Bundesgerichtshof Beschluss, 04. Feb. 2016 - 4 StR 266/15

bei uns veröffentlicht am04.02.2016

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 266/15
vom
4. Februar 2016
in der Strafsache
gegen
wegen Misshandlung eines Schutzbefohlenen
ECLI:DE:BGH:2016:040216B4STR266.15.0

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 4. Februar 2016 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 13. Februar 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen zu der Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.


2
Nach den Feststellungen lebte der Angeklagte zusammen mit seiner Verlobten und dem gemeinsamen am 5. Dezember 2011 geborenen Sohn J. in einer Wohnung. Die Versorgung des Kindes übernahmen arbeitsteilig ausschließlich beide Elternteile. Das Kind wurde öfter misshandelt, so dass es ältere Verletzungen in Form von sichtbaren Prellungen aufwies. Welcher Elternteil dem Kind welche Verletzungen zugefügt hatte, hat nicht festgestellt werden können. Sicher ist jedoch, dass sowohl die Mutter als auch der Angeklagte wussten, dass das Kind Verletzungen durch elterliche Misshandlungen erlitten hatte.
3
Am Abend des 11. April 2012 erhielten der Angeklagte und seine Verlobte Besuch von einem Bekannten, mit dem sie gemeinsam im Wohnzimmer die Fernsehübertragung eines Fußballspiels anschauten. Gegen 22.30 Uhr wurde das Kind ins Bett gebracht. Nach 23.30 Uhr, als der Angeklagte von der Toilette kommend sich anschickte, das Wohnzimmer wieder zu betreten, machteJ. durch Geräusche auf sich aufmerksam, worauf beide Elternteile gemeinsam in das Kinderzimmer gingen, um nach dem Kind zu sehen. Kurz darauf ertönte aus dem Kinderzimmer ein krachendes Geräusch. Die Strafkammer geht zugunsten des Angeklagten davon aus, dass bei dem im Kinderzimmer befindlichen Kinderbett drei der vier Fixierungen des Lattenrostes aus dem Rahmen gebrochen waren, was zur Folge hatte, dass der sich auf die Bettumrandung stützende Angeklagte mit den Händen auf den Kopfbereich von J. stürzte und dies bei dem Kind zu Hämatomen am Kopf, einer Einblutung an der Zunge sowie einer Quetsch-Rissverletzung unter dem Auge führte. Wenige Minuten später, gegen 23.45 Uhr, als beide Elternteile sich noch gemeinsam im Kinderzimmer befanden, wurde das Kind von einem Elternteil für den anderen erkennbar über einen Zeitraum von mindestens fünf bis zehn Sekunden heftig geschüttelt. Die Strafkammer, die nicht hat feststellen können, wer aktiv handelte , geht zugunsten des Angeklagten davon aus, dass das Schütteln durch die Mutter erfolgte. Der Angeklagte erkannte aber zumindest die Verletzungshand- lung an dem Kind. Es war ihm bewusst, dass es durch das rohe Schütteln erheblich verletzt werden wird, und er hatte auch die Möglichkeit, durch ein schnelles Eingreifen die Tat zu verhindern. Es kam ihm darauf an, dass das Kind aufhört zu schreien und er selbst wieder seine Ruhe hat.
4
J. hörte unmittelbar nach dem Schütteln auf zu schreien, er röchelte und es stellten sich Atemaussetzer ein. Die Mutter kam mit dem Kind auf dem Arm in Begleitung des Angeklagten aus dem Kinderzimmer zurück ins Wohnzimmer. Beide Eltern schwiegen und zeigten sich betroffen. Anschließend alarmierte der Bekannte auf Aufforderung des Angeklagten den Notarzt, der das Kind ins Krankenhaus verbrachte. Bei einer am Folgetag durchgeführten rechtsmedizinischen Untersuchung des Kindes wurden neben alten Hämatomen u.a. eine Knochenhautabhebung am rechten Oberarmknochen, ein Kortikalisdefekt an der linken Elle, massive ubiquitäre zirkumskripte Blutungen in der Netzhaut und chronische subdurale Hämatome mit frischen Anteilen festgestellt. Die Verletzungen sind zwischenzeitlich ohne dauerhafte Schädigung ausgeheilt.
5
Das Landgericht sieht den Tatbestand des § 225 Abs. 1 StGB in der Alternative des rohen Misshandelns durch Unterlassen verwirklicht und stützt die rechtliche Bewertung darauf, dem Angeklagten als Beschützergarant sei aus den Vorverletzungen bekannt gewesen, dass das Kind entweder durch ihn selbst oder die Mutter misshandelt worden sei, wobei ihm aus beiden Varianten eine besondere Fürsorgepflicht erwachsen sei. Zumindest sei dem Angeklagten eine schadensabwendende Intervention gegenüber der Mutter möglich gewesen , weil er sich in unmittelbarer Nähe des Tatgeschehens befunden und es unmittelbar mitbekommen habe.

II.


6
Die Verurteilung hat keinen Bestand.
7
Der Tatbestand des § 225 Abs. 1 StGB kann in den Tatalternativen des Quälens und des rohen Misshandelns auch durch Unterlassen verwirklicht werden (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 1991 - 4 StR 560/90, NStZ 1991, 234). Das Landgericht ist daher im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass in Fällen, in denen nicht festgestellt werden kann, wer von beiden Elternteilen die Misshandlung zum Nachteil des gemeinsamen Kindes vornahm, in Anwendung des Zweifelssatzes eine Strafbarkeit wegen Unterlassungstäterschaft in Betracht kommt (vgl. BGH, Urteil vom 3. Juli 2003 - 4 StR 190/03, NStZ 2004, 94; Beschluss vom 21. November 2002 - 4 StR 444/02, FamRZ 2003, 450). Die Erwägungen, mit denen die Strafkammer eine Handlungspflicht des Angeklagten angenommen und die für ihn bestehende Möglichkeit der Erfolgsabwendung bejaht hat, halten indes einer rechtlichen Prüfung nicht stand.
8
1. Soweit die Strafkammer die Pflicht des Angeklagten, zum Schutz seines Sohnes tätig zu werden, auf dessen Kenntnis von früheren elterlichen Misshandlungen gestützt hat, hat sie übersehen, dass eine solche Handlungspflicht des Angeklagten nur existierte, falls die früheren Misshandlungen durch die Mutter des Kindes begangen worden waren. In diesem Fall hätte der Angeklagte bereits im Vorfeld der neuerlichen Gewalttat durch die Mutter geeignete Maßnahmen ergreifen müssen, um weitere drohende Übergriffe von dem Kind abzuwenden (vgl. BGH, Urteil vom 3. Juli 2003 - 4 StR 190/03 aaO; Beschluss vom 21. November 2002 - 4 StR 444/02 aaO; Urteil vom 30. März 1995 - 4 StR 768/94, BGHSt 41, 113, 117). Hatte dagegen der Angeklagte selbst die früheren Misshandlungen vorgenommen, bestand für ihn keine Verpflichtung, seinen Sohn vor der Mutter zu schützen, da nach seinem Kenntnisstand von ihr keine Gefahren für das Kind ausgingen (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juli 2002 - 3 StR 64/02). Von welchem Elternteil die dem Tatgeschehen vorausgegangenen Übergriffe zum Nachteil des gemeinsamen Sohnes verübt worden waren, hat das Landgericht aber gerade nicht feststellen können.
9
2. Auch den Erwägungen, mit denen die Strafkammer die Pflicht und die Möglichkeit der Erfolgsabwendung aus dem konkreten Tatgeschehen abgeleitet hat, begegnen durchgreifende rechtliche Bedenken. Denn für die Feststellung, wonach der Angeklagte die Verletzungshandlung an J. erkannte und die Möglichkeit hatte, die Tat durch schnelles Eingreifen zu verhindern, fehlt im Rahmen der Ausführungen zur Beweiswürdigung jede Begründung, so dass nicht nachvollzogen werden kann, auf welcher Tatsachengrundlage der Tatrichter zu seiner Überzeugung gelangt ist. Dass der Angeklagte das - zu seinen Gunsten angenommen nur fünf Sekunden dauernde - Verletzungsgeschehen unmittelbar mitbekam und noch rechtzeitig hätte eingreifen können, versteht sich auch angesichts des Umstands, dass sich beide Elternteile in dem übersichtlich möblierten Kinderzimmer aufhielten, nicht von selbst, zumal der Aufenthalt ca. 15 Minuten dauerte und es vor dem eigentlichen Tatgeschehen zu der Beschädigung des Kinderbettes kam.
Sost-Scheible RinBGH Roggenbuck ist urlaubs- Cierniak bedingt abwesend und deshalb gehindert zu unterschreiben. Sost-Scheible
Franke Bender

