Bundesgerichtshof Beschluss, 26. Okt. 2010 - VI ZB 74/08

bei uns veröffentlicht am26.10.2010
vorgehend
Landgericht Berlin, 58 S 90/08, 03.09.2008
Amtsgericht Mitte, 101 C 3055/07, 13.02.2008

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
VI ZB 74/08
vom
26. Oktober 2010
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja

a) Bei der Bestimmung des Werts des Beschwerdegegenstandes gemäß § 511
Abs. 2 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht ergänzenden Vortrag der Parteien zu
diesem Wert in Erwägung zu ziehen. Hat das Erstgericht die auf Schadensersatz
nach einem Verkehrsunfall gerichtete Klage hinsichtlich eines Feststellungsantrags
abgewiesen, kann der Wert des Beschwerdegegenstandes auch durch ausreichend
konkret dargelegte Schadenspositionen bestimmt sein, die erstinstanzlich
nicht in Ansatz gebracht wurden oder im Raum standen, sofern im Fall einer
Verurteilung die Haftung der Beklagten auch für diese Positionen festgestellt würde.

b) Hat das erstinstanzliche Gericht keine Veranlassung gesehen, die Berufung nach
§ 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO zuzulassen, weil es den Streitwert auf über 600 € festgesetzt
hat, und hält das Berufungsgericht diesen Wert für nicht erreicht, muss es
die Entscheidung darüber nachholen, ob die Voraussetzungen für die Zulassung
der Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 ZPO erfüllt sind.
BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2010 - VI ZB 74/08 - LG Berlin
AG Berlin-Mitte
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. Oktober 2010 durch den
Vorsitzenden Richter Galke, den Richter Zoll, die Richterin Diederichsen, den
Richter Pauge und die Richterin von Pentz

beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss der 58. Zivilkammer des Landgerichts Berlin vom 3. September 2008 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Landgericht zurückverwiesen. Beschwerdewert: 800 €

Gründe:

I.

1
Das Amtsgericht hat die Klage wegen der Schadensfolgen eines Verkehrsunfalls abgewiesen und den Streitwert im Urteil auf 800 € festgesetzt, weshalb es nicht wie beantragt die Berufung zugelassen hat. Das Berufungsgericht hat den Wert des Beschwerdegegenstandes auf bis zu 600 € festgesetzt und die Berufung deshalb als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.

II.

