Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 15. Juli 2014 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und elf Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

2

1. a) Nach den Feststellungen des Landgerichts lernte der Angeklagte im Jahre 1996 die Zeugin I.   H.       kennen, die verheiratet war und aus deren Ehe die Kinder S.    , M.     und J.     H.       hervorgegangen waren. Die Ehe war von übermäßigem Alkoholkonsum des Ehemanns belastet. Der Angeklagte hielt sich oft in der Ehewohnung auf und übernahm Hausmeistertätigkeiten. Anfang 1997 kam es zu einem Streit zwischen den Eheleuten, der zur Trennung führte. Am 6. Februar 1997 bezog die Zeugin I.   H.     mit den Kindern eine Wohnung im ersten Obergeschoss eines Wohnhauses, die sie gemeinsam mit dem Angeklagten bewohnte. Etwa zweieinhalb Jahre später mieteten der Angeklagte und I.   H.     eine Wohnung im zweiten Obergeschoss des Hauses hinzu und benutzten beide Wohnungen als Einheit. In der Zeit, in welcher der Angeklagte und I.   H.      dort wohnten, kam es zu sexuellen Übergriffen auf die Nebenklägerin J.    H.      . Dabei manipulierte der Angeklagte an der Scheide der Nebenklägerin und ließ sich seinerseits von dieser mit der Hand befriedigen. Diese Taten wurden zwischen Februar 1997 und Oktober 2001 beim gemeinsamen Baden des Angeklagten mit der Nebenklägerin (Fälle III.1. und III.2. der Urteilsgründe) oder im Wohnzimmer (Fall III.3.), im Zeitraum von 1999 bis Oktober 2001 im Kinderzimmer und im Schlafzimmer (Fall III.4.) oder nur im Schlafzimmer der Erwachsenen (Fall III.5.) sowie im Zeitraum von Februar bis Mai 1997 in einem Lastkraftwagen begangen (Fälle III.6. und III.7.).

3

b) Zu den Hintergründen der Entstehung der Missbrauchsvorwürfe gegen den Angeklagten hat das Landgericht Folgendes festgestellt:

4

Im Verfahren um die Scheidung der Ehe von I.   und K.   H.     wurde von der Zeugin I.   H.       der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs der Nebenklägerin und ihres Bruders M.      durch den Angeklagten geäußert. Die Nebenklägerin hatte sich mit ihrer Missbrauchsbehauptung an ihre Mutter gewandt, diese Behauptung aber alsbald wieder zurückgenommen. Nach einer Offenbarung der Vorwürfe gegenüber der Großmutter informierte diese ihren Sohn, der am 6. August 1998 Strafanzeige erstattete. Das Jugendamt erfuhr von M.    H.      , dass der Angeklagte bei ihm "das Gleiche machen würde". I.   H.       vermutete eine Verschwörung ihrer Angehörigen gegen den Angeklagten. Die Kinder bemerkten, dass ihre Mutter unter der Trennung von diesem litt. Sie "entschlossen sich daher, ihre Angaben zurückzunehmen und zu behaupten, sie seien von der Großmutter angehalten worden, entsprechende Angaben zu machen". Sie wurden zur Stabilisierung psychotherapeutisch behandelt. "Zum weiteren Inhalt der Behandlung konnten in der Hauptverhandlung keine Feststellungen getroffen werden".

5

Ende 1999 gingen die Zeugin I.   H.       und der Angeklagte eine intime Beziehung ein, aus der am 7. Mai 2001 die Tochter B.    H.    hervorging. Als I.   H.      sich im Krankenhaus aufhielt, nahm der Angeklagte eine Beziehung mit der Zeugin     P.     auf. Nach Rückkehr aus dem Krankenhaus erfuhr I.   H.     davon und trennte sich vom Angeklagten.

6

In der Folgezeit kam es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen I.   H.       und dem Angeklagten um das Sorgerecht für ihre gemeinsame Tochter B.   . Dabei äußerte die Zeugin I.  H.      den Verdacht, der Angeklagte habe ihre ehelichen Kinder sexuell missbraucht.