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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 225 Mißhandlung von Schutzbefohlenen


(1) Wer eine Person unter achtzehn Jahren oder eine wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit wehrlose Person, die 1. seiner Fürsorge oder Obhut untersteht,2. seinem Hausstand angehört,3. von dem Fürsorgepflichtigen seiner Gewalt überlassen worden oder4.

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Wer eine Person unter achtzehn Jahren oder eine wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit wehrlose Person, die

1.
seiner Fürsorge oder Obhut untersteht,
2.
seinem Hausstand angehört,
3.
von dem Fürsorgepflichtigen seiner Gewalt überlassen worden oder
4.
ihm im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist,
quält oder roh mißhandelt, oder wer durch böswillige Vernachlässigung seiner Pflicht, für sie zu sorgen, sie an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.

(2) Der Versuch ist strafbar.

(3) Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn der Täter die schutzbefohlene Person durch die Tat in die Gefahr

1.
des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung oder
2.
einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung
bringt.

(4) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 ist auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 3 auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 190/03
vom
3. Juli 2003
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Verdachts der Mißhandlung einer Schutzbefohlenen u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 3. Juli 2003,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richter am Bundesgerichtshof
Maatz,
Athing,
Dr. Ernemann,
Richterin am Bundesgerichtshof
Sost-Scheible
als beisitzende Richter,
Richter am Landgericht
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger der Angeklagten ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger des Angeklagten ,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Halle/Saale vom 29. Oktober 2002 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entschei- dung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


Das Landgericht hat die beiden Angeklagten vom Vorwurf der Mißhandlung einer Schutzbefohlenen freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihren Revisionen, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Die Rechtsmittel haben Erfolg.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
Die beiden Angeklagten sind die leiblichen Eltern des am 13. November 2000 geborenen Kindes Michelle P. und betreuten es gemeinsam, bis es Ende Januar 2001 aufgrund der verfahrensgegenständlichen Vorfälle in die Obhut von Pflegeeltern gegeben wurde. Im Zeitraum nach der Entlassung aus der Entbindungsklinik bis zum 22. Januar 2001 wurde das Kind Opfer vielfacher Mißhandlungen durch einen der Angeklagten.
Bereits am 25. Dezember 2000 wurde das Kind wegen auffälligen Schreiens in die Notfallambulanz des Klinikums Zeitz gebracht. Zwar stellte dort ein Arzt lediglich eine leichte Schwellung am linken Bein fest. Tatsächlich ergab aber eine spätere Röntgendiagnose im unteren Bereich des Unterschenkels eine Kantenabsprengung, wie sie typischerweise durch ein Verdrehungstrauma entsteht, indem der Täter mit einer Hand das Becken des Kindes fixiert und mit der anderen das Bein verdreht, bis es zum Bruch kommt. Am 10. Januar 2001 erschien die Angeklagte mit dem Kind bei der behandelnden Kinderärztin N. , die im Gesicht und auf der Brust fingerkuppengroße Hämatome feststellte, worauf die Angeklagte - ohne daß die Ärztin bis dahin einen Verdacht geäußert hatte - sogleich erklärte, "sie würden ihr Kind nicht mißhandeln". Die Angeklagten wechselten nunmehr den Kinderarzt und suchten gemeinsam am 15. Januar 2001 mit dem Kind den Arzt Dr. P. auf. Dieser bemerkte im Halsbereich des Säuglings 1 bis 3 cm lange, bereits verschorfte Kratz- und Rißwunden, ein Hämatom am Kinn bzw. Unterkiefer und mehrere Hämatome auf der linken Thoraxseite. Darüber hinaus stellte Dr. P. eine etwa ein bis 2 Tage alte Verletzung des Zungenbändchens fest, wie sie beim Füttern entstehen kann, wenn der Löffel bzw. die Saugflasche zu grob in den Mund des Kindes gedrückt wird. Bei dem weiteren Arztbesuch der angeklagten Kindesmutter am 22. Januar 2001 stellte Dr. P. ein frisches münzgroßes Hämatom rechts an der Stirn und am linken Bein eine "teigige Verdickung" fest, die den Verdacht auf eine geschlossene Fraktur ergab. Im weiteren Verlauf des Tages trat bei dem Kind ein Atemstillstand ein. Die von der Angeklagten telefonisch herbeigerufene Notärztin veranlaßte die Einweisung des Säuglings in die Kinderklinik. Michelle war bei ihrem Eintreffen dort in einem lebensbedrohlichen Zustand. An äußeren Verletzungen stellte man eine blutverkrustete Nase, das lädierte Zungenbändchen, Hämatome im Gesicht, zahlreiche ältere Narben
am Hals und fünf Hämatome im Brustbereich fest. Darüber hinaus fanden sich im Brustkorbbereich und an beiden Unterschenkeln knöcherne Verdickungen. Die noch am selben Tage gefertigten Röntgenaufnahmen ergaben eine etwa 8 bis 10 Tage alte Rippenserienfraktur rechts, etwa 3 bis 4 Wochen alte Frakturen beider Schienbeine sowie eine glatte, etwa eine Woche alte Schaftfraktur des kompletten linken Unterarms. Darüber hinaus wurden in der Universitätskinderklinik , in die das Mädchen wegen des Verdachts einer Blutung in die Schädelhöhle am 23. Januar 2001 verlegt wurde, nicht ganz frische Netzhautblutungen festgestellt, wie sie typischerweise bei Kindesmißhandlungen durch heftiges Schütteln (shaken-baby) entstehen, ferner am Anus ein Einriß, am Scheideneingang ein etwa 2 bis 3 Tage alter Riß sowie an beiden Oberschenkelknochen eine metaphysäre Kantenaussprengung. Der Bruch des linken Unterarms war entweder dadurch entstanden, daß mit einem Gegenstand unter großem Druck auf den Arm eingewirkt oder der Arm gegen einen Gegenstand gedrückt wurde. Die Verletzungen im Anal- und Vaginalbereich sind auf das Einführen eines kantigen Gegenstandes zurückzuführen.
2. Die Angeklagten haben sich weder zur Person noch zur Sache eingelassen. Ohne Rechtsfehler hat sich das sachverständig beratene Landgericht aber die Überzeugung verschafft, daß die festgestellten Verletzungen die Folge massiver Mißhandlungen sind, für die nur die beiden Angeklagten als Täter in Betracht kommen. Zutreffend hat das Landgericht auch zumindest das Beibringen der Frakturen und das Zufügen der Verletzungen im Anal- und Genitalbereich als rohe Mißhandlungen im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB gewertet. An einer Verurteilung der Angeklagten hat es sich jedoch deshalb gehindert gesehen, weil es nicht festzustellen vermocht hat, welcher der beiden Angeklagten der aktiv handelnde Täter war und dem Kind die Verletzungen beige-
bracht hat. Auch sei nicht festzustellen, daß der nicht aktive Elternteil im Zeitpunkt , als er Kenntnis von einer Mißhandlung des Kindes erlangte, Anlaß zu der Annahme hatte, das Kind werde auch in Zukunft im Sinne von § 225 Abs. 1 StGB gequält oder roh mißhandelt werden. An einer Verurteilung der Angeklagten wegen Körperverletzung, begangen durch Unterlassen, hat sich das Landgericht mangels Strafantrags gehindert gesehen.
3. Der Freispruch hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht allerdings zu Gunsten eines jeden der beiden Angeklagten angenommen, daß jeweils der andere der aktiv handelnde Täter war, und deshalb eine Strafbarkeit nur wegen Unterlassungstäterschaft (§ 13 Abs. 1 StGB) geprüft, die hinsichtlich sämtlicher Tatbestandsalternativen des § 225 Abs. 1 StGB in Betracht kommt (vgl. Tröndle /Fischer StGB 51. Aufl. § 225 Rdn. 8 m.N.). Zu Recht beanstandet die Beschwerdeführerin aber, daß das Landgericht den festgestellten Sachverhalt nicht erschöpfend gewürdigt und sich deshalb den Blick für die für beide Angeklagten in Betracht kommende Tatbestandserfüllung verstellt hat.

