Bundesgerichtshof Beschluss, 24. Okt. 2012 - 5 StR 503/12

bei uns veröffentlicht am24.10.2012

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

5 StR 503/12

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 24. Oktober 2012
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. Oktober 2012

beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 22. Mai 2012 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den jugendlichen Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung einer rechtskräftigen Entscheidung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
2
Nach den Feststellungen des Landgerichts provozierte und bedrängte der alkoholisierte Angeklagte, der am frühen Morgen des 5. November 2011 mit einer Gruppe Jugendlicher unterwegs war, gemeinsam mit dem Zeugen L. auf der Straße den Nebenkläger. Als dieser sich von seinen Verfolgern abwandte, stach der Angeklagte ihn mit bedingtem Tötungsvorsatz gezielt mit zwei Messerstichen in den linken Rückenbereich und verletzte ihn lebensgefährlich.
3
Der Angeklagte hatte sich in seiner ersten polizeilichen Vernehmung geständig eingelassen. In der Hauptverhandlung hat er sein Geständnis weitgehend widerrufen und versucht, den Verdacht auf den Zeugen L.
zu lenken (UA S. 47, 49). Er hat zudem angegeben, „bei der Mordkommission noch sehr durch seinen vorherigen Alkoholkonsum beeinflusst gewesen zu sein“ (UA S. 52). Das Landgericht war nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, in der er auch von einigen seiner jugendlichen Begleiter belastet wurde, von der Glaubhaftigkeit seiner unmittelbar nach der Festnahme getätigten Angaben überzeugt.
4
Die Revision macht zutreffend geltend, dass das Landgericht nicht den erziehungsberechtigten Eltern des Angeklagten das ihnen von Amts wegen nach § 67 Abs. 1 JGG i.V.m. § 258 Abs. 2 und 3 StPO zu gewährende letzte Wort (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Mai 2002 – 5 StR 98/02, NStZ-RR 2002, 346 mwN) erteilt hat. Die Eltern des Angeklagten hatten zwar in der Hauptverhandlung am 30. April 2012 vor dem Angeklagten das „vorletzte“ Wort, jedoch ist nach dem Wiedereintritt in die Beweisaufnahme und den Bezugnahmen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung auf die Schlussvorträge am 9. Mai 2012 im letzten Hauptverhandlungstermin am 22. Mai 2012 nur noch dem Angeklagten das letzte Wort gewährt worden, nicht jedoch dessen anwesenden Eltern.
5
Der Verfahrensfehler führt entgegen dem Antrag des Generalbundesanwalts zur Aufhebung des Schuld- und Strafausspruchs. Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass die Eltern des Angeklagten, die bei der geständigen Einlassung im Ermittlungsverfahren sogar anwesend gewesen waren, nach erneuter Beweisaufnahme Ausführungen zur Frage der Glaubhaftigkeit des widerrufenen Geständnisses und zu einer möglichen Selbstbelastungsmotivation ihres Sohnes getätigt hätten.
6
Auf die erhobene Sachrüge – insbesondere die Frage einer eventuell nicht ausschließbar verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten infolge Alkoholkonsums, der freilich bei der Anwendung von Jugendstrafrecht hier möglicherweise kein großes Gewicht zukäme – kommt es für die revisionsrechtliche Überprüfung demnach nicht mehr an.
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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafprozeßordnung - StPO | § 258 Schlussvorträge; Recht des letzten Wortes


(1) Nach dem Schluß der Beweisaufnahme erhalten der Staatsanwalt und sodann der Angeklagte zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort. (2) Dem Staatsanwalt steht das Recht der Erwiderung zu; dem Angeklagten gebührt das letzte Wort. (3) Der A

Jugendgerichtsgesetz - JGG | § 67 Stellung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter


(1) Soweit der Beschuldigte ein Recht darauf hat, gehört zu werden oder Fragen und Anträge zu stellen, steht dieses Recht auch den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern zu. (2) Die Rechte der gesetzlichen Vertreter zur Wahl eines

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Bundesgerichtshof Beschluss, 14. Mai 2002 - 5 StR 98/02

bei uns veröffentlicht am 14.05.2002

5 StR 98/02 BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS vom 14. Mai 2002 in der Strafsache gegen wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung u.a. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Mai 2002 beschlossen: 1. Auf die Revision des Angeklag

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Soweit der Beschuldigte ein Recht darauf hat, gehört zu werden oder Fragen und Anträge zu stellen, steht dieses Recht auch den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern zu.

(2) Die Rechte der gesetzlichen Vertreter zur Wahl eines Verteidigers und zur Einlegung von Rechtsbehelfen stehen auch den Erziehungsberechtigten zu.

(3) Bei Untersuchungshandlungen, bei denen der Jugendliche ein Recht darauf hat, anwesend zu sein, namentlich bei seiner Vernehmung, ist den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern die Anwesenheit gestattet, soweit

1.
dies dem Wohl des Jugendlichen dient und
2.
ihre Anwesenheit das Strafverfahren nicht beeinträchtigt.
Die Voraussetzungen des Satzes 1 Nummer 1 und 2 sind in der Regel erfüllt, wenn keiner der in § 51 Absatz 2 genannten Ausschlussgründe und keine entsprechend § 177 des Gerichtsverfassungsgesetzes zu behandelnde Missachtung einer zur Aufrechterhaltung der Ordnung getroffenen Anordnung vorliegt. Ist kein Erziehungsberechtigter und kein gesetzlicher Vertreter anwesend, weil diesen die Anwesenheit versagt wird oder weil binnen angemessener Frist kein Erziehungsberechtigter und kein gesetzlicher Vertreter erreicht werden konnte, so ist einer anderen für den Schutz der Interessen des Jugendlichen geeigneten volljährigen Person die Anwesenheit zu gestatten, wenn die Voraussetzungen des Satzes 1 Nummer 1 und 2 im Hinblick auf diese Person erfüllt sind.

