Bundesgerichtshof Beschluss, 02. Dez. 2014 - 4 StR 381/14

bei uns veröffentlicht am02.12.2014

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 S t R 3 8 1 / 1 4
vom
2. Dezember 2014
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 2. Dezember 2014 gemäß § 349
Abs. 4, § 206a Abs. 1 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 1. April 2014 wird
a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte im Fall II. 1. der Urteilsgründe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last,
b) das vorgenannte Urteil im Übrigen mit den Feststellungen aufgehoben , soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Von sechs weiteren Tatvorwürfen zum Nachteil desselben Tatopfers und 17 Tatvorwürfen zum Nachteil von dessen Schwester hat es ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die Revision des Angeklagten führt in einem Fall zur Einstellung des Verfahrens und hat im Übrigen mit der Sachrüge Erfolg.
2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde die Nebenklägerin an einem Tag vor Weihnachten 2008 von ihrer Mutter in die elterliche Wohnung geschickt, um einen Schlüssel zu holen. Der Angeklagte, ihr Stiefvater, verbot ihr, die Wohnung wieder zu verlassen und schickte sie ins Bett. Er trat dann an ihr Bett, streichelte sie und berührte sie unter der Kleidung an den Brüsten und der Vagina (Fall II. 1. der Urteilsgründe). An einem Tag nach dem 21. Mai 2009 bis kurz nach ihrem 14. Geburtstag am 29. August 2009 betrat der Angeklagte nachts nackt ihr Zimmer und streichelte die Nebenklägerin am gesamten unbekleideten Körper. Er legte sich auf sie und vollzog den Geschlechtsverkehr. Plötzlich öffnete die Mitangeklagte - die Mutter der Nebenklägerin - die Kinderzimmertür , sah den Angeklagten mit ihrer Tochter und fragte sinngemäß: "Hat es Spaß gemacht?", drehte sich um und schloss die Tür (Fall II. 2. der Urteilsgründe ). Die Nebenklägerin war enttäuscht, dass ihre Mutter nichts unternahm.
3
Von dem Vorwurf, die Nebenklägerin in der zweiten Nacht, die sie in der Ehewohnung in der I. straße in S. verbracht habe, am ganzen Körper gestreichelt zu haben (Fall 18 der Anklage), vom Vorwurf, in vier weiteren Fäl- len mit ihr den Geschlechtsverkehr ausgeübt zu haben (Fälle 20, 21, 23 und 24 der Anklage) und von dem Vorwurf, sie in der Wohnung ihrer Großmutter in Sc. gestreichelt und ihre Hand an seinen Penis geführt zu haben (Fall 25 der Anklage), hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen, weil "die Angaben der Nebenklägerin sehr knapp und ohne jeweilige Geschehensstruktur" gewesen seien und auch die von der Polizei protokollierten Angaben nicht hätten bestätigt werden können. Die Strafkammer habe nicht feststellen können , ob bekundete Details Teil der ausgeurteilten Taten waren oder nur mehrfach berichtet wurden oder bei einer weiteren Tat vorlagen.
4
2. Hinsichtlich der unter II. 1. der Urteilsgründe abgeurteilten Straftat fehlt es an der Verfahrensvoraussetzung der Anklageerhebung.
5
Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage vom 11. Januar 2012 wurde dem Angeklagten unter Ziffer 19 vorgeworfen, im Januar 2008 die Nebenklägerin (erneut) in ihrem Kinderzimmer aufgesucht und am gesamten Körper gestreichelt zu haben, insbesondere an der Brust und am Geschlechtsteil. Darüber hinaus habe der Angeklagte verlangt, dass die Nebenklägerin ihn ebenfalls, insbesondere am Geschlechtsteil streichele, was sie auch getan habe.
6
Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 264 Rn. 2 mwN). Verändert sich im Laufe eines Verfahrens das Bild des Geschehens, das die Anklage umschreibt , so kommt es darauf an, ob die "Nämlichkeit der Tat" trotz der Abwei- chungen noch gewahrt ist. Dies ist - ungeachtet gewisser Unterschiede - dann der Fall, wenn bestimmte individuelle Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges , unverwechselbares Geschehen kennzeichnen (vgl. BGH, Urteil vom 4. März 2010 - 3 StR 559/09 Rn. 6 mwN).
7
Nach diesem Maßstab ist die Tat II. 1. der Urteilsgründe nicht Gegenstand der Anklage. Die vom Landgericht ausgeurteilte Tat ist durch besondere Umstände - Schlüssel holen - gekennzeichnet, die in der Anklageschrift nicht aufgeführt sind. Nach den Urteilsfeststellungen soll es sich bei der ausgeurteilten Tat auch um den ersten Übergriff gegen die Nebenklägerin gehandelt haben , mit dem die Tatserie des Angeklagten zu ihrem Nachteil begonnen habe, während es sich bei der in der Anklage geschilderten Tat um einen zweiten, gleichförmigen Vorfall gehandelt haben soll. Das Landgericht stellt hierzu fest, dass die Nebenklägerin "die unter II. 1. festgestellte Tat" bei ihrer ersten polizeilichen Vernehmung am 2. Juni 2011 nicht geschildert habe, aber im Nachhinein beim Sachverständigen und auch in der Hauptverhandlung (UA 16). Die Exploration durch den Sachverständigen, bei der die Nebenklägerin die ausgeurteilte Tat danach erstmals geschildert hat, fand am 5. September 2012 statt, also fast neun Monate nach der Anklageerhebung, die auf der ersten polizeilichen Aussage der Nebenklägerin basiert (UA 8). Mithin war die ausgeurteilte Tat von der Anklage nicht umfasst. Eine die Tat einbeziehende Nachtragsanklage ist nicht erhoben worden. Das Verfahren ist insoweit wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen.
8
3. Die Verurteilung im Fall II. 2. der Urteilsgründe hat keinen Bestand. Die Beweiswürdigung hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
9
Das Landgericht hat seine Überzeugung vom Tathergang und der Täterschaft des die Taten bestreitenden Angeklagten im Wesentlichen auf die Aussage der Nebenklägerin gestützt, die es bezüglich weiterer Fälle allerdings als nicht ausreichend für eine Verurteilung bewertet hat. Es ist zudem von der Einschätzung des aussagepsychologischen Sachverständigen abgewichen, der die Erlebnisbezogenheit der Angaben der Nebenklägerin insgesamt in Frage gestellt hat. Die Urteilsgründe genügen den besonderen, an diese Beweiskonstellation zu stellenden Anforderungen nicht (vgl. BGH, Urteil vom 27. März 2003 - 1 StR 524/02, StV 2003, 486; Urteil vom 1. April 2009 - 2 StR 601/08, NStZ 2009, 571; Beschluss vom 24. Februar 2011 - 4 StR 488/10; Beschluss vom 22. Mai 2012 - 5 StR 15/12, NStZ-RR 2012, 287, 288).
10
a) Zwar ist das Tatgericht nicht gehalten, einem Sachverständigen zu folgen. Kommt es aber zu einem anderen Ergebnis, so muss es sich konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen, um zu belegen , dass es über das bessere Fachwissen verfügt (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juni 2012 - 5 StR 181/12, NStZ 2013, 55, 56 mwN). Der Sachverständige hat hier die Unwahrhypothese nicht sicher widerlegen können, weil die Geschädigte nicht ausschließbar ein "Hassgefühl" gegen den Angeklagten entwickelt habe bzw. der Bestrafungswunsch bei ihr so groß gewesen sei, dass eine Trennung der Familie aus ihrer Sicht nicht ausreichend gewesen sei. Es könne sich eine "Autosuggestion" eingestellt haben, dass sich der Angeklagte trotz des Auszugs der Mutter wiederum überwiegend bei dieser aufhalten werde. Sie könne deshalb das Gefühl gehabt haben, dem durch die Angaben vorbeugen zu müssen. Dieses Falschbelastungsmotiv hat die Strafkammer nicht ausgeräumt. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb es zum Erreichen einer wahrheitswidrigen Bestrafung ausgereicht hätte, wenn "M. ihre[n] Darstellungen bei der Anzeigenerstattung, während des Verfahrens und bei ihrer Vernehmung vom 20.3.2013… Taten hinzugefügt oder bereits geschildert[e] ausgeschmückt hätte". Diese Würdigung setzt inzident voraus, dass Taten tatsächlich stattgefunden haben. Damit ist die Frage, ob die Nebenklägerin bei der Anzeigenerstattung insgesamt wahrheitswidrige Angaben gemacht, Taten hinzugefügt oder ausgeschmückt hat, nicht beantwortet. Dass die Geschädigte bei der Vernehmung in der Hauptverhandlung nur noch äußerst wenige Taten wiedergegeben hat, kann nicht nur, wie die Strafkammer annimmt, auf einem fehlenden Falschbelastungsmotiv beruhen, sondern auch auf ihren festgestellten eingeschränkten geistigen Fähigkeiten. Soweit die Strafkammer damit argumentiert, dass M. gegenüber ihrer Mutter trotz deren Nichteinschreitens nicht von Hassgefühlen beherrscht werde, setzt dieses Argument voraus, dass sich die unter II. 2. festgestellte Tat so zugetragen hat, wie von der Nebenklägerin geschildert.
11
b) Die Aussage der Nebenklägerin weist nach der Einschätzung des Sachverständigen erhebliche Mängel auf. Ihre intellektuellen Leistungsvoraussetzungen liegen im Grenzbereich zwischen Lernbehinderung und leichter geistiger Behinderung. Auch zeigt sie Symptome einer Störung des Sozialverhaltens. Der Tatrichter hätte unter diesen Umständen in den Urteilsgründen näher darlegen müssen, was die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung und bei früheren Vernehmungen ausgesagt hat, um dem Revisionsgericht eine Überprüfung der Beweiswürdigung, insbesondere der Aussagekonstanz, zu ermöglichen. Darüber hinaus verhält sich das Urteil nicht zur Erinnerungsfähigkeit der Nebenklägerin. Insbesondere fällt auf, dass diese etwa zweieinhalb Jahre nach den Taten bei der Polizei acht Vorfälle geschildert hat - dabei nicht den unter II. 1. ausgeurteilten -, bei der Exploration durch den Sachverständigen ein Jahr später und in der Hauptverhandlung aber keine Abgrenzung zwischen den einzelnen Tatvorwürfen mehr vornehmen konnte.
12
c) Schließlich fehlt auch jede Auseinandersetzung mit der Frage, warum die Mitangeklagte - ihre Mutter - die Nebenklägerin bereits zum Zeitpunkt der Anzeigeerstattung für eine "Lügnerin" hielt (UA 16). Da die Mitangeklagte den sexuellen Missbrauch nach den Feststellungen mit eigenen Augen gesehen hat, hätte es hierfür einer Erklärung bedurft.
13
d) Angesichts der schwierigen Beweissituation hätte der Tatrichter nicht offen lassen dürfen, ob die Nebenklägerin und ihre Schwester bereits früher einmal einen Jungen zu Unrecht einer Vergewaltigung beschuldigt haben, wie es der Zeuge H. bekundet hat. Die Strafkammer hätte aufklären müssen , ob tatsächlich aufgrund der Angaben der beiden Mädchen ein Junge aus dem Kinderheim in die Psychiatrie gekommen ist und ob sich gegebenenfalls die Beschuldigung als zutreffend erwiesen hat.
14
4. Die Sache bedarf daher im Umfang der von der Verfahrenseinstellung nicht erfassten Verurteilung der Verhandlung und Entscheidung durch einen neuen Tatrichter. Sost-Scheible Roggenbuck Cierniak Franke Mutzbauer