a) Das Kind Michelle ist durch den aktiv handelnden Täter im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB sowohl gequält als auch roh mißhandelt worden. Quälen bedeutet das Verursachen länger dauernder oder sich wiederholender Schmerzen, wobei dieses Tatbestandsmerkmal typischerweise durch Vornahme mehrerer Handlungen verwirklicht wird und gerade die ständige Wiederholung für sich den besonderen Unrechtsgehalt dieser Form der Körperverletzung auszeichnet (vgl. BGHSt 41, 113, 115). „Roh“ ist eine Mißhandlung im Sinne des Tatbestandes, wenn sie aus einer gefühllosen gegen die Leiden des Op-
fers gleichgültigen Gesinnung heraus erfolgt, wobei die Gefühllosigkeit keine dauernde Charaktereigenschaft zu sein braucht (vgl. BGHSt 3, 105, 109; Tröndle/Fischer aaO Rdn. 9) und deshalb das Merkmal "roh" auch das "Wie" der Mißhandlung betrifft (Stree in Schönke/Schröder StGB 26. Aufl. § 225 Rdn. 13). Daß beide Tatbestandsalternativen hier erfüllt sind, bedarf angesichts des Gewichts, der Vielzahl und der zeitlichen Abfolge der Verletzungshandlungen keiner weiteren Ausführung.

b) Beide Angeklagten waren Garanten insbesondere für die körperliche Unversehrtheit des Kindes und haben deshalb rechtlich dafür einzustehen, daß die Tatbestandsverwirklichung durch den jeweils anderen Elternteil nicht eintrat. Angesichts des überragenden Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit eines Menschen waren höchste Anforderungen an sie in ihrer Stellung als Beschützergaranten zu stellen, zumal es sich hier bei dem Opfer um einen lediglich zwei Monate alten, völlig wehr- und hilflosen Säugling handelte. Beide Angeklagten erkannten im Verlauf des Tatzeitraums, daß das Kind schwerwiegenden Mißhandlungen ausgesetzt war. Ihnen war deshalb auch bewußt, daß der andere Elternteil zu erheblichen Gewaltausbrüchen neigt und das Kind unbedingt davor zu schützen war. Ebenso mußten sie naheliegend mit weiteren vergleichbaren Gewalttaten rechnen. Spätestens von dem Zeitpunkt an, von dem sie erstmals Kenntnis von der Mißhandlung durch den jeweils anderen Elternteil hatten, hätten sie umgehend geeignete Maßnahmen ergreifen müssen , um weiter drohende Übergriffe von dem Kind abzuwenden (vgl. BGHSt 41, 113, 117; BGH NStZ 1984, 164; Senatsbeschluß vom 21. November 2002 - 4 StR 444/02).

c) Der Nachweis strafbaren Unterlassens scheitert entgegen der Auffas- sung des Landgerichts nicht daran, daß die Angeklagten als Unterlassungstäter nur für die Mißhandlungen durch den aktiv handelnden Täter rechtlich einzustehen haben, die nach dem Zeitpunkt liegen, zu dem sie Kenntnis von den Mißhandlungen erlangt haben.
Soweit das Landgericht eine Kenntnis der angeklagten Kindesmutter erst ab dem Arztbesuch am 10. Januar 2001 und eine Kenntnis bei dem Angeklagten erst ab dem Arztbesuch am 15. Januar 2001 angenommen hat, fehlt es an der gebotenen Gesamtschau aller die Angeklagten belastenden Umstände. Insbesondere hat sich das Landgericht nicht ausreichend damit auseinandergesetzt , daß es angesichts auffälligen Schreiens des Kindes und der räumlichen Verhältnisse in der Wohnung der Angeklagten nur schwer vorstellbar ist, daß dem nicht aktiv handelnden Elternteil die Mißhandlungen verborgen geblieben sein können.
Aber auch, wenn mit dem Landgericht zugunsten der Angeklagten von einer späteren Kenntniserlangung auszugehen wäre, hat es außer acht gelassen , daß nach den genannten Zeitpunkten weitere gravierende Mißhandlungen erfolgten, die zu verhindern die Angeklagten verpflichtet waren. So war die am 22. Januar 2001 diagnostizierte Rippenserienfraktur etwa 8 bis 10 Tage alt und mithin nach dem für die Angeklagte maßgeblichen Zeitpunkt vom 10. Januar 2001 entstanden. Desgleichen war die Fraktur des linken Unterarms etwa eine Woche alt, mithin etwa am 15. Januar 2001 entstanden, und lag der Mißhandlungszeitpunkt , der zu der Rißverletzung an der Scheide und zu dem Hämatom an der rechten Stirn führte, überhaupt erst zwischen dem 20. und 22. Januar 2001. Das Landgericht hat deshalb schon im Ansatz seine Prüfung verkürzt,
wenn es hinsichtlich der angeklagten Kindesmutter lediglich auf die beim Arztbesuch am 10. Januar 2001 sichtbaren Hämatome abgestellt und gemeint hat, "das Beibringen von Hämatomen erfüll(e) ... nicht per se den Tatbestand des Quälens oder des rohen Mißhandelns". Dabei läßt es zum einen die besondere Lage der Hämatome "im Gesicht und auf der Brust“ außer acht, was schon für sich massive Einwirkungen auf besonders empfindliche Körperregionen des Säuglings erkennen ließ und deshalb auch auf ein Quälen im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB hindeutete. Im übrigen hätte das Landgericht in seine Würdigung zum Vorstellungsbild der angeklagten Kindesmutter auch deren spontane Äußerung gegenüber der behandelnden Ärztin N. einbeziehen müssen, "sie würden ihr Kind nicht mißhandeln", die naheliegend für eine "Flucht nach vorn" spricht.
Nicht nachvollziehbar ist auch die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe auch nach der gemeinsamen Vorstellung des Kindes bei dem Arzt Dr. P. am 15. Januar 2001 keine Veranlassung zu der Annahme gehabt , Michelle werde im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB gequält oder roh mißhandelt. Denn der Arzt stellte an diesem Tag in Anwesenheit beider Angeklagten weitere Verletzungen des Säuglings, nämlich im Halsbereich und am Zungenbändchen sowie "wahllos verteilte Hämatome", fest.
Im übrigen beanstandet die Beschwerdeführerin zu Recht, daß das Landgericht ersichtlich nicht bedacht hat, daß auch für die Unterlassungstäterschaft im Rahmen des § 225 StGB bedingter Vorsatz genügt (BGH NStZ-RR 1996, 197, 198), der sich - wenn nicht sogar eher positive Kenntnis und damit direkter Vorsatz naheliegt - hier schon deshalb aufdrängte, weil nach den ge-
troffenen Feststellungen der Verdacht der Kindesmißhandlung bei den Arztbesuchen ausdrücklich erörtert wurde.
4. Die Mängel in der Beweiswürdigung machen eine neue Verhandlung und Entscheidung über den Tatvorwurf notwendig. Der neue Tatrichter wird auch Gelegenheit haben, die Strafbarkeit der Angeklagten jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Körperverletzung nach § 223 StGB zu prüfen, nachdem die Staatsanwaltschaft mit der Revisionsbegründung das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung (§ 230 Abs. 1 Satz 1 StGB) bejaht hat.
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Sost-Scheible

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 444/02
vom
21. November 2002
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Mißhandlung eines Schutzbefohlenen u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundes-
anwalts und nach Anhörung der Beschwerdeführer am 21. November 2002
gemäß §§ 154 Abs. 2, 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Das Verfahren wird gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt, soweit die Angeklagten jeweils wegen Körperverletzung zum Nachteil des Kindes Gedeon (Tat vom 14. Dezember 1999) verurteilt worden sind. Im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die den Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse zur Last. 2. Die weiter gehenden Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 21. März 2002 werden mit der Maßgabe verworfen, daß die Angeklagten jeweils wegen Mißhandlung eines Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Verletzung der Fürsorgepflicht zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt sind. Insoweit haben die Beschwerdeführer die Kosten ihrer Rechtsmittel und die dadurch dem Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:


Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen Mißhandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Verletzung der Fürsorgepflicht sowie wegen
vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren (Einzelstrafen 2 Jahre 9 Monate und 8 Monate Freiheitsstrafe) verurteilt. Hiergegen wenden sich die Angeklagten mit ihren Revisionen, mit denen sie die Verletzung sachlichen Rechts rügen. Die Rechtsmittel bleiben im wesentlichen ohne Erfolg.
1. Der Senat stellt das Verfahren wegen der Tat vom 14. Dezember 1999 (Fall III 3. b der Urteilsgründe) gemäß § 154 Abs. 2 StPO ein. Die bisherigen Feststellungen belegen nicht, daß der nicht aktiv handelnde Angeklagte damit rechnen mußte, daß der andere in der besonderen Tatsituation (beide Angeklagten besuchten gemeinsam das Kind im Krankenhaus, aus dem es am nächsten Tag in eine Pflegefamilie entlassen werden sollte), das Kind noch einmal mißhandeln würde, und daß er dies noch hätte verhindern können. Eine Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung zur weiteren Aufklärung insoweit erscheint dem Senat aus den Gründen des § 154 Abs. 1 StPO nicht geboten, zumal die Sache im übrigen entscheidungsreif ist.
2. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigungen hat nach der Teileinstellung des Verfahrens im übrigen zu den Schuld- und den Einzelstrafaussprüchen keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben. Insoweit verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in den Antragsschriften vom 17. Oktober 2002. Dem steht die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 4. Juli 2002 – 3 StR 64/02 –, auf die sich die Revision des Angeklagten Carsten W. (RB vom 14. August 2002) beruft, nicht entgegen. Zwar hat das Landgericht nicht festzustellen vermocht, welcher der beiden Angeklagten das Kind aktiv mißhandelt hat; anders als der Tatrichter in jener Sache hat es sich aber auf-
grund der Gleichartigkeit der Verletzungsmuster die Überzeugung verschafft, daß nur einer von ihnen, und zwar immer derselbe, der auch schon früher die Tochter mißhandelt hatte, tätlich geworden ist, während der andere die Taten geschehen ließ (UA 52, 65, 72, 105). Diese Beweiswürdigung läßt keinen Rechtsfehler erkennen. Der Senat hätte allerdings Bedenken, die Rechtsauffassung des Landgerichts zu bestätigen, es sei dem nicht aktiv Handelnden "nicht nur zumutbar, sondern sogar zwingend geboten (gewesen), sich bei der Geburt Gedeons von seinem Ehepartner zu trennen, Gedeon mitzunehmen und ihn so zu schützen" (UA 117). Einer so weit gehenden strafbarkeitsbegründenden Pflicht könnte möglicherweise der durch das Grundgesetz garantierte Schutz der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) entgegenstehen. Darauf kommt es letztlich hier aber nicht an, denn zu Recht nimmt das Landgericht an, daß der nicht aktiv Handelnde - zumal vor dem Hintergrund der der einschlägigen Vorverurteilung zugrundeliegenden Vorgeschichte - spätestens, nachdem am Vortag der Tat vier Hämatome im Stirnbereich als sicheres Zeichen einer Mißhandlung deutlich zu Tage getreten waren, das Kind umgehend von dem "Aktivtäter" hätte trennen und es so dessen Einwirkungsmöglichkeit entziehen müssen. Angesichts der besonderen Gefahren, denen das Kind durch den aktiv mißhandelnden Elternteil ausgesetzt war, ist die Annahme einer solchen Handlungspflicht
aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden (vgl. auch BGHSt 41, 113, 117; BGH NStZ 1984, 164).
Tepperwien Maatz Kuckein

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 190/03
vom
3. Juli 2003
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Verdachts der Mißhandlung einer Schutzbefohlenen u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 3. Juli 2003,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richter am Bundesgerichtshof
Maatz,
Athing,
Dr. Ernemann,
Richterin am Bundesgerichtshof
Sost-Scheible
als beisitzende Richter,
Richter am Landgericht
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger der Angeklagten ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger des Angeklagten ,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Halle/Saale vom 29. Oktober 2002 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entschei- dung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


Das Landgericht hat die beiden Angeklagten vom Vorwurf der Mißhandlung einer Schutzbefohlenen freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihren Revisionen, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Die Rechtsmittel haben Erfolg.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
Die beiden Angeklagten sind die leiblichen Eltern des am 13. November 2000 geborenen Kindes Michelle P. und betreuten es gemeinsam, bis es Ende Januar 2001 aufgrund der verfahrensgegenständlichen Vorfälle in die Obhut von Pflegeeltern gegeben wurde. Im Zeitraum nach der Entlassung aus der Entbindungsklinik bis zum 22. Januar 2001 wurde das Kind Opfer vielfacher Mißhandlungen durch einen der Angeklagten.
Bereits am 25. Dezember 2000 wurde das Kind wegen auffälligen Schreiens in die Notfallambulanz des Klinikums Zeitz gebracht. Zwar stellte dort ein Arzt lediglich eine leichte Schwellung am linken Bein fest. Tatsächlich ergab aber eine spätere Röntgendiagnose im unteren Bereich des Unterschenkels eine Kantenabsprengung, wie sie typischerweise durch ein Verdrehungstrauma entsteht, indem der Täter mit einer Hand das Becken des Kindes fixiert und mit der anderen das Bein verdreht, bis es zum Bruch kommt. Am 10. Januar 2001 erschien die Angeklagte mit dem Kind bei der behandelnden Kinderärztin N. , die im Gesicht und auf der Brust fingerkuppengroße Hämatome feststellte, worauf die Angeklagte - ohne daß die Ärztin bis dahin einen Verdacht geäußert hatte - sogleich erklärte, "sie würden ihr Kind nicht mißhandeln". Die Angeklagten wechselten nunmehr den Kinderarzt und suchten gemeinsam am 15. Januar 2001 mit dem Kind den Arzt Dr. P. auf. Dieser bemerkte im Halsbereich des Säuglings 1 bis 3 cm lange, bereits verschorfte Kratz- und Rißwunden, ein Hämatom am Kinn bzw. Unterkiefer und mehrere Hämatome auf der linken Thoraxseite. Darüber hinaus stellte Dr. P. eine etwa ein bis 2 Tage alte Verletzung des Zungenbändchens fest, wie sie beim Füttern entstehen kann, wenn der Löffel bzw. die Saugflasche zu grob in den Mund des Kindes gedrückt wird. Bei dem weiteren Arztbesuch der angeklagten Kindesmutter am 22. Januar 2001 stellte Dr. P. ein frisches münzgroßes Hämatom rechts an der Stirn und am linken Bein eine "teigige Verdickung" fest, die den Verdacht auf eine geschlossene Fraktur ergab. Im weiteren Verlauf des Tages trat bei dem Kind ein Atemstillstand ein. Die von der Angeklagten telefonisch herbeigerufene Notärztin veranlaßte die Einweisung des Säuglings in die Kinderklinik. Michelle war bei ihrem Eintreffen dort in einem lebensbedrohlichen Zustand. An äußeren Verletzungen stellte man eine blutverkrustete Nase, das lädierte Zungenbändchen, Hämatome im Gesicht, zahlreiche ältere Narben
am Hals und fünf Hämatome im Brustbereich fest. Darüber hinaus fanden sich im Brustkorbbereich und an beiden Unterschenkeln knöcherne Verdickungen. Die noch am selben Tage gefertigten Röntgenaufnahmen ergaben eine etwa 8 bis 10 Tage alte Rippenserienfraktur rechts, etwa 3 bis 4 Wochen alte Frakturen beider Schienbeine sowie eine glatte, etwa eine Woche alte Schaftfraktur des kompletten linken Unterarms. Darüber hinaus wurden in der Universitätskinderklinik , in die das Mädchen wegen des Verdachts einer Blutung in die Schädelhöhle am 23. Januar 2001 verlegt wurde, nicht ganz frische Netzhautblutungen festgestellt, wie sie typischerweise bei Kindesmißhandlungen durch heftiges Schütteln (shaken-baby) entstehen, ferner am Anus ein Einriß, am Scheideneingang ein etwa 2 bis 3 Tage alter Riß sowie an beiden Oberschenkelknochen eine metaphysäre Kantenaussprengung. Der Bruch des linken Unterarms war entweder dadurch entstanden, daß mit einem Gegenstand unter großem Druck auf den Arm eingewirkt oder der Arm gegen einen Gegenstand gedrückt wurde. Die Verletzungen im Anal- und Vaginalbereich sind auf das Einführen eines kantigen Gegenstandes zurückzuführen.
2. Die Angeklagten haben sich weder zur Person noch zur Sache eingelassen. Ohne Rechtsfehler hat sich das sachverständig beratene Landgericht aber die Überzeugung verschafft, daß die festgestellten Verletzungen die Folge massiver Mißhandlungen sind, für die nur die beiden Angeklagten als Täter in Betracht kommen. Zutreffend hat das Landgericht auch zumindest das Beibringen der Frakturen und das Zufügen der Verletzungen im Anal- und Genitalbereich als rohe Mißhandlungen im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB gewertet. An einer Verurteilung der Angeklagten hat es sich jedoch deshalb gehindert gesehen, weil es nicht festzustellen vermocht hat, welcher der beiden Angeklagten der aktiv handelnde Täter war und dem Kind die Verletzungen beige-
bracht hat. Auch sei nicht festzustellen, daß der nicht aktive Elternteil im Zeitpunkt , als er Kenntnis von einer Mißhandlung des Kindes erlangte, Anlaß zu der Annahme hatte, das Kind werde auch in Zukunft im Sinne von § 225 Abs. 1 StGB gequält oder roh mißhandelt werden. An einer Verurteilung der Angeklagten wegen Körperverletzung, begangen durch Unterlassen, hat sich das Landgericht mangels Strafantrags gehindert gesehen.
3. Der Freispruch hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht allerdings zu Gunsten eines jeden der beiden Angeklagten angenommen, daß jeweils der andere der aktiv handelnde Täter war, und deshalb eine Strafbarkeit nur wegen Unterlassungstäterschaft (§ 13 Abs. 1 StGB) geprüft, die hinsichtlich sämtlicher Tatbestandsalternativen des § 225 Abs. 1 StGB in Betracht kommt (vgl. Tröndle /Fischer StGB 51. Aufl. § 225 Rdn. 8 m.N.). Zu Recht beanstandet die Beschwerdeführerin aber, daß das Landgericht den festgestellten Sachverhalt nicht erschöpfend gewürdigt und sich deshalb den Blick für die für beide Angeklagten in Betracht kommende Tatbestandserfüllung verstellt hat.

a) Das Kind Michelle ist durch den aktiv handelnden Täter im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB sowohl gequält als auch roh mißhandelt worden. Quälen bedeutet das Verursachen länger dauernder oder sich wiederholender Schmerzen, wobei dieses Tatbestandsmerkmal typischerweise durch Vornahme mehrerer Handlungen verwirklicht wird und gerade die ständige Wiederholung für sich den besonderen Unrechtsgehalt dieser Form der Körperverletzung auszeichnet (vgl. BGHSt 41, 113, 115). „Roh“ ist eine Mißhandlung im Sinne des Tatbestandes, wenn sie aus einer gefühllosen gegen die Leiden des Op-
fers gleichgültigen Gesinnung heraus erfolgt, wobei die Gefühllosigkeit keine dauernde Charaktereigenschaft zu sein braucht (vgl. BGHSt 3, 105, 109; Tröndle/Fischer aaO Rdn. 9) und deshalb das Merkmal "roh" auch das "Wie" der Mißhandlung betrifft (Stree in Schönke/Schröder StGB 26. Aufl. § 225 Rdn. 13). Daß beide Tatbestandsalternativen hier erfüllt sind, bedarf angesichts des Gewichts, der Vielzahl und der zeitlichen Abfolge der Verletzungshandlungen keiner weiteren Ausführung.

b) Beide Angeklagten waren Garanten insbesondere für die körperliche Unversehrtheit des Kindes und haben deshalb rechtlich dafür einzustehen, daß die Tatbestandsverwirklichung durch den jeweils anderen Elternteil nicht eintrat. Angesichts des überragenden Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit eines Menschen waren höchste Anforderungen an sie in ihrer Stellung als Beschützergaranten zu stellen, zumal es sich hier bei dem Opfer um einen lediglich zwei Monate alten, völlig wehr- und hilflosen Säugling handelte. Beide Angeklagten erkannten im Verlauf des Tatzeitraums, daß das Kind schwerwiegenden Mißhandlungen ausgesetzt war. Ihnen war deshalb auch bewußt, daß der andere Elternteil zu erheblichen Gewaltausbrüchen neigt und das Kind unbedingt davor zu schützen war. Ebenso mußten sie naheliegend mit weiteren vergleichbaren Gewalttaten rechnen. Spätestens von dem Zeitpunkt an, von dem sie erstmals Kenntnis von der Mißhandlung durch den jeweils anderen Elternteil hatten, hätten sie umgehend geeignete Maßnahmen ergreifen müssen , um weiter drohende Übergriffe von dem Kind abzuwenden (vgl. BGHSt 41, 113, 117; BGH NStZ 1984, 164; Senatsbeschluß vom 21. November 2002 - 4 StR 444/02).

c) Der Nachweis strafbaren Unterlassens scheitert entgegen der Auffas- sung des Landgerichts nicht daran, daß die Angeklagten als Unterlassungstäter nur für die Mißhandlungen durch den aktiv handelnden Täter rechtlich einzustehen haben, die nach dem Zeitpunkt liegen, zu dem sie Kenntnis von den Mißhandlungen erlangt haben.
Soweit das Landgericht eine Kenntnis der angeklagten Kindesmutter erst ab dem Arztbesuch am 10. Januar 2001 und eine Kenntnis bei dem Angeklagten erst ab dem Arztbesuch am 15. Januar 2001 angenommen hat, fehlt es an der gebotenen Gesamtschau aller die Angeklagten belastenden Umstände. Insbesondere hat sich das Landgericht nicht ausreichend damit auseinandergesetzt , daß es angesichts auffälligen Schreiens des Kindes und der räumlichen Verhältnisse in der Wohnung der Angeklagten nur schwer vorstellbar ist, daß dem nicht aktiv handelnden Elternteil die Mißhandlungen verborgen geblieben sein können.
Aber auch, wenn mit dem Landgericht zugunsten der Angeklagten von einer späteren Kenntniserlangung auszugehen wäre, hat es außer acht gelassen , daß nach den genannten Zeitpunkten weitere gravierende Mißhandlungen erfolgten, die zu verhindern die Angeklagten verpflichtet waren. So war die am 22. Januar 2001 diagnostizierte Rippenserienfraktur etwa 8 bis 10 Tage alt und mithin nach dem für die Angeklagte maßgeblichen Zeitpunkt vom 10. Januar 2001 entstanden. Desgleichen war die Fraktur des linken Unterarms etwa eine Woche alt, mithin etwa am 15. Januar 2001 entstanden, und lag der Mißhandlungszeitpunkt , der zu der Rißverletzung an der Scheide und zu dem Hämatom an der rechten Stirn führte, überhaupt erst zwischen dem 20. und 22. Januar 2001. Das Landgericht hat deshalb schon im Ansatz seine Prüfung verkürzt,
wenn es hinsichtlich der angeklagten Kindesmutter lediglich auf die beim Arztbesuch am 10. Januar 2001 sichtbaren Hämatome abgestellt und gemeint hat, "das Beibringen von Hämatomen erfüll(e) ... nicht per se den Tatbestand des Quälens oder des rohen Mißhandelns". Dabei läßt es zum einen die besondere Lage der Hämatome "im Gesicht und auf der Brust“ außer acht, was schon für sich massive Einwirkungen auf besonders empfindliche Körperregionen des Säuglings erkennen ließ und deshalb auch auf ein Quälen im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB hindeutete. Im übrigen hätte das Landgericht in seine Würdigung zum Vorstellungsbild der angeklagten Kindesmutter auch deren spontane Äußerung gegenüber der behandelnden Ärztin N. einbeziehen müssen, "sie würden ihr Kind nicht mißhandeln", die naheliegend für eine "Flucht nach vorn" spricht.
Nicht nachvollziehbar ist auch die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe auch nach der gemeinsamen Vorstellung des Kindes bei dem Arzt Dr. P. am 15. Januar 2001 keine Veranlassung zu der Annahme gehabt , Michelle werde im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB gequält oder roh mißhandelt. Denn der Arzt stellte an diesem Tag in Anwesenheit beider Angeklagten weitere Verletzungen des Säuglings, nämlich im Halsbereich und am Zungenbändchen sowie "wahllos verteilte Hämatome", fest.
Im übrigen beanstandet die Beschwerdeführerin zu Recht, daß das Landgericht ersichtlich nicht bedacht hat, daß auch für die Unterlassungstäterschaft im Rahmen des § 225 StGB bedingter Vorsatz genügt (BGH NStZ-RR 1996, 197, 198), der sich - wenn nicht sogar eher positive Kenntnis und damit direkter Vorsatz naheliegt - hier schon deshalb aufdrängte, weil nach den ge-
troffenen Feststellungen der Verdacht der Kindesmißhandlung bei den Arztbesuchen ausdrücklich erörtert wurde.
4. Die Mängel in der Beweiswürdigung machen eine neue Verhandlung und Entscheidung über den Tatvorwurf notwendig. Der neue Tatrichter wird auch Gelegenheit haben, die Strafbarkeit der Angeklagten jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Körperverletzung nach § 223 StGB zu prüfen, nachdem die Staatsanwaltschaft mit der Revisionsbegründung das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung (§ 230 Abs. 1 Satz 1 StGB) bejaht hat.
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Sost-Scheible

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 444/02
vom
21. November 2002
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Mißhandlung eines Schutzbefohlenen u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundes-
anwalts und nach Anhörung der Beschwerdeführer am 21. November 2002
gemäß §§ 154 Abs. 2, 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Das Verfahren wird gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt, soweit die Angeklagten jeweils wegen Körperverletzung zum Nachteil des Kindes Gedeon (Tat vom 14. Dezember 1999) verurteilt worden sind. Im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die den Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse zur Last. 2. Die weiter gehenden Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 21. März 2002 werden mit der Maßgabe verworfen, daß die Angeklagten jeweils wegen Mißhandlung eines Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Verletzung der Fürsorgepflicht zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt sind. Insoweit haben die Beschwerdeführer die Kosten ihrer Rechtsmittel und die dadurch dem Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:


Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen Mißhandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Verletzung der Fürsorgepflicht sowie wegen
vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren (Einzelstrafen 2 Jahre 9 Monate und 8 Monate Freiheitsstrafe) verurteilt. Hiergegen wenden sich die Angeklagten mit ihren Revisionen, mit denen sie die Verletzung sachlichen Rechts rügen. Die Rechtsmittel bleiben im wesentlichen ohne Erfolg.
1. Der Senat stellt das Verfahren wegen der Tat vom 14. Dezember 1999 (Fall III 3. b der Urteilsgründe) gemäß § 154 Abs. 2 StPO ein. Die bisherigen Feststellungen belegen nicht, daß der nicht aktiv handelnde Angeklagte damit rechnen mußte, daß der andere in der besonderen Tatsituation (beide Angeklagten besuchten gemeinsam das Kind im Krankenhaus, aus dem es am nächsten Tag in eine Pflegefamilie entlassen werden sollte), das Kind noch einmal mißhandeln würde, und daß er dies noch hätte verhindern können. Eine Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung zur weiteren Aufklärung insoweit erscheint dem Senat aus den Gründen des § 154 Abs. 1 StPO nicht geboten, zumal die Sache im übrigen entscheidungsreif ist.
2. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigungen hat nach der Teileinstellung des Verfahrens im übrigen zu den Schuld- und den Einzelstrafaussprüchen keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben. Insoweit verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in den Antragsschriften vom 17. Oktober 2002. Dem steht die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 4. Juli 2002 – 3 StR 64/02 –, auf die sich die Revision des Angeklagten Carsten W. (RB vom 14. August 2002) beruft, nicht entgegen. Zwar hat das Landgericht nicht festzustellen vermocht, welcher der beiden Angeklagten das Kind aktiv mißhandelt hat; anders als der Tatrichter in jener Sache hat es sich aber auf-
grund der Gleichartigkeit der Verletzungsmuster die Überzeugung verschafft, daß nur einer von ihnen, und zwar immer derselbe, der auch schon früher die Tochter mißhandelt hatte, tätlich geworden ist, während der andere die Taten geschehen ließ (UA 52, 65, 72, 105). Diese Beweiswürdigung läßt keinen Rechtsfehler erkennen. Der Senat hätte allerdings Bedenken, die Rechtsauffassung des Landgerichts zu bestätigen, es sei dem nicht aktiv Handelnden "nicht nur zumutbar, sondern sogar zwingend geboten (gewesen), sich bei der Geburt Gedeons von seinem Ehepartner zu trennen, Gedeon mitzunehmen und ihn so zu schützen" (UA 117). Einer so weit gehenden strafbarkeitsbegründenden Pflicht könnte möglicherweise der durch das Grundgesetz garantierte Schutz der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) entgegenstehen. Darauf kommt es letztlich hier aber nicht an, denn zu Recht nimmt das Landgericht an, daß der nicht aktiv Handelnde - zumal vor dem Hintergrund der der einschlägigen Vorverurteilung zugrundeliegenden Vorgeschichte - spätestens, nachdem am Vortag der Tat vier Hämatome im Stirnbereich als sicheres Zeichen einer Mißhandlung deutlich zu Tage getreten waren, das Kind umgehend von dem "Aktivtäter" hätte trennen und es so dessen Einwirkungsmöglichkeit entziehen müssen. Angesichts der besonderen Gefahren, denen das Kind durch den aktiv mißhandelnden Elternteil ausgesetzt war, ist die Annahme einer solchen Handlungspflicht
aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden (vgl. auch BGHSt 41, 113, 117; BGH NStZ 1984, 164).
Tepperwien Maatz Kuckein

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 64/02
vom
4. Juli 2002
in der Strafsache
gegen
wegen Mißhandlung von Schutzbefohlenen
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 4. Juli 2002,
an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Winkler
als Vorsitzender,
die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Miebach,
Pfister,
von Lienen,
Becker
als beisitzende Richter,
Staatsanwältin
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Justizamtsinspektorin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 23. März 2001 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Angeklagte verurteilt worden ist. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen "Mißhandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen" zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und sie von einem weiteren Fall der Mißhandlung von Schutzbefohlenen freigesprochen. Gegen ihre Verurteilung wendet sich die Angeklagte mit der allgemeinen Sachrüge. Das Rechtsmittel hat Erfolg. 1. Nach den Feststellungen wohnte die Angeklagte vom 22. März bis Ende Juni 2000 zusammen mit ihrer am 14. Februar 1999 geborenen Tochter M. bei ihrer Halbschwester und deren wegen Mißhandlung von Schutzbefohlenen vorbestraften Lebensgefährten D. in einer Zweizimmerwohnung in S. . Sie hielt sich während dieses Zeitraums, soweit das Kind nicht stationär behandelt wurde, "immer in dessen Nähe auf; insbesondere war M. mit D. nie allein (UA S. 14)".

a) Wahrscheinlich kurz nach ihrer Ankunft in S. , nicht ausschlieûbar auch wenige Tage zuvor, wirkte wahrscheinlich die Angeklagte, möglicherweise aber auch eine andere Person unter im einzelnen nicht feststellbaren Umständen mit massiver Gewalt auf den Kopf des Kleinkindes ein, so daû dieses eine Kalottenfragmentfraktur rechts mit einem Hämatom und eine Hirnschwellung erlitt. Während der anschlieûenden stationären Behandlung informierte eine Klinikärztin die Angeklagte ausdrücklich über den Verdacht einer Kindesmiûhandlung. Das Landgericht hat die Angeklagte insoweit vom Vorwurf der Miûhandlung von Schutzbefohlenen freigesprochen, weil nicht sicher habe festgestellt werden können, daû sie selbst ihrer Tochter die Verletzungen zugefügt habe; möglicherweise sei sie von den Gewalttätigkeiten einer anderen Person gegen das Kind überrascht worden, so daû sie diese nicht habe abwenden können.
b) Im Zeitraum zwischen 28. April und 8. Mai 2000 erlitt M. auf im einzelnen nicht mehr feststellbare Art und Weise sechs Hämatome im Lendenwirbelbereich und ein Hämatom am Kopf. Die Strafkammer hat nicht sicher ausschlieûen können, daû diese Verletzungen durch Stürze des Kindes verursacht wurden. Während des folgenden Krankenhausaufenthaltes erhoben die behandelnden Ärzte gegenüber der Angeklagten wiederum den Vorwurf der Kindesmiûhandlung. Diesen Tatvorwurf hat die Strafkammer gemäû § 154 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt.
c) In der Zeit vom 20. bis zum 27. Juni 2000 wirkte eine Person mindestens zweimal bewuût mit sehr massiver, flächenhafter Gewalt auf den Kopf des Kleinkindes ein. Dieses erlitt dadurch einen Bruch des Stirnbeins, ein Hämatom an der Stirn und einen Schädelbruch im Bereich des rechten Hinterkopfes. Wegen dieser Verletzungen wurde M. ca. vier Wochen lang im
Krankenhaus behandelt. Ihren Zustand schätzten die Ärzte zeitweise als lebensbedrohlich ein. Das Landgericht konnte nicht klären, auf welche Art und Weise im einzelnen gegen das Kind Gewalt ausgeübt worden war, wobei es zu Gunsten der Angeklagten davon ausging, daû beide Schädelbrüche und das Hämatom nur durch eine Gewalthandlung entstanden und weitere diagnostizierte Verletzungen möglicherweise auf Stürze zurückzuführen sind. Die Strafkammer ist der Überzeugung, daû die Angeklagte im Juni 2000 entweder ihre Tochter selbst in einer deren Leiden bewuût miûachtenden Gesinnung verletzte oder das Kind in derselben Gesinnung wissentlich dem Zugriff einer anderen Person aussetzte, von der sie wuûte, daû durch diese die Schädelbrüche herbeigeführt werden könnten. 2. Bei der Beweiswürdigung ist das Landgericht davon ausgegangen, daû die Angeklagte zumindest den Schädelbruch vom März 2000 und die Schädelbrüche vom Juni 2000 sowie die damit zusammenhängenden Kopfverletzungen ihrer Tochter mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit jeweils eigenhändig und mit direktem Vorsatz zugefügt habe. Es verblieben jedoch Zweifel, weil eine andere Person, insbesondere die Halbschwester der Angeklagten und vor allem deren einschlägig vorbestrafter Lebensgefährte als Täter nicht sicher ausgeschlossen werden konnten. Da die Angeklagte das Kind nie längere Zeit allein gelassen habe, habe sie nach den schweren Kopfverletzungen vom März 2000 gewuût, von wem und in welcher Situation diese verursacht worden seien. Hinsichtlich der im Juni 2000 zugefügten Verletzungen hat die Angeklagte nach Ansicht des Landgerichts ihre Tochter zumindest durch Unterlassen roh miûhandelt und dabei das Kind in die Gefahr einer schweren Gesundheitsbeschädigung durch Hirnschäden und einer erheblichen Schädigung der
körperlichen und seelischen Entwicklung gebracht (§ 225 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 2. Alt., Nr. 2, § 13 StGB). Sie habe auf Grund der elterlichen Sorge die Pflicht und auch die Möglichkeit gehabt, das Kind von der gefährlichen Person, die ihr durch die Zufügung des ersten Schädelbruchs im März 2000 bekannt gewesen sei, fernzuhalen und dadurch weitere Miûhandlungen zu verhindern. Das Unterlassen sei mit direktem Vorsatz erfolgt. 3. Der Schuldspruch hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Dabei geht die Strafkammer zwar zutreffend davon aus, daû die Tatmodalität des "rohen Miûhandelns" in § 225 Abs. 1 StGB auch durch Unterlassen begangen werden kann (vgl. BGH NStZ 1991, 234; Stree in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 225 Rdn. 11). Sie hat aber bei der von ihr als möglich angesehenen Alternative , die Angeklagte habe die Miûhandlung ihrer Tochter durch eine andere Person lediglich nicht verhindert, deren Handlungspflicht auf eine nicht tragfähige Schluûfolgerung gestützt. Das Landgericht hat nicht feststellen können, ob die Schädelbrüche vom Juni 2000 durch Verletzungshandlungen der Angeklagten oder einer anderen Person herbeigeführt wurden. Für die letztgenannte Alternative begründet es eine Täterschaft der Angeklagten durch Unterlassen damit, diese habe auf Grund der Miûhandlung vom März 2000 gewuût, daû dem Kind durch die a ndere Person Gefahr drohe. Diese Schluûfolgerung wäre jedoch nur dann tragfähig , wenn die Verletzungshandlungen vom März und Juni 2000 jeweils durch dieselbe Person begangen worden wären. Dies ist indes nicht festgestellt. Vielmehr kommt nach den getroffenen Feststellungen in Betracht, daû für beide Vorfälle unterschiedliche Täter verantwortlich sind. Für die erste Tat vom März 2000 hat das Tatgericht eine Miûhandlung durch die Angeklagte für wahrscheinlich gehalten und nicht einmal ausschlieûen können, daû diese
zeitlich bereits vor dem Einzug der Angeklagten in die Wohnung ihrer Halbschwester in S. erfolgt war. Bei diesen Fallgestaltungen kann das Geschehen vom März 2000 weder der Halbschwester noch deren Lebensgefährten angelastet werden. Hatte die Angeklagte oder eine weitere, bislang unbekannte Person die erste Miûhandlung begangen, bestand keine Verpflichtung der Angeklagten, ihre Tochter vor ihrer Halbschwester oder deren Lebensgefährten zu schützen, weil nach ihrem Kenntnisstand dem Kind von diesen Personen keine Gefahr drohte. 4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:
a) Bei der Beweiswürdigung zu der Tat vom Juni 2000 ist die zur Entscheidung berufene Strafkammer an die dem rechtskräftigen Freispruch zu Grunde liegenden Feststellungen nicht gebunden (vgl. BGHSt 43, 106, 107; Rieû in Löwe-Rosenberg, StPO 25. Aufl. Einl. J Rdn. 103 f. m. w. N.). Sie wird sich in ihr aber mit den Gründen des Freispruchs auseinandersetzen müssen.
b) Sollte sie zu dem Ergebnis kommen, die Angeklagte habe gebotene Handlungspflichten zum Schutze ihrer Tochter vor einer drohenden Miûhandlung durch einen Dritten bewuût unterlassen, wird sie sich bei der Prüfung des subjektiven Tatbestandes (vgl. dazu Cramer/Sternberg-Lieben in Schönke /Schröder, StGB 25. Aufl. § 15 Rdn. 98) mit deren Vorstellung über die Folgen der Untätigkeit befassen müssen. Wenn die Angeklagte weitere Miûhandlungen ihrer Tochter durch einen Dritten lediglich für möglich gehalten haben sollte, ist eine Abwägung auf Grund aller objektiven und subjektiven Tatumstände erforderlich, ob sie diese billigend in Kauf nahm und deshalb bedingter Vorsatz zu bejahen ist oder ob sie auf ihr Ausbleiben ernsthaft vertraute und ihr deshalb nur Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann (vgl. BGHSt 36, 1, 10; Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 15 Rdn. 9 ff.).

c) Bei der Frage, ob das durch Unterlassen begangene Miûhandeln roh im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB war, sind vor allem die Schwere des drohenden körperlichen Angriffes auf das hilflose Kleinkind, in der sich die gefühllose, fremde Leiden miûachtende Gesinnung widerspiegelt, aber auch die Persönlichkeit der Angeklagten und deren Motivation von Bedeutung (vgl. BGHSt 25, 277, 278, 280; Hirsch in LK 11. Aufl. § 225 Rdn. 14). Winkler Miebach Pfister von Lienen Becker