Bundesgerichtshof Beschluss, 27. Sept. 2016 - 4 StR 391/16

ECLI:ECLI:DE:BGH:2016:270916B4STR391.16.0
bei uns veröffentlicht am27.09.2016

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 391/16
vom
27. September 2016
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
ECLI:DE:BGH:2016:270916B4STR391.16.0

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und der Beschwerdeführerin am 27. September 2016 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 8. April 2016
a) im Schuldspruch dahin geändert, dass die tateinheitliche Verurteilung wegen Aussetzung entfällt,
b) im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit Aussetzung und gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Revision der Angeklagten, mit der sie allgemein die Verletzung sachlichen Rechts beanstandet, hat den aus der Be- schlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.


2
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
3
1. Im Oktober 2014 wurde die Angeklagte ungewollt schwanger. Nachdem es ihr in der Folgezeit gelungen war, dies vor ihrer Umgebung zu verbergen , brachte sie am 14. Juni 2015, einem Sonntag, in einem abgelegenen Rohbau in G. aufrecht stehend und ohne jeden Beistand ihren Sohn zur Welt, der an ihrem Bein entlang mit dem Kopf voran auf den Boden rutschte und sich dadurch eine dislozierte Schädelfraktur zuzog. Obwohl die Angeklagte erkannte, dass ihr Sohn lebte, versorgte sie ihn nicht weiter, sondern verstaute ihn unbekleidet in einer Einkaufs-Tragetasche. Diese legte sie auf einem schlecht einsehbaren Beet nahe dem für Kraftfahrzeuge abgesperrten Parkplatz eines Marktes für Elektronikartikel ab. Dabei sah sie als sicher voraus, dass der Säugling durch dieses Vorgehen in eine lebensgefährliche Lage versetzt und angesichts der örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten nicht überleben würde. Das noch lebende Kind wurde von Passanten in den frühen Abendstunden entdeckt und stark dehydriert sowie unterkühlt ins Krankenhaus gebracht. Angesichts der vorherrschenden Außentemperaturen hätte es die Nacht nicht überlebt. Erst am Abend des folgenden Tages kehrte die Angeklagte zum Ablageort zurück, wo sie die Tüte mit ihrem Kind nicht mehr vorfand, aber nichts weiter unternahm.
4
2. Das Landgericht hat angenommen, die Angeklagte, die sich zum Tatzeitpunkt nicht ausschließbar im Zustand erheblich verminderter Steuerungs- fähigkeit befunden habe, habe sich – mit direktem Vorsatz handelnd – des versuchten Totschlags schuldig gemacht. Zugleich habe sie ihren Sohn durch die Ablage in der Tragetasche in eine hilflose Lage im Sinne von § 221 Abs. 1 StGB gebracht. Ihr Vorgehen stelle ferner eine ebenfalls tateinheitlich begangene gefährliche Körperverletzung in Form einer das Leben gefährdenden Behandlung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB dar, da ihr Kind die Nacht im Freien ohne die rechtzeitige Entdeckung nicht überlebt hätte.
5
Die verhängte Freiheitsstrafe hat das Landgericht dem gemäß §§ 22, 23 sowie § 21, jeweils i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB, doppelt gemilderten Strafrahmen des § 212 StGB entnommen. Die Annahme eines minder schweren Falles komme auch unter Berücksichtigung des Vorliegens beider vertypter Milderungsgründe nicht in Betracht. Dagegen spreche neben dem Tatbild auch der Umstand, dass die Angeklagte tateinheitlich drei gravierende Delikte begangen habe.

II.


