Bundesgerichtshof Beschluss, 18. Feb. 2004 - 5 StR 566/03
Bundesgerichtshof
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
G r ü n d e Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die dagegen vom Verteidiger eingelegte „Berufung“ hat dieser nach der am 11. September 2003 erfolgten Urteilszustellung mit Schriftsatz vom 18. September 2003 begründet und „Mängel bei der Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung“ und „materiellrechtliche Fehler des Urteils“ geltend gemacht, die einen Freispruch erfordert hätten. Das Landgericht hat im Beschluß vom 23. Oktober 2003 das als Berufung bezeichnete Rechtsmittel gemäß § 300 StPO als Revision gewertet und wegen nicht fristgerecht angebrachter Revisionsanträge als unzulässig verworfen. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Verteidiger mit dem zulässigen und begründeten Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 346 Abs. 2 StPO).
1. Das Landgericht hätte die Verwerfung der Revision nicht auf das Fehlen eines Revisionsantrages stützen dürfen. Eines ausdrücklichen Antra- ges im Sinne der § 344 Abs. 1, § 352 Abs. 1 StPO bedurfte es hier nämlich nicht, weil sich das Begehren des Beschwerdeführers nach umfassender Aufhebung des Urteils sicher aus der Revisionsbegründung ergibt (vgl. BGH NStZ 1990, 96; NStZ-RR 2000, 38). Damit ist der angebrachte Antrag auf Wiedereinsetzung gegenstandslos.
2. Eine Entscheidung des Senats ist nicht durch die vom Angeklagten mit Schreiben vom 8. Dezember 2003 erklärte Rücknahme seiner Revision obsolet geworden.
Die auf eine Ungewißheit des Fortbestehens der Pflichtverteidigung gestützte Rücknahme ist wegen der Art und Weise ihres vom Gericht zu verantwortenden Zustandekommens unwirksam (vgl. BGHSt 45, 51, 53, 55; 46, 257, 258). Das Gericht hätte den Angeklagten – ausnahmsweise – nach Kenntnisnahme von dessen Schreiben vom 5. November 2003 über den Fortgang des Revisionsverfahrens aufklären müssen, um einer erkennbaren Gefahr einer den Interessen des Angeklagten zuwiderlaufenden Revisionsrücknahme entgegenzutreten. Eine Verpflichtung dazu hätte sich bei den hier vorliegenden besonderen Umständen auf Grund der Fürsorgepflicht (vgl. BGHSt 45, 51, 57; Pfeiffer in KK 5. Aufl. Einl. Rdn. 32; Meyer StV 2004, 41, 44) und des Gebots ergeben, dem Angeklagten die jederzeitige Möglichkeit zu einer geordneten und effektiven Verteidigung zu gewähren (vgl. BGHSt 45, 51, 57; BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 21).
a) Der Angeklagte befand sich, wie er dem Landgericht in seinem Schreiben vom 5. November 2003 geschildert hatte, in einem Zustand der Ratlosigkeit hinsichtlich der von ihm gewünschten Anfechtung des Urteils. Er ging von zwei Anfechtungsmöglichkeiten aus. Gegen die Ablehnung der Berufung hatte er „Einspruch“ erhoben und deshalb seinen Verteidiger – was dieser dem Senat bestätigte – angeschrieben. Er führte ferner aus, daß er persönlich die Revision wünsche und dies mit seinem Verteidiger besprechen wolle.
b) Die Verunsicherung des Angeklagten hat das Landgericht durch Pflichtverstöße hervorgerufen. Es hat weder nach Eingang des unrichtig bezeichneten Rechtsmittels einen Hinweis auf das gebotene Rechtsmittel erteilt , noch hat es auf die „Berufungsbegründung“ den Verteidiger auf aus seiner Sicht vorhandene massive Formmängel aufmerksam gemacht. Solches hätte aber das Gebot fairer Verfahrensgestaltung erfordert, um das hier offensichtliche, durch einen gerichtlichen Hinweis ohne weiteres zu beseitigende Mißverständnis des Verteidigers zu beseitigen (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 38; Kuckein in KK 5. Aufl. § 346 Rdn. 10). Der Beschluß des Landgerichts war zudem inhaltlich unzutreffend.
c) Die vom Landgericht hervorgerufene Verunsicherung des Angeklagten begründete die erkennbare Gefahr eines gegen seine Interessen gerichteten Verteidigungshandelns. Der schwer zuckerkranke Angeklagte ist grenzdebil und neigt zu unmotivierten, wechselhaften Einlassungen (UA S. 11 ff.). Ohne eine Erläuterung des weiteren Gangs des Revisionsverfahrens begründete diese Präposition ohne weiteres auch die Gefahr einer den Verteidigungsinteressen zuwiderlaufenden Revisionsrücknahme. Das Landgericht durfte sich hier nicht darauf verlassen, daß der Pflichtverteidiger – was dieser auch bis zum 7. Januar 2004 unterließ – dem Angeklagten die Sach- und Rechtslage zutreffend erläutern würde, sondern hatte diese Erläuterung selbst vorzunehmen.
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Referenzen - Gesetze
(1) Ist die Revision verspätet eingelegt oder sind die Revisionsanträge nicht rechtzeitig oder nicht in der in § 345 Abs. 2 vorgeschriebenen Form angebracht worden, so hat das Gericht, dessen Urteil angefochten wird, das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig zu verwerfen.
(2) Der Beschwerdeführer kann binnen einer Woche nach Zustellung des Beschlusses auf die Entscheidung des Revisionsgerichts antragen. In diesem Falle sind die Akten an das Revisionsgericht einzusenden; die Vollstreckung des Urteils wird jedoch hierdurch nicht gehemmt. Die Vorschrift des § 35a gilt entsprechend.
Ein Irrtum in der Bezeichnung des zulässigen Rechtsmittels ist unschädlich.
(1) Ist die Revision verspätet eingelegt oder sind die Revisionsanträge nicht rechtzeitig oder nicht in der in § 345 Abs. 2 vorgeschriebenen Form angebracht worden, so hat das Gericht, dessen Urteil angefochten wird, das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig zu verwerfen.
(2) Der Beschwerdeführer kann binnen einer Woche nach Zustellung des Beschlusses auf die Entscheidung des Revisionsgerichts antragen. In diesem Falle sind die Akten an das Revisionsgericht einzusenden; die Vollstreckung des Urteils wird jedoch hierdurch nicht gehemmt. Die Vorschrift des § 35a gilt entsprechend.
(1) Der Beschwerdeführer hat die Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen.
(2) Aus der Begründung muß hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird. Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden.
(1) Der Prüfung des Revisionsgerichts unterliegen nur die gestellten Revisionsanträge und, soweit die Revision auf Mängel des Verfahrens gestützt wird, nur die Tatsachen, die bei Anbringung der Revisionsanträge bezeichnet worden sind.
(2) Eine weitere Begründung der Revisionsanträge als die in § 344 Abs. 2 vorgeschriebene ist nicht erforderlich und, wenn sie unrichtig ist, unschädlich.
(1) Die Zurücknahme eines Rechtsmittels sowie der Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels können auch vor Ablauf der Frist zu seiner Einlegung wirksam erfolgen. Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c) vorausgegangen, ist ein Verzicht ausgeschlossen. Ein von der Staatsanwaltschaft zugunsten des Beschuldigten eingelegtes Rechtsmittel kann ohne dessen Zustimmung nicht zurückgenommen werden.
(2) Der Verteidiger bedarf zur Zurücknahme einer ausdrücklichen Ermächtigung.
(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.
(2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.
(3) Ein Beweisantrag liegt vor, wenn der Antragsteller ernsthaft verlangt, Beweis über eine bestimmt behauptete konkrete Tatsache, die die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betrifft, durch ein bestimmt bezeichnetes Beweismittel zu erheben und dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll. Ein Beweisantrag ist abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Im Übrigen darf ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn
- 1.
eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist, - 2.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung ist, - 3.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, schon erwiesen ist, - 4.
das Beweismittel völlig ungeeignet ist, - 5.
das Beweismittel unerreichbar ist oder - 6.
eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.
(4) Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen kann, soweit nichts anderes bestimmt ist, auch abgelehnt werden, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt. Die Anhörung eines weiteren Sachverständigen kann auch dann abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist; dies gilt nicht, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen.
(5) Ein Beweisantrag auf Einnahme eines Augenscheins kann abgelehnt werden, wenn der Augenschein nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Unter derselben Voraussetzung kann auch ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen abgelehnt werden, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre. Ein Beweisantrag auf Verlesung eines Ausgangsdokuments kann abgelehnt werden, wenn nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts kein Anlass besteht, an der inhaltlichen Übereinstimmung mit dem übertragenen Dokument zu zweifeln.
(6) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses. Einer Ablehnung nach Satz 1 bedarf es nicht, wenn die beantragte Beweiserhebung nichts Sachdienliches zu Gunsten des Antragstellers erbringen kann, der Antragsteller sich dessen bewusst ist und er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt; die Verfolgung anderer verfahrensfremder Ziele steht der Verschleppungsabsicht nicht entgegen. Nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme kann der Vorsitzende eine angemessene Frist zum Stellen von Beweisanträgen bestimmen. Beweisanträge, die nach Fristablauf gestellt werden, können im Urteil beschieden werden; dies gilt nicht, wenn die Stellung des Beweisantrags vor Fristablauf nicht möglich war. Wird ein Beweisantrag nach Fristablauf gestellt, sind die Tatsachen, die die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben, mit dem Antrag glaubhaft zu machen.