachters "offenbar" von der wirklichen Sachlage erheblich abweichen, schwer zu erbringen. Dies gilt selbst dann, wenn sich bei einer erneuten Begutachtung aufgrund eines Höherstufungsantrages zeigt, dass die Voraussetzungen für eine höhere Einstufung so offensichtlich vorliegen, dass vieles dafür spricht, dass dies nicht erst seit dem Tag der Begutachtung der Fall ist. Die Anwendung gleicher Maßstäbe hat schließlich auch Bedeutung in Konstellationen, in denen sich die rechtlichen Vorgaben für Leistungen der Pflegversicherung ändern, etwa durch die Einführung zusätzlicher Leistungen für demenziell erkrankte Versicherte (durch das Erste Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 17.12.2014, BGBl I 2222) oder durch die für 2016 vorgesehene Neuausrichtung der Pflegestufen oder Pflegegrade. Die dargelegten Argumente sprechen auch dagegen, zwischen den gutachterlichen Feststellungen des MDK und der MedicProof zu differenzieren, wenn es für Übergangs- oder Besitzstandsregelungen auf die Ermittlung des tatsächlichen Zustands des Betroffenen zu einem bestimmten Stichtag ankommt. Dies gilt unabhängig davon, ob sich die stärkere Bindung an gutachterliche Feststellungen, auf die § 84 Abs 1 VVG abzielt, in solchen Übergangskonstellationen zu Gunsten oder zu Lasten der Versicherten auswirken würde. Die übergangsrechtliche Begünstigung eines pflegebedürftigen Beamten, der von einem "nur" falschen, aber nicht "offenbar" unrichtigen Gutachten der MedicProof aus der Vergangenheit profitieren und damit auch höhere Beihilfeleistungen behalten oder erhalten könnte, als Versicherte der sozialen Pflegeversicherung mit gleichen Einschränkungen, ist nicht zu rechtfertigen. Damit werden die Unterschiede in der öffentlich-rechtlich geprägten Rechtsbeziehung in der sozialen Pflegeversicherung und dem privat-rechtlich geprägten in der privaten Pflegeversicherung nicht in Frage gestellt. Diese sollen sich nach dem Bundesgesetzgeber aber auf die verwaltungsmäßige Umsetzung der Pflegeversicherung beziehen, nicht auf den Umfang der gerichtlichen Kontrolle von Entscheidungen der Versicherung.

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4. Für die Beurteilung des Anspruchs der Klägerin auf Pflegegeld ist danach das von der Beklagten eingeholte Gutachten nicht verbindlich, es ist aber - grundsätzlich gleichwertig neben dem vom Sozialgericht eingeholten Gutachten - entsprechend seiner Überzeugungskraft uneingeschränkt verwertbar. Denn der Senat hat derzeit keine grundsätzlichen Zweifel an der Objektivität und Unbefangenheit der Gutachter der MedicProof. Die MedicProof GmbH betreibt als Tochterunternehmen des Verbandes der Privaten Krankenversicherung eV (PKV-Verband) den Medizinischen Dienst der privaten Pflegeversicherung und ist privatrechtlich organisiert. Sie wird - ebenso wie der MDK - kassenübergreifend für alle privaten Krankenversicherungsunternehmen tätig und stellt so bundesweit eine einheitliche Begutachtung sicher (umfassend zur Verbindung der MedicProof zum Verband der PKV vgl Heinemann, Medizinische Begutachtung in der privaten und sozialen Pflegeversicherung, 2009, 103 ff; vgl auch 79 f). In Bezug auf die rechtliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit der MedicProof GmbH von einem einzelnen privaten Krankenversicherungsunternehmen ergeben sich daher keine grundsätzlichen Unterschiede zur Unabhängigkeit des MDK von einer einzelnen Kranken- oder Pflegekasse (ebenso Heinemann, aaO, 126 ff). Die MedicProof GmbH arbeitet überwiegend mit freiberuflich tätigen Gutachtern, die in den Belangen der Pflegeversicherung regelmäßig geschult und weitergebildet werden (Heinemann, aaO, 81, 126 ff). Die Schulung dient der Qualitätssicherung und der Umsetzung einheitlicher Begutachtungskriterien entsprechend denen der sozialen Pflegeversicherung. Deshalb kooperiert die MedicProof eng mit dem medizinischen Dienst der Spitzenverbände der Pflegekassen (vgl Heinemann, aaO, 80, 98 ff). Der Senat sieht derzeit keinen Hinweis für ein zu Lasten der Versicherten etabliertes besonderes Näheverhältnis zwischen den privaten Versicherungsunternehmen und den Gutachtern. Es gibt insbesondere keine Veranlassung, an der Qualität und Objektivität der Gutachten der MedicProof GmbH zu zweifeln. Denn statistisches Vergleichsmaterial der letzten Jahre zeigt eine in der privaten Pflegeversicherung deutlich großzügigere Bewilligungspraxis, als in der sozialen Pflegeversicherung. Obwohl die gesetzlich Versicherten durchschnittlich ein höheres Risiko bezüglich der Pflegebedürftigkeit aufweisen, werden sie häufiger als "nicht pflegebedürftig" eingestuft und weisen durchschnittlich niedrigere Pflegestufen auf, als die Versicherten der privaten Pflegeversicherung (vgl Schmucker, Verzerrungen im Begutachtungsprozess? Zum Einfluss sozialer Parameter auf die Leistungsgewährung in der Pflegeversicherung, G + S 2011, 54 ff; Heinemann, aaO, 120 ff; so auch Ladage in Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, 673, 688). Aus den tatsächlichen Verhältnissen ergibt sich daher jedenfalls keine systematische Verzerrung im Begutachtungsprozess zu Lasten der privat Versicherten im Vergleich zu den gesetzlich Pflegeversicherten. Das spricht aber lediglich für eine faktische Berücksichtigung der Gutachten der MedicProof mit grundsätzlich gleicher Beweiskraft wie andere Gutachten. Für eine darüber hinausgehende rechtliche Bindung an die Feststellungen des Gutachters nach § 84 Abs 1 Satz 1 VVG ist indes wegen des Vorrangs der spezielleren Vorschriften des § 23 SGB XI kein Raum.

30

5. Nach diesen Grundsätzen sowie auf der Basis der Feststellungen des Berufungsgerichts ist die Revision unbegründet, soweit ein Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld nach der Pflegestufe II für den Zeitraum vom 1.8.2005 bis zum 30.5.2011 in Streit steht. Denn die Klägerin erfüllte für die Zeit von der Antragstellung im August 2005 bis einschließlich Februar 2009 nicht die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit und ab März 2009 bis zum 30.5.2011 lediglich die Voraussetzungen der Pflegestufe I. Dies ergibt sich nach den Feststellungen des Berufungsgerichts sowohl aus den Gutachten der MedicProof als auch aus dem gerichtlichen Gutachten von Dr. S. Letzterer hat die Feststellungen der Gutachter der MedicProof bis zu dem Tag, an dem er selbst die Klägerin begutachtet hat (am 30.5.2011), voll bestätigt. Für den Zeitraum von der Antragstellung der Klägerin im August 2005 bis zum Tag der Begutachtung am 30.5.2011 ergeben sich daher keine über das Teilanerkenntnis der Beklagten hinausgehenden Leistungen.