6
1. Soweit das Landgericht die Angeklagte des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen hat, hält das angefochtene Urteil rechtlicher Nachprüfung stand. Die (weitere) tateinheitliche Verurteilung wegen Aussetzung (§ 221 Abs. 1, 2 Nr. 1 StGB) begegnet jedoch im vorliegenden Fall durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
7
a) Der Bundesgerichtshof hat bereits zu § 221 StGB aF entschieden, dass, wer den äußeren Tatbestand der Aussetzung mit wenn auch nur bedingtem Tötungsvorsatz verwirklicht, nur wegen vollendeter oder versuchter Tötung bestraft werden kann, nicht aber wegen Aussetzung (BGH, Urteil vom 27. März 1953 – 1 StR 689/52, BGHSt 4, 113, 116). Zur Begründung hat er darauf abgestellt , dass dem Aussetzungsvorsatz des Gefährdungsdelikts neben dem zugleich gegebenen Tötungsvorsatz des Erfolgsdelikts strafrechtlich keine eigenständige Bedeutung zukomme (BGH aaO; vgl. auch BGH, Urteil vom 24. Oktober 1995 – 1 StR 465/95, BGHR StGB § 221 Konkurrenzen 1; Beschluss vom 19. Oktober 2011 – 1 StR 233/11, BGHSt 57, 28, 31; ebenso SSW-StGB/ Momsen, 2. Aufl., § 221 Rn. 17; Fischer, StGB, 63. Aufl., § 221 Rn. 28; aA Eser in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., § 221 Rn. 18; insbes. zu § 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB differenzierend MüKo-StGB/Hardtung, 2. Aufl., § 221 Rn. 50).
8
b) Der Senat braucht aus Anlass des vorliegenden Falles nicht zu entscheiden , ob der Auffassung, zwischen einem versuchten Tötungsdelikt und dem Tatbestand der Aussetzung bestehe Gesetzeskonkurrenz, in dieser Allgemeinheit zu folgen ist. Jedenfalls in Fällen, in denen – wie hier – die – mit direktem Vorsatz ausgeführte – versuchte Tötungshandlung gerade im Verbringen des Opfers in eine hilflose Lage im Sinne des § 221 StGB besteht, ist an dieser Rechtsprechung festzuhalten.
9
2. Der Schuldspruch war demgemäß dahin zu ändern, dass die Verurteilung wegen Aussetzung entfällt. Die Änderung des Schuldspruchs macht die Aufhebung des Strafausspruchs erforderlich. Das Landgericht hat der Angeklagten die tateinheitliche Begehung von drei Delikten straferschwerend angelastet. Auch angesichts des Vorliegens von zwei vertypten Milderungsgründen kann der Senat daher nicht mit der erforderlichen Sicherheit gänzlich ausschließen , dass die verhängte Freiheitsstrafe niedriger ausgefallen wäre.
Sost-Scheible Roggenbuck Franke
Bender Paul

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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 49 Besondere gesetzliche Milderungsgründe


(1) Ist eine Milderung nach dieser Vorschrift vorgeschrieben oder zugelassen, so gilt für die Milderung folgendes: 1. An die Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe tritt Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.2. Bei zeitiger Freiheitsstrafe darf hö

Strafgesetzbuch - StGB | § 224 Gefährliche Körperverletzung


(1) Wer die Körperverletzung 1. durch Beibringung von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen,2. mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs,3. mittels eines hinterlistigen Überfalls,4. mit einem anderen Beteiligten gemeins

Strafgesetzbuch - StGB | § 212 Totschlag


(1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen.

Strafgesetzbuch - StGB | § 221 Aussetzung


(1) Wer einen Menschen 1. in eine hilflose Lage versetzt oder2. in einer hilflosen Lage im Stich läßt, obwohl er ihn in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist,und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitss

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Bundesgerichtshof Beschluss, 19. Okt. 2011 - 1 StR 233/11

bei uns veröffentlicht am 19.10.2011

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 233/11 vom 19. Oktober 2011 BGHSt: ja BGHR: ja Nachschlagewerk: ja Veröffentlichung: ja ________________________ StGB § 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3; § 13 Abs. 2 Aussetzung durch Im Stich lassen ist s

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Wer einen Menschen

1.
in eine hilflose Lage versetzt oder
2.
in einer hilflosen Lage im Stich läßt, obwohl er ihn in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist,
und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

(2) Auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter

1.
die Tat gegen sein Kind oder eine Person begeht, die ihm zur Erziehung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist, oder
2.
durch die Tat eine schwere Gesundheitsschädigung des Opfers verursacht.

(3) Verursacht der Täter durch die Tat den Tod des Opfers, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.

(4) In minder schweren Fällen des Absatzes 2 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 3 auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.

(1) Wer die Körperverletzung

1.
durch Beibringung von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen,
2.
mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs,
3.
mittels eines hinterlistigen Überfalls,
4.
mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich oder
5.
mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung
begeht, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

(2) Der Versuch ist strafbar.

(1) Ist eine Milderung nach dieser Vorschrift vorgeschrieben oder zugelassen, so gilt für die Milderung folgendes:

1.
An die Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe tritt Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.
2.
Bei zeitiger Freiheitsstrafe darf höchstens auf drei Viertel des angedrohten Höchstmaßes erkannt werden. Bei Geldstrafe gilt dasselbe für die Höchstzahl der Tagessätze.
3.
Das erhöhte Mindestmaß einer Freiheitsstrafe ermäßigt sichim Falle eines Mindestmaßes von zehn oder fünf Jahren auf zwei Jahre,im Falle eines Mindestmaßes von drei oder zwei Jahren auf sechs Monate,im Falle eines Mindestmaßes von einem Jahr auf drei Monate,im übrigen auf das gesetzliche Mindestmaß.