2
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO). Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alt. ZPO).
3
Sie ist auch begründet.
4
Die Annahme des Berufungsgerichts, der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteige 600 € nicht, ist auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen rechtsfehlerhaft.
5
Fehlt es - wie im Streitfall - an einer Zulassung der Berufung durch das Erstgericht (§ 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), ist eine Berufung gemäß § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 € übersteigt. Bei der Prüfung, ob der Wert des Beschwerdegegenstandes über dem für eine Wertberufung erforderlichen Betrag von 600 € liegt, ist das Berufungsgericht nicht an eine Streitwertfestsetzung durch das erstinstanzliche Gericht gebunden (BGH, Beschluss vom 9. Juli 2004 - V ZB 6/04, NJW-RR 2005, 219). Für die Beurteilung der Zulässigkeit des Rechtsmittels eines Klägers ist grundsätzlich von der "formellen Beschwer" auszugehen. Danach ist der Kläger insoweit beschwert, als das angefochtene Urteil von seinen Anträgen abweicht (Senatsurteil vom 9. Oktober 1990 - VI ZR 89/90, VersR 1991, 359, 360; BGH, Urteil vom 21. Juni 1968 - IV ZR 594/68, BGHZ 50, 261, 263; Beschluss vom 19. März 2009 - IX ZB 152/08, NJW -RR 2009, 853 Rn. 6).
6
Der Kläger hat beim Amtsgericht beantragt festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, ihm sämtlichen aus der Beschädigung seines Fahrzeugs entstandenen und entstehenden Schaden zu ersetzen. In der Folge hat er unter Verweis auf einen Kostenvoranschlag hinsichtlich der Reparaturkosten hilfsweise Leistungsklage in Höhe von 393,48 € erhoben und den Feststellungsantrag auf den weiteren Schaden beschränkt.
7
Das Berufungsgericht geht zutreffend davon aus, dass der Wert des Beschwerdegegenstandes nicht höher sein kann, als die durch das angefochtene Urteil hervor gerufene Beschwer, und davon, dass es bei der Wertfestsetzung gemäß § 3 ZPO nicht an eine nicht nachvollziehbare Angabe des Rechtsmittelführers gebunden ist.
8
Mit Recht rügt die Rechtsbeschwerde aber, dass das Berufungsgericht sich aus Rechtsgründen gehindert sieht, die vom Kläger im Berufungsverfahren vorgetragenen Schäden bei der Bewertung des Feststellungsantrags zu berücksichtigen. Rechtsfehlerhaft führt das Berufungsgericht aus, Schadenspositionen , die in erster Instanz nicht "im Raum gestanden" hätten bzw. nicht "in Ansatz gebracht" worden seien, mit denen der Kläger nicht einmal gerechnet habe, könnten bei der Wertfestsetzung nicht berücksichtigt werden. Das ist unrichtig. Ein Feststellungsantrag erfasst den gesamten dem Kläger entstandenen Schaden, auch solche Positionen, die aus welchem Grund auch immer, nicht mit der Leistungsklage geltend gemacht und auch nicht zur Begründung des Feststellungsantrags konkretisiert werden. Trägt der Kläger nach Abschluss der ersten Instanz im Berufungsverfahren vor, dass Schäden in weiterem Umfang entstanden seien, als sie in erster Instanz vorgetragen wurden, darf dieser Vortrag bei der Wertfestsetzung durch das Berufungsgericht nach § 3 ZPO nicht deshalb unbeachtet bleiben, weil ein entsprechend konkreter Vortrag zum Schadensumfang in erster Instanz fehlte. Der Wert der Beschwer ist nach dem Umfang des gesamten Schadens zu bemessen, wie er sich dem Berufungsgericht aufgrund des Klägervortrags darstellt.
9
Der angefochtene Beschluss beruht auf der fehlerhaften Rechtsauffassung des Berufungsgerichts. Er behandelt zwar einzelne der nun behaupteten Schadenspositionen, bei deren Berücksichtigung die Berufungssumme nicht erreicht werde. Die Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss lassen es jedoch nicht als ausgeschlossen erscheinen, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung weiterer Positionen, insbesondere der Sachverständigenkosten , die Beschwer mit mehr als 600 € bewertet hätte.
10
Die Sache ist danach unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses an das Berufungsgericht zurück zu verweisen, welches über die Wertfestsetzung erneut zu befinden haben wird.
11
Dabei weist der Senat auf Folgendes hin:
12
Hat das erstinstanzliche Gericht keine Veranlassung gesehen, die Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO zuzulassen, weil es den Streitwert auf über 600 € festgesetzt hat, und hält das Berufungsgericht diesen Wert für nicht erreicht , muss das Berufungsgericht die Entscheidung darüber nachholen, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 ZPO erfüllt sind (BGH, Urteil vom 14. November 2007 - VIII ZR 340/06, NJW 2008, 218, Rn. 12; Beschlüsse vom 3. Juni 2008 - VIII ZB 101/07, WuM 2008, 614, Rn. 4 f.; vom 16. Juni 2008 - VIII ZB 87/06, WuM 2008, 615, Rn. 13; vom 27. April 2010 - VIII ZB 91/09, WuM 2010, 437, Rn. 3).
Galke Zoll Diederichsen
Pauge von Pentz

Vorinstanzen:
AG Berlin-Mitte, Entscheidung vom 13.02.2008 - 101 C 3055/07 -
LG Berlin, Entscheidung vom 03.09.2008 - 58 S 90/08 -

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Zivilprozessordnung - ZPO | § 522 Zulässigkeitsprüfung; Zurückweisungsbeschluss


(1) Das Berufungsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung als unzulässig zu verwer

Zivilprozessordnung - ZPO | § 3 Wertfestsetzung nach freiem Ermessen


Der Wert wird von dem Gericht nach freiem Ermessen festgesetzt; es kann eine beantragte Beweisaufnahme sowie von Amts wegen die Einnahme des Augenscheins und die Begutachtung durch Sachverständige anordnen.

Zivilprozessordnung - ZPO | § 511 Statthaftigkeit der Berufung


(1) Die Berufung findet gegen die im ersten Rechtszug erlassenen Endurteile statt. (2) Die Berufung ist nur zulässig, wenn1.der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 Euro übersteigt oder2.das Gericht des ersten Rechtszuges die Berufung im Urteil zu

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(1) Die Berufung findet gegen die im ersten Rechtszug erlassenen Endurteile statt.

(2) Die Berufung ist nur zulässig, wenn

1.
der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 Euro übersteigt oder
2.
das Gericht des ersten Rechtszuges die Berufung im Urteil zugelassen hat.

(3) Der Berufungskläger hat den Wert nach Absatz 2 Nr. 1 glaubhaft zu machen; zur Versicherung an Eides statt darf er nicht zugelassen werden.

(4) Das Gericht des ersten Rechtszuges lässt die Berufung zu, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und
2.
die Partei durch das Urteil mit nicht mehr als 600 Euro beschwert ist.
Das Berufungsgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Das Berufungsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Die Entscheidung kann durch Beschluss ergehen. Gegen den Beschluss findet die Rechtsbeschwerde statt.

(2) Das Berufungsgericht soll die Berufung durch Beschluss unverzüglich zurückweisen, wenn es einstimmig davon überzeugt ist, dass

1.
die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat,
2.
die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat,
3.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert und
4.
eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
Das Berufungsgericht oder der Vorsitzende hat zuvor die Parteien auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung und die Gründe hierfür hinzuweisen und dem Berufungsführer binnen einer zu bestimmenden Frist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Der Beschluss nach Satz 1 ist zu begründen, soweit die Gründe für die Zurückweisung nicht bereits in dem Hinweis nach Satz 2 enthalten sind. Ein anfechtbarer Beschluss hat darüber hinaus eine Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil mit Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen zu enthalten.

(3) Gegen den Beschluss nach Absatz 2 Satz 1 steht dem Berufungsführer das Rechtsmittel zu, das bei einer Entscheidung durch Urteil zulässig wäre.

(1) Die Berufung findet gegen die im ersten Rechtszug erlassenen Endurteile statt.

(2) Die Berufung ist nur zulässig, wenn

1.
der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 Euro übersteigt oder
2.
das Gericht des ersten Rechtszuges die Berufung im Urteil zugelassen hat.

(3) Der Berufungskläger hat den Wert nach Absatz 2 Nr. 1 glaubhaft zu machen; zur Versicherung an Eides statt darf er nicht zugelassen werden.

(4) Das Gericht des ersten Rechtszuges lässt die Berufung zu, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und
2.
die Partei durch das Urteil mit nicht mehr als 600 Euro beschwert ist.
Das Berufungsgericht ist an die Zulassung gebunden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
V ZB 6/04
vom
9. Juli 2004
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja

a) Bei der Prüfung, ob der Wert des Beschwerdegegenstands den für eine Wertberufung
erforderlichen Betrag von 600 € erreicht, ist das Berufungsgericht nicht an
eine Streitwertfestsetzung durch das erstinstanzliche Gericht gebunden. Daran
hat sich durch das ZPO-Reform-Gesetz nichts geändert.

b) Will das Berufungsgericht von der Festsetzung des Streitwerts durch das erstinstanzliche
Gericht abweichen und den Streitwert und mit diesem die Beschwer
niedriger ansetzen, muß es den Kläger nach §§ 525, 139 Abs. 2, 3 ZPO darauf
hinweisen und ihm Gelegenheit geben, sich dazu zu äußern.
BGH, Beschl. v. 9. Juli 2004 - V ZB 6/04 - LG Köln
AG Köln
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat am 9. Juli 2004 durch den Vizepräsidenten
des Bundesgerichtshofes Dr. Wenzel, die Richter Dr. Klein,
Dr. Lemke, Dr. Schmidt-Räntsch und die Richterin Dr. Stresemann

beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluß der 11.Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 23. Juli 2003 wird auf Kosten der Kläger zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 100 €.

Gründe:


I.


Die Kläger verlangen von den Beklagten, es zu unterlassen, Werbeprospekte und anderes Werbematerial für seine Pizzeria in die Briefkästen ihres Hauses einzuwerfen. Mit am 12. Juni 2003 zugestelltem Urteil hat das Amtsgericht K. die Klage abgewiesen und darin den Streitwert auf 2.000 € festgesetzt. Gegen dieses Urteil haben die Kläger fristgerecht Berufung eingelegt, die sie auch fristgerecht begründet haben. Mit Beschluss vom 2. Juli 2003 hat das Landgericht den Streitwert auf 100 € abgeändert. Dieser Beschluß hat die Kläger erst am 30. Dezember 2003 erreicht.
Mit einem ebenfalls erst am 30. Dezember 2003 zugestellten Beschluss vom 23. Juli 2003 hat das Landgericht die Berufung der Kläger wegen Verfehlens des Berufungswerts von 600 € als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Kläger, mit der sie die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses erreichen und ihre Berufung weiterverfolgen möchten.

II.


Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 574 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und auch im übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).
Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich, wenn das Beschwerdegericht Verfahrensgrundrechte, namentlich das Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), verletzt hat (Senat BGHZ 151, 221, 226; 154, 288, 296 f.) und die angefochtene Entscheidung hierauf beruht (BGHZ 151, 221, 227). Diese Voraussetzung ist hier gegeben. Die Kläger konnten davon ausgehen, daß ihre Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts kraft Gesetzes zulässig war, weil das Amtsgericht den Streitwert auf 2.000 € festgesetzt hatte und sich hieraus eine Beschwer der Kläger in demselben Umfang ergab. Wollte das Berufungsgericht hiervon abweichen und die Beschwer niedriger ansetzen , mußte es die Kläger nach §§ 525, 139 Abs. 2, 3 ZPO darauf hinweisen und ihnen Gelegenheit geben, sich dazu zu äußern (vgl. MünchKomm-
ZPO/Rimmelspacher, 2. Aufl., [Aktualisierungsband] § 511 Rdn. 57). Das ist nicht geschehen. Damit aber blieb den Klägern das von Verfassungs wegen zu gewährende rechtliche Gehör zur Frage des Werts des Beschwerdegegenstands versagt. Dieser Verstoß gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs führt, anders als im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde, unabhängig davon zur Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde, ob er sich auf das Ergebnis auswirkt (Senat Beschl. v. 25. Juli 2002, V ZR 118/02, NJW 2002, 3180, 3181; Urt. v. 18. Juli 2003, V ZR 187/02, NJW 2003, 3205; BGH, Beschl. v. 19. Dezember 2002, VII ZR 101/02, NJW 2003, 831; Senat Beschl. v. 23. Oktober 2003, V ZB 28/03, NJW 2004, 367, 368). Darauf, ob die Rechtsbeschwerde auch unter anderen Gesichtspunkten zulässig war, kommt es nicht an.
2. Die Rechtsbeschwerde ist aber nicht begründet. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Kläger zu Recht als unzulässig verworfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstands 600 € nicht übersteigt.

a) Bei der Prüfung, ob der Wert des Beschwerdegegenstands den für eine Wertberufung erforderlichen Betrag von 600 € erreicht, ist das Berufungsgericht nicht an eine Streitwertfestsetzung durch das erstinstanzliche Gericht gebunden (BGH, Beschl. v. 16. Dezember 1987, IVb ZB 124/87, NJW-RR 1988, 836, 837; Beschl. v. 25. September 1991, XII ZB 61/91, FamRZ 1992, 169, 170; Urt. v. 20. Oktober 1997, II ZR 334/96, NJW-RR 1998, 573; Senatsurt. v. 24. April 1998, V ZR 225/97, NJW 1998, 2368; Baumbach/Lauterbach /Hartmann/Albers, ZPO, 60. Aufl., § 511 Rdn. 19; MünchKomm-ZPO/Rimmelspacher aaO. § 511 Rdn. 58; Zöller/Gummer, ZPO, 23. Aufl., § 511 Rdn. 20a). Es stellt den Wert des Beschwerdegegenstandes vielmehr im Rah-
men der ihm von Amts wegen obliegenden Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen nach § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO nach eigenem freiem Ermessen fest.

b) Daran hat sich durch das ZPO-Reform-Gesetz nichts geändert. Allerdings ist die Berufung, anders als bisher, nicht schlechthin unzulässig, wenn der Berufungswert von 600 € verfehlt wird. In einem solchen Fall ist die Berufung vielmehr durch das Gericht erster Instanz zuzulassen, wenn einer der in § 511 Abs. 4 ZPO bestimmten Zulassungsgründe vorliegt. Zu einer Entscheidung darüber gelangt das erstinstanzliche Gericht aber nicht, wenn es, z. B. nach entsprechender eigener Streitwertfestsetzung, wie hier, annimmt, die Berufung sei im Hinblick auf den Wert nach § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zulässig. Dieser Umstand ändert jedoch nichts daran, daß bei unrichtiger Streitwertfestsetzung durch das Gericht erster Instanz der Berufungswert in der Sache nicht erreicht ist.

c) Die Bewertung des Beschwerdegegenstands mit (75 € Unterlassung zuzüglich 25 € =) 100 € ist nicht zu beanstanden.
aa) Der Wert des Unterlassungsantrags der Kläger war vom Berufungsgericht gemäß § 3 ZPO nach freiem Ermessen festzusetzen. Eine solche Festsetzung kann im Rechtsbeschwerdeverfahren nur darauf hin überprüft werden, ob das Berufungsgericht die Grenzen seines Ermessens überschritten oder von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. zur Revision: BGH, Beschl. v. 30. November 1983, VIII ZR 243/82, WM 1984, 180; Beschl. v. 13. März 1985, IVa ZB 2/85, NJW 1986, 1493; Beschl. v. 15. März 1989, VIII ZR 300/88, NJW-RR 1989, 82; Senatsurt. v. 24. April 1998, V ZR 225/97, NJW 1998, 2368).

bb) Die Wertfestsetzung durch das Berufungsgericht lässt einen derartigen Rechtsfehler nicht erkennen.
(1) Das Berufungsgericht hat den Wert des Beschwerdegegenstands nur indirekt, nämlich in seinem Streitwertbeschluß vom 2. Juli 2003, und darin auch nur sehr knapp begründet. Eine knappe Begründung allein stellt die Wertfestsetzung aber nicht in Frage (BGH, Beschl. v. 13. Oktober 1982, IVb ZB 154/82, NJW 1983, 123). Entscheidend ist vielmehr, ob die Begründung die Beurteilung erlaubt, daß das Berufungsgericht von seinem Ermessen einen gesetzmäßigen Gebrauch gemacht und alle wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt hat (BGH, Beschl. v. 4. Oktober 1990, XII ZB 37/90, NJW-RR 1991, 325, 326). Das ist hier der Fall. In seiner knappen Begründung hat das Berufungsgericht den für die geringe Bewertung des Rechtsverfolgungsinteresses der Kläger entscheidenden Gesichtspunkt angeführt, nämlich daß die Kläger einen singulären Vorfall zum Anlaß ihrer Klage genommen und zu etwaigen Weiterungen nichts vorgetragen haben. Aus diesem Umstand ergab sich auch, daß das Unterlassungsinteresse der Kläger kaum meßbar, jedenfalls aber nur mit einem ganz geringen Wert anzusetzen war.
(2) Dem Berufungsgericht lässt sich entgegen der Ansicht der Kläger auch nicht entgegenhalten, es habe nicht alle Gesichtspunkte berücksichtigt. Denn das Berufungsgericht hatte nur das Interesse an der Unterlassung der Störung zu bewerten, die die Kläger zum Gegenstand ihrer Klage gemacht hatten ; ob auch andere Störungen denkbar waren, brauchte es nicht zu berücksichtigen (Senatsurt. v. 24. April 1998, V ZR 255/97, NJW 1998, 2368). Die Kläger klagen als Wohnungseigentümer und haben auf Seite 2 der Klagebe-
gründung ausdrücklich ausgeführt, daß sie eine Störung ihres Eigentums geltend machen wollten. Auf eine Störung der Persönlichkeitsrechte einzelner Wohnungseigentümer haben sie sich weder dort noch später berufen.
(3) Unerheblich ist schließlich auch der Hinweis der Kläger in der Begründung ihrer Rechtsbeschwerde, es sei am 7. Februar 2004 zu einem erneuten Verstoß gekommen. Ob der Berufungswert erreicht ist, bestimmt sich nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Berufungseinlegung (Senatsbeschl. v. 8. Oktober 1982, V ZB 9/82, NJW 1983, 1063; Zöller/Gummer § 511 Rdn. 14), hier dem 22. Juni 2003. Es kann deshalb auch offen bleiben, ob das Hinzutreten eines weiteren singulären Vorfalls nach einem weiteren Jahr an der grundsätzlichen Bewertung des Unterlassungsinteresses der Kläger etwas ändern könnte.

III.


Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.
Wenzel Klein Lemke Schmidt-Räntsch Stresemann
6
2. Für die Beurteilung der Zulässigkeit des Rechtsmittels eines Klägers ist grundsätzlich von der "formellen Beschwer" auszugehen. Danach ist der Kläger insoweit beschwert, als das angefochtene Urteil von seinen Anträgen abweicht (BGHZ 50, 261, 263; BGH, Urt. v. 9. Oktober 1990 - VI ZR 89/90, NJW 1991, 703, 704). Im Blick auf den Teilerfolg der Klage beträgt die Beschwer der Kläger bezogen auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhand- lung nach den rechtlich zutreffenden und von den Klägern unangegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts höchstens 569,63 €. Angesichts dieser Beschwer kann der Beschwerdegegenstand von 600 € nicht erreicht sein.

Der Wert wird von dem Gericht nach freiem Ermessen festgesetzt; es kann eine beantragte Beweisaufnahme sowie von Amts wegen die Einnahme des Augenscheins und die Begutachtung durch Sachverständige anordnen.

(1) Die Berufung findet gegen die im ersten Rechtszug erlassenen Endurteile statt.

(2) Die Berufung ist nur zulässig, wenn

1.
der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 Euro übersteigt oder
2.
das Gericht des ersten Rechtszuges die Berufung im Urteil zugelassen hat.

(3) Der Berufungskläger hat den Wert nach Absatz 2 Nr. 1 glaubhaft zu machen; zur Versicherung an Eides statt darf er nicht zugelassen werden.

(4) Das Gericht des ersten Rechtszuges lässt die Berufung zu, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und
2.
die Partei durch das Urteil mit nicht mehr als 600 Euro beschwert ist.
Das Berufungsgericht ist an die Zulassung gebunden.

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Hat das erstinstanzliche Gericht keine Veranlassung gesehen, die Berufung nach § 511 Abs. 4 ZPO zuzulassen, weil es den Streitwert auf über 600 € festgesetzt hat und deswegen von einem entsprechenden Wert der Beschwer der unterlegenen Partei ausgegangen ist, hält aber das Berufungsgericht diesen Wert nicht für erreicht, so muss das Berufungsgericht, das insoweit nicht an die Streitwertfestsetzung des Erstgerichts gebunden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juli 2004 – V ZB 6/04, NJW-RR 2005, 219, unter II 2 a m.w.N.), die Entscheidung darüber nachholen, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 ZPO erfüllt sind (MünchKommZPO/ Rimmelspacher, 3. Aufl., § 511 Rdnr. 84; aA Althammer NJW 2003, 1079, 1082). Denn die unterschiedliche Bewertung darf nicht zu Lasten der Partei gehen. Insoweit kann nichts anderes gelten als in dem Fall, dass das Berufungsgericht nach altem Prozessrecht irrtümlich von einer zulassungsfreien Revision ausgegangen ist und deswegen nicht geprüft hat, ob die Revision zuzulassen ist. In diesem Fall hat der Bundesgerichtshof nach seiner vom Bundesverfassungsgericht gebilligten Rechtsprechung die Prüfung der Revisionszulassungsgründe nachzuholen (BGHZ 90, 1, 3 f.; BGHZ 98, 41, 43 f.; BGH, Beschluss vom 25. Oktober 1995 – XII ZR 7/94, NJW-RR 1996, 316, unter II 2; BGH, Beschluss vom 9. März 2006 – IX ZR 37/05, NJW-RR 2006, 791, unter I 1 a; BVerfGE 66, 331, 336; BVerfG, NJW 2007, 1053).
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2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Es kann allerdings dahinstehen, ob der angefochtene Beschluss schon deshalb rechtsfehlerhaft ist, weil er - wie die Rechtsbeschwerde rügt - nicht ausreichend mit Gründen versehen ist und das Berufungsgericht bei zutreffender Bewertung des Klagebegehrens zu einer über 600 € liegenden Beschwer hätte gelangen müssen. Denn das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers schon deshalb zu Unrecht nach § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig verworfen, weil es auf der Grundlage seiner Wertbemessung nicht die Entscheidung des Amtsgerichts nachgeholt hat, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 ZPO erfüllt sind. Dazu wäre es nach der Rechtsprechung des Senats aber gehalten gewesen. Hat nämlich das erstinstanzliche Gericht keine Veranlassung gesehen, die Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO zuzulassen, weil es den Streitwert auf über 600 € festgesetzt hat, und hält das Berufungsgericht diesen Wert für nicht erreicht, muss das Berufungsgericht die Entscheidung darüber nachholen, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 ZPO erfüllt sind. Denn die unterschiedliche Bewertung der Beschwer darf nicht zu Lasten der Partei gehen (Senatsurteil vom 14. November 2007 - VIII ZR 340/06, NJW 2008, 218, Tz. 12; Senatsbeschlüsse vom 3. Juni 2008, VIII ZB 101/07, WuM 2008, 614, Tz. 4 f.; vom 16. Juni 2008 - VIII ZB 87/06, WuM 2008, 615, Tz. 13). Ein solcher Fall ist hier gegeben.