31

6. Für den Zeitraum vom 31.5.2011 bis einschließlich 30.11.2011 kann der Senat mangels ausreichender Feststellungen des LSG nicht über das Vorliegen der Voraussetzungen der Pflegestufe II entscheiden. Das Berufungsgericht durfte den von dem gerichtlichen Sachverständigen Dr. S. festgestellten Grundpflegebedarf von 123 Minuten täglich nicht in der von ihm vorgenommenen Art und Weise reduzieren. Zwar sind zur Feststellung des zeitlichen Pflegebedarfs nur solche Verrichtungen zu berücksichtigen, die mindestens einmal wöchentlich anfallen (hierzu a); das Berufungsgericht hat jedoch keine ausreichenden Ermittlungen zur Häufigkeit der Arztbesuche geführt, obwohl es gerade hierauf seine Entscheidung gestützt hat. Es hat dadurch den Amtsermittlungsgrundsatz sowie den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt (hierzu b).

32

a) Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass nur der Zeitaufwand zu berücksichtigen ist, der mindestens einmal wöchentlich für die berücksichtigungsfähigen Verrichtungen anfällt. Der Senat hat bereits im Urteil vom 29.4.1999 (BSG Urteil vom 29.4.1999 - B 3 P 12/98 R - Juris) entschieden, dass nach § 15 Abs 3 SGB XI für die Bemessung des für die Pflege erforderlichen Zeitaufwands auf die Woche abzustellen und aus dem gesamten in einer Woche anfallenden Pflegeaufwand der Tagesdurchschnitt zu ermitteln ist. Das schließt es aus, bei der Feststellung des zeitlichen Pflegebedarfs auch Verrichtungen einzubeziehen, die seltener als zumindest einmal wöchentlich anfallen. Die Regelung des § 15 Abs 3 SGB XI ist insoweit in den von der privaten Pflegepflichtversicherung verwandten MB/PPV wortgleich übernommen worden(§ 1 Abs 8 MB/PPV mit Stand 1.6.2005 sowie die bis zu der Fassung mit Stand vom 1.1.2010 insoweit identisch gebliebenen Fassungen, die den hier streitigen Zeitraum bis zum 30.11.2011 erfassen). Sie ist daher in dieser Auslegung Vertragsinhalt geworden. Geht es um die Verrichtung des Verlassens und Wiederaufsuchens der Wohnung (§ 14 Abs 4 Nr 3 SGB XI, der wortgetreu in § 1 Abs 5c MB/PPV in den genannten Fassungen wiedergegeben ist), sind nur solche Maßnahmen außerhalb der Wohnung zu berücksichtigen, die - wie das Aufsuchen von Ärzten oder die Inanspruchnahme ärztlicher verordneter Therapien - für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zuhause notwendig sind und das persönliche Erscheinen des Antragsstellers erfordern (vgl Meßling in jurisPK-SGB XI, 1. Aufl 2014, § 14 RdNr 107 ff, 120 ff mwN; vgl auch Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch Sozialgesetzbuch vom 8.6.2009 unter D.4.3 Mobilität Nr 15). Für die Feststellung, ob die Verrichtung "Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung" regelmäßig mindestens einmal pro Woche und dauerhaft (voraussichtlich mindestens sechs Monate) anfällt, ist nicht jede Maßnahme für sich isoliert zu betrachten. Vielmehr sind alle berücksichtigungsfähigen Maßnahmen zum Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung zusammen zu betrachten. Dies gilt auch für die private Pflegeversicherung, um für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit dieselben Maßstäbe anzulegen, wie in der sozialen Pflegeversicherung.

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b) Nach diesen Grundsätzen bedurfte die Klägerin in der Zeit von 31.5.2011 bis zum 30.11.2011 zumindest zweimal wöchentlich der Hilfe beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung. Es steht nach den Feststellungen des Berufungsgerichts fest, dass sie dauerhaft zweimal wöchentlich aufgrund einer ärztlichen Verordnung Physiotherapeuten aufsuchte. Ob die Verrichtung ein drittes Mal pro Woche oder ggf sogar häufiger zu berücksichtigen ist, kann der Senat aufgrund der Feststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend entscheiden.

34

Der gerichtlich bestellte Gutachter Dr. S. hat diesbezüglich ausgeführt, die Klägerin besuche zweimal pro Monat einen Arzt und achtmal pro Monat einen Therapeuten. Danach fällt die berücksichtigungsfähige Verrichtung des Verlassens und Wiederaufsuchens der Wohnung jede zweite Woche zweimal und jede zweite Woche dreimal an. Regelmäßig fällt die Verrichtung danach nur zweimal wöchentlich an. Das Gutachten von Dr. S. datiert vom 27.6.2011. Wenige Monate später hat die Pflegeperson der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 16.11.2011 als Zeugin demgegenüber jedoch ausgeführt, die Klägerin gehe zweimal pro Woche zur Lymphdrainage und zweimal pro Woche zur ärztlich angeordneten Physiotherapie (Massage). Darüber hinaus besuche sie in abwechselndem Turnus jede zweite Woche Dr. Ha.
und jede zweite Woche Dr. I. Danach fällt die Verrichtung des Verlassens und Wiederaufsuchens der Wohnung bei der Klägerin berücksichtigungsfähig fünfmal pro Woche an, wenn auch die Lymphdrainage ärztlich verordnet wurde.

35

Bei dieser Sachlage hätte sich das Berufungsgericht zu weiteren Ermittlungen bzgl der Häufigkeit der anfallenden Verrichtungen gedrängt fühlen müssen, wenn es diesem Aspekt entscheidungserhebliche Bedeutung beimisst. Denn das LSG hatte hierzu keine abschließende Überzeugung gewonnen (was aufgrund der gegensätzlichen Angaben auch kaum möglich war). Es hat seine Entscheidung maßgeblich darauf gestützt, es sei nicht nachgewiesen, dass Arztbesuche mindestens einmal wöchentlich anfielen, denn die Klägerin habe die Aussage der als Zeugin vernommenen Pflegeperson, dass jede Woche ein Arztbesuch anfalle, nicht durch entsprechende Unterlagen untermauert. Damit hat das LSG zum Ausdruck gebracht, dass es die Frage der Häufigkeit der Arztbesuche der Klägerin aufgrund der Beweislastverteilung zu Lasten der Klägerin entscheide, und nicht weil es von den Angaben im Gutachten überzeugt war.