(2) Darf das Gericht nach einem Gesetz, das auf diese Vorschrift verweist, die Strafe nach seinem Ermessen mildern, so kann es bis zum gesetzlichen Mindestmaß der angedrohten Strafe herabgehen oder statt auf Freiheitsstrafe auf Geldstrafe erkennen.

(1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.

(2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen.

(1) Wer einen Menschen

1.
in eine hilflose Lage versetzt oder
2.
in einer hilflosen Lage im Stich läßt, obwohl er ihn in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist,
und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

(2) Auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter

1.
die Tat gegen sein Kind oder eine Person begeht, die ihm zur Erziehung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist, oder
2.
durch die Tat eine schwere Gesundheitsschädigung des Opfers verursacht.

(3) Verursacht der Täter durch die Tat den Tod des Opfers, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.

(4) In minder schweren Fällen des Absatzes 2 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 3 auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 233/11
vom
19. Oktober 2011
BGHSt: ja
BGHR: ja
Nachschlagewerk: ja
Veröffentlichung: ja
________________________
Aussetzung durch Im Stich lassen ist stets ein Unterlassungsdelikt; eine Strafrahmenmilderung
gemäß § 13 Abs. 2 StGB ist nicht möglich, auch nicht, wenn
der Täter durch die Tat den Tod des Opfers verursacht (§ 221 Abs. 3 StGB).
BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2011 - 1 StR 233/11 - LG - SchwG - Memmingen
in der Strafsache
gegen
wegen Aussetzung mit Todesfolge
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. Oktober 2011 beschlossen
:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Memmingen vom 20. Dezember 2010 wird als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die
der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen
Auslagen zu tragen.

Gründe:

