Bundesgerichtshof Beschluss, 23. Juli 2024 - VI ZR 41/22

published on 31/08/2024 13:38
Bundesgerichtshof Beschluss, 23. Juli 2024 - VI ZR 41/22
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Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

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Amtliche Leitsätze

Zur Verletzung rechtlichen Gehörs durch Verzicht auf die Ergänzung oder Einholung eines Sachverständigengutachtens bei der Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage unter Anmaßung eigener Sachkunde.

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Der Bundesgerichtshof hat in seinem Beschluss vom 23. Juli 2024 (Az.: VI ZR 41/22) entschieden, dass das Saarländische Oberlandesgericht den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt hat, indem es bei der Beurteilung einer pflegewissenschaftlichen Frage auf die ergänzende Einholung eines Sachverständigengutachtens verzichtet und stattdessen ohne ausreichende eigene Sachkunde entschieden hat. Das Berufungsgericht hätte die Einschätzungen der Sachverständigen nicht ohne weitere Anhörung und fachliche Beratung zurückweisen dürfen. Der Fall wurde zur erneuten Verhandlung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Bundesgerichtshof

Beschluss vom 23. Juli 2024

Az.: VI ZR 41/22

 

 

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 12. Januar 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens wird auf bis 35.000 € festgesetzt.

 

Gründe

I.

Die Klägerin macht - zum Teil als Erbin - Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche aus einer Krankenhausbehandlung ihrer damals 88-jährigen und mittlerweile verstorbenen Mutter (im Folgenden: Patientin) geltend.

Die Patientin litt an Altersdemenz mit bekannter Weglauftendenz. Sie wurde am 13. Februar 2016 wegen einer hyperglykämischen Blutzuckerentgleisung stationär zur Behandlung in der Abteilung für Innere Medizin eines Krankenhauses aufgenommen, dessen Trägerin die Beklagte ist. Am 16. Februar 2016 wurde sie gegen 2.45 Uhr in der Nacht nach einem Sturz auf dem Boden des Stationsflurs liegend aufgefunden. Sie erlitt durch den Sturz eine Platzwunde sowie insbesondere eine komplexe subkapitale Humerusmehrfragmentfraktur, die im Haus der Beklagten konservativ behandelt wurde. Drei Tage nach dem Sturz wurde die Patientin aus der stationären Behandlung in die Kurzzeitpflege entlassen. Dort verstarb sie 18 Tage später.

Mit ihrer Klage, die sie - soweit für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde noch von Interesse - auf den Vorwurf unzureichender Beaufsichtigung ihrer Mutter auf der Station stützt, macht die Klägerin aus übergegangenem Recht die Zahlung eines Schmerzensgeldes sowie aus eigenem Recht die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für weitere Schäden und den Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten geltend.

Das Landgericht hat die Klage nach Anhörung der Klägerin sowie Einholung eines pflegewissenschaftlichen und eines orthopädischen Gutachtens abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht ohne weitere Beweisaufnahme zurückgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.

 

II.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, es könnten keine Versäumnisse des Pflegepersonals der Beklagten bei der Betreuung und Versorgung der Patientin festgestellt werden. Der Klägerin komme keine Beweislastumkehr unter dem Gesichtspunkt des voll beherrschbaren Risikos zugute. Die danach in vollem Umfang darlegungs- und beweisbelastete Klägerin habe nicht nachweisen können, dass der Sturz der Patientin auf einem pflichtwidrigen Verhalten des Pflegepersonals der Beklagten beruhe. Zwar habe die Sachverständige T. bemängelt, dass keine auf die Patientin abgestimmten Maßnahmen geplant worden seien, die der Besonderheit der Demenz in Kombination mit Selbständigkeit in der Mobilisation angemessen gewesen seien. Sie habe aber bei ihrer Anhörung vor dem Landgericht eingeräumt, dass dies im klinischen Alltag nicht ungewöhnlich sei, weil das Augenmerk immer noch mehr auf den körperlichen Gebrechen liege, die Patienten eine kurze Verweildauer hätten und in Anbetracht des kritischen Personalschlüssels die geistigen Beeinträchtigungen nicht ausreichend gewürdigt werden könnten. In diesem Zusammenhang seien die Ausführungen der Sachverständigen dahingehend zu ergänzen, dass oftmals (auch) ein erheblicher Mangel an ausreichend ausgebildetem Pflegepersonal bestehe. Damit könne den Angaben der Sachverständigen aber entnommen werden, dass es in einer Klinik (immer noch) nicht zum Standard gehöre, die geistigen Beeinträchtigungen eines Patienten bei der Pflegeplanung so umfänglich wie von ihr für wünschenswert erachtet zu berücksichtigen.