36

Im sozialgerichtlichen Verfahren kann eine Beweislastentscheidung jedoch erst dann ergehen, wenn die Ermittlungsmöglichkeiten erschöpft sind (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 103 RdNr 8 und RdNr 19 jeweils mwN). Das Gericht muss sich grundsätzlich die volle Überzeugung von den beweiserheblichen Tatsachen verschaffen (Leitherer, aaO, § 103 RdNr 6a). Der Untersuchungsgrundsatz hat zur Folge, dass die Beteiligten grundsätzlich keine Beweisführungslast haben, sofern das Gesetz nichts Abweichendes regelt. Eine Entscheidung nach der objektiven Beweislast kann nur getroffen werden, wenn das Gericht trotz aller Bemühungen bei der Amtsermittlung den Sachverhalt nicht aufklären kann (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 118 RdNr 6). Deshalb durfte das Berufungsgericht seine Entscheidung nicht darauf stützen, dass die Klägerin die Aussage der Zeugin nicht durch entsprechende Unterlagen untermauert habe. Denn für die Aufklärung der Tatsache, wie häufig die Klägerin wöchentlich ihre Wohnung verlassen und wiederaufsuchen muss, bieten sich zahlreiche verschiedene Ermittlungsmöglichkeiten. Ua liegt es nah, hierzu die genannten Ärzte zu befragen. Untauglich scheint es dagegen zu sein, auf die Feststellungen zeitlich länger zurückliegender Sachverständiger zurückzugreifen, da sich die Häufigkeit von Arzt- und Therapeutenbesuchen im Laufe längerer Zeitabschnitte ändern kann.

37

Zudem hat das Berufungsgericht in diesem Punkt den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) verletzt. Denn das Urteil darf nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden sind, wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (BVerfG NJW 2012, 2262; BSG SozR 4-2500 § 103 Nr 6 RdNr 17; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 15 RdNr 13). Die Frage der Häufigkeit von Arzt- und Therapeutenbesuchen hat das Berufungsgericht nicht mit der Klägerin erörtert. Für die Klägerin war nicht ersichtlich, dass sich das Berufungsgericht diesen Umstand herausgreifen würde, mit der Folge, dass sich der vom Sachverständigen Dr. S. ermittelte Hilfebedarf soweit verringern würde, dass in der Folge die Voraussetzungen für Leistungen nach der Pflegestufe II nicht festzustellen waren. Der Rechtsstreit hat dadurch für die Klägerin eine unerwartete Wendung genommen. Denn es sind zwei Aspekte zusammen gekommen: Der Sachverständige Dr. S. ist (ohne erkennbaren Grund) von Tatsachen ausgegangen, die von den Angaben der Klägerin und der kurz nach der Begutachtung als Zeugin vernommenen Pflegeperson abweichen. Dies führte aber im Ergebnis nicht zu einem Nachteil für die Klägerin, weil der Gutachter dann den rechtlichen Gesichtspunkt, dass nur Verrichtungen zu berücksichtigen sind, die mindestens einmal in der Woche anfallen, zu Gunsten der Klägerin nicht beachtet hat. Es bestand deshalb für die Klägerin insgesamt kein Anlass, das Gutachten zu kritisieren. Es ist grundsätzlich Aufgabe des Gerichts die Tatsachen aufzuklären, von denen der Sachverständige auszugehen hat (vgl Leitherer, aaO, § 103 RdNr 11a). Jedenfalls ist es für die Klägerin bei dieser Sachlage überraschend, wenn das Berufungsgericht seiner Entscheidung im tatsächlichen Bereich die Angaben des Gutachters zur Häufigkeit der Arztbesuche zugrunde legt, ohne ihr hierzu die Möglichkeit der Stellungnahme einzuräumen. Dass das Berufungsgericht bei den zahlreichen für die Feststellung der Pflegestufe maßgeblichen Verrichtungen gerade diesem Aspekt entscheidende Bedeutung beimessen würde, war nicht erkennbar und vor dem Hintergrund der entgegenstehenden umfassenden Zeugenaussage auch nicht zu erwarten.

38

Das Berufungsgericht wird daher die Frage aufzuklären haben, wie häufig pro Woche die Klägerin in der Zeit vom 31.5.2011 bis 30.11.2011 regelmäßig und dauerhaft (voraussichtlich für mindestens sechs Monate) ihre Wohnung für Maßnahmen zur unmittelbaren Aufrechterhaltung der Lebensführung zuhause verlassen und wiederaufsuchen musste. Es hat aufgrund des hierzu ermittelten Sachverhaltes dann zu entscheiden, ob es auf der Grundlage der bisherigen Gutachten und unter Berücksichtigung der Angaben der Beteiligten einen Zeitwert für die Verrichtung des Verlassens und Wiederaufsuchens der Wohnung selbst ermitteln kann, oder ob es hierfür ggf erneut Sachverständigenhilfe (möglicherweise auch durch Rückfragen bei dem Sachverständigen Dr. S.) zu Rate zieht. Grundsätzlich bestehen keine Bedenken gegen die Ermittlung angemessener Zeitwerte, die auf der Basis eines Sachverständigengutachtens vom Gerichts selbst errechnet werden.

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7. Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. März 2015 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Revisionsverfahren.

Tatbestand

1

Streitig ist die Aufhebung und Erstattung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

2

Auf den Antrag der 1955 geborenen Klägerin auf aufstockende Leistungen nach dem SGB II, dem sie den Bescheid der Agentur für Arbeit Reutlingen vom 22.8.2011 über die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) in der Zeit vom September 2011 bis Februar 2013 iHv 20,85 Euro kalendertäglich beifügte, erkannte der Beklagte Arbeitslosengeld II (Alg II) für den Zeitraum vom Januar 2012 bis Juli 2012 zu (Bescheid vom 9.2.2012). Nur für die Monate Januar/Februar 2012 rechnete er Alg in unterschiedlicher Höhe an; ab März 2012 berücksichtigte er kein Einkommen.