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Strafprozeßordnung - StPO | § 264 Gegenstand des Urteils


(1) Gegenstand der Urteilsfindung ist die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt. (2) Das Gericht ist an die Beurteilung der Tat, die dem Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens zugrunde l

Strafprozeßordnung - StPO | § 206a Einstellung des Verfahrens bei Verfahrenshindernis


(1) Stellt sich nach Eröffnung des Hauptverfahrens ein Verfahrenshindernis heraus, so kann das Gericht außerhalb der Hauptverhandlung das Verfahren durch Beschluß einstellen. (2) Der Beschluß ist mit sofortiger Beschwerde anfechtbar.

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(1) Stellt sich nach Eröffnung des Hauptverfahrens ein Verfahrenshindernis heraus, so kann das Gericht außerhalb der Hauptverhandlung das Verfahren durch Beschluß einstellen.

(2) Der Beschluß ist mit sofortiger Beschwerde anfechtbar.

(1) Gegenstand der Urteilsfindung ist die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt.

(2) Das Gericht ist an die Beurteilung der Tat, die dem Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens zugrunde liegt, nicht gebunden.

6
Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (vgl. Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 264 Rdn. 2 m. w. N.). Verändert sich im Laufe eines Verfahrens das Bild des Geschehens, das die Anklage umschreibt, so kommt es darauf an, ob die "Nämlichkeit der Tat" trotz der Abweichungen noch gewahrt ist. Dies ist - ungeachtet gewisser Unterschiede - dann der Fall, wenn bestimmte individuelle Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen kennzeichnen (vgl. BGHSt 46, 130, 133; BGH NStZ 2002, 659).

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 524/02
vom
27. März 2003
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom
25. März 2003 in der Sitzung am 27. März 2003, an denen teilgenommen haben
:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Boetticher,
Schluckebier,
Dr. Kolz,
Hebenstreit,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger in der Verhandlung vom 25. März 2003,
Rechtsanwältin
als Vertreterin der Nebenklägerin in der Verhandlung vom 25. März 2003,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 15. Juli 2002 mit den Feststellungen aufgehoben , soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Die Sache wird insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zur Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Vom Vorwurf dreier weiterer Vergewaltigungen und einer vorsätzlichen Körperverletzung hat es ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Der Angeklagte wendet sich mit seiner Revision gegen die Verurteilung. Das Rechtsmittel ist begründet.

I.

1. Das Landgericht hat folgendes festgestellt: Der Angeklagte entschloß sich am 30. Juni 2000 nach einem heftigen Streit, sich endgültig von seiner Freundin, der Zeugin B. , zu trennen. Er forderte sie auf, die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Nachdem er selbst aus der Wohnung gegangen war und wieder zurückkehrte, fand er die Zeugin dort noch auf dem Bett liegend
vor. Er entschloß sich nun, mit ihr geschlechtlich zu verkehren. Dies entsprang nicht einem Wunsch nach Versöhnung, sondern war als Bestrafung gedacht. Als er begann, der Zeugin mit einer Hand die Hose herunterzuziehen, wehrte sich diese und sagte, daß sie nichts von ihm wolle. Der Angeklagte packte die Zeugin an den Füßen, drehte sie in die Bauchlage und führte sowohl den vaginalen als auch den analen Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguß an ihr durch, obwohl die Zeugin schrie und ihn aufforderte, damit aufzuhören. Die Ausführung des Verkehrs erfolgte "in roher Weise". Die Zeugin blutete im Genitalbereich und trug blutende Haarrisse in der Haut der Scheidenwand davon. Kurz darauf erklärte er der Zeugin, er werde ihre Sachen aus dem Fenster werfen, wenn sie nicht innerhalb von fünfzehn Minuten die Wohnung verließe. 2. Bei ihrer Beweisführung gegen den bestreitenden Angeklagten folgt die Strafkammer im wesentlichen der Aussage der Zeugin B. . Zwar hat der von ihr zugezogene aussagepsychologische Sachverständige W. ausgeführt, die Aussage der Zeugin könne aus aussagepsychologischer Sicht nicht als verläßlich angesehen werden. Die Kammer geht indessen dennoch von deren Glaubhaftigkeit aus und stellt dabei auf die sonstigen Ergebnisse der Beweisaufnahme, namentlich außerhalb der Aussage liegende Beweisanzeichen ab. 3. Der Freispruch von den Vorwürfen dreier zeitlich vorgelagerter Vergewaltigungen zum Nachteil der Zeugin B. gründet im wesentlichen darin, daß die Strafkammer insoweit Zweifel an der uneingeschränkten Glaubhaftigkeit der entsprechenden Angaben der Zeugin B. nicht zu überwinden vermochte. Der aussagepsychologische Sachverständige W. ist davon ausgegangen, daß die Bekundungen der Zeugin B. zum Kerngeschehen zu wenig detailliert seien; zum Teil hat er auch Widersprüche in den verschie-
denen Aussagen der Zeugin aufgezeigt. Er hat auch insoweit die sog. "Null- hypothese" für nicht widerlegt gehalten (vgl. BGHSt 45, 164, 167/168). Die Kammer hält schließlich für möglich, daß die Zeugin Gewaltanwendung des Angeklagten, die in der Beziehung nicht unüblich war, mit den Sexualakten vermengt oder verknüpft habe; möglicherweise sei dies unbewußt geschehen.