Vor diesem Hintergrund seien nur dann weitere Maßnahmen zur Sturzprophylaxe erforderlich, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine akute Sturzgefährdung der Patientin vorlägen. Eine lediglich latent vorhandene Sturzneigung sei nicht geeignet, eine allgemeine Fixierung oder beständige Überwachung eines Patienten zu rechtfertigen. Solche konkreten Anhaltspunkte hätten jedoch nicht vorgelegen. Zwar sei die Patientin mit dementieller Veränderung und Weglauftendenz in die Klinik eingeliefert worden, Grund hierfür sei aber nicht ein Sturz, sondern eine Entgleisung des Blutzuckers gewesen, die habe eingestellt werden müssen. Dass die Demenz mit Weglauftendenz und einer zumindest zeitweisen Orientierungslosigkeit vor ihrem Krankenhausaufenthalt zu einer Einschränkung der Mobilität der Patientin bzw. zu besonderen Vorsichtsmaßnahmen insbesondere vor dem Hintergrund einer bestehenden Sturzproblematik geführt hätten, sei nicht ersichtlich. Auch aus der Pflegedokumentation ergäben sich keine Hinweise auf das Bestehen einer besonderen Sturzproblematik.

Etwas Anderes ergebe sich auch nicht aus der Medikation mit einer Tablette Tavor am Abend, die erfolgt sei, um die Patientin ruhigzustellen und einen ungestörten Schlaf zu gewährleisten. Zwar könne, wie die Sachverständige ausgeführt habe, diese Medikation zu einer Erhöhung des Sturzrisikos führen. Hierfür hätten aber für das Pflegepersonal keine Anhaltspunkte bestanden, da die Patientin in den Tagen zuvor auf die Medikation mit einem ruhigen Schlaf reagiert habe. Ebenso wenig ließen sich aus den Blutzuckerschwankungen Hinweise auf ein erhöhtes Sturzrisiko ableiten, da es insoweit zu keinen Auffälligkeiten gekommen sei. Danach habe ein gesteigertes Risiko für einen Sturz der zwar dementiell eingeschränkten, aber noch weitgehend selbständig lebenden Patientin nicht bestanden, das weitergehende Sicherungsmaßnahmen erfordert hätte. Insbesondere sei es weder erforderlich noch zumutbar gewesen, eine Sitzwache am Bett der Patientin zu platzieren oder eine Überwachung per Videokamera sicherzustellen. Erst recht habe keine Veranlassung bestanden für weitergehende freiheitseinschränkende Maßnahmen in Form der Anbringung eines Bettgitters. Die von der Sachverständigen weiter aufgeführte Sicherung durch eine Sensormatte sei sicherlich eine weniger einschneidende Maßnahme, sei aber aufgrund jeden fehlenden Anhaltspunkts für eine erhöhte Sturzgefahr nicht veranlasst gewesen. Aus den gleichen Gründen fehle es auch an einem Organisations- oder Übernahmeverschulden der Beklagten.

2. Die Beschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht mit diesen Ausführungen in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat.

a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (vgl. BVerfGE 88, 366, 375 f. mwN).

Der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens, dessen Ergänzung oder die Anhörung des Sachverständigen nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag (Senat, Beschlüsse vom 12. März 2024 - VI ZR 283/21, NJW-RR 2024, 547; vom 9. April 2019 - VI ZR 377/17, VersR 2019, 1033 Rn. 9; vom 8. März 2016 - VI ZR 243/14, GesR 2016, 351, juris Rn. 12; vom 13. Januar 2015 - VI ZR 204/14, NJW 2015, 1311 Rn. 5 mwN).

Das Gericht hat sich zwar auch über die von einem Sachverständigen begutachteten Tatsachen eine eigene Überzeugung zu bilden. Dies entspricht der in § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO geregelten freien Beweiswürdigung unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme. Allerdings stößt die Bewertung eines Gutachtens an eine Grenze, wenn hierfür eine beim Gericht nicht vorhandene Sachkunde erforderlich ist (vgl. BGH, Urteile vom 27. Mai 1982 - III ZR 201/80, NJW 1982, 2874, juris Rn. 10; vom 19. Juli 2017 - IV ZR 535/15, NJW-RR 2017, 1066 Rn. 25). Insbesondere darf das Gericht nicht ohne Darlegung eigener Sachkunde und ohne Beratung durch einen - ggf. anderen - Sachverständigen von den fachkundigen Feststellungen und Einschätzungen des von ihm gerade wegen fehlender eigener Sachkunde beauftragten Gutachters abweichen (vgl. BVerfG, NJW-RR 2014, 1290 Rn. 17; NJW 2019, 2012 Rn. 26; BGH, Beschlüsse vom 31. August 2023 - I ZR 11/23, juris Rn. 26; vom 6. Dezember 2012 - V ZB 80/12, NJW-RR 2013, 628 Rn. 7; vom 1. Juni 2023 - I ZB 108/22, NJW-RR 2023, 1228 Rn. 26). Gegebenenfalls muss es in Erwägung ziehen, einen anderen Sachverständigen zu beauftragen (BGH, Beschluss vom 31. August 2023 - I ZR 11/23, juris Rn. 27).

Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 14. November 2023 - VI ZR 244/21, MDR 2024, 227 Rn. 13, 17 f.; vom 9. April 2019 - VI ZR 377/17, VersR 2019, 1033 Rn. 9; vom 8. März 2016 - VI ZR 243/14, GesR 2016, 351, juris Rn. 12; vom 13. Januar 2015 - VI ZR 204/14, NJW 2015, 1311 Rn. 5 mwN).

b) Diesen Anforderungen genügt das Berufungsurteil nicht. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht beanstandet, hat das Berufungsgericht eine eigene medizinische und in der Folge pflegewissenschaftliche Bewertung des Geschehens vorgenommen, die von der der Sachverständigen T. abweicht, ohne aufzuzeigen, dass es über die erforderliche Sachkunde verfügt. Das Berufungsgericht hat der unzweideutigen Auffassung der Pflegesachverständigen, dass die Mutter der Klägerin sehr sturzgefährdet gewesen sei und insoweit Sturzprophylaxemaßnahmen zur Verfügung gestanden hätten, seine eigene Auffassung entgegengesetzt, obwohl diese Frage ohne medizinische oder pflegewissenschaftliche Sachkunde nicht beurteilt werden konnte. Dass das Berufungsgericht insoweit über eigene Sachkunde verfügte, legt es in seinem Urteil nicht dar.

Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht anführt, hat die Pflegesachverständige in ihrem Gutachten unter anderem dargestellt, dass die - an sich mittels eines Rollators selbständige - Patientin nach den durchgeführten Blutzuckerkontrollen sehr unterschiedlich hohe Blutzuckerwerte gehabt habe. Diese könnten neben der Demenz auch zu Desorientiertheit, Gleichgewichtsschwankungen und Unruhe führen. Der Blutzuckerspiegel der Patientin sei am 15. Februar 2016 um 22 Uhr so niedrig wie noch an keinem anderen Tag der Eintragungen gewesen; das angewendete Schema nach Hovenbitzer sehe bei diesem Wert keine Insulingabe vor. Es könne anhand der Pflegeunterlagen nicht abschließend geklärt werden, ob oder wieviel Insulin die Patientin als Injektion erhalten habe. Es sei aus pflegewissenschaftlicher Sicht möglich, dass die Patientin durch einen zu niedrigen Blutzuckerspiegel bei ihrem nächtlichen Weg auf dem Stationsgang an Bewusstseinsstörungen und Koordinationsstörung gelitten habe. Nach Darstellung der Sachverständigen könne auch die Gabe des Beruhigungsmittels Tavor, die am Abend vor dem Sturz um 20.30 Uhr erfolgte, ebenfalls das Sturzrisiko erhöht haben. Aus der Dokumentation gehe hervor, dass das Personal der Station nicht gewahr gewesen sei, dass die Fähigkeit zur selbständigen Fortbewegung in Verbindung mit massiven Blutzuckerschwankungen und demenziellen Verhaltensweisen zu Gang- und Standunsicherheiten habe führen können, die ihrer Meinung nach eine ständige Begleitung auf allen Wegen der Station notwendig gemacht hätten, um einen Sturz effektiv zu verhindern. Aus gutachterlicher Sicht wäre durch eine Sitzwache, ein Monitoring über Videokamera oder durch den Einsatz von Hilfsmitteln wie unter anderem einer Sensormatte ein Sturz zu vermeiden gewesen. An ihrer Einschätzung, die Patientin sei - aus ihrem Verhalten zuvor ersichtlich - "sehr sturzgefährdet" gewesen, hat sie auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht festgehalten.

Wenn das Berufungsgericht gleichwohl meint, konkrete Anhaltspunkte für eine akute Sturzgefährdung der Patientin hätten nicht bestanden, weil die Patientin nicht wegen eines Sturzes oder mit bekannter Sturzproblematik aufgenommen worden sei und keinen unsicheren Gang oder Schwindel gezeigt habe, weicht es von dieser sachverständigen Einschätzung ab, ohne hinreichende eigene Sachkunde zu belegen. Bezüglich der von der Pflegesachverständigen identifizierten Ursachen für ein erhöhtes Sturzrisiko - nämlich die Blutzuckerschwankungen und die Benzodiazepin-Medikation - behauptet das Berufungsgericht lediglich, dass sich hieraus für das Pflegepersonal der Beklagten keine Anhaltspunkte für ein Sturzrisiko hätten ergeben müssen, weil die Patientin zuvor auf die Tavor-Gabe mit einem ruhigen Schlaf reagiert habe und es auch bezüglich der Blutzuckerschwankungen zu keinen Auffälligkeiten gekommen sei. Ob ein solcher Rückschluss allgemein und auch im konkreten Fall der Patientin möglich ist, ist aber eine Sachfrage, die nur mit medizinischer oder pflegerischer Sachkunde beantwortet werden kann und die das Berufungsgericht auch nur nach erneuter Anhörung der Pflegesachverständigen hätte beantworten dürfen.

c) Die vorstehende Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es ist nach den bisherigen Feststellungen nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht nach ergänzender Beweisaufnahme zu der Beurteilung gelangt, die von der Sachverständigen angeführten Sturzprophylaxemaßnahmen seien von der Beklagten rechtlich geschuldet gewesen (vgl. Senatsbeschluss vom 14. November 2023 - VI ZR 244/21, NJW-RR 2024, 437 Rn. 9). Erst nach einer etwaigen Konkretisierung der Maßnahmen könnte dann die Kausalität zwischen dem Unterlassen einer Sturzprophylaxe und dem Sturz der Klägerin geprüft werden.

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