3

Nachdem der Beklagte bemerkt hatte, dass die Klägerin über den Februar 2012 hinaus weiterhin Alg bezogen hatte, hörte er sie mit Fristsetzung bis 26.7.2012 zur beabsichtigten Aufhebung und Erstattung von überzahlten SGB II-Leistungen an (Schreiben vom 9.7.2012). Die Klägerin führte ua aus, sich keiner Schuld bewusst zu sein, weil sie im Leistungsantrag den Alg-Bezug angegeben habe; im SGB II-Bescheid sei dies auch angerechnet worden (Schreiben vom 27.7.2012). Bereits am letzten Tag der Anhörungsfrist hob der Beklagte die SGB II-Leistungen - gestützt auf § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X - teilweise in Höhe von 2393,70 Euro auf und forderte diese zurück(Bescheid vom 26.7.2012; für Februar 2012 in Höhe von 11,70 Euro, für März bis Juli 2012 in Höhe von monatlich 595,50 Euro). Dem hiergegen gerichteten Widerspruch, mit welchem die Klägerin das Verschulden des Beklagten an der Überzahlung geltend machte, gab der Beklagte nur zu einem geringen Teil statt (Reduzierung der Erstattungsforderung auf insgesamt 2329,01 Euro) und wies den Widerspruch im Übrigen - nunmehr gestützt auf § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X - als unbegründet zurück. Die Klägerin habe erkennen können und müssen, dass eine erhebliche Differenz der Leistungshöhe in den einzelnen Monaten bestehe (Widerspruchsbescheid vom 24.10.2012).

4

Im sozialgerichtlichen Klageverfahren hat die Klägerin vorgetragen, ihr sei der Grund für die geänderte Leistungshöhe ab März 2012 mangels Kenntnis der Verrechnungsmodalitäten zwischen dem Beklagten und der Agentur für Arbeit nicht klar gewesen. Der Bewilligungsbescheid sei höchst kompliziert. Sie habe alle Umstände mitgeteilt und davon ausgehen dürfen, dass die Berechnung richtig durchführt werde. Mit ihrer gegen den klageabweisenden Gerichtsbescheid des SG (vom 30.9.2013) eingelegten Berufung hat sie eingeschränkte Sprachkenntnisse und eine starke psychische Beeinträchtigung geltend gemacht und die fehlende Nachvollziehbarkeit der komplexen und unübersichtlichen Darstellungen im Leistungsbescheid des Beklagten beanstandet. Nach Hinweis des Berichterstatters des LSG an den Beklagten, dass die Anhörung zu den Voraussetzungen des § 45 SGB X, auf den der Beklagte seinen Widerspruchsbescheid erstmals gestützt habe, problematisch sei(Verfügung vom 13.3.2015), hat der Beklagte der Klägerin mit Frist bis 25.3.2015 Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten teilweisen Rücknahme der Leistungen und zu dem Vorwurf gegeben, ihr sei die fehlerhafte Bewilligung bekannt gewesen bzw sie habe erkennen können, dass ihr die Leistungen in dieser Höhe nicht zugestanden hätten. Nehme sie die Gelegenheit zur Stellungnahme nicht wahr, könnten für sie positive Umstände nicht berücksichtigt werden; nach Ablauf der Anhörungsfrist müsse sie mit einer Entscheidung rechnen, die ihr durch Bescheid mitgeteilt werde (Schreiben des Beklagten vom 18.3.2015).

5

Das LSG hat der Berufung der Klägerin in vollem Umfang stattgegeben (Urteil vom 26.3.2015). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der angefochtene Bescheid leide an einem Anhörungsmangel, weil die Klägerin zu der erstmals im Widerspruchsbescheid angeführten inneren Tatsache der grob fahrlässigen Unkenntnis nicht ordnungsgemäß angehört worden sei. Erst im gerichtlichen Verfahren habe sie umfassender zum Vorwurf der groben Fahrlässigkeit sowie zu ihrer Urteils-, Kritik- und Einsichtsfähigkeit vorgetragen. Im Gerichtsverfahren habe der Beklagte die fehlende Anhörung nicht nachgeholt. Die mit Schreiben vom 18.3.2015 gesetzte Äußerungsfrist bis zum 25.3.2015 - unter Berücksichtigung von Brieflaufzeiten von nur 4 Tagen einschließlich Samstag/Sonntag - sei für die Abfassung einer Stellungnahme, ggf nach Rücksprache mit dem Bevollmächtigten der Klägerin, der seinen Sitz nicht an ihrem Wohnsitz habe, selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Klägerin aus dem Widerspruchsbescheid und dem gerichtlichen Verfahren die Gründe des Beklagten für die Annahme grober Fahrlässigkeit bekannt seien, zu kurz gewesen. Die von dem Beklagten hilfsweise beantragte Aussetzung des Verfahrens sei als nicht sachdienlich abzulehnen.

6

Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 24 Abs 1 SGB X und § 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X, von § 114 Abs 2 S 1 SGG sowie des Gebots rechtlichen Gehörs. Eine Verletzung des § 24 SGB X liege vor, weil das LSG die Besonderheiten des Einzelfalls nicht berücksichtigt habe. Der Wechsel der Rechtsgrundlage von § 48 SGB X zu § 45 SGB X erfordere nicht stets eine erneute Anhörung. Bereits im Widerspruchsbescheid habe er Äußerungen der Klägerin zum Vorwurf der grob fahrlässigen Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung umfassend gewürdigt. § 41 SGB X sei verletzt, weil das Berufungsgericht eine Anhörungsfrist von zwingend mehr als 4 Tagen ohne Beachtung von Einzelfallumständen verlangt habe. Anders als bei einer erstmaligen Anhörung sei zu erwarten gewesen, dass sich die Klägerin bzw ihr Prozessbevollmächtigter eine Woche vor der mündlichen Verhandlung in dem bereits lange andauernden Gerichtsverfahren mit der Sache befasst hätten. Ein Verstoß gegen seinen Anspruch auf rechtliches Gehör sei darin zu sehen, dass in dem Hinweis des Berichterstatters - mit zu kurzer Frist zur Stellungnahme - allein auf die Anhörungsproblematik, nicht aber auch auf die Heilungsmöglichkeit hingewiesen worden sei, weshalb eine unzulässige Überraschungsentscheidung vorliege. Das LSG habe auch gegen § 114 Abs 2 S 1 SGG verstoßen, indem es seinen Aussetzungsantrag abgelehnt habe. Wegen des Verstoßes gegen das rechtliche Gehör sei das Aussetzungsermessen auf Null reduziert und das Gericht zur Aussetzung verpflichtet gewesen.

7

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26.03.2015 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 30.09.2013 zurückzuweisen.

8

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Sie führt aus, eine erneute Anhörung durch den Beklagten sei stets erforderlich und ein gerichtlicher Hinweis nicht notwendig gewesen. Es fehle an einer ordnungsgemäß nachgeholten Anhörung im Berufungsverfahren, weil das Schreiben an sie und nicht an ihren Bevollmächtigten gerichtet gewesen sei. Eine Pflicht des Gerichts, dem Beklagten "auf die Sprünge zu helfen", habe nicht bestanden. Nach dem Hinweis des LSG habe dieser ausreichend Zeit für eine Stellungnahme gehabt und eine solche in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG auch abgegeben. Das Berufungsgericht sei nicht zur Aussetzung der Verhandlung zur Heilung des Anhörungsmangels verpflichtet gewesen. Eine Fristeinräumung zur Ermöglichung der Heilung wäre mit der verfassungsrechtlichen Position der Klägerin auch nicht vereinbar.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat zu Recht entschieden, dass der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 26.7.2012 idF des Widerspruchsbescheids vom 24.10.2012 wegen eines Anhörungsmangels formell rechtswidrig und daher aufzuheben war (1). Das LSG hat weder § 114 Abs 2 S 2 SGG(2) noch den Anspruch auf rechtliches Gehör des Beklagten verletzt (3).