(4) Das Jugendgericht kann die Rechte nach den Absätzen 1 bis 3 Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertretern entziehen, soweit sie verdächtig sind, an der Verfehlung des Beschuldigten beteiligt zu sein, oder soweit sie wegen einer Beteiligung verurteilt sind. Liegen die Voraussetzungen des Satzes 1 bei einem Erziehungsberechtigten oder einem gesetzlichen Vertreter vor, so kann der Richter die Entziehung gegen beide aussprechen, wenn ein Mißbrauch der Rechte zu befürchten ist. Stehen den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern ihre Rechte nicht mehr zu, so bestellt das Familiengericht einen Pfleger zur Wahrnehmung der Interessen des Beschuldigten im anhängigen Strafverfahren. Die Hauptverhandlung wird bis zur Bestellung des Pflegers ausgesetzt.

(5) Sind mehrere erziehungsberechtigt, so kann jeder von ihnen die in diesem Gesetz bestimmten Rechte der Erziehungsberechtigten ausüben. In der Hauptverhandlung oder in einer sonstigen gerichtlichen Verhandlung werden abwesende Erziehungsberechtigte als durch anwesende vertreten angesehen. Sind Mitteilungen oder Ladungen vorgeschrieben, so genügt es, wenn sie an eine erziehungsberechtigte Person gerichtet werden.

(1) Nach dem Schluß der Beweisaufnahme erhalten der Staatsanwalt und sodann der Angeklagte zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort.

(2) Dem Staatsanwalt steht das Recht der Erwiderung zu; dem Angeklagten gebührt das letzte Wort.

(3) Der Angeklagte ist, auch wenn ein Verteidiger für ihn gesprochen hat, zu befragen, ob er selbst noch etwas zu seiner Verteidigung anzuführen habe.

5 StR 98/02

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 14. Mai 2002
in der Strafsache
gegen
wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Mai 2002

beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten K wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 28. September 2001 nach § 349 Abs. 4 StPO im Strafausspruch gegen diesen Angeklagten mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e Das Landgericht – Jugendkammer – hat den zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 15 Jahre alten Angeklagten wegen versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Seine hiergegen eingelegte, auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat mit einer Verfahrensrüge zum Strafausspruch Erfolg; im übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Zu Recht beanstandet die Revision, das Landgericht habe der erziehungsberechtigten Mutter des Angeklagten entgegen § 67 Abs. 1 JGG, § 258 Abs. 2 und Abs. 3 StPO nicht das ihr zustehende letzte Wort gewährt. Dieses war ihr von Amts wegen und nicht nur auf Verlangen zu erteilen (BGHSt 21, 288, 289; BGHR JGG § 67 Erziehungsberechtigter 1 m. Anm. Eisenberg JR 1997, 80). Aufgrund des Hauptverhandlungsprotokolls und des Revisionsvorbringens, dem die Staatsanwaltschaft in ihrer Revisionsgegen- erklärung nicht entgegengetreten ist, geht der Senat davon aus, daß die Mutter im Sitzungssaal anwesend war (vgl. BGH NStZ 1999, 426).
Der Verfahrensverstoß führt jedoch – wie vom Generalbundesanwalt beantragt – nur zur Aufhebung des Strafausspruchs, weil der Schuldspruch auf dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht beruhen kann (vgl. BGHSt 21, 288, 290; BGHR JGG § 67 Erziehungsberechtigter 2; BGH NStZ 1999, 426). Der Angeklagte hat die ihm zur Last gelegte Tat – ebenso wie ein Mittäter – weitgehend eingeräumt und ist zudem durch die Zeugenaussagen der Tatopfer überführt. Die Mutter des Angeklagten war nicht Zeugin der Geschehnisse. Es ist auch auszuschließen, daß die Anhörung der Mutter des Angeklagten zu einer anderen Entscheidung des Landgerichts über die Frage seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Sinne des § 3 JGG geführt hätte. Insoweit hat das Landgericht für den zum Tatzeitpunkt 15 Jahre und zwei Monate alten Angeklagten ein umfassendes forensisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt.
Der Senat kann hingegen nicht völlig ausschließen, daß mögliche Ausführungen der Mutter des Angeklagten sich auf die Bemessung der an sich nicht unangemessenen Jugendstrafe ausgewirkt hätten (vgl. BGH, Beschluß vom 25. Juli 2001 – 5 StR 263/01). Möglicherweise hätten ihr die Schlußvorträge, insbesondere der der Staatsanwaltschaft, Anlaß zu ergänzenden Ausführungen gegeben, wäre ihr das letzte Wort erteilt worden.
2. Die weiteren Verfahrensrügen greifen aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Stellungnahme zutreffend dargelegten Gründen nicht durch.
Auch die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat keinen weitergehenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
3. Die nachträglich von der Verteidigerin erklärte Beschränkung der Revision auf den Rechtsfolgenausspruch ist nicht wirksam. Die hierfür nach § 302 Abs. 2 StPO erforderliche Ermächtigung ist in der Bestellung zur Pflichtverteidigerin nicht zu sehen. Ein Zuwarten mit der Entscheidung bis zum Führen eines Nachweises der Ermächtigung kommt im Hinblick auf die Sachlage nicht in Betracht.
4. Zum Antrag der Verteidigerin vom 13. Mai 2002 bemerkt der Senat, daß über die Haftfrage der neue Tatrichter zu entscheiden haben wird.
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