II.

Die der Verurteilung des Angeklagten (Fall 4 der Anklage) zugrundeliegende Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht in jeder Hinsicht stand. Obgleich sie sehr ausführlich ist, begegnet sie durchgreifenden rechtlichen Bedenken. 1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist auf das Vorliegen von Rechtsfehlern beschränkt (vgl. § 337 StPO). Ein sachlich-rechtlicher Fehler kann indessen dann vorliegen, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Die Beweiswürdigung muß insbesondere auch erschöpfend sein: Der Tatrichter ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen. Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente ohne Erörterung hinweggeht, ist ebenso rechtsfehlerhaft wie eine solche, die gewichtige Umstände nicht mit in Betracht zieht, welche die Überzeugung des Tatrichters von der Täterschaft des Angeklagten in Frage zu stellen geeignet sind. Aus den Urteilsgründen muß sich zudem ergeben , daß die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2, 11, 16, 24, Überzeugungsbildung 30; BGH
NStZ 2000, 48). Schließlich hängt der dem Tatgericht abzuverlangende Begründungsaufwand von der jeweiligen Beweislage ab (vgl. BGH, Beschluß vom 26. Februar 2003 - 5 StR 39/03; siehe zur Situation "Aussage gegen Aussage" BGHSt 44, 153, 159; 44, 256, 257). Will der Richter in einem wesentlichen Punkt von der Aussage des einzigen unmittelbaren Belastungszeugen abweichen und ihm etwa in einem anderen Punkt folgen, so muß er in seinem Urteil in aller Regel darlegen, daß der Zeuge im Abweichungspunkt keine bewußt falschen Angaben gemacht hat (vgl. BGHSt 44, 256, 257). 2. Diesen Maßstäben wird die Würdigung der Strafkammer nicht vollends gerecht. Freilich war die Beweissituation im vorliegenden Fall ungewöhnlich schwierig. Es stand nicht nur Aussage gegen Aussage. Allein aufgrund der Analyse der Bekundungen der einzigen unmittelbaren Belastungszeugin B. konnten sowohl die Strafkammer als auch der mit der Glaubhaftigkeitsbeurteilung zunächst beauftragte Sachverständige W. , dem die Kammer trotz eines methodenkritischen weiteren Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. S. gefolgt ist, die Angaben der Zeugin nicht als zuverlässig bewerten. Diese waren nämlich zum Kerngeschehen und insbesondere zur Gewaltanwendung nicht hinreichend detailliert. Das war der wesentliche Grund für die Freisprüche von den zeitlich vorgelagerten Vorwürfen. Zu der konfliktreichen Beziehung der Zeugin zum Angeklagten kamen weitere für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung bedeutsame Umstände hinzu: Es gab konkrete Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines Motivs für eine bewußte Falschbelastung. Die Zeugin war, insbesondere durch Angehörige, zu der Strafanzeige gedrängt worden; sie hatte überdies ihren Vater - möglicherweise zu Unrecht - bezichtigt , sie früher sexuell mißbraucht zu haben. Die psychiatrische Sachverständige hat ihr hysteroide Persönlichkeitszüge attestiert. Aus alldem ergeben sich hier besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung.

a) Die Strafkammer hätte bei der Beweiswürdigung zum Fall 4 der Anklage (Verurteilung) im Rahmen einer Gesamtschau aller Beweisanzeichen auch diejenigen Umstände erkennbar in die Bewertung mit einbeziehen müssen , welche sie mit bewogen haben, den Angeklagten von den weiteren Vergewaltigungsvorwürfen freizusprechen. Dieses Erfordernis ergab sich hier auch daraus, daß die Kammer in jenen Fällen eine Vermengung von anderweitiger Gewaltanwendung des Angeklagten mit Sexualakten durch die Zeugin B. für möglich gehalten hat. Sie hat dabei nicht hinreichend verdeutlicht, ob die Zeugin verschiedene Sachverhalte etwa auch bewußt verknüpft haben könnte. In den mit Freispruch entschiedenen Fällen hat der aussagepsychologische Sachverständige W. teils die erforderlichen Realkennzeichen und die nötige Aussagekonstanz vermißt, des weiteren teilweise auch Widersprüche hervorgehoben. Insoweit ist ihm die Strafkammer gefolgt. Sie hat darüber hinaus zum Fall 1 der Anklage ausgeführt, die von der Zeugin B. beschriebenen Ohrfeigen könnten plausibel auch ihrem vorangegangenen Streit mit dem Angeklagten zugeordnet werden und wären "einer gedanklichen Übertragung auf die Durchführung der Sexualakte zugänglich" (UA S. 98). In der Beweiswürdigung zum Fall 2 der Anklage hebt die Strafkammer hervor, sie könne die Möglichkeit nicht ausschließen, daß die Schläge im Verlaufe eines Eifersuchtsstreites erfolgten und die anschließenden Geschlechtsakte von der Zeugin widerwillig und ohne für den Angeklagten erkennbaren Widerstand vollzogen worden seien, die Zeugin schließlich die Schläge - "auch eventuell unbewußt" - mit den Sexualakten verknüpft habe (UA S. 106). Im Fall 3 der Anklage begründet die Strafkammer den Freispruch unter anderem ähnlich damit, sie könne nicht ausschließen, daß die Zeugin B. frühere sexuelle Vorgänge mit dem Bruder des Angeklagten und dessen Freund, mit denen sie einvernehmlich und zu dritt sexuellen Verkehr hatte, "mit erkennbaren Verdrän-
gungstendenzen erinnert" und "möglicherweise unbewußt" mit ihren Erinnerungen zu dem Vorfall mit dem Angeklagten "vermengt" habe (UA S. 150). Diese Formulierungen lassen offen, ob die Zeugin etwa gar bewußt eine Verknüpfung anderweitiger Gewaltanwendung mit dem Geschlechts- bzw. Analverkehr vorgenommen hat ("eventuell unbewußt", "möglicherweise unbewußt" ). Wäre dem so, hätte das Auswirkungen auf die Beurteilung der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben zum Fall 4 der Anklage, in dem der Angeklagte verurteilt worden ist. Deshalb hätte das Landgericht diese Frage beantworten und gegebenenfalls in die Gesamtwürdigung aller Beweise einbeziehen müssen (vgl. dazu BGH NStZ 2000, 551, 552). Der Senat hat erwogen, ob die in Rede stehenden Wendungen sinngemäß dahin verstanden werden können, daß die Strafkammer allein von einer unbewußten Verknüpfung von Sachverhalten ausgegangen ist, also nur diese für möglich gehalten hat und eine bewußte Vermengung ausschließen wollte. Wegen des Zusammenhangs mit den nachfolgend aufgeführten Mängeln der Beweiswürdigung vermag er dies jedoch nicht mit der erforderlichen Sicherheit anzunehmen.
b) Die Strafkammer hat - da konkrete Umstände dazu Anlaß gaben - zu Recht geprüft, ob die Zeugin B. ein Motiv hatte, den Angeklagten zu Unrecht zu belasten ("Rachehypothese"). Ihre Erwägungen lassen jedoch besorgen , daß sie von einem fehlsamen Prüfungsansatz und einem so nicht bestehenden Erfahrungssatz ausgegangen ist. aa) Die Kammer führt im Zusammenhang mit der Würdigung der Aussage der Zeugin B. zum Fall 4 der Anklage aus, sie habe sich nicht von einer Rachsucht der Zeugin als möglichem Motiv einer Falschaussage überzeugen können (UA S. 78). Dieser Ansatz ist nicht tragfähig. Es kam vielmehr - anders gewendet - darauf an, ob Rache als Motiv für eine Falschbezichtigung des An-
geklagten ausgeschlossen oder jedenfalls für wenig wahrscheinlich erachtet werden konnte. bb) Darüber hinaus läßt die in diesem Zusammenhang gebrauchte Wendung, ein Rachemotiv sei generell keine taugliche Hypothese für eine Falschaussage (UA S. 79 unten) befürchten, die Strafkammer könne von einem so nicht bestehenden allgemeingültigen Erfahrungssatz ausgegangen sein und sich über gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse hinweggesetzt haben. Rache kann - je nach Lage des Einzelfalles - ein Beweggrund für eine unwahre Anschuldigung sein. Richtig ist allerdings, daß ein Vergewaltigungsopfer auch in berechtigtem Zorn auf den Vergewaltiger mittels wahrer Aussage dessen Bestrafung erstreben kann. Insofern kann Rache als Motiv für eine Beschuldigung durchaus ambivalent sein. Aus einer festgestellten Belastungsmotivation beim Zeugen läßt sich deswegen nicht zwingend auf das Vorliegen einer Falschaussage schließen (BGHSt 45, 164, 175). In der Aussagepsychologie ist anerkannt, daß die "Rachehypothese" im Rahmen der Begutachtung bei der sog. Motivationsanalyse als mögliche Quelle einer fehlerhaften Aussage bei konkreten Anhaltspunkten - wie sie hier vorliegen - als naheliegende Möglichkeit mit zu bedenken ist (vgl. BGHSt 45, 164, 173). Rachetendenzen, die etwa auch nur zu Übertreibungen führen, kommen seit jeher vor und können immer wieder beobachtet werden (siehe nur Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, 3. Aufl., S. 97). Dessen ungeachtet ist gleichermaßen bekannt, daß häufig zu Unrecht ein Rachemotiv vermutet wird (ders. aaO). Rachegefühle müssen indes nicht zu einer unwahren Aussage oder zu Übertreibungen führen; sie können auch bei einer wahren Aussage vorhanden sein, aber von der Aussageperson beherrscht werden.
Für die Begutachtung ist eine Analyse der Aussagemotivation erforderlich sowohl für den Fall, daß die Aussage subjektiv (nach der Vorstellung des Zeugen) wahr ist, als auch für den Fall, daß sie bewußt falsch ist (vgl. Greuel/ Offe u.a., Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S. 173; siehe auch Bender /Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht Bd. 1, 2. Aufl. Rdn. 204). In diesem Zusammenhang kommt dem sog. Gleichgewichtsmerkmal besonderes Gewicht zu: Verzichtet der Zeuge auf solche Mehrbelastungen, die ihm möglich wären und dann nicht widerlegt werden könnten, und weisen seine Angaben zugleich auch selbstbelastende Elemente auf, so spricht dies gegen eine falsche Belastung (vgl. Bender/Nack, aaO Rdn. 279). Der Tatrichter ist bei konkreten Anhaltspunkten für Rache als Motiv einer Falschbelastung gehalten, diese naheliegende Möglichkeit zu prüfen. Er ist dabei freilich nicht an die strikten methodischen Vorgaben gebunden, die für den aussagepsychologischen Sachverständigen und seine hypothesengeleitete Begutachtung als Standard gelten (vgl. BGHSt 45, 164). Für ihn gilt der Grundsatz freier Beweiswürdigung (§ 261 StPO). Mitbestimmend hierfür sind indes die in der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Anforderungen, daß insbesondere seine Beweiswürdigung auch insoweit je nach der Beweislage im übrigen erschöpfend zu sein hat; sie darf nicht lückenhaft sein und erörterungsbedürftige Möglichkeiten unerwogen lassen. Sie darf schließlich anerkannten Erfahrungssätzen der Aussagepsychologie nicht widerstreiten. Zieht der Tatrichter allerdings einen aussagepsychologischen Sachverständigen hinzu , so gilt dasselbe wie für die Würdigung aller Sachverständigengutachten: Will er dem Gutachten folgen, so muß er in den Urteilsgründen wenigstens die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen wiedergeben. Einer ins einzelne gehenden Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der erfolgten Begutachtung in den Urteilsgrün-
den bedarf es regelmäßig nicht (BGHSt 45, 164, 182). Folgt der Tatrichter dem Gutachten nicht, so muß er die Ausführungen des Sachverständigen in nachprüfbarer Weise wiedergeben, sich mit ihnen auseinandersetzen und seine abweichende Auffassung begründen. Lehnt er ein Gutachten ab und folgt einem anderen, etwa im Blick auf die Beweisergebnisse im übrigen, so muß er auch hierfür die Gründe angeben (vgl. nur BGHSt 34, 29, 31; BGH NStZ 2000, 550; 2001, 45; Meyer-Goßner StPO 46. Aufl. § 267 Rdn. 13 m.w.N.). Das Landgericht hat sich zwar ausführlich mit den gutachtlichen Äußerungen der beiden aussagepsychologischen und der psychiatrischen Sachverständigen auseinandergesetzt. Der von ihm aufgestellte Grundsatz, ein Rachemotiv sei „generell“ keine taugliche Hypothese für eine Falschaussage, besteht indessen so nicht. Die Strafkammer hat überdies zwar einige auffällige Gesichtspunkte angeführt, derentwegen sie sich überzeugt sieht, daß die Zeugin B. keine rachegeleitete Falschaussage getätigt habe. Das geschieht aber nicht im Rahmen der gebotenen umfassenden Bewertung, insbesondere - bei zum Teil gegenläufigen Sachverständigenbewertungen - nicht im Hinblick auf das sog. Gleichgewichtsmerkmal. Diese Erwägungen vermögen im Blick auf die vorangestellten maßstäblichen Wendungen (keine "Überzeugung" von einem Rachemotiv, das zudem "generell keine taugliche Hypothese" für eine Falschaussage sei) mithin nicht die Besorgnis auszuräumen, die Strafkammer könne von einem fehlsamen Prüfungsansatz und einem nicht bestehenden Erfahrungssatz ausgegangen sein.
c) Die Strafkammer prüft zu Recht, ob die Zeugin B. , nachdem sie aus ihrer Familie zur Strafanzeige gedrängt wurde, tatsächlich stattgefundene nicht einverständliche sexuelle Handlungen als - worauf es entscheidend ankommt - durch Gewalt erzwungen geschildert hat. Diese Möglichkeit widerlegt
die Strafkammer insbesondere mit zwei Kurzmitteilungen (SMS-Short Message Service), die die Zeugin B. mittels Mobiltelefon im Zusammenhang mit der Tat im Fall 4 an ihre Freundin M. versandt habe. Das wäre tragfähig, wenn die Strafkammer näher dargelegt hätte, daß die zweite - aufgrund ihres Inhalts beweiskräftige - Nachricht tatsächlich im Zusammenhang mit der Tat übermittelt wurde. Daran fehlt es aber. Die Strafkammer würdigt eine Abweichung zwischen den Angaben der Zeugin B. und der Zeugin M. hierzu nicht ausdrücklich. M. hat bekundet, sie habe von der Zeugin B. zwei SMS-Kurzmitteilungen auf ihrem Mobiltelefon erhalten: Die erste mit dem Text "Hilfe"; die zweite mit dem Hinweis, vergewaltigt worden zu sein. Die Zeugin B. hat sich nicht an diese zweite Kurzmitteilung erinnern können (UA S. 56 ff.). Das erscheint bei einem außergewöhnlichen Ereignis wie dem hier in Rede stehenden eher ungewöhnlich. Da die Strafkammer sich bei ihrer Beweisführung aber auch auf die zweite Kurzmitteilung stützt (UA S. 60), hätte sie sich auch mit dem Nichterinnern der Zeugin B. in seiner Bedeutung für die Beweiswürdigung auseinandersetzen müssen.
d) Ähnlich verhält es sich mit der Bedeutung einer etwaigen Falschbezichtigung des Vaters der Zeugin durch diese: Die Zeugin hatte u.a. gegenüber der psychiatrischen Sachverständigen Dr. Bi. eingeräumt, ihren Vater früher zu Unrecht des sexuellen Mißbrauchs zu ihrem Nachteil beschuldigt zu haben. Solche Vorwürfe gegen ihren Vater hatte sie unter anderem gegenüber einer Freundin, gegenüber der Ehefrau des Zahnarztes, bei dem sie tätig war, und bei ihrer Nervenärztin erhoben. Die Strafkammer hat sich außerstande gesehen , davon auszugehen, daß die Zeugin ihren Vater "bewußt wahrheitswidrig" des sexuellen Mißbrauchs bezichtigt habe: Diese Frage müsse offenblei-
ben. Hypothetisch müsse erwogen werden, daß der Mißbrauch zutreffend sei und die Zeugin sich nicht mehr in der Lage sehe, dies zu offenbaren (UA S. 74). Diese Würdigung läßt für sich gesehen besorgen, daß die Strafkammer die Frage einer bewußt wahrheitswidrigen Bezichtigung des Vaters in ihrer Bedeutung für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin im abgeurteilten Fall 4 der Anklage nicht hinreichend bedacht hat. Selbst wenn die Strafkammer meinte dahinstellen zu sollen, ob die Bezichtigung zutraf oder nicht, hätte sie im Rahmen einer Gesamtschau auch auf die Bedeutung dieses Vorgangs für die Beweiswürdigung im Fall 4 der Anklage eingehen müssen. Dabei hätte sie, wenn sie den anderweitigen Vorwurf der Zeugin gegen ihren Vater nicht meinte klären zu können, auch dessen Unwahrheit in Betracht ziehen und diese Möglichkeit in eine Gesamtbewertung der Beweislage einstellen müssen. Denn daraus hätten sich Zweifel an der Richtigkeit der Aussage im Fall 4 der Anklage ergeben können.
3. Auf diesen rechtserheblichen Erörterungsmängeln kann das angefochtene Urteil beruhen. Der Senat sieht sich angesichts der Besonderheiten des Falles und der ersichtlich schwierigen Beweissituation nicht in der Lage, diese Mängel auch bei verständiger Lesart der betroffenen Urteilsstellen und der Betrachtung des gesamten Urteilszusammenhanges teils lediglich als Fassungsmängel , teils als weniger bedeutsame Einzelheiten zu begreifen und für nicht durchgreifend zu erachten. Zwar standen der Strafkammer im Fall 4 der Anklage gewichtige Beweisanzeichen außerhalb der Aussage der Zeugin zur Verfügung, insbesondere der von der Gynäkologin zeitnah diagnostizierte achtförmige Blutschaum um Anus und Scheide, deren Verursachung bei einem
in der vorausgegangenen Nacht möglicherweise stattgefundenen einvernehmlichen Verkehr eher fernliegend erscheint. Der Senat vermag jedoch angesichts der übrigen substantiellen Bedenken gegen die Aussage der Zeugin, insbesondere der Detailarmut der Schilderung zum Kerngeschehen, nicht sicher auszuschließen, daß die Bewertung im Ergebnis hätte anders ausfallen können , wenn der Tatrichter die genannten Gesichtspunkte ausdrücklich in eine abschließende Würdigung aller Umstände mit einbezogen hätte und von einem zutreffenden Ansatz zur Prüfung der Motivationslage der Zeugin für eine etwaige Falschaussage ausgegangen wäre. Das gilt zumal auch im Blick darauf, daß die neben den aussagepsychologischen Sachverständigen hinzugezogene psychiatrische Sachverständige Dr. Bi. - wenngleich wohl auf die Erstaussage der Zeugin bezogen - ausgeführt hat, die Aussage "müsse nicht falsch" sein; nur lasse sich schwer trennen, inwieweit sie auf Erlebtem oder Nichterlebtem beruhe. Die Aussagen der Zeugin seien in Belastungssituationen nicht zuverlässig.
Nach allem muß die Sache zum Fall 4 der Anklage neu verhandelt und entschieden werden. Der neue Tatrichter wird naheliegender Weise wieder den Rat eines forensisch hocherfahrenen aussagepsychologischen Sachverständigen in Anspruch nehmen. Die im freisprechenden - und rechtskräftigen - Teil des Ersturteils enthaltenen Feststellungen sind für ihn nicht bindend (§ 358 Abs. 1 StPO; Meyer-Goßner StPO 46. Aufl. Einl. Rdn. 170 m.w.N.). RiBGH Dr. Boetticher ist wegen Urlaubs an der Unterschrift gehindert. Nack Nack Schluckebier Kolz Hebenstreit