11

1. Das LSG hat den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 26.7.2012 idF des Widerspruchsbescheids vom 24.10.2012 zu Recht ungeachtet der Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit wegen formeller Rechtswidrigkeit aufgehoben, weil der Beklagte die Klägerin vor Erlass des Bescheides nicht ordnungsgemäß angehört hat (a) und dieser Anhörungsmangel auch weder im Widerspruchsverfahren (b) noch im Gerichtsverfahren (c) geheilt worden ist.

12

a) Der Aufhebungsanspruch der Klägerin folgt aus § 42 Abs 1 S 1 und 2 SGB X, wonach die Aufhebung eines Verwaltungsaktes allein deshalb beansprucht werden kann, weil die erforderliche Anhörung unterblieben oder nicht wirksam nachgeholt worden ist. Nach § 24 Abs 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Nach Abs 2 der Vorschrift kann davon unter bestimmten - hier nicht einschlägigen - Voraussetzungen abgesehen werden.

13

Das Berufungsgericht ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass es an einer ordnungsgemäßen Anhörung der Klägerin schon deshalb fehlte, weil der Beklagte den Aufhebungsbescheid auf § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X und sodann den Widerspruchsbescheid auf § 45 Abs 1, Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X gestützt hat. Wie der Senat bereits entschieden hat, ist für den Fall, dass sich eine Behörde erstmals im Widerspruchsbescheid auf die innere Tatsache, dass die betroffene Person die Rechtswidrigkeit des Bescheids zumindest infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hat, bezieht, weil sie den Ausgangsbescheid noch auf § 48 SGB X gestützt hat, erneut Gelegenheit zu einer vorherigen Stellungnahme einzuräumen(BSG Urteil vom 9.11.2010 - B 4 AS 37/09 R - SozR 4-1300 § 41 Nr 2, RdNr 12 f). Ein solcher Fall liegt hier vor, weil der Beklagte in seinem Anhörungsschreiben vom 9.7.2012 vor Erlass des angefochtenen Bescheides ausdrücklich nur auf den Aufhebungsgrund der Einkommenserzielung, nicht jedoch auf die subjektiven Gesichtspunkte einer Rücknahme wegen grob fahrlässigem Verhalten bzw grob fahrlässiger Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung hingewiesen hat.

14

b) Das Vorbringen der Revision, das LSG habe die Rechtsprechung des BSG unzutreffend angewandt und damit § 24 SGB X verletzt, weil es trotz vom Beklagten substantiiert dargelegter Indizien isoliert nur auf rein formale Kriterien abstelle und damit unabhängig vom Einzelfall in der vorliegenden Konstellation generell eine erneute formalisierte Anhörung auch im Vorverfahren für erforderlich erachte, geht ins Leere.

15

Es bedarf keiner Entscheidung des Senats darüber, ob eine erneute (§ 24 SGB X)oder nachzuholende Anhörung (§ 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X) im Widerspruchsverfahren im Einzelfall entbehrlich sein kann, wenn der Betroffene die von der Behörde (bewusst oder unbewusst) unterlassene Verfahrenshandlung der Anhörung selbst vornimmt, die im Ergebnis das bewirkt, was herbeizuführen der Behörde oblag (offen gelassen von BSG Urteil vom 26.9.1991 - 4 RK 4/91 - BSGE 69, 247, 253 f = SozR 3-1300 § 24 Nr 4 S 10 f - juris RdNr 32, 35). Eine Heilung des Anhörungsmangels allein durch die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens setzt zumindest voraus, dass der Ausgangsbescheid alle wesentlichen (Haupt-)Tatsachen, dh alle Tatsachen, die die Behörde ausgehend von ihrer materiell-rechtlichen Rechtsansicht berücksichtigen muss und kann (BSG Urteil vom 20.12.2012 - B 10 LW 2/11 R - SozR 4-5868 § 12 Nr 1, RdNr 35; BSG Urteil vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 ff = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 21 mwN), nennt. Hier fehlte es schon an der Bezeichnung der Umstände, aus denen der Beklagte in seinem Widerspruchsbescheid eine grobe Fahrlässigkeit der Klägerin abgeleitet hat.

16

Unbesehen des Umstandes, dass der Klägerin die erheblichen Tatsachen iS des § 24 Abs 1 SGB X mit dem Ausgangsbescheid nicht vollständig bekannt gegeben waren, hat sie sich nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG, die der Beklagte nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen hat(§ 163 SGG), im Widerspruchsverfahren auch nicht sachgerecht und vollständig zur erforderlichen grob fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit äußern können. Sie hat insbesondere erst im Gerichtsverfahren zu ihren Sprachschwierigkeiten, ihrer psychischen Beeinträchtigung und ihrer Unkenntnis von der Berechnungsgrundlage sowie zur Kompliziertheit der Berechnungen vorgetragen. Es ist daher - entgegen der Ansicht des Beklagten - revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht im Rahmen seiner nur in engen Grenzen überprüfbaren Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der Klägerin vor Erlass des Widerspruchsbescheids Äußerungsmöglichkeiten versagt geblieben sind, weil sie sich zwar allgemein zum "Verschulden" geäußert, jedoch erst im Gerichtsverfahren umfassender zum Vorwurf der groben Fahrlässigkeit und zu ihrer Urteils-, Kritik- und Einsichtsfähigkeit vorgetragen habe. Durch ein Teilvorbringen - wie hier - kann die fehlende Anhörung nicht ordnungsgemäß nachgeholt und der Verfahrensfehler nicht geheilt werden.

17

c) Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Anhörungsmangel auch im gerichtlichen Verfahren vor dem SG und dem LSG nicht geheilt worden ist.

18

Zwar ist nach § 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X idF des 4. Euro-Einführungsgesetzes vom 21.12.2000 (BGBl I 1983) eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die den Verwaltungsakt nach § 40 SGB X nicht nichtig macht, unbeachtlich, wenn ua die erforderliche Anhörung eines Beteiligten bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt wird.