1
Die Strafkammer hat festgestellt:
2
Der Angeklagte lebte mit einer sieben Jahre jüngeren Frau zusammen, für die er "Verantwortung übernommen hatte". So unterstützte er etwa ihr Bemühen , einen Schulabschluss nachzuholen. Als sie während eines Gaststättenbesuchs über Schwindelanfälle klagte, ging er mit ihr nach Hause. Dort gab es Streit, weil er einen ihrer Slips bei einem Mitbewohner gefunden hatte. Sie wollte den Streit beenden und ging ins Schlafzimmer. Aus nicht aufklärbaren Gründen kippte sie gegen 2.35 Uhr in der Nacht über ein 84 cm hohes Balkongeländer. Sie hing außen mit den Beinen zur gut 12 m tiefer liegenden Straße, konnte sich aber zunächst mit den Händen von außen festhalten. Sie schrie mehrfach laut um Hilfe, wie in den umliegenden Häusern gehört wurde, z.B. mit den Worten "A. , warum hilfst du mir nicht?" Wie ebenfalls gehört wurde, wurde auf diese Rufe hin gelacht. Der Angeklagte, der die Situation erkannt hatte, griff jedenfalls nicht ein, obwohl ihm dies ohne Weiteres möglich gewesen wäre, und verließ die Wohnung. Etwa zu diesem Zeitpunkt konnte sie sich nicht länger festhalten, stürzte ab und war sofort tot.
3
Die Strafkammer geht davon aus, dass der Angeklagte erkannte, dass sie in Todesgefahr war, wobei er jedoch - was nicht näher begründet ist und sich nicht ohne Weiteres aufdrängt - darauf vertraute, dass am Ende nichts passieren würde, weshalb er hinsichtlich ihres Todes nur fahrlässig gehandelt habe. Auf dieser Grundlage hat sie ihn gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB (im Stich lassen) i.V.m. § 221 Abs. 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.
4
Die auf die Sachrüge gestützte Revision, die in Erwiderung auf den Antrag des Generalbundesanwalts (§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO) näher ausgeführt wurde, bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).
5
1. Das im Wesentlichen gegen die Beweiswürdigung gerichtete Vorbringen , das dahin zusammengefasst ist, der Angeklagte wäre unter Verletzung des Zweifelssatzes verurteilt worden, ist unbehelflich. Anhaltspunkte für Zweifel der Strafkammer sind nicht ersichtlich; darauf, dass sie nach Auffassung der Revision Zweifel hätte haben müssen, bzw. auf die Zweifel der Revision kommt es nicht an (vgl. zusammenfassend Schoreit in KK, 6. Aufl., § 261 Rn. 59 mwN).
6
2. Auch im Übrigen hält das Urteil rechtlicher Überprüfung im Ergebnis stand. Der näheren Erörterung bedarf dabei nur Folgendes:
7
Die Strafkammer ist letztlich davon ausgegangen, dass der Angeklagte "zumindest unmittelbar bevor sie … abstürzte" in der Wohnung war, nachdem sie (naheliegend) nicht auf die Sekunde genau klären konnte, ob der Angeklag- te die Wohnung kurz vor dem Absturz, zum Zeitpunkt des Absturzes oder kurz danach verließ. Rechtliche Erwägungen dazu, ob hier der Angeklagte seine Freundin dadurch i.S.d. § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB "im Stich ließ", dass er ohne Ortswechsel passiv blieb, oder dadurch, dass er die Wohnung verließ - beide Möglichkeiten gehen hier ineinander über -, also ob er sich durch Tun oder durch Unterlassen strafbar gemacht hat, sind nicht angestellt.
8
a) Der Schuldspruch bleibt hiervon allerdings von vorneherein unberührt.
9
b) Der Strafausspruch könnte jedoch dann keinen Bestand haben, wenn trotz einer auch durch aktives Tun möglichen Strafbarkeit hier eine Strafbarkeit durch Unterlassen und dementsprechend nach tatrichterlichem Ermessen eine (hier nicht geprüfte) Milderung des Strafrahmens gemäß § 13 Abs. 2 StGB in Frage käme (vgl. BGH, Beschluss vom 17. August 1999 - 1 StR 390/99, NStZ 1999, 607).
10
Der Senat hat dies jedoch verneint.
11
(1) Seit der Neufassung von § 221 StGB durch Art. 1 Nr. 37 des 6. StrRG vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 164) hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. die Übersicht bei Wielant, Die Aussetzung nach § 221 StGB, S. 504) die Rechtsnatur von § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB im Sinne einer Abgrenzung zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikt noch nicht behandelt. Die Fachliteratur vertritt unterschiedliche Standpunkte. Etliche Autoren sprechen sich für ein sowohl durch Tun als auch durch Unterlassen begehbares Delikt aus (z.B. Eser in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 221 Rn. 10; Fischer, StGB, 58. Aufl., § 221 Rn. 12; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 221 Rn. 4; Jähnke in LK, 11. Aufl., § 221 Rn. 22, 28, 29 mit ausdrücklichem Hinweis auf die Anwendbarkeit von § 13 Abs. 2, StGB aaO, Rn. 43; zusammenfassend Wielant, aaO, S. 114 mwN in Fußn. 194; Lautner, Systematik des Aussetzungstatbestands S. 196 mwN in Fußn. 1039). Andere halten § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB für ein (reines) Unterlassungsdelikt (z.B. Horn/Wolters in SK StGB, § 221 Rn. 6; Hardtung in MüKo-StGB, § 221 Rn. 2; Neumann in NK-StGB, 3. Aufl., § 221 Rn. 19; zusammenfassend Wielant, aaO, S. 112 f. mwN in Fußn. 183; Lautner, aaO, mwN in Fußn. 1045 ff.). § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB wird auch als der (normierte) unechte Unterlassungstatbestand zu § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB angesehen (vgl. z.B. Roxin, StGB, AT II § 31 Rn. 18; zusammenfassend Wielant, aaO, S. 400 f. mwN; Roxin, aaO, Rn. 250 weist ausdrücklich auf die Anwendbarkeit von § 13 Abs. 2 StGB hin). Teilweise wird noch weiter differenziert (z.B. Küper, ZStW 111, 30, 58 f.; Hohmann/Sander, StGB, BT II 2. Aufl., S. 48).