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 488/10
vom
24. Februar 2011
in der Strafsache
gegen
wegen besonders schwerer Vergewaltigung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 24. Februar 2011 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kaiserslautern vom 18. Mai 2010 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er verurteilt worden ist. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen besonders schwerer Vergewaltigung, wegen gefährlicher Körperverletzung und wegen Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt; im Hinblick auf eine der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerung hat es drei Monate für vollstreckt erklärt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt und hinsichtlich des Falles II. 4 der Urteilsgründe das Fehlen einer Verfahrensvoraussetzung behauptet.
2
Das Rechtsmittel führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des Urteils im Umfang der Verurteilung; auf die Verfahrensrügen kommt es deshalb nicht an.
3
1. Entgegen der Auffassung der Revision fehlt es im Fall II. 4 der Urteilsgründe nicht an der Verfahrensvoraussetzung der Erhebung einer ordnungsgemäßen Anklage; insoweit nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift Bezug.
4
2. Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
5
Das Landgericht stützt die Verurteilung des Angeklagten, der die ihm zur Last gelegten Taten zum Nachteil der Zeugin M. bestreitet, auf die Bekundungen dieser Zeugin. Diese unterhielt im Zeitraum von Juni/Juli 2006 bis März 2007 eine sexuelle Beziehung mit dem Angeklagten. Obwohl die Zeugin Dritten - wie ihrem damaligen Arbeitgeber (UA 31) und ihrer Ärztin (UA 26) - von Misshandlungen durch den Angeklagten berichtete, hielt sie an der Beziehung fest und brachte dies mehrfach in an den Angeklagten gerichteten SMSNachrichten zum Ausdruck. Erst nachdem es am 29. März 2007 zu einer tätlichen Auseinandersetzung gekommen war, an der mehrere Personen beteiligt waren (UA 8), erstattete sie Anzeige wegen mehrerer körperlicher und sexueller Übergriffe des Angeklagten. Wegen vier der angeklagten acht Taten wurde der bestreitende Angeklagte verurteilt; im Übrigen wurde er freigesprochen.
6
a) In einem solchen Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht, muss sich der Tatrichter bewusst sein, dass die Aussage des einzigen Belastungszeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen ist, zumal der Angeklagte in solchen Fällen wenig Verteidigungsmöglichkeiten durch eigene Äußerungen besitzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Dies gilt besonders, wenn der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält oder der anfänglichen Schilderung weiterer Taten nicht gefolgt wird (vgl. nur BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158/159; Beschluss vom 16. Mai 2002 - 5 StR 136/02; vgl. auch Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 261 Rn. 11a; jeweils m.w.N.).
7
b) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht gerecht.
8
aa) Die Zeugin M. ist in der Hauptverhandlung in mehreren wesentlichen Punkten von ihrer polizeilichen Aussage abgewichen. So hat sie sich im Fall II. 1 der Urteilsgründe - anders als bei ihrer polizeilichen Vernehmung vom 24. Januar 2008 - nicht mehr daran erinnern können, von dem Angeklagten nach den ihr zugefügten Misshandlungen zum Geschlechtsverkehr gezwungen worden zu sein. Auch im Fall II. 2 der Urteilsgründe hat die Zeugin in der Hauptverhandlung zunächst nicht angeben können, ob sie vom Angeklagten, nachdem ihr dieser eine tiefe Schnittverletzung am Oberschenkel zugefügt hatte , zum Oralverkehr gezwungen wurde (UA 12). Erst auf Nachfrage hat sie diesen wesentlichen Geschehensteil wie in ihrer polizeilichen Vernehmung bestätigt.
9
Die mangelnde Konstanz hat das Landgericht zwar erkannt; es hat diese aber nicht nur mit natürlichen Vergessens- und Verdrängungsprozessen zu erklären versucht, sondern auch damit, dass für die Geschädigte die erlittenen Gewalttätigkeiten das weitaus größere Übel waren als der erzwungene Geschlechtsverkehr (UA 20-22). Letzteres steht im Widerspruch dazu, dass die Zeugin zu Fall 8 der Anklageschrift ebenfalls nicht konstant ausgesagt hat: In ihrer polizeilichen Vernehmung hatte sie eine massive Bedrohungssituation in einem Wald geschildert (UA 20), in der Hauptverhandlung konnte sie sich an eine Bedrohung mit einem Messer nicht mehr erinnern, sodass der Angeklagte von diesem Vorwurf freigesprochen wurde.
10
Darüber hinaus bestehen - worauf auch der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend hingewiesen hat - durchgreifende rechtliche Bedenken gegen die vom Landgericht bei der Konstanzanalyse vorgenommene Trennung zwischen körperlichen Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, wenn - wie hier in den Fällen II. 1 und 2 der Urteilsgründe - dem Angeklagten Taten zur Last gelegt werden, die von Misshandlungen und sexueller Gewalt gleichermaßen geprägt sind.
11
bb) Die Beweiswürdigung zu Fall II. 4 der Urteilsgründe erweist sich als widersprüchlich und lückenhaft.
12
Das Landgericht hat es als erwiesen angesehen, dass der Angeklagte der Zeugin M. im September 2006 durch einen Faustschlag ein Hämatom am rechten Augapfel beigebracht hat. Es stützt sich auf die Aussage der Zeugin , wonach sie auf Grund von Schlägen des Angeklagten dreimal ein "blaues Auge" gehabt habe (UA 12). Diese Aussage sieht es bestätigt durch die Zeugenaussage der behandelnden Ärztin, diese habe bekundet, "dass die Geschädigte von sich aus, spontan und unter Tränen offenbart hat, dass das blaue Auge von ihrem Freund stammt" (UA 27). Auf UA 26 ist die Aussage der sachverständigen Zeugin zu dem von dieser am 18. September 2006 festgestellten Monokel-Hämatom anders wiedergegeben. Dort heißt es, dass die Geschädigte , auch auf Nachfrage, zu der Verletzung nichts gesagt habe. Diesen Widerspruch löst das Landgericht nicht auf.
13
Die Beweiswürdigung ist zudem auch lückenhaft. Das Landgericht hält die Bekundungen zweier Zeugen für glaubhaft, die angegeben haben, die Zeugin M. habe ihnen gegenüber in Gegenwart des Angeklagten ihren Bruder als Verursacher des "blauen Auges" benannt; es meint jedoch, dass die Zeugin zu jenem Zeitpunkt unter großem Druck gestanden und deshalb einen falschen Verursacher benannt habe (UA 28). Im Urteil wird nicht mitgeteilt, was die Zeugin selbst dazu bekundet hat.
14
cc) Lückenhaft sind schließlich auch die Feststellungen zur Aussageentstehung. Das Landgericht teilt nur mit, dass die Anzeige nach einer tätlichen Auseinandersetzung erfolgte, an der die Zeugin M. , ihr Bruder und der Zeuge W. auf der einen sowie der Angeklagte und sein Vater auf der anderen Seite beteiligt waren. Nähere Umstände zum Kampfgeschehen und zu etwaigen Verletzten enthält das Urteil nicht, allerdings ist ihm zu entnehmen, dass sich der Angeklagte dabei nicht ausschließbar in einer Notwehrsituation befunden hat (UA 38/39). Für eine mögliche Falschbelastungsmotivation ist eine eingehende Auseinandersetzung mit den Umständen und Folgen der Schlägerei erforderlich.
15
3. Die Sache bedarf daher erneuter tatrichterlicher Prüfung, da nicht auszuschließen ist, dass sich ergänzende Feststellungen treffen lassen, die eine Verurteilung des Angeklagten tragen.
16
a) Der neu entscheidende Tatrichter wird sich bei der Prüfung der Glaubwürdigkeit der Zeugin M. auch mit den Anklagevorwürfen zu befassen haben, von denen der Angeklagte freigesprochen worden ist. Zwar sind die in dem angefochtenen Urteil dazu getroffenen Feststellungen bindend, es be- steht aber keine Bindung an die vom Landgericht vorgenommene Bewertung der Bekundungen der Zeugin.
17
b) Sollte sich im Fall II. 3 der Urteilsgründe eine Körperverletzungshandlung feststellen lassen, wird das Gericht genauere Feststellungen zu dem dabei benutzten Gegenstand zu treffen haben. Ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB liegt nur dann vor, wenn der Gegenstand nach seiner Beschaffenheit und nach der Art seiner Benutzung im Einzelfall geeignet ist, erhebliche Verletzungen herbeizuführen (vgl. Fischer, StGB, 58. Aufl., § 224 Rn. 9 m.w.N.).
18
c) Mit Blick auf die Ausführungen UA 43 bemerkt der Senat, dass ein Härteausgleich nicht veranlasst ist, wenn eine Geldstrafe wegen vollständiger Bezahlung nicht mehr in eine Gesamtfreiheitsstrafe einbezogen werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2003 - 2 StR 328/03, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 13).
Ernemann Solin-Stojanović Cierniak
Franke Mutzbauer
5 StR 15/12