19

Nach der Rechtsprechung des Senats, zu deren Aufgabe kein Anlass besteht, setzt die Nachholung der fehlenden Anhörung während des Gerichtsverfahrens aber voraus, dass die Behörde dem Betroffenen in einem mehr oder minder förmlichen Verwaltungsverfahren Gelegenheit zur Stellungnahme zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und im Anschluss zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält. Dieses formalisierte Verfahren erfordert regelmäßig ein gesondertes Anhörungsschreiben, eine angemessene Äußerungsfrist, die Kenntnisnahme des Vorbringens durch die Behörde und deren abschließende Äußerung zum Ergebnis der Überprüfung (BSG Urteil vom 9.11.2010 - B 4 AS 37/09 R - SozR 4-1300 § 41 Nr 2, RdNr 15; zustimmend hierzu Vogelgesang, SGb 2011, 483, 484; BSG Urteil vom 20.12.2012 - B 10 LW 2/11 R - SozR 4-5868 § 12 Nr 1, RdNr 39; für die Notwendigkeit des durch die Behörde selbst durchzuführenden Anhörungsverfahrens mit zumindest formloser Entscheidung über das Festhalten an ihrer Entscheidung bereits BSG Urteil vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R - juris RdNr 15).

20

Nach diesen Maßstäben für eine ordnungsgemäße Anhörung begegnet die von dem Beklagten während des Berufungsverfahrens mit Schreiben vom 18.3.2015 eingeleitete Anhörung in mehrfacher Hinsicht Bedenken. Es ist fraglich, ob - wie der Beklagte meint - die mit diesem Schreiben für die Klägerin bestimmte Anhörungsfrist bis 25.3.2015 nach den Umständen des Einzelfalls noch als angemessen anzusehen ist (zur "Regelanhörungszeit" von 2 Wochen vgl BSG Urteil vom 23.8.2005 - B 4 RA 29/04 R - SozR 4-2600 § 313 Nr 4 RdNr 18; zur gerichtlichen Überprüfbarkeit und Berücksichtigung der Einzelfallumstände vgl BSG Urteil vom 24.7.1980 - 5 RKnU 1/79 - SozR 1200 § 34 Nr 12 S 53). Eine unangemessen kurze Frist steht dabei der unterlassenen Anhörung gleich (vgl zu einer nur einwöchigen Frist: BSG Urteil vom 14.11.1984 - 1 RA 3/84 - juris RdNr 14; BSG Urteil vom 24.7.1980 - 5 RKnU 1/79 - SozR 1200 § 34 Nr 12 S 54)ohne dass zu prüfen ist, ob der Betroffene sich auch tatsächlich zu dem Verwaltungsakt geäußert hatte oder hätte äußern wollen (Mutschler in Kasseler Kommentar, § 24 SGB X RdNr 18 f mwN, Stand September 2015). Der Heilung des Anhörungsmangels könnte auch entgegenstehen, dass der Beklagte auch für den Fall der Nichtäußerung im nachgeholten Anhörungsverfahren eine Entscheidung durch Bescheid angekündigt, eine Mitteilung an die Klägerin jedoch unterlassen hat. Für eine abschließende Stellungnahme im Sinne eines vom Senat geforderten formalisierten Verfahrens genügt jedenfalls nicht eine Äußerung der Behörde gegenüber dem Gericht bzw eine Klageerwiderung oder der Austausch von Schriftsätzen unter Wiedergabe der Standpunkte (BSG Urteil vom 20.12.2012 - B 10 LW 2/11 R - SozR 4-5868 § 12 Nr 1 RdNr 39; BSG Urteil vom 7.7.2011 - B 14 AS 144/10 R, juris RdNr 21; BSG Urteil vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R - juris RdNr 15).

21

Die Heilung des Anhörungsmangels durch deren Nachholung in einem ordnungsgemäßen förmlichen Verfahren scheitert aber jedenfalls daran, dass der Beklagte sich mit dem Schreiben vom 18.3.2015 nicht an den bereits im Widerspruchsverfahren beauftragten Prozessbevollmächtigten der Klägerin, sondern direkt an diese gewandt hat. Denn nach § 13 Abs 3 S 1 SGB X, der hier für die Nachholung des formalisierten Anhörungsverfahrens Anwendung findet, muss sich eine Behörde an den für das Verfahren bestellten Bevollmächtigten wenden; dies steht nicht in ihrem Ermessen (Mutschler in Kasseler Kommentar, § 13 SGB X RdNr 14, Stand September 2013). Diese "Kommunikationsverpflichtung" bezweckt neben einer zweckmäßigen Verfahrensgestaltung den Schutz des Verfahrensbeteiligten, der durch die Bevollmächtigung zu erkennen gegeben hat, dass dieser das Verfahren für ihn betreiben soll (Pitz in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand 5.1.2016, § 13 RdNr 13).

22

Auf Grund der erteilten Prozessvollmacht konnte die Klägerin darauf vertrauen, dass alle prozessrelevanten Erklärungen und Verfügungen an ihren Bevollmächtigten gerichtet werden und von ihr keine Kenntnis bzw Reaktion erwartet werden konnte. Der Beklagte durfte das Anhörungsschreiben auch nicht nach § 13 Abs 3 S 2 SGB X an die Klägerin adressieren, wonach sich eine Behörde, soweit ein Beteiligter zur Mitwirkung verpflichtet ist, an diesen selbst wenden kann, weil schon keine Mitwirkungspflicht der Klägerin bestand. Auch kann nicht mit Bezug auf § 37 Abs 1 S 2 SGB X von einem Ermessen des Beklagten hinsichtlich einer möglichen Bekanntgabe an die Klägerin ausgegangen werden. Zwar bestimmt § 37 Abs 1 S 2 SGB X für die Bekanntgabe von Verwaltungsakten, dass die Bekanntgabe dem Bevollmächtigten gegenüber vorgenommen werden kann, wenn ein solcher bestellt ist. Abgesehen davon, dass während eines bei Gericht anhängigen Rechtsstreits das Ermessen der Behörde hinsichtlich der Bekanntgabe von Verwaltungsakten, die den Klagegegenstand betreffen, ohnehin dahingehend auf Null reduziert ist, dass eine Bekanntgabe gegenüber dem Prozessbevollmächtigten zu erfolgen hat (Pattar in jurisPK-SGB X, 2013, § 37 SGB X RdNr 87; vgl zur Bekanntgabe gegenüber dem aktuellen Prozessbevollmächtigten BFH vom 24.2.2005 - IV R 28/00, juris RdNr 10; vgl BFH vom 5.5.1994 - VI R 98/93 - BFHE 174, 208, 211 f, BStBl II 1994, 806, 807 f - juris RdNr 14 ff), ist § 37 SGB X hier schon mangels Verwaltungsaktqualität des Anhörungsschreibens vom 18.3.2015 nicht anwendbar.

