Bundesgerichtshof Beschluss, 01. Apr. 2003 - 4 StR 96/03
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in drei Fällen unter Einbeziehung einer Freiheitsstrafe von neun Monaten aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Das Urteil hält insgesamt der sachlich-rechtlichen Nachprüfung nicht stand, weil das Landgericht nicht hinreichend mit Tatsachen belegt hat, daß der Angeklagte den äußeren Tatbestand des § 179 StGB verwirklicht hat.
a) Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen überredete der seinerzeit 30jährige, heterosexuell geprägte Angeklagte den ihm seit langem bekannten seinerzeit 20jährigen Kai L. am Nachmittag des 28. Oktober 2000, mit ihm zusammen die Wohnung eines Bekannten aufzusuchen. Er wußte, daß Kai L. seit seiner Geburt geistig behindert ist und unter Betreuung steht. In der Wohnung des Bekannten wurde Alkohol getrunken. Auch badeten dort der Angeklagte und Kai L. zusammen in der Badewanne, ohne daß es jedoch zu sexuellen Handlungen kam. Später am Abend begab man sich in die Wohnung des Angeklagten. Als dort beide allein waren, zog sich Kai L. bis auf die Unterwäsche aus und legte sich auf das Gästebett. Dort manipulierte er an seinem Geschlechtsteil. In dieser Situation entschloß sich der Angeklagte, "die geistige Behinderung und die alkoholische Beeinflussung des Kai L. für sexuelle Handlungen auszunutzen" (UA 12). Er griff zunächst an das Geschlechtsteil des Geschädigten und rieb daran bis zum Samenerguß. Anschließend zog er sich aus und führte bei Kai L. den ungeschützten Analverkehr aus. Der Geschädigte übernachtete bei dem Angeklagten, der am frühen Morgen des folgenden Tages bei ihm noch ein weiteres Mal den ungeschützten Analverkehr ausübte. Zu keinem Zeitpunkt wehrte sich Kai L. gegen die sexuellen Übergriffe des Angeklagten.
b) Das Landgericht ist der Auffassung, der Geschädigte sei "aufgrund seiner geistigen Behinderung nicht in der Lage (gewesen), selbstbestimmt zu entscheiden, mit wem er verkehren wollte und welche sexuellen Handlungen er an sich vornehmen lassen wollte" (UA 13). Es hat ihn deshalb als widerstandsunfähig im Sinne von § 179 StGB angesehen. Die dem zugrundeliegende Beweiswürdigung begegnet jedoch durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Das Landgericht hat die Annahme der Widerstandsunfähigkeit des Geschädigten allein auf ein im November 1998 im Betreuungsverfahren erstattetes fachpsychiatrisches Gutachten und auf den vom Geschädigten in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck gestützt. Diese Grundlagen genügen nicht, eine Widerstandsunfähigkeit des Geschädigten im Sinne des § 179 StGB zu belegen. Es bleibt schon offen, ob aus dem zwei Jahre vor der Tat im Betreuungsverfahren erstatteten Gutachten und aus dem zwei Jahre nach der Tat in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck ohne weiteres auf den Zustand des Kai L. im Tatzeitpunkt geschlossen werden kann. Entscheidend kommt aber hinzu, daß der in dem schriftlichen Gutachten aus dem Betreuungsverfahren niedergelegte Befund schon für sich genommen nicht belegt, daß Kai L. aufgrund seiner diagnostizierten geistigen Behinderung psychisch widerstandsunfähig (vgl. dazu BGHSt 32, 183, 185; 36, 145, 147; 45, 253, 260 f.) gegenüber den sexuellen Übergriffen des Angeklagten war. Widerstandsunfähig im Sinne des § 179 StGB ist, wer aus den in Absatz 1 der Vorschrift genannten Gründen keinen zur Abwehr ausreichenden Widerstandswillen bilden, äußern oder durchsetzen kann (BGHSt 36 aaO). Hierzu äußert sich das im Urteil wiedergegebene schriftliche Gutachten nicht, das sich auch mit dem Sexualverhalten des Kai L. nicht befaßt. Zudem fehlt eine Auseinandersetzung mit der Frage, welchen Einfluß die im Gutachten erwähnte medikamentöse Einstellung des Geschädigten auf seine Fähigkeit, ihm unangenehme Ansinnen abzuwehren, hat bzw. zur Tatzeit gehabt haben kann. Daß der „persönliche Eindruck“ vom Geschädigten in der Hauptverhandlung eine Aussage über dessen Widerstandsfähigkeit in sexuellen Angelegenheiten schwerlich zuläßt, liegt auf der Hand.
Soweit sich das Landgericht im übrigen auf die eigene Sachkunde „festzustellen , ob eine Person geistig gesund ist,“ (UA 14), berufen hat, ist auch dies nicht ausreichend dargetan. Es erscheint bereits fraglich, ob die eigene Sachkunde des Gerichts überhaupt ausreichen kann, die Frage einer auf einem psychischen Defekt beruhenden Widerstandsunfähigkeit im Sinne des § 179 StGB sicher zu beantworten. Jedenfalls genügt allein die Feststellung einer § 20 StGB unterfallenden geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht, um die Annahme der Widerstandsunfähigkeit im Sinne des § 179 StGB zu begründen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 8. Mai 2001 - 4 StR 58/01 -, insoweit in StV 2001, 679 nicht abgedr. und vom 13. November 2002 – 4 StR 438/02 – [Oligophrenie]; Tröndle/Fischer StGB 51. Aufl. § 179 Rdn. 9 und 11 m.w.N.). Unter den hier gegebenen Umständen hätte sich das Landgericht deshalb zur Klärung der Frage, ob der Geschädigte gerade aufgrund seines geistig-seelischen Zustands im Tatzeitpunkt zu einer Abwehr gegenüber den sexuellen Übergriffen des Angeklagten nicht in der Lage und er deshalb widerstandsunfähig im Sinne des § 179 StGB war, der Hilfe eines Sachverständigen bedienen müssen.
2. Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Urteils insgesamt. Sofern sich im weiteren Verfahren die Annahme der Widerstandsunfähigkeit des Geschädigten im Sinne des § 179 StGB bestätigen sollte, wird im Zusammenhang mit der Prüfung des Tatbestandsmerkmals der mißbräuchlichen Ausnutzung Gelegenheit sein, die Beweisgrundlagen für das Sexualverhalten des Geschädigten näher darzulegen. Dem angefochtenen Urteil kann jedenfalls nicht entnommen werden, worauf die Feststellung beruht, Kai L. sei "heterosexuell und nicht auf Männer als Sexualpartner fixiert" (UA 11). Auch bleibt die Bedeutung des Hinweises unklar, Kai L. sei "am 25.09.2002 auf HIV-
positiv getestet" worden (UA 13). Sollte der neue Tatrichter eine Widerstands- unfähigkeit des Geschädigten nicht sicher feststellen können, wird mit Blick auf die geständige Einlassung des Angeklagten auch eine Strafbarkeit wegen (untauglichen) Versuchs (§ 179 Abs. 3 und Abs. 4 i.V.m. § 23 Abs. 1 Halbs. 1 StGB) zu prüfen sein. Wegen der Konkurrenz der vom Landgericht als selbständige Straftaten gewerteten Fälle II. 1 und 2 der Urteilsgründe verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in der Antragsschrift vom 11. März 2003.
Der Senat verweist die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurück, nachdem Gegenstand des Verfahrens nicht mehr eine die Zuständigkeit der Jugendschutzkammer begründende Tat ist.
Tepperwien Maatz Kuckein
Athing Ernemann
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Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
(1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erörterungen nur auf Freisprechung oder auf Einstellung oder auf eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist oder das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe für angemessen erachtet.
(1a) Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann es die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen.
(1b) Hebt das Revisionsgericht das Urteil nur wegen Gesetzesverletzung bei Bildung einer Gesamtstrafe (§§ 53, 54, 55 des Strafgesetzbuches) auf, kann dies mit der Maßgabe geschehen, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach den §§ 460, 462 zu treffen ist. Entscheidet das Revisionsgericht nach Absatz 1 oder Absatz 1a hinsichtlich einer Einzelstrafe selbst, gilt Satz 1 entsprechend. Die Absätze 1 und 1a bleiben im Übrigen unberührt.
(2) In anderen Fällen ist die Sache an eine andere Abteilung oder Kammer des Gerichtes, dessen Urteil aufgehoben wird, oder an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen. In Verfahren, in denen ein Oberlandesgericht im ersten Rechtszug entschieden hat, ist die Sache an einen anderen Senat dieses Gerichts zurückzuverweisen.
(3) Die Zurückverweisung kann an ein Gericht niederer Ordnung erfolgen, wenn die noch in Frage kommende strafbare Handlung zu dessen Zuständigkeit gehört.