Bundesgerichtshof Beschluss, 14. Mai 2002 - 5 StR 98/02
Bundesgerichtshof
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e Das Landgericht – Jugendkammer – hat den zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 15 Jahre alten Angeklagten wegen versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Seine hiergegen eingelegte, auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat mit einer Verfahrensrüge zum Strafausspruch Erfolg; im übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Zu Recht beanstandet die Revision, das Landgericht habe der erziehungsberechtigten Mutter des Angeklagten entgegen § 67 Abs. 1 JGG, § 258 Abs. 2 und Abs. 3 StPO nicht das ihr zustehende letzte Wort gewährt. Dieses war ihr von Amts wegen und nicht nur auf Verlangen zu erteilen (BGHSt 21, 288, 289; BGHR JGG § 67 Erziehungsberechtigter 1 m. Anm. Eisenberg JR 1997, 80). Aufgrund des Hauptverhandlungsprotokolls und des Revisionsvorbringens, dem die Staatsanwaltschaft in ihrer Revisionsgegen- erklärung nicht entgegengetreten ist, geht der Senat davon aus, daß die Mutter im Sitzungssaal anwesend war (vgl. BGH NStZ 1999, 426).
Der Verfahrensverstoß führt jedoch – wie vom Generalbundesanwalt beantragt – nur zur Aufhebung des Strafausspruchs, weil der Schuldspruch auf dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht beruhen kann (vgl. BGHSt 21, 288, 290; BGHR JGG § 67 Erziehungsberechtigter 2; BGH NStZ 1999, 426). Der Angeklagte hat die ihm zur Last gelegte Tat – ebenso wie ein Mittäter – weitgehend eingeräumt und ist zudem durch die Zeugenaussagen der Tatopfer überführt. Die Mutter des Angeklagten war nicht Zeugin der Geschehnisse. Es ist auch auszuschließen, daß die Anhörung der Mutter des Angeklagten zu einer anderen Entscheidung des Landgerichts über die Frage seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Sinne des § 3 JGG geführt hätte. Insoweit hat das Landgericht für den zum Tatzeitpunkt 15 Jahre und zwei Monate alten Angeklagten ein umfassendes forensisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt.
Der Senat kann hingegen nicht völlig ausschließen, daß mögliche Ausführungen der Mutter des Angeklagten sich auf die Bemessung der an sich nicht unangemessenen Jugendstrafe ausgewirkt hätten (vgl. BGH, Beschluß vom 25. Juli 2001 – 5 StR 263/01). Möglicherweise hätten ihr die Schlußvorträge, insbesondere der der Staatsanwaltschaft, Anlaß zu ergänzenden Ausführungen gegeben, wäre ihr das letzte Wort erteilt worden.
2. Die weiteren Verfahrensrügen greifen aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Stellungnahme zutreffend dargelegten Gründen nicht durch.
Auch die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat keinen weitergehenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
3. Die nachträglich von der Verteidigerin erklärte Beschränkung der Revision auf den Rechtsfolgenausspruch ist nicht wirksam. Die hierfür nach § 302 Abs. 2 StPO erforderliche Ermächtigung ist in der Bestellung zur Pflichtverteidigerin nicht zu sehen. Ein Zuwarten mit der Entscheidung bis zum Führen eines Nachweises der Ermächtigung kommt im Hinblick auf die Sachlage nicht in Betracht.
4. Zum Antrag der Verteidigerin vom 13. Mai 2002 bemerkt der Senat, daß über die Haftfrage der neue Tatrichter zu entscheiden haben wird.
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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.
(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.
(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.
(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.
Jugendgerichtsgesetz - JGG | § 67 Stellung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter
(1) Soweit der Beschuldigte ein Recht darauf hat, gehört zu werden oder Fragen und Anträge zu stellen, steht dieses Recht auch den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern zu.
(2) Die Rechte der gesetzlichen Vertreter zur Wahl eines Verteidigers und zur Einlegung von Rechtsbehelfen stehen auch den Erziehungsberechtigten zu.