23

2. a) Die von dem Beklagten gerügte Verletzung des § 114 Abs 2 S 2 SGG, eingefügt durch Art 21 und 68 des Gesetzes zur Einführung des Euro im Sozial- und Arbeitsrecht sowie zur Änderung anderer Vorschriften vom 21.12.2000 (BGBl I 1983), liegt nicht vor. Auch wenn der Beklagte in der Revisionsbegründung fehlerhaft die Vorschrift des § 114 Abs 2 S 1 SGG genannt hat, ist die Verletzung des § 114 Abs 2 S 2 SGG nach dem Inhalt und Zusammenhang seiner Darlegungen in der Revisionsbegründung trotz versehentlich ungenauer Bezeichnung ordnungsgemäß gerügt.

24

Die in der Berufungszurückweisung und damit Entscheidung in der Sache enthaltene Ablehnung der Aussetzung durch das LSG (vgl zur Zulässigkeit der Ablehnung des Aussetzungsantrags im Urteil: Hauck in Zeihe, SGG, § 114 RdNr 6a, Stand April 2016)ist im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Es lagen schon die tatbestandlichen Voraussetzungen der Aussetzung gemäß § 114 Abs 2 S 2 SGG, wonach das Gericht auf Antrag die Verhandlung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern aussetzen kann, soweit dies im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdienlich ist, nicht vor.

25

Eine Sachdienlichkeit der Aussetzung im Sinne der Verfahrenskonzentration kann nur dann bejaht werden, wenn durch eine Heilung von Verfahrens- und Formmängeln im Gerichtsverfahren eine Verkürzung der Dauer des gesamten Verfahrens unter Berücksichtigung eines zu erwartenden neuen Verwaltungs- und anschließenden Gerichtsverfahrens zur erneuten Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit erreicht werden kann (vgl zur Verkürzung der Gesamtdauer sowohl des Verwaltungs- als auch des Gerichtsverfahrens: BSG Urteil vom 12.6.2001 - B 4 RA 37/00 R - SozR 3-2600 § 243 Nr 9 S 38). Nur dann ist für eine Ermessensentscheidung Raum (so auch Hauck in Zeihe, SGG, § 114 SGG RdNr 23, Stand April 2016). Allein die noch mögliche Heilung eines Form- oder Verfahrensfehlers genügt dagegen nicht. Dies ergibt sich aus einer am Wortlaut des § 114 Abs 2 S 2 SGG, der Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Vorschrift orientierten engen Auslegung.

26

b) Schon aus dem Wortlaut des § 114 Abs 2 S 2 SGG ("soweit") ist darauf zu schließen, dass die Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration Voraussetzung der Aussetzung und nicht nur - so offenbar das LSG - Ermessensgesichtspunkt ist; eine allgemeine Sachdienlichkeit genügt hierfür allerdings nicht (vgl zur Auslegung der Verfahrenskonzentration in Bezug auf das gerichtliche Verfahren: BSG Urteil vom 31.10.2002 - B 4 RA 15/01 R - SozR 3-1300 § 24 Nr 22, S 75).

27

Dass die Aussetzung nach § 114 Abs 2 S 2 SGG voraussetzt, dass ein weiteres, unnötiges Verfahren vermieden wird und dass durch die Aussetzung die Gesamtdauer des Gerichts- und Verwaltungsverfahrens verkürzt wird, wird durch Sinn und Zweck der Vorschrift, wie sie der Gesetzeshistorie zu entnehmen sind, bestätigt. Der Gesetzgeber hat die Übernahme der seit 1.1.1997 geltenden Regelung des § 94 S 2 VwGO(idF des 6. VwGOÄndG vom 1.11.1996, BGBl I 1626, aufgehoben durch das Rechtsmittelbereinigungsgesetz vom 20.12.2001 ), der eine Aussetzung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ermöglichte und der Verfahrensbeschleunigung diente, in das SGG damit begründet, dass auch im sozialgerichtlichen Verfahren unnötige Verzögerungen vermieden werden sollten (BT-Drucks 14/4375, S 63; vgl zur Ergänzung der Voraussetzung "sachdienlich" durch die Wörter "im Sinne der Verfahrenskonzentration" in der zwischenzeitlich aufgehobenen Parallelregelung in § 94 S 2 VwGO aF die Ausführungen zur Entstehungsgeschichte bei Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 94 VwGO RdNr 4,Stand Februar 2016). § 94 S 2 VwGO diente der Prozessökonomie durch Vermeidung eines unnötigen zweiten Prozesses in derselben Sache bzw der Vermeidung der Fortsetzung in höherer Instanz. Auch § 114 Abs 2 S 2 SGG verfolgt diesen Zweck(Lowe in Hintz/Lowe, SGG, 2012, § 114 SGG RdNr 3; Hauck in Zeihe, SGG, § 114 SGG RdNr 4, Stand April 2016). Entsprechend ging der Gesetzgeber hinsichtlich des inzwischen aufgehobenen § 94 S 2 VwGO davon aus, dass die Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration Tatbestandsvoraussetzung der Aussetzung ist und nicht nur im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen ist. Gleiches gilt für § 114 SGG(vgl zur Entstehungsgeschichte des § 94 S 2 VwGO auch BT-Drucks 13/3993 S 5, 12, 20 sowie die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses im Hinblick auf eine Reduzierung der Vorschrift auf eine Ermessensregelung und Anknüpfung an die Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration; dagegen wohl allgemein von einem reduzierten Ermessen im Rahmen des § 114 Abs 2 S 2 SGG ausgehend Wehrhahn in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 114 SGG RdNr 11).

28

§ 114 Abs 2 S 2 SGG bezweckt daher nicht, der Behörde allgemein die Möglichkeit einzuräumen, einen bereits bestehenden Anspruch des Bürgers auf Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes nachträglich wieder zu beseitigen(Knittel in Hennig, SGG, § 114 RdNr 15b, Stand September 2010, im Sinne einer generell abzulehnenden Aussetzung des Verfahrens zur Beseitigung eines Anhörungsmangels; vgl zur Kritik an einer nachträglichen Anhörung mit Blick auf die Gefahr einer "Indienstnahme der Gerichte für die Effizienz der Verwaltung" Köhler in WzS 2010, 296, 301).

29

In systematischer Hinsicht steht § 114 Abs 2 S 2 SGG zwar in Zusammenhang mit § 41 SGB X(vgl zur funktionalen Einheit der Vorschriften, die einander ergänzen sollen mit Hinweis auf die Gesetzesbegründung BSG Urteil vom 12.6.2001 - B 4 RA 37/00 R - SozR 3-2600 § 243 Nr 9 S 38; siehe auch Knittel in Hennig, SGG, § 114 RdNr 15a, Stand September 2010). Daraus folgt jedoch nicht, dass § 114 Abs 2 S 2 SGG generell die Heilung von Verfahrensfehlern durch das Gericht ermöglichen soll. § 41 Abs 2 SGB X dehnt die Heilungsmöglichkeit vielmehr rein zeitlich aus, ohne aber das Gericht gleichzeitig zwingend und unbesehen der Voraussetzung der Sachdienlichkeit im Sinne einer Verfahrenskonzentration zur Ermöglichung der Heilung zu verpflichten(vgl Knittel in Hennig, SGG, Stand September 2010, § 114 SGG RdNr 15b).

30

c) Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe hat das LSG die Aussetzung mangels Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Es kann dahingestellt bleiben, ob - wie das LSG meint - diese Voraussetzung schon deshalb nicht vorliegt, weil mit einer weiteren Verzögerung des Verfahrens zu rechnen sei. Bei der vom Senat für erforderlich gehaltenen engen Interpretation der tatbestandlichen Voraussetzungen der Aussetzung nach § 114 Abs 2 S 2 SGG aus den vorstehenden Gründen ist eine Sachdienlichkeit im Sinne einer Verfahrenskonzentration jedenfalls schon deshalb zu verneinen, weil kein weiteres Verwaltungs- und Gerichtsverfahren in der gleichen Sache drohte, welches durch die Aussetzung zur Heilung des Anhörungsmangels überflüssig würde. Dem steht die Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB X entgegen, wonach die Behörde eine Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen vornehmen muss, welche dies rechtfertigen.

31

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG waren dem Beklagten zum Zeitpunkt seines Aussetzungsantrags vom 26.3.2015 auch diejenigen (weiteren) Tatsachen, die § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X für die Rücknahme für die Vergangenheit voraussetzt, länger als ein Jahr bekannt. Die den Beginn der Jahresfrist bestimmende Kenntnis ist nach der Rechtsprechung des BSG dann anzunehmen, wenn mangels vernünftiger objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen besteht (BSG Urteil vom 27.7.2000 - B 7 AL 88/99 R - SozR 3-1300 § 45 Nr 42, S 139). Der Einjahreszeitraum beginnt in jedem Fall schon dann, wenn die Behörde der Ansicht ist, dass ihr die vorliegenden Tatsachen für eine Rücknahme bzw Aufhebung der Bewilligung genügen (BSG Urteil vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R - juris RdNr 13 mwN), denn es ist insoweit vorrangig auf den Standpunkt der Behörde abzustellen (Padé in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2013, § 45 RdNr 108 mwN). Vor diesem Hintergrund kann die Aussetzung zur Durchführung eines förmlichen Anhörungsverfahrens auf den erst am 26.3.2015 gestellten Antrag des Beklagten jedenfalls nicht mehr als im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdienlich angesehen werden, weil dies im Ergebnis zu einer Umgehung der Rücknahmefrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB X führen würde.

32

Da demnach bereits die Tatbestandsvoraussetzung der Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration für die Aussetzung nach § 114 Abs 2 S 2 SGG nicht vorlag, kommt es auf das weitere Vorbringen des Beklagten nicht mehr an, dass sich das Aussetzungsermessen auf Null reduziert habe, weil der Hinweis auf die Anhörungsproblematik verspätet gewesen sei.

33

3. Die Rüge des Beklagten, das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem es 17 Monate versäumt habe, auf die Anhörungsproblematik einzugehen und Heilungsmöglichkeiten - auch durch Aussetzung des Verfahrens nach § 114 SGG - aufzuzeigen, greift nicht durch.

34

Gemäß § 62 Halbs 1 SGG, der dem schon in Art 103 Abs 1 GG verankerten prozessualen Grundrecht entspricht(zur verfassungsrechtlichen Verankerung und den Dimensionen des rechtlichen Gehörs: Neumann in Hennig, SGG, § 62 RdNr 6 ff, Stand Juni 2015), ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts das rechtliche Gehör zu gewähren. Die richterliche Hinweispflicht (§ 106 Abs 1 SGG) konkretisiert den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Hauck in Hennig, SGG, § 106 RdNr 10, Stand September 2010) und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen. Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt jedoch nur vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (BSG Urteil vom 12.12.1990 - 11 RAr 137/89 - SozR 3-4100 § 103 Nr 4 S 23 mwN; vgl auch Beschluss des Senats vom 27.9.2011 - B 4 AS 42/11 B).

35

Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, wie schon der Aussetzungsantrag des Beklagten zeigt. Eine allgemeine Pflicht des Gerichts, auf die Beseitigung von Verfahrens- und Formfehlern des Verwaltungsverfahrens einer Behörde hinzuwirken, besteht nicht (vgl zu gesteigerten Hinweispflichten auf prozessuale Rechte nur bei erkennbar nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten: Neumann in Hennig, SGG, § 62 RdNr 65, Stand Juni 2015; vgl zur Gefahr der Annahme einer Parteilichkeit: Hauck in Hennig, SGG, § 106 RdNr 9, Stand September 2010). Die von dem Beklagten geltend gemachte Hinweispflicht des LSG setzte zudem eine tatsächliche und rechtliche Würdigung voraus, die sich regelmäßig erst auf Grund einer abschließenden Beratung des Gerichts ergeben kann (vgl hierzu BVerwG Beschluss vom 21.9.2011 - 5 B 11/11, RdNr 3). Auch war das Erfordernis einer ordnungsgemäßen Anhörung den Beteiligten als zu berücksichtigender Umstand bekannt, sodass richterliche Hinweispflicht zur Beantragung einer Aussetzung nach § 114 SGG zum Zweck der Nachholung der fehlenden Handlung ebenfalls nicht bestand(vgl auch Wehrhahn in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 114 RdNr 11).

36

In gleicher Weise liegt die vom Beklagten gerügte Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör durch einen mit zu kurzer Frist vor der mündlichen Verhandlung erfolgten Hinweis des Berichterstatters des LSG im Schreiben vom 13.3.2015 nicht vor. Die erfolgreiche Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass der Betroffene alles getan hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Dazu gehört es regelmäßig auch, ggf einen Verlegungs- bzw Vertagungsantrag zu stellen (vgl BVerwG Beschluss vom 21.9.2011 - 5 B 11/11 - Juris RdNr 7; vgl BSG Beschluss vom 1.6.2011 - B 4 AS 82/11 B, RdNr 14). Einen solchen Verlegungs- bzw Vertagungsantrag oder einen Antrag auf Einräumung einer Frist für eine weitere schriftsätzliche Stellungnahme hat der Beklagte jedoch weder nach dem gerichtlichen Hinweis im Vorfeld zur mündlichen Verhandlung noch in der Verhandlung vor dem LSG gestellt. Die gerügte Verletzung rechtlichen Gehörs wegen einer zu kurzen Frist zwischen dem gerichtlichen Hinweis vom 13.3.2015 auf die Anhörungsproblematik des § 24 SGB X und der anberaumten mündlichen Verhandlung des LSG am 26.3.2015 greift daher nicht durch.

37

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.