7

Aus der Beziehung des Angeklagten mit      P.     gingen vier Kinder hervor, darunter die Tochter Jo.    . Im Jahre 2011 kam es zu einem Strafverfahren wegen Verdachts des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil dieser Tochter durch den Angeklagten. Dort erklärte die Zeugin I.   H.       , sie wisse nun, dass der Angeklagte mit ihrem Sohn M.     Analverkehr gehabt und an der Nebenklägerin "herumgespielt" habe. Die Nebenklägerin wurde als Zeugin vernommen und bestätigte den Missbrauchsvorwurf. Das Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs zum Nachteil der Tochter Jo.      wurde eingestellt.

8

2. Der Angeklagte hat die Begehung der Taten bestritten. Das Landgericht hat seine Verurteilung auf die Angaben der Nebenklägerin gestützt. Diese wurden durch Angaben ihres Bruders M.     H.       bestätigt. Dieser hat in der Hauptverhandlung zuerst die Frage nach sexuellen Übergriffen des Angeklagten auf ihn selbst verneint, bei einer erneuten Vernehmung aber angegeben, es sei in zwei Fällen zur analen Penetration gekommen. Das Landgericht hat angenommen, die erste Aussage sei falsch gewesen; er habe sie aus Sorge gemacht, dass sich "nunmehr auch sein Bruder S.    , mit dem er als einzigem aus der Familie regelmäßig Kontakt pflege, von ihm abwenden würde". Dieser Aussageänderung ist das Landgericht gefolgt.

9

Pseudoerinnerungen der Nebenklägerin an Missbrauchshandlungen hat das Landgericht ausgeschlossen, weil sie keine erhöhte Fantasieproduktivität gezeigt habe und keine psychische Störung vorliege. "Auch die psychotherapeutische Behandlung der Nebenklägerin sei nicht geeignet, Suggestionseffekte zu begründen. Die Behandlung im Jahr 1999 habe stabilisierenden Zielen gedient und nicht der Aufdeckung von Missbrauchsereignissen".

10

Die Aussage des Zeugen S.    H.       sei nicht geeignet, den Angeklagten zu entlasten. Dieser Zeuge habe zwar berichtet, dass "sie, die Kinder, früher dazu gedrängt worden" seien, "etwas `in dieser Richtung zu sagen´". Sexueller Missbrauch sei "eigentlich immer ein Thema in der `Familie´ gewesen". Jedoch habe die Zeugin     F.   davon berichtet, dass S.   H.    ihr vor etwa zehn Jahren mitgeteilt habe, er habe den Angeklagten in der Badewanne sexuell befriedigen müssen.

II.

11

Die Revision gegen dieses Urteil ist begründet. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist rechtsfehlerhaft.

12

Ein Rechtsfehler der Beweiswürdigung kann vorliegen, wenn sie widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Die Beweiswürdigung muss zudem erschöpfend sein. Nach diesem Maßstab bestehen durchgreifende rechtliche Bedenken gegen das angefochtene Urteil.

13

1. Die Überlegung, die Zeugenaussage der Nebenklägerin werde durch die Angaben ihres Bruders M.    bestätigt, ist lückenhaft.

14

Das Landgericht hat den Vorwurf des Missbrauchs der Nebenklägerin durch die Feststellung eines Missbrauchs zum Nachteil von M.    H.     bestätigt und durch das Bestreiten eines Missbrauchs zum Nachteil von S.   H.      durch diesen Zeugen nicht als widerlegt angesehen. Werden aber Taten zum Nachteil anderer Personen als belastendes Indiz gewertet, kann an den Nachweis solcher Taten im Wesentlichen kein anderer Maßstab angelegt werden, als an den Beweis der Tat, die den eigentlichen Verfahrensgegenstand bildet.

15

Die Taten des Angeklagten zum Nachteil von M.    H.     hat das Landgericht aufgrund der zweiten Vernehmung dieses Zeugen in der Hauptverhandlung festgestellt, weil er dabei seinen Widerruf der früheren Aussage, mit der ein Missbrauch zu seinem Nachteil bestritten worden war, mit einem glaubhaften Aussagemotiv vorgebracht habe. Weder eine Inhaltsanalyse der Aussage noch eine umfassende Untersuchung der Aussageentstehung und -entwicklung hat die Strafkammer vorgenommen. Auch die Plausibilität der Angaben ist im Urteil nicht überprüft worden. So ist bereits eine Tatkonkretisierung dahin, wann, wo und unter welchen Umständen ein Analverkehr des Angeklagten mit dem Zeugen stattgefunden haben soll, nicht erfolgt.

16

2. Soweit das Landgericht die Möglichkeit von Scheinerinnerungen der Nebenklägerin an Missbrauchstaten des Angeklagten ausgeschlossen hat, ist seine Beweiswürdigung ebenfalls lückenhaft.

17

a) Das Landgericht ist der Sachverständigen in der Annahme gefolgt, die psychotherapeutische Behandlung der Nebenklägerin im Jahre 1999 sei nicht geeignet gewesen, Pseudoerinnerungen an einen sexuellen Missbrauch hervorzurufen. Dem widerspricht die Mitteilung im Urteil, dass zum Inhalt der Behandlung keine Feststellungen getroffen werden konnten.

18

b) Auch sonst ist der Ausschluss von Scheinerinnerungen der Nebenklägerin nicht lückenlos erfolgt.

19

Geht ein Psychotherapeut davon aus, dass den Beschwerden einer Patientin verdrängte Erinnerungen zugrunde liegen, kann die Therapie im Versuch der Rückgewinnung solcher Erinnerungen bestehen. Wenn dabei auch nach sexuellem Missbrauch geforscht wird, kann eine Scheinerinnerung daran entstehen (vgl. Köhnken in Müller/Schlothauer [Hrsg.], Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 2. Aufl. § 61 Rn. 24; Mack, Kriminalistik 2014, 459, 461; Steller NJW-Sonderheft für G. Schäfer, 2002, S. 69, 70; Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S. 105 ff.). Das Vorliegen von Pseudoerinnerungen kann im Einzelfall nicht durch einen Hinweis auf die Aussagequalität der Zeugenaussagen widerlegt werden. Scheinerinnerungen können nämlich auch Merkmale aufweisen, die Realkennzeichen eines Erlebnisberichts entsprechen (vgl. Steller in Volbert/Steller, Handbuch der Rechtspsychologie, 2008, S. 300, 306; Rolinski in Festschrift für Kühne, 2013, S. 297, 303). Eine sichere Verneinung von Pseudoerinnerungen setzt namentlich voraus, dass entweder suggestive Einflüsse ausgeschlossen werden oder weitere Beweise angeführt werden, mit denen die Richtigkeit der Zeugenaussage belegt werden kann.

20

Der Ausschluss einer Erinnerungsverfälschung war der Strafkammer nicht durch Rekonstruktion des Inhalts der Therapie möglich, weil sie keine näheren Feststellungen dazu treffen konnte. Eine Widerlegung der Suggestionshypothese mit Hilfe der Angaben des Zeugen M.    H.      ist ihrerseits nicht lückenlos erfolgt, zumal dieser ebenfalls psychotherapeutisch behandelt wurde und demselben Einfluss ausgesetzt gewesen sein kann wie die Nebenklägerin.

21

3. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist auch unvollständig, soweit das Landgericht seine Feststellungen zu Tatzeiten und zu dem Ablauf der Aufdeckungsmaßnahmen nicht in Beziehung zueinander gesetzt hat. Nach seinen Feststellungen hat der Angeklagte die abgeurteilten Taten teils vor, teils nach der Äußerung von Missbrauchsvorwürfen gegenüber den Angehörigen der Geschädigten begangen, möglicherweise auch während des Ermittlungsverfahrens. Die Bedeutung dieser Tatsache hat das Landgericht nicht gewürdigt.

22

4. Die genannten Umstände hätten gemeinsam mit den weiteren Tatsachen und Beweisen, die für und gegen die Tatbegehung des Angeklagten sprechen, in einer umfassenden Gesamtschau gewürdigt werden müssen. Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass das Landgericht diesem Erfordernis nicht genügend Rechnung getragen hat.

23

Dies wird daraus deutlich, dass das Landgericht der geänderten Aussage des Zeugen M.    H.     zu eigenen Missbrauchserlebnissen gefolgt ist, während es das Bestreiten von Missbrauchshandlungen des Angeklagten durch den Zeugen S.    H.       als unzureichenden Entlastungsbeweis bezeichnet hat. Diese Aussagekonstellationen sind von der Strafkammer weder gemeinsam bewertet noch in einer Gesamtschau damit gewürdigt worden, dass schon in dem frühen Aufdeckungsgeschehen widersprüchliches Aussageverhalten verschiedener Auskunftspersonen zu verzeichnen war. Darin könnten Anzeichen für eine wechselseitige innerfamiliäre Beeinflussung der Zeugen zu sehen sein, die eine besonders vorsichtige Beweiswürdigung gebieten (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2006 - 1 StR 579/05, NStZ-RR 2006, 242, 243).

Fischer                   Krehl                       Eschelbach

               Zeng                      Bartel

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BESCHLUSS
1 StR 579/05
vom
25. April 2006
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u. a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 25. April 2006 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 16. August 2005 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts München II zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in 27 Fällen , wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Misshandlung von Schutzbefohlenen in 43 Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 15 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Von weiteren Tatvorwürfen hat es ihn freigesprochen. Gegen das Urteil wendet der Angeklagte sich mit Verfahrensrügen und der näher ausgeführten Sachrüge. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
2
I. Die Revision beanstandet die Behandlung von zwei Hilfsbeweisanträgen , die auf die Einholung aussagepsychologischer Sachverständigengutachten zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten E. und M. G. gerichtet waren und von der Strafkammer unter Hinweis auf eigene Sachkunde abgelehnt worden sind. Die Rüge nach § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO greift durch.
3
1. Gegenstand der Verurteilung sind Misshandlungen und sexuelle Übergriffe des Angeklagten zum Nachteil seiner Ehefrau E. G. , seines am 1. Mai 1989 geborenen Sohnes M. und seiner am 7. November 1993 geborenen Tochter S. . Das Landgericht hat den nicht vorbestraften Angeklagten für schuldig befunden, in den Jahren 1998 bis 2002 im Abstand von jeweils zwei Monaten den Geschlechtsverkehr mit seiner Ehefrau erzwun- gen zu haben, indem er sie würgte und bedrohte (“Wenn ich Dich jetzt umbringe , kannst Du gar nichts tun.”). Nach den Urteilsfeststellungen missbrauchte der Angeklagte zwischen 1994 und 2000 seinen behinderten Sohn M. fünfzehn Mal, indem er das fünf bis elf Jahre alte Kind auf dessen Bett warf, es mit der einen Hand würgte und mit der anderen vor ihm masturbierende Bewegungen an sich vollzog. Mit der vier bis sechs Jahre alten S. führte der Angeklagte nach den Feststellungen in drei Fällen den Geschlechtsverkehr durch. Daneben kam es - so das Landgericht - wiederholt zu Gewalttätigkeiten, indem der Angeklagte S. mit einem eisernen Pfannenwender und M. mit einem Gürtel schlug, M. zudem in zwei weiteren Fällen mit einem Messer in den Arm schnitt.
4
Der Angeklagte hat die Taten bestritten. Das Landgericht hat sich in seiner Beweiswürdigung im Wesentlichen auf die jeweiligen Aussagen der Geschädigten zu den an ihnen begangenen Taten gestützt. Ergänzend hat es Angaben der Zeugin E. G. zu Begleitumständen des Missbrauchs von S. und zu den Misshandlungen von M. berücksichtigt, weiterhin Angaben der Zeugin K. G. , Schwester von S. und M. , die einen Fall des Missbrauchs von S. beobachtet haben will. Die Kammer hat die Zeugin S. G. einer aussagepsychologischen Begutachtung unterzogen ; sie ist der Bewertung der Sachverständigen, wonach die Schilderungen der Zeugin keinen Erlebnisbezug aufweisen, Aussageentstehung und –inhalt vielmehr deutliche Hinweise auf suggestive Prozesse und die Entstehung von Scheinerinnerungen ergeben, indes nicht gefolgt. Auch die Zeugin K. G. war im Ermittlungsverfahren im Hinblick auf Missbrauchsvorwürfe, die sie gegenüber dem Angeklagten erhoben hatte, Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung. Die Sachverständige ist auch hinsichtlich dieser Zeugin zu dem Ergebnis gelangt, dass die Annahme von Scheinerinnerungen und einer darauf beruhenden Falschaussage nicht zurückzuweisen sei. Die Kammer hat dem in die Verhandlung eingeführten Gutachten keine durchgreifende Bedeutung beigemessen, da es sich hauptsächlich auf Berichte der Zeugin über an ihr selbst begangene Taten beziehe, nicht aber auf solche zu Lasten ihrer Schwester S. .
5
Die Verteidigung hat Hilfsbeweisanträge auf Einholung aussagepsychologischer Sachverständigengutachten zum Beweis dafür gestellt, dass die Aussagen der Zeugen E. und M. G. nicht erlebnisfundiert seien. Die Kammer hat die Anträge abgelehnt, weil sie selbst über die erforderliche Sachkunde verfüge.
6
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Ablehnung der Beweisanträge erweist sich in Anbetracht der ungewöhnlichen Besonderheiten des Falles als rechtsfehlerhaft.
7
Die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut (BGHSt 8, 130; BGH NStZ 2001, 105). Die Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens ist allerdings dann geboten, wenn der Sachverhalt oder die Person des Zeugen solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel daran aufkommen können, ob die Sachkunde des Gerichts auch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht (st. Rspr.; BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Glaubwürdigkeitsgutachten 2; BGH StV 1994, 173). Um einen solchen Fall handelt es sich hier.
8
a) Auffälligkeiten im Hinblick auf die Aussage der Zeugin E. G. liegen in ihrer Person und in den Umständen der Aussageentstehung begründet. Den Urteilsfeststellungen ist zu entnehmen, dass die Zeugin nach ihren eigenen Angaben von ihrem vierten bis zum achtzehnten Lebensjahr in ihrer eigenen Familie sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen ist. Solche Übergriffe habe sie auch von einem Freund hinnehmen müssen, mit dem sie eine Beziehung unterhielt, bevor sie den Angeklagten kennen gelernt habe.
9
Zur Entstehung der den Angeklagten belastenden Aussagen verhält sich das Urteil nicht näher. Ihm ist aber zu entnehmen, dass die Zeugin in Gesprächen mit Ärzten eines psychiatrischen Krankenhauses, in dem der Angeklagte sich im Jahr 2004 zur Behandlung einer Depression aufgehalten hatte, verbalaggressives Verhalten des Angeklagten geschildert, körperliche Übergriffe jedoch entschieden verneint hatte. Den Inhalt weiterer in diesem Zeitraum geführter Unterredungen der Zeugin mit einem Vertrauten, dem Zeugen Ge. Ei. , teilt das Urteil nicht mit. Aus den polizeilichen Vernehmungen des Zeugen Ei. und der Zeugin G. ergibt sich, dass beide Zeugen zahlreiche intensive Gespräche über die familiäre Situation der Zeugin G. geführt haben. Die Zeugin brachte dabei zunächst ihre Überzeugung zum Ausdruck, in einer glücklichen Ehe und heilen Familie zu leben. Nach dem Eindruck des - von der Zeugin G. als “Hobbypsychologen” beschriebenen - Zeugen Ei. lagen dieser Überzeugung jedoch verdrängte familiäre Probleme zugrunde. Auf Anraten des Zeugen unterzog die Zeugin G. sich einer „Familienaufstellung“; hierbei und hiernach sei ihr nach Aussage des Zeugen Ei. “nach und nach zu Be- wusstsein gekommen, was überhaupt passiert ist”.
10
b) Besonderheiten hinsichtlich des Zeugen M. G. finden sich in dessen organischer Hirnschädigung sowie auch hier in den Umständen der Aussageentstehung. Der Zeuge hatte bei seiner von der Revision mitgeteilten polizeilichen Vernehmung sexuelle Übergriffe und Schläge mit Gegenständen seitens des Angeklagten noch ausdrücklich verneint. Erst in seiner ermittlungsrichterlichen Vernehmung schilderte der Zeuge die Geschehnisse, wie sie später Gegenstand der Feststellungen geworden sind, ohne dass ihm seine frühere gegenteilige Aussage hierbei vorgehalten wurde. Die der ermittlungsrichterlichen Vernehmung des Zeugen beiwohnende aussagepsychologische Sachverständige vermutete ausweislich eines von der Revision mitgeteilten Aktenvermerkes der Staatsanwaltschaft, dass der Aussage durch Suggestion hervorgerufene Pseudoerinnerungen zugrunde liegen könnten.
11
c) Hinsichtlich beider Zeugen war zudem zu berücksichtigen, dass Sachverständigengutachten über die Glaubwürdigkeit der über ähnliche Missbrauchserfahrungen berichtenden familienangehörigen Zeugen S. und K. G. vorlagen, in welchen die Sachverständige erhebliche Anzeichen für eine wechselseitige innerfamiliäre Beeinflussung der Zeuginnen dokumentiert hatte. Auch wenn die Kammer dem Ergebnis der Gutachten nicht gefolgt ist, boten sie bei Würdigung der Aussagen weiterer als Zeugen vernommener Familienmitglieder doch Anlass für eine besonders kritische Prüfung möglicher suggestiver Einflüsse und hierdurch hervorgerufener Fehlerinnerungen.
12
Vor dem Hintergrund all dieser Besonderheiten durfte die Kammer sich nicht für befugt halten, über die Glaubhaftigkeit der den Angeklagten belastenden Aussagen der Zeugen E. und M. G. aus eigener Sachkunde zu entscheiden; vielmehr hätte es der Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens bedurft (vgl. BGH NStZ 2001, 105).
13
3. Der Verfahrensmangel führt zur Aufhebung aller Urteilsfeststellungen, soweit sie der Verurteilung des Angeklagten zugrunde liegen. Denn die Kammer hat die Aussagen dieser beiden Zeugen zur Feststellung sämtlicher Tatkomplexe in wechselnder Beteiligung herangezogen.
14
Auf die weiteren von der Revision erhobenen verfahrensrechtlichen Beanstandungen und auf die Sachrüge kommt es hiernach nicht mehr an.
15
II. Der Senat hat Anlaß zu folgendem Hinweis: Der Tatrichter ist nicht gehindert, die Glaubwürdigkeit eines Zeugen anders zu beurteilen als ein hierfür herangezogener Sachverständiger, denn das von diesem erstattete Gutachten kann stets nur eine Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung sein. Er muss dann aber die wesentlichen Ausführungen des Sachverständigen im Einzelnen darlegen, insbesondere die Stellungnahme des Sachverständigen zu den Gesichtspunkten, auf die er seine abweichende Auffassung stützt. Dem Revisionsgericht ist ansonsten keine Prüfung möglich, ob der Tatrichter das Gutachten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen hat (st. Rspr.; BGH NStZ 2000, 550f.; BGHR StPO § 261 Sachverständiger 1 und 5). Zu den Anforderungen an ein aussagepsychologisches Gutachten , welche von der herangezogenen Sachverständigen hier beachtet wurden, weist der Senat auf BGHSt 45, 164 hin.
16
Im Hinblick auf die bisherige Länge der Untersuchungshaft wird der neue Tatrichter im weiteren Verfahren das Beschleunigungsgebot besonders zu beachten haben.
Nack Kolz Hebenstreit Elf Herr RiBGH Dr. Graf ist erkrankt und deshalb an der Unterschrift gehindert. Nack