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 22. Mai 2012
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. Mai 2012

beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bremen vom 20. Juni 2011 mit den Feststellungen aufgehoben (§ 349 Abs. 4 StPO).
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten – unter Freispruch im Übrigen – wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und angeordnet, dass sechs Monate der verhängten Freiheitsstrafe wegen erheblicher rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als bereits vollstreckt gelten. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.
2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte die Nebenklägerin, seine leibliche Tochter, zwischen ihrem achten Geburtstag im Februar 1997 und seinem Auszug aus der Familienwohnung Ende Dezember 1999 in einer Reihe von Fällen sexuell missbraucht, von denen drei Taten näher konkretisiert werden konnten (Tat 1: Berührung des unbedeckten Geschlechtsteils des Kindes mit einem Vibrator; Tat 2: orale Stimulation des Kindes; Tat 3: gegenseitiger Oralverkehr). Von den Vorwürfen weiterer sexueller Missbräuche hat das Landgericht den Angeklagten mangels Individuali- sierbarkeit weiterer Vorfälle oder mangels feststellbarer Erheblichkeit der sexuellen Handlungen (§ 184g Nr. 1 StGB) freigesprochen.
3
Die Nebenklägerin erstattete im Jahre 2006 Anzeige gegen den Angeklagten. Im März 2008 beauftragte die Staatsanwaltschaft eine psychologische Sachverständige mit der Erstattung eines aussagepsychologischen Gutachtens, nach dessen Eingang im November 2008 Anklage erhoben wurde. Im Januar 2011 erließ das Landgericht einen Eröffnungsbeschluss. Im Hinblick auf die nicht hinreichende Förderung des Verfahrens im Ermittlungs - und im Zwischenverfahren hat die Strafkammer – insoweit rechtsfehlerfrei und mit für sich nicht beanstandenswerten rechtlichen Folgerungen – eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von insgesamt dreieinhalb Jahren festgestellt.
4
2. Die durch das Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
5
Im Fall 3 referiert das Landgericht lediglich die Einschätzung der von der Staatsanwaltschaft bereits im Ermittlungsverfahren beauftragten und in der Hauptverhandlung angehörten aussagepsychologischen Sachverständigen , dass sie hinsichtlich der Bekundungen der Nebenklägerin zu dieser Tat die Feststellung einer Erlebnisfundierung nicht treffen könne, da die Aussage insoweit nicht detailliert genug sei. Wenn die Strafkammer dessen ungeachtet der Aussage der Nebenklägerin auch hinsichtlich dieses Tatvorwurfs folgt, muss sie die Einwände der Sachverständigen deutlich machen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Strafkammer ihrer Beweiswürdigung das von ihr für nachvollziehbar, widerspruchsfrei und aktuellen wissenschaftlichen Anforderungen genügend gehaltene Sachverständigengutachten nicht zugrunde gelegt hat, nachdem sie zuvor einen Antrag der Verteidigung auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens unter Hinweis auf eigene Sachkunde (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO) abgelehnt hatte. Angesichts der vorliegenden Aussage-gegen- Aussage-Konstellation hätte das Landgericht im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung alle möglicherweise entscheidungsbeeinflussenden Umstände , so auch den genannten, in seine Überlegung einbeziehen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158 f., Beschlüsse vom 16. Juli 2009 – 5 StR 84/09 – und vom 27. April 2010 – 5 StR127/10, jeweils mwN). Der Rechtsfehler kann Auswirkungen auf die Beurteilung der Erlebnisbegründetheit der auch im Übrigen knappen Bekundungen der Nebenklägerin haben. Der Senat hebt deshalb das Urteil insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht eine umfassende Beweiswürdigung zu ermöglichen.
6
3. Auf die von der Revision erhobene Verfahrensrüge kommt es mithin nicht mehr an. Sie gibt dem Senat allerdings Anlass zu dem Hinweis, dass die gerügte Behandlung des auf die substantiierte Darlegung methodischer Mängel des Glaubhaftigkeitsgutachtens gestützten Antrags der Verteidigung auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens bedenklich war. Nachdem die von der Staatsanwaltschaft hier durchaus sachgerecht beauftragte Gutachterin in der Hauptverhandlung als Sachverständige und nicht lediglich als Zeugin gehört worden war und das Landgericht deren Ausführungen ausweislich der Urteilsgründe für überzeugend erachtet hat, war nicht auszuschließen, dass sich diese auf die Beweiswürdigung des Landgerichts auswirken würden. Dies begründete wiederum die Gefahr, dass etwaige methodische Mängel des Gutachtens die Beweiswürdigung der Strafkammer beeinflussen könnten. Deswegen war es für sie angezeigt, sich in ihrem auf § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO gestützten Ablehnungsbeschluss mit den von der Verteidigung behaupteten Mängeln des Gutachtens auseinanderzusetzen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 27. Januar 2010 – 2 StR 535/09, BGHSt 55,

5).


7
4. Der Senat weist darauf hin, dass – entsprechend der Stellungnahme des Generalbundesanwalts – eine Verurteilung wegen jeweils tateinheitlich begangenen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen nicht mehr erfolgen kann, weil insoweit Verjährung eingetreten ist (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2004 – 4 StR 165/04, BGHR StGB § 78b Abs. 1 Ruhen 12). Die Vorschrift des § 174 StGB wurde erst mit Wirkung zum 1. April 2004 in den Katalog des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB aufgenommen. Die Regelung gilt rückwirkend nur für vor dem 1. April 2004 begangene Taten, die bis dahin nicht verjährt waren. Indes waren die zwischen dem 27. Februar 1997 und möglicherweise nur bis März 1999 begangenen Taten in diesem Zeitpunkt, der vor der Anzeigeerstattung lag, bereits verjährt.
8
5. Da die Revision des Angeklagten zu einer Aufhebung und Zurückverweisung der Sache nach § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO führt, wird seine Kostenbeschwerde gegenstandslos (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 464 Rn. 20).
Basdorf Schaal Schneider König Bellay
5 StR 181/12

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 19. Juni 2012
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. Juni 2012

beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 15. Dezember 2011 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen schuldig gesprochen und ihn unter Einbeziehung der durch das Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 2. November 2010 wegen Unterhaltspflichtverletzung in zwei Fällen verhängten Einzelfreiheitsstrafen von jeweils zwei Monaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt sowie angeordnet, dass von der Gesamtfreiheitsstrafe drei Monate als vollstreckt gelten. Vom Vorwurf weiterer sechs Fälle des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen hat es den Angeklagten freigesprochen. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten führt zur Aufhebung des Urteils, soweit er verurteilt worden ist.
2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts besuchte die am 6. Juni 1997 geborene Nebenklägerin, Tochter aus der ersten Ehe des Angeklagten , diesen an einem Wochenende im September 2008 gemeinsam mit ih- rem Bruder in seiner Wohnung. Zu dieser Zeit befand sich die zweite Ehefrau des Angeklagten in Marokko. Während der Junge im Wohnzimmer an seinem Computer beschäftigt war, legten sich der Angeklagte und seine Tochter im Elternschlafzimmer im Doppelbett schlafen. Als diese bereits eingeschlafen war, schob der Angeklagte seine Hand unter ihre Unterwäsche und berührte sie mit seinen Fingern im Scheidenbereich. Als sie wach wurde, zog er seine Hand schnell zurück.
3
Von dem Vorwurf, die Nebenklägerin im Tatzeitraum Juni 2006 bis Februar 2010 in mindestens fünf weiteren Fällen in seinen jeweiligen Wohnungen unter ihrer Oberbekleidung an den Brüsten berührt zu haben, wobei sie in mindestens drei dieser Fälle das erigierte Glied des Angeklagten an ihren Schenkeln spürte, hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen , da es unter Berücksichtigung der grundsätzlich für glaubhaft erachteten Angaben der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung „nicht die erforder- liche Konkretisierung vornehmen“ konnte (UA S. 25). Darüber hinaus hat die Jugendschutzkammer den Angeklagten auch von dem weiteren Vorwurf freigesprochen , im Tatzeitraum Januar 2008 bis Januar 2010 anlässlich eines spielerischen Gerangels sein bedecktes Geschlechtsteil an der Scheide der ebenfalls bekleideten Geschädigten gerieben zu haben, da sie sich aufgrund der Hauptverhandlung nicht mit hinreichender Sicherheit überzeugen konnte, „dass dieser Vorfall so stattgefunden hat. Zugunsten des Angeklagten konnte nicht ausgeschlossen werden, dass die Nebenklägerin dieses Verhalten des Angeklagten falsch interpretiert haben kann“ (UA S. 9).
4
Im Ergebnis seiner Prüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin hat das Landgericht „keinerlei Zweifel daran, dass sich die Tathandlung sowie die übrigen sexuellen Übergriffe des Angeklagten zum Nach- teil der Nebenklägerin so abspielten wie im Sachverhalt festgestellt“ (UA S. 18). Es weicht damit von der Beurteilung der aussagepsychologischen Gutachterin ab, die – entgegen ihrem schriftlichen Gutachten – „im Hinblick auf das Aussagematerial der Nebenklägerin im Rahmen der Hauptverhand- lung“ (UAS. 18) nicht mehr zu dem Ergebnis gelangte, dass deren Bekundungen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisfundiert seien. In der Hauptverhandlung habe sich die „Qualität des Aussagematerials“ reduziert.
5
2. Die Beweiswürdigung hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Das Landgericht hat seine Überzeugung vom Tathergang und der Täterschaft des die Taten bestreitenden Angeklagten alleine auf die Angaben der Nebenklägerin gestützt. Es weist zwar auf die besonderen, an diese Beweiskonstellation zu stellenden Anforderungen hin (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. April 1987 – 3 StR 141/87 – und vom 18. Juni 1997 – 2 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1 und 14); gleichwohl genügen die Urteilsgründe diesen Anforderungen nicht. Sie machen vielmehr nicht in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise deutlich, dass die Jugendschutzkammer alle zur Beeinflussung der Entscheidung geeigneten Umstände in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise in die Überzeugungsbildung einbezogen hat.
6
a) Zwar ist das Tatgericht nicht gehalten, einem Sachverständigen zu folgen. Kommt es aber zu einem anderen Ergebnis, so muss es sich konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen, um zu belegen , dass es über das bessere Fachwissen verfügt (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juni 2001 – 1 StR 190/01). Es muss insbesondere auch dessen Stellungnahme zu den Gesichtspunkten wiedergeben, auf die es seine abweichende Auffassung stützt (BGH, Urteil vom 20. Juni 2000 – 5 StR 173/00, NStZ 2000, 550). Aus den im Urteil wiedergegebenen Ausführungen der Sachverständigen wird deutlich, weshalb sie von einer Reduzierung der „Qualität des Aussagematerials“ in der Hauptverhandlung ausgegangen ist, aufgrund derer sie nicht mehr an ihrer Einschätzung im schriftlichen Gutachten festhalten könne (UA S. 19). Die Mutmaßung der Sachverständigen, das Aussageverhalten der Nebenklägerin könne „aufgrund des großen Zeitintervalls“ zwischen polizeilicher Vernehmung und Exploration einerseits und Hauptverhandlung andererseits oder mit dem schwierigen Lebensabschnitt erklärbar sein, in dem sich die Nebenklägerin befinde, ändert nichts an der – ineinem unaufgelösten Widerspruch zitierten – Wertung der Sachverstän- digen, dass die Reduktion des Aussagematerials mit gutachterlichen Methoden nicht durch Vergessensprozesse erklärt werden könne.
7
Die Jugendschutzkammer stellt dieser Würdigung der Sachverständigen eine eigene Beweiswürdigung gegenüber, ohne sich dabei aber mit der von der Sachverständigen festgestellten Reduzierung der Aussagequalität der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung auseinanderzusetzen. Jedenfalls in den Fällen, in denen die Aussage des Tatopfers das einzige Beweismittel ist, hat das Tatgericht eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung unter Berücksichtigung der aussagepsychologischen Glaubwürdigkeitskriterien vorzunehmen (Brause, NStZ 2007, 505, 506). Das Landgericht beruft sich insoweit darauf, dass es anders als die Sachverständige die Frage der Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin nicht aufgrund aussagepsychologischer Instrumentarien zu entscheiden habe, sondern nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO). Indes hatte das Landgericht dabei aussagepsychologische Glaubwürdigkeitskriterien zu beachten; es hat diese in verschiedenen Bereichen auch selbst angewendet. Bei seiner Prüfung, die demnach substantiell denselben Kriterien zu folgen hatte wie diejenige der Sachverständigen, musste es sich mit deren Einwänden auseinandersetzen.
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b) Das Landgericht stützt seine Beweiswürdigung vor allem auf das sachliche und keine überschießende Belastungstendenz zeigende Aussageverhalten der Geschädigten, das Fehlen von Falschbelastungsmotiven, die spontane Offenbarung des Geschehens zunächst gegenüber Freundinnen und die Schilderung „sehr origineller Details“ (UA S. 21, 23). Insoweit werden allerdings nur zwei Details genannt, die gerade nicht den Verurteilungsfall betreffen. Überdies bezieht sich eines dieser Details (der Angeklagte habe anlässlich eines sexuellen Übergriffs ihr gegenüber geäußert, nicht er, sondern der Fuß der zwischen den beiden im Bett liegenden kleinen Halbschwester habe sie im Genitalbereich berührt) auf einen Vorfall, bei dem sich – jedenfalls nach der nachvollziehbaren Auffassung der Sachverständigen, der das Landgericht insoweit nicht widerspricht – nicht ausschließen lässt, dass es hier zu einer Fehlinterpretation der Nebenklägerin gekommen ist. Darüber hinaus sind die Schilderungen der Nebenklägerin zu diesem Vorfall an verschiedenen Stellen des Urteils unterschiedlich wiedergegeben („sie habe dann bemerkt, dass ihr Vater mit seinem Penis sie in ihrem Genitalbe- reich berührt habe“, UA S. 16; anlässlich eines Vorfalls, bei dem sie mit dem Angeklagten und ihrer kleinen Halbschwester im Ehebett lag, habe sie „et- was festes“ an ihrem Oberschenkel gespürt, was sie als den Penis des Angeklagten interpretierte, UA S. 25). Ob insoweit eine Inkonstanz der Angaben der Nebenklägerin vorlag, mit der sich das Urteil hätte auseinandersetzen müssen, bleibt unklar.
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c) Die Jugendschutzkammer befasst sich mit verschiedenen Mängeln der Zeugenaussage (Probleme bei der zeitlichen Einordnung der Taten, Widersprüche hinsichtlich des Tatorts) und erklärt diese – ohne Rücksicht auf die Einschätzung der Sachverständigen – im Ergebnis mit Vergessens- und Verschmelzungsprozessen. Die von der Nebenklägerin abgegebene inkonstante Schilderung hinsichtlich eines Eindringens des Angeklagten mit dem Finger in ihre Scheide führt die Jugendschutzkammer auf Schwierigkeiten der Nebenklägerin hinsichtlich sexueller Begrifflichkeiten zurück. Indes befasst sich das Urteil in keiner Weise mit der Bekundung der Mutter der Nebenklägerin , diese habe ihr unter anderem mitgeteilt, der Angeklagte habe „sein ‚Ding‘ bei ihr reingemacht“ (UA S. 13). Eine solche Darstellung der Ne- benklägerin gegenüber ihrer Mutter wäre kaum mit mangelnden Begrifflichkeiten zu erklären. Die Beweiswürdigung der Jugendschutzkammer ist mithin auch insoweit lückenhaft.
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d) Ohne dass dies den Angeklagten für sich beschwert, bleibt die Beweiswürdigung auch in ihrer Gesamtheit widersprüchlich, weil kaum erklärlich ist, weshalb das Landgericht bei seiner insgesamt positiven Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin hinsichtlich der weiteren Tatvorwürfe nicht zu Mindestfeststellungen gelangt ist, die insoweit einer umfassenden Freisprechung entgegengestanden hätten.
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3. Das angefochtene Urteil war demnach insgesamt aufzuheben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Wenngleich der Teilfreispruch Bestand hat, wird das neue Tatgericht allein zur Überprüfung des einzigen verbleibenden Anklagevorwurfs den Wahrheitsgehalt der belastenden Angaben der Nebenklägerin in ihrer Gesamtheit zu überprüfen haben. Die Aufhebung umfasst notwendigerweise auch die Kompensationsentscheidung, für die das Urteil keinerlei Begründung gibt.
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