12
(2) Der Senat hält § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB für ein Unterlassungsdelikt. Das Verlassen des Opfers ist - anders als nach der früheren Gesetzeslage (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 30. September 1991- 1 StR 339/91, BGHSt 38, 78 ff.) - nur noch ein faktischer Anwendungsfall, aber kein gesetzlicher Unterfall des Im-Stich-Lassens. Dass der Täter die gebotene Handlung deshalb nicht vornimmt , weil er den Ort, an dem er handeln müsste, verlässt, ändert nichts an dem grundsätzlichen Rechtscharakter der Tat (vgl. Neumann, aaO). Letztlich ist bei der Bewertung von Verhaltensweisen unter dem Blickwinkel, ob strafbares Tun oder strafbares Unterlassen vorliegt, darauf abzustellen, worin der "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" liegt (st. Rspr., vgl. BGH (GrSSt), Beschluss vom 17. Februar 1954 - GSSt 3/53, BGHSt 6, 46, 59; BGH, Urteil vom 1. Februar 2005 - 1 StR 422/04, BGH NStZ 2005, 446, 447; BGH, Urteil vom 12. Juli 2005 - 1 StR 65/05, NStZ-RR 2006, 174, 175; w. Nachw., auch für die anderen Auffassungen, bei Wielant, aaO, S. 156 Fußn. 379). Dieser liegt darin, dass der Täter die gebotene Hilfeleistung unterlässt, ohne dass es darauf ankommt, ob er sich (zusätzlich) entfernt.
13
c) Ob § 13 StGB anwendbar und damit auch (fakultativ) eine Strafrahmenmilderung gemäß § 13 Abs. 2 StGB möglich ist, richtet sich danach, ob ein "echtes" oder "unechtes" Unterlassungsdelikt vorliegt. Für "echte" Unterlassungsdelikte gilt § 13 StGB nicht (vgl. zusammenfassend Fischer, StGB, 58. Aufl., § 13 Rn. 3 mwN). "Echte" Unterlassungsdelikte müssen keinen Taterfolg aufweisen (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 1960 - 2 StR 65/60, BGHSt 14, 280, 281; BayObLG, Beschluss vom 22. Januar 1990 - RReg 1 St/5/90, NJW 1990, 1861; Fischer, aaO, vor § 13 Rn. 16). So verhält es sich letztlich hier. Das pflichtwidrige Garantenverhalten führt im Rahmen von § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht zu einer Verantwortlichkeit für den daraus resultierenden Verletzungserfolg , sondern zur strafrechtlichen Haftung für die nicht abgewendete konkrete Gefahr (Küper, aaO, 58 f.). Ist aber aus diesen Gründen § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB echtes Unterlassungsdelikt, sodass § 13 StGB nicht anwendbar ist (so auch die überwiegende Meinung in der Fachliteratur, vgl. zusammenfassend Wielant, aaO, S. 398 mwN in Fußn. 1459, auch für gegenteilige Auffassungen ), kann für den hierauf aufbauenden Qualifikationstatbestand des § 221 Abs. 3 StGB nichts anderes gelten.
Der Senat hat dabei erwogen, dass bei Vorsatz hinsichtlich der Todesfolge Totschlag (§ 212 StGB) vorläge und § 221 StGB dahinter zurücktreten würde (Fischer, aaO, § 221, Rn. 28; zu § 221 StGB aF ebenso schon BGH, Urteil vom 27. März 1953 - 1 StR 689/52, BGHSt 4, 114, 116). Bei einer Strafbarkeit gemäß § 212 StGB ist § 13 Abs. 2 StGB jedoch grundsätzlich anwendbar , so dass gegebenenfalls die Mindeststrafe bei Fahrlässigkeit hinsichtlich der Todesfolge (drei Jahre Freiheitsstrafe gemäß § 221 StGB) höher sein könn-
te als bei Vorsatz (zwei Jahre Freiheitsstrafe gemäß § 212 Abs. 1 StGB i.V.m. § 13 Abs. 2 StGB und § 49 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Ohne dass hier über einen solchen Fall zu entscheiden wäre, würde nach Auffassung des Senats zur Vermeidung des aufgezeigten Wertungswiderspruchs (vgl. hierzu auch Roxin, aaO, Rn. 250) der Grundsatz, dass die Mindeststrafe eines auf Konkurrenzebene hinter einem anderen Delikt zurücktretenden Delikts eine Sperrwirkung entfaltet (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 24. November 2005 - 4 StR 243/05, NStZ 2006, 288, 290 mwN; vgl. auch zusammenfassend Fischer, aaO, vor § 52 Rn. 45 mwN) hier entsprechend gelten.
Nack Wahl Elf Jäger Sander

(1) Wer einen Menschen

1.
in eine hilflose Lage versetzt oder
2.
in einer hilflosen Lage im Stich läßt, obwohl er ihn in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist,
und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

(2) Auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter

1.
die Tat gegen sein Kind oder eine Person begeht, die ihm zur Erziehung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist, oder
2.
durch die Tat eine schwere Gesundheitsschädigung des Opfers verursacht.

(3) Verursacht der Täter durch die Tat den Tod des Opfers, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.

(4) In minder schweren Fällen des Absatzes 2 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 3 auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.