(3) Bei Untersuchungshandlungen, bei denen der Jugendliche ein Recht darauf hat, anwesend zu sein, namentlich bei seiner Vernehmung, ist den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern die Anwesenheit gestattet, soweit
- 1.
dies dem Wohl des Jugendlichen dient und - 2.
ihre Anwesenheit das Strafverfahren nicht beeinträchtigt.
(4) Das Jugendgericht kann die Rechte nach den Absätzen 1 bis 3 Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertretern entziehen, soweit sie verdächtig sind, an der Verfehlung des Beschuldigten beteiligt zu sein, oder soweit sie wegen einer Beteiligung verurteilt sind. Liegen die Voraussetzungen des Satzes 1 bei einem Erziehungsberechtigten oder einem gesetzlichen Vertreter vor, so kann der Richter die Entziehung gegen beide aussprechen, wenn ein Mißbrauch der Rechte zu befürchten ist. Stehen den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern ihre Rechte nicht mehr zu, so bestellt das Familiengericht einen Pfleger zur Wahrnehmung der Interessen des Beschuldigten im anhängigen Strafverfahren. Die Hauptverhandlung wird bis zur Bestellung des Pflegers ausgesetzt.
(5) Sind mehrere erziehungsberechtigt, so kann jeder von ihnen die in diesem Gesetz bestimmten Rechte der Erziehungsberechtigten ausüben. In der Hauptverhandlung oder in einer sonstigen gerichtlichen Verhandlung werden abwesende Erziehungsberechtigte als durch anwesende vertreten angesehen. Sind Mitteilungen oder Ladungen vorgeschrieben, so genügt es, wenn sie an eine erziehungsberechtigte Person gerichtet werden.
(1) Nach dem Schluß der Beweisaufnahme erhalten der Staatsanwalt und sodann der Angeklagte zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort.
(2) Dem Staatsanwalt steht das Recht der Erwiderung zu; dem Angeklagten gebührt das letzte Wort.
(3) Der Angeklagte ist, auch wenn ein Verteidiger für ihn gesprochen hat, zu befragen, ob er selbst noch etwas zu seiner Verteidigung anzuführen habe.
Jugendgerichtsgesetz - JGG | § 67 Stellung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter
(1) Soweit der Beschuldigte ein Recht darauf hat, gehört zu werden oder Fragen und Anträge zu stellen, steht dieses Recht auch den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern zu.
(2) Die Rechte der gesetzlichen Vertreter zur Wahl eines Verteidigers und zur Einlegung von Rechtsbehelfen stehen auch den Erziehungsberechtigten zu.
(3) Bei Untersuchungshandlungen, bei denen der Jugendliche ein Recht darauf hat, anwesend zu sein, namentlich bei seiner Vernehmung, ist den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern die Anwesenheit gestattet, soweit
- 1.
dies dem Wohl des Jugendlichen dient und - 2.
ihre Anwesenheit das Strafverfahren nicht beeinträchtigt.
(4) Das Jugendgericht kann die Rechte nach den Absätzen 1 bis 3 Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertretern entziehen, soweit sie verdächtig sind, an der Verfehlung des Beschuldigten beteiligt zu sein, oder soweit sie wegen einer Beteiligung verurteilt sind. Liegen die Voraussetzungen des Satzes 1 bei einem Erziehungsberechtigten oder einem gesetzlichen Vertreter vor, so kann der Richter die Entziehung gegen beide aussprechen, wenn ein Mißbrauch der Rechte zu befürchten ist. Stehen den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern ihre Rechte nicht mehr zu, so bestellt das Familiengericht einen Pfleger zur Wahrnehmung der Interessen des Beschuldigten im anhängigen Strafverfahren. Die Hauptverhandlung wird bis zur Bestellung des Pflegers ausgesetzt.
(5) Sind mehrere erziehungsberechtigt, so kann jeder von ihnen die in diesem Gesetz bestimmten Rechte der Erziehungsberechtigten ausüben. In der Hauptverhandlung oder in einer sonstigen gerichtlichen Verhandlung werden abwesende Erziehungsberechtigte als durch anwesende vertreten angesehen. Sind Mitteilungen oder Ladungen vorgeschrieben, so genügt es, wenn sie an eine erziehungsberechtigte Person gerichtet werden.
Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Zur Erziehung eines Jugendlichen, der mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist, kann der Richter dieselben Maßnahmen anordnen wie das Familiengericht.
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer Schußwaffe zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge einen Teilerfolg. Die weitergehende Revision ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Nach den insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen schoß der damals 14 Jahre alte Angeklagte am Silvesterabend 1999 auf der Straße aus einer kurzläufigen Kleinkaliberwaffe, diese beidhändig mit ausgestreckten Armen haltend, gezielt auf den Passanten P , der in etwa 25 m Entfernung mit seiner Ehefrau und seinen zwei Kindern stand. Der Schuß traf in dessen Herz und war tödlich. Der Angeklagte, der Mitglied eines Schützenvereins ist, handelte dabei, um jemanden aus der Vierergruppe zu verletzen. Er konnte und mußte die tödliche Folge seines Schusses voraussehen.
Zu der erfolgreichen Verfahrensrüge hat der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt: “Die Revision beanstandet zu Recht, der Mutter des Angeklagten , der zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 15 Jahre alt war, sei das letzte Wort nicht erteilt worden, obwohl sie in der Hauptverhandlung anwesend gewesen sei, als dem Angeklagten das letzte Wort gewährt wurde. Neben einem jugendlichen Angeklagten ist gemäß § 67 Abs. 1 JGG i.V.m. § 258 Abs. 2 und 3 StPO dessen gesetzlichem Vertreter oder Erziehungsberechtigtem stets von Amts wegen – und nicht nur auf Verlangen – das letzte Wort zu erteilen (vgl. BGHSt 21, 288, 289; BGH NStZ 1996, 612; BGH NStZ 2000, 435; BGH NStZ 2000, 553).” Mit dem Generalbundesanwalt erachtet der Senat das genannte Prozeßgeschehen und damit den Verfahrensfehler für bewiesen (vgl. dazu BGH NStZ 1999, 426). Jedoch kann der Senat – entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts , der allein den Strafausspruch durch den Rechtsfehler berührt sieht – nicht völlig ausschließen, daß auch der Schuldspruch auf dem Rechtsfehler beruht. Es ist immerhin denkbar, daß das Landgericht aufgrund eines letzten Wortes der Mutter des zur Tatzeit 14jährigen Angeklagten zu einer anderen Beurteilung der Frage der Verantwortungsreife des Angeklagten nach § 3 JGG gelangt wäre (vgl. BGH NStZ 2000, 553). Deshalb wird auch der Schuldspruch aufgehoben.
Indes schließt der Senat aus, daß etwa auch die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen und zur inneren Tatseite (Körperverletzungsvorsatz und Fahrlässigkeit hinsichtlich der Todesfolge) auf dem Rechtsfehler beruhen. Hierzu hätten Ä ußerungen der Mutter des Angeklagten in deren letztem Wort nichts beitragen können, zumal da die Herkunft der Tatwaffe ungeklärt geblieben ist, so daß die etwa denkbare Angabe der Mutter des Angeklagten, ihr Sohn habe nach ihrer Kenntnis weder eine solche Waffe besessen noch Zugang zu einer solchen gehabt, ins Leere gegangen wäre. Deshalb werden die genannten Feststellungen aufrechterhalten. Der neue Tatrichter hat danach nur – unter Zugrundelegung dieser Feststellungen – zunächst über die Fragen der Verantwortungsreife und der Schuldfähigkeit des Angeklagten zu befinden und gegebenenfalls einen Schuldspruch zu fassen sowie die Rechtsfolge neu zu bestimmen.
Tepperwien Häger Basdorf Gerhardt Raum
(1) Die Zurücknahme eines Rechtsmittels sowie der Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels können auch vor Ablauf der Frist zu seiner Einlegung wirksam erfolgen. Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c) vorausgegangen, ist ein Verzicht ausgeschlossen. Ein von der Staatsanwaltschaft zugunsten des Beschuldigten eingelegtes Rechtsmittel kann ohne dessen Zustimmung nicht zurückgenommen werden.
(2) Der Verteidiger bedarf zur Zurücknahme einer ausdrücklichen Ermächtigung.