Bundesgerichtshof Beschluss, 11. Dez. 2018 - 2 StR 250/18

bei uns veröffentlicht am11.12.2018

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 250/18
vom
11. Dezember 2018
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
ECLI:DE:BGH:2018:111218B2STR250.18.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 11. Dezember 2018 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Neubrandenburg vom 30. August 2017 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in vier Fällen, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen, sexuellem Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, und wegen „schweren“ sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer (Gesamt -) „Freiheitsstrafe“ von vier Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge einer Verletzung des Anwesenheitsrechts gemäß § 230 Abs. 1 in Verbindung mit § 338 Nr. 5 StPO Erfolg.
2
1. Der Rüge liegt folgendes Prozessgeschehen zu Grunde:
3
Am ersten Verhandlungstag, dem 11. Juli 2017, sollte die Geschädigte W. als Zeugin vernommen werden. Mit Hinweis auf ihren labilen Zustand beantragte ihre anwaltliche Vertreterin den Ausschluss des Angeklagten aus der Hauptverhandlung für die Dauer dieser Vernehmung. Dazu erließ die Jugendkammer folgenden Beschluss: „Der Angeklagte wird während der Vernehmung der Zeugin W. aus dem Sitzungssaal entfernt, § 247 StPO, weil die Zeugin in Anwesenheit des Angeklagten nicht oder nicht vollständig und wahrheitsgemäß aussagen kann oder will. Dies ergibt sich aus den Angaben der die Zeugin behandelnden Psychotherapeutin S. . Der Angeklagte wird Gelegenheit haben, die gesamte Vernehmung über Video zu verfolgen und über seine Verteidiger Fragen zu stellen.“
4
Daraufhin nahmen der Angeklagte und eine Verteidigerin in einem Nebenraum Platz, von dem aus sie die Vernehmung der Zeugin durch Bild-TonÜbertragung verfolgen konnten. Im Sitzungssaal blieb ein weiterer Verteidiger des Angeklagten anwesend.
5
Während der Vernehmung wurde ein Brief der Zeugin, den diese an ihre Mutter geschrieben hatte, „von der Zeugin in Augenschein genommen und durch den Vorsitzenden verlesen“. Anschließend kam der Angeklagte zurück in den Sitzungssaal und erklärte auf Befragen durch den Vorsitzenden, dass er die Vernehmung der Zeugin gut habe verfolgen können und keine weiteren Fragen an diese habe.
6
Der Angeklagte rügt eine Verletzung seines Anwesenheitsrechts. Die Augenscheineinnahme und die Verlesung des Briefes der Zeugin hätten nicht in seiner Abwesenheit erfolgen dürfen.
7
2. Die Verfahrensrüge ist zulässig.
8
a) Das Rügevorbringen genügt den Anforderungen gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Dazu musste der Inhalt des Briefes nicht mitgeteilt werden, denn es genügt zur Darlegung der tatsächlichen Voraussetzungen eines Verfahrensfehlers , dass aus dem Revisionsvorbringen die Tatsache der Verlesung einer Urkunde zu Beweiszwecken während der Abwesenheit des Angeklagten hervorgeht.
9
b) Der Zulässigkeit der Rüge steht auch nicht entgegen, dass der Verteidiger die Anordnung der Urkundenverlesung in Abwesenheit des Angeklagten nicht nach § 238 Abs. 2 StPO beanstandet hat (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 2009 – 5 StR 530/08, BGHSt 54, 184, 185).
10
c) Eine Verwirkung der Rüge kommt nicht in Betracht, weil der Angeklagte den Verfahrensfehler nicht verursacht hatte, um ihn anschließend zu rügen (vgl. BGH, Beschluss vom 27. November 1992 – 3 StR 549/92, StV 1993, 285, 286; Kretschmer JR 2007, 258, 259). Seine Erklärung, dass er keine Fragen an die Zeugin habe, betraf nicht den Urkundenbeweis und enthält deshalb auch keinen Rügeverzicht.
11
3. Die Rüge ist begründet. Die Verlesung des Briefes der Geschädigten in Abwesenheit des Angeklagten war verfahrensfehlerhaft im Sinne von § 230 Abs. 1, § 247 Satz 1 StPO (a), der Fehler wurde in der Hauptverhandlung nicht geheilt (b) und auf dem Verfahrensfehler beruht das Urteil gemäß § 338 Nr. 5 StPO (c).
12
a) Das Landgericht hat das Anwesenheitsrecht des Angeklagten durch eine Beweiserhebung, die nicht in seiner Abwesenheit stattfinden durfte, verletzt.
13
aa) Der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung kommt im deutschen Strafprozess ein hoher Stellenwert zu. Sie ist nicht nur zur Wahrheitsfindung , sondern auch für die Verteidigung des Angeklagten von erheblicher Bedeutung. Deshalb bestimmt § 230 Abs. 1 StPO, das gegen einen ausgebliebenen Angeklagten keine Hauptverhandlung stattfindet. Der Angeklagte hat danach nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur Anwesenheit (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2010 – GSSt 1/09, BGHSt 55, 87, 88).
14
Unter der Anwesenheit des Angeklagten ist dessen geistige und körperliche Präsenz am Verhandlungsort zu verstehen. Die Anwesenheit in einem Nebenraum zum Sitzungssaal genügt nicht; denn auch dies ist ein Fall der Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungszimmer im Sinne von § 247 Satz 1 StPO, der als Ausnahme von der Anwesenheit im Sinne des § 230 Abs. 1 StPO im Gesetz geregelt ist. Dies gilt auch dann, wenn dort für den Angeklagten im Nebenzimmer eine Möglichkeit zur gleichzeitigen Wahrnehmung des Verhandlungsgeschehens im Wege einer Bild-Ton-Übertragung besteht. Die Strafprozessordnung sieht keine Ersetzung der Anwesenheit des Angeklagten im Sitzungszimmer durch eine solche Bild-Ton-Übertragung in einen Nebenraum vor. Sie kennt nur die Möglichkeit der audiovisuellen Vernehmung eines Zeugen, der sich während der Vernehmung an einem anderen Ort befindet (§ 247a StPO). Um einen solchen Fall geht es hier nicht.
15
Die durch den Beschluss der Strafkammer eingeräumte Möglichkeit für den Angeklagten, „die Verhandlung über Video zu verfolgen“, war zwar geeig- net, die nach § 247 Satz 4 StPO gebotene Unterrichtung zu ersetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180, 182 f.). Sie änderte aber nichts an seiner vorübergehenden Abwesenheit im Sinne von § 230 Abs. 1 StPO durch Entfernung aus dem Sitzungszimmer gemäß § 247 Satz 1 StPO.
16
bb) Das Recht und die Pflicht des Angeklagten zur Anwesenheit am Verhandlungsort kann nach der Strafprozessordnung nur in Ausnahmefällen durchbrochen werden. Nach der eng auszulegenden Ausnahmevorschrift des § 247 Satz 1 StPO (vgl. BGH, Urteil vom 21. Oktober 1975 – 5 StR 431/75, BGHSt 26, 218, 220) kann der Angeklagte unter anderem während einer Zeugenvernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt werden, wenn zu befürchten ist, ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen (§ 247 Satz 1 Var. 2 StPO). Die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungszimmer ist dann aber auf die Vernehmung des Zeugen beschränkt. Eine andere Beweiserhebung, wie eine Urkundenverlesung, gehört nicht dazu, auch wenn sie einen sachlichen Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung aufweist. Da im Protokoll der Hauptverhandlung nichts anderes vermerkt ist, muss davon ausgegangen werden, dass die Verlesung des Briefes der Geschädigten durch den Vorsitzenden zum Zweck des Urkundenbeweises erfolgt ist (vgl. Senat, Urteil vom 18. Oktober 1967 – 2 StR 477/67, BGHSt 21, 332, 333). Dies durfte nicht in Abwesenheit des Angeklagten geschehen.
17
b) Eine Heilung des Verfahrensfehlers wäre nur durch Wiederholung der Urkundenverlesung in seiner Anwesenheit möglich gewesen (vgl. Erb NStZ 2010, 347; H. E. Müller JR 2007, 79, 80). Eine solche ist nach dem Protokoll der Hauptverhandlung nicht erfolgt.
18
c) Das Urteil beruht nach § 338 Nr. 5 StPO auf dem Verfahrensfehler. Eine Ausnahme von diesem absoluten Revisionsgrund greift nicht ein.
19
aa) § 338 Nr. 5 StPO bestimmt, dass ein Urteil stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen ist, wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz bestimmt, stattgefunden hat. Dies betrifft auch den Fall der Verletzung des Rechts und der Pflicht des Angeklagten zur Anwesenheit aus § 230 Abs. 1 StPO.
20
bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs greift § 338 Nr. 5 StPO allerdings nicht ein, wenn die Abwesenheit des Angeklagten keinen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung betrifft. Ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung liegt nicht vor, wenn denkgesetzlich ausgeschlossen ist, dass bezüglich des Prozessgeschehens in Abwesenheit des Angeklagten sein Anspruch auf rechtliches Gehör sowie seine prozessualen Mitwirkungsrechte beeinträchtigt worden sind. Der betreffende Verhandlungsteil darf jedoch auch sonst das Ergebnis der Hauptverhandlung nicht im Sinne von § 261 StPO bestimmt haben können (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2006 – 4 StR 131/06, NStZ 2006, 713 f.; Urteil vom 28. Juli 2010 – 1 StR 643/09, NStZ 2011, 233, 234). Dies wurde in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs etwa in einem Fall verneint, in dem die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen zwar in Abwesenheit des Angeklagten stattgefunden hatte, die Vernehmung im Ganzen aber vom Angeklagten durch Bild-Ton-Übertragung mitverfolgt worden war und er nach Befragung durch den Vorsitzenden erklärt hatte, von seinem Fragerecht keinen Gebrauch zu machen (BGH, Urteil vom 9. Februar 2011 – 5 StR 387/10, NStZ 2011, 534). Damit ist der vorliegende Fall nicht vergleichbar. Die Abwesenheit des Angeklagten betraf hier eine Urkundenverlesung als weitere Beweiserhebung. Eine Beweiserhebung ist grundsätzlich ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung. Dies gilt im vorliegenden Fall auch deshalb, weil der Brief der Geschädigten in die Urteilsgründe eingeflossen ist. Eine Prüfung, ob das Urteil darauf beruht, ist dem Senat dann nach § 338 Nr. 5 StPO versagt.
21
cc) Die Erklärung des Angeklagten, keine weiteren Fragen an die in seiner Abwesenheit vernommene Zeugin zu haben, betraf nur die Zeugenvernehmung , nicht den zusätzlich erhobenen Urkundenbeweis. Auch daraus ergibt sich hier, anders als im Fall der Versäumung einer Verhandlung über die Entlassung des in Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 21. April 2010 – GSSt 1/09, BGHSt 55, 87, 94), keine Ausnahme von der gesetzlichen Vermutung des Beruhens des Urteils auf dem Verfahrensfehler gemäß § 338 Nr. 5 StPO.
Franke Eschelbach Meyberg
Grube Schmidt

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

Das Gericht kann anordnen, daß sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt, wenn zu befürchten ist, ein Mitangeklagter oder ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen. Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 18 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist oder wenn bei einer Vernehmung einer anderen Person als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihre Gesundheit besteht. Die Entfernung des Angeklagten kann für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten angeordnet werden, wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.

(1) Der Beschwerdeführer hat die Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen.

(2) Aus der Begründung muß hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird. Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden.

(1) Die Leitung der Verhandlung, die Vernehmung des Angeklagten und die Aufnahme des Beweises erfolgt durch den Vorsitzenden.

(2) Wird eine auf die Sachleitung bezügliche Anordnung des Vorsitzenden von einer bei der Verhandlung beteiligten Person als unzulässig beanstandet, so entscheidet das Gericht.

Nachschlagewerk: ja
BGHSt : ja
Veröffentlichung : ja
Erfolgt nach Entfernung des Angeklagten während einer Zeugenvernehmung
gemäß § 247 StPO in andauernder Abwesenheit
des Angeklagten eine förmliche Augenscheinseinnahme,
so ist der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht
erfüllt, wenn dem Angeklagten das in seiner Abwesenheit in
Augenschein genommene Objekt bei seiner Unterrichtung
nach § 247 Satz 4 StPO gezeigt wird (im Anschluss an BGHR
StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 1 unter Aufgabe entgegenstehender
Senatsrechtsprechung, BGHR StPO § 247 Abwesenheit
5).
BGH, Urteil vom 11. November 2009 – 5 StR 530/08
LG Berlin –

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 11. November 2009
in der Strafsache
gegen
wegen Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung u. a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 11. November
2009, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Dr. Brause,
Richter Schaal,
Richterin Dr. Schneider,
Richter Prof. Dr. König
alsbeisitzendeRichter,
Bundesanwalt
alsVertreterderBundesanwaltschaft,
Rechtsanwältin Z.
alsVerteidigerin,
Rechtsanwältin P.
alsVertreterinderNebenklägerin,
Justizangestellte
alsUrkundsbeamtinderGeschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 13. März 2008 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung in Tateinheit mit Zuhälterei, wegen Betruges in 13 Fällen, versuchten Betruges in fünf Fällen und Anstiftung zum Missbrauch von Scheck- und Kreditkarten in zwei Fällen unter Einbeziehung anderweitig rechtskräftig verhängter Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.
2
1. Jenseits der auf Verletzung des § 247 StPO gestützten Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 5 StPO wegen Abwesenheit des Angeklagten während einer Augenscheinseinnahme ist die Revision unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Insbesondere steht die Wertung des Landgerichts zur Bedeutungslosigkeit des auf Zeugenvernehmung mehrerer Prostituierter gerichteten Beweisbegehrens des Angeklagten nicht in unauflösbarem Widerspruch zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin und der Zeugin D. . Sachlichrechtlich ist die Beweiswürdigung des Land- gerichts nicht zu beanstanden. Durchgreifende Rechtsfehler zur Frage der Schäden aus den vom Angeklagten eingeräumten Vermögensdelikten sind nicht ersichtlich.
3
2. Auch die Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 5 StPO ist unbegründet.
4
a) Insoweit beanstandet die Revision die Abwesenheit des Angeklagten während einer Augenscheinseinnahme. Die Nebenklägerin ist gemäß § 247 Satz 1 und 2 StPO in Abwesenheit des Angeklagten zeugenschaftlich vernommen worden. Dabei ist ihr Kalender in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten in Augenschein genommen worden. Während der Unterrichtung des Angeklagten von dem wesentlichen Inhalt der Zeugenaussage der Nebenklägerin gemäß § 247 Satz 4 StPO ist der Kalender auf Anordnung der Strafkammervorsitzenden „von dem Angeklagten in Augenschein genommen“ worden.
5
b) Die Rüge ist – entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts in seinem Beschlussverwerfungsantrag – zulässig. Das Augenscheinsobjekt ist durch die Wiedergabe der anschaulichen und konkret für die Beweisführung maßgeblichen Teile des Kalenders im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO hinreichend deutlich bezeichnet worden. Die Statthaftigkeit von Rügen der hier vorliegenden Art hängt nicht davon ab, dass der Verteidiger die Anordnung der Augenscheinseinnahme in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten durch den Strafkammervorsitzenden gemäß § 238 Abs. 2 StPO beanstandet hat; daher brauchte hierzu auch nicht gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vorgetragen zu werden.
6
c) Trotz von der Nebenklägerin in dem Kalender während der Vernehmung vorgenommener Markierungen vermag der Senat die ausdrücklich protokollierte Augenscheinseinnahme, mit welcher die Art von Eintragungen und das Vorhandensein unterschiedlicher Schriftbilder in dem Kalender veranschaulicht werden sollten, nicht als bloßen Vernehmungsbehelf zu verste- hen, so dass die Rüge nicht etwa schon deshalb (offensichtlich) unbegründet ist.
7
3. Der Senat möchte zwar dem Begriff der Vernehmung im Sinne des § 247 StPO bei entsprechenden Rügen nach § 338 Nr. 5 StPO in Abkehr von bisheriger Rechtsprechung (BGHSt 26, 218; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 1, 14, 15; § 338 Nr. 5 Angeklagter 23; BGH NStZ 2000, 440; 2007, 352) den Inhalt geben, den er nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei Rügen nach § 338 Nr. 6 StPO hat, mit denen ein zu weit gehender Ausschluss der Öffentlichkeit beanstandet wird, wenn dieser gemäß §§ 171a bis 172 GVG für die Dauer einer Vernehmung erfolgt ist. Dort wird „die Vernehmung“ im Sinne des entsprechenden Verfahrensabschnitts verstanden ; hierzu rechnen alle Verfahrensvorgänge, die mit der eigentlichen Vernehmung eng in Zusammenhang stehen oder sich aus ihr entwickeln (BGH NJW 1996, 2663, insoweit in BGHSt 42, 158 nicht abgedruckt; BGH NJW 2003, 2761, insoweit in BGHSt 48, 268 nicht abgedruckt; BGH, Beschluss vom 20. Juli 2004 – 4 StR 254/04).
8
Hier hing die erfolgte Augenscheinseinnahme mit der Zeugenvernehmung der Nebenklägerin, die sich zu ihrem Kalender geäußert und ihn erläutert hat, sachlich (sogar besonders) eng zusammen; das Landgericht hat in seiner Gestaltung eine Bestätigung ihrer Aussage gefunden (UA S. 6/7, 15, 19; ausweislich des Protokolls hat eine förmliche Augenscheinseinnahme betreffend den Kalender vor Vernehmung der Nebenklägerin – was der Rüge den Boden entzogen hätte –, anders als auf UA S. 19 notiert, nicht stattgefunden ). Diesen Kalender während der Zeugenvernehmung der Nebenklägerin unter fortdauerndem Ausschluss der von der Vernehmung ausgeschlossenen Öffentlichkeit in Augenschein zu nehmen, wäre nach der zitierten Rechtsprechung unbedenklich gewesen (BGHR GVG § 171b Abs. 1 Augenschein

1).


9
An einer identischen Auslegung, wonach § 338 Nr. 5 i.V.m. § 247 StPO die Augenscheinseinnahme auch in Abwesenheit des während der Vernehmung der Zeugin entfernten Angeklagten gestattete, ist der Senat wegen nach wie vor entgegenstehender Rechtsprechung (vgl. dazu, jeweils m.N., Diemer in KK 6. Aufl. § 247 Rdn. 6 und 8 sowie Kuckein, ebenda § 338 Rdn. 77) gehindert. Auf entsprechende Anfrage bei den anderen Strafsenaten (Senatsbeschluss in dieser Sache vom 10. März 2009, StV 2009, 226 m. Anm. Schlothauer; vgl. ferner den Anfragebeschluss des Senats in einer Parallelsache vom selben Tage – 5 StR 460/08, StV 2009, 342 m. Anm. Eisenberg ; hierzu nunmehr – betreffend die Vereinbarkeit fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten während der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen mit § 247 StPO – Vorlagebeschluss des Senats vom heutigen Tage) hat lediglich der 1. Strafsenat seine entgegenstehende Rechtsprechung aufgegeben.
10
4. Die Rüge greift indes aus anderen Gründen nicht durch, so dass eine Divergenzvorlage an den Großen Senat für Strafsachen hier nicht veranlasst ist. Unterstellt man nämlich auf der Grundlage der verbindlichen Rechtsprechung den Verfahrensverstoß, so ist dieser jedenfalls wirksam geheilt worden.
11
a) Auch die den Senat bindende Rechtsprechung, die eine Erhebung des Sachbeweises während der Zeugenvernehmung in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten von § 247 StPO grundsätzlich nicht als gedeckt ansieht , verneint einen durchgreifenden Verstoß für den Fall nachträglicher Heilung (vgl. BGHSt 37, 48, 49). Diese liegt in einer Wiederholung der Augenscheinseinnahme während der weiteren Hauptverhandlung nunmehr in Anwesenheit des Angeklagten.
12
Hierfür reicht die Besichtigung des Augenscheinsobjekts durch den Angeklagten während seiner Unterrichtung gemäß § 247 Satz 4 StPO aus. Alle weiterhin anwesenden notwendigen Verfahrensbeteiligten hatten dabei selbstverständlich die Möglichkeit, das Augenscheinsobjekt ihrerseits nochmals zu besichtigen. Das genügt für die eine Heilung bewirkende wiederholte Augenscheinseinnahme. Beim Augenschein in der Hauptverhandlung ist ein zusätzlicher „Kommunikationsakt“ unter den Verfahrensbeteiligten mit ausdrücklicher Erörterung zur Erheblichkeit einzelner Beobachtungen grundsätzlich nicht erforderlich (vgl. Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 86 Rdn. 17; a.A. Schlothauer StV 2009, 228, 229 m.w.N.). Bei einem überschaubaren schlichten Erscheinungsbild des Augenscheinsobjekts kann selbst für den Fall sukzessiver Augenscheinseinnahme nichts Weitergehendes gelten. Ein Ausnahmefall mag gegeben sein, wenn das Gericht einem eher unauffälligen Detail des Augenscheinsobjekts entscheidende Bedeutung zumisst, ohne die Prozessbeteiligten hierüber deutlich zu informieren, so dass die Gefahr einer Überraschungsentscheidung bestünde. Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Im Übrigen liegt, namentlich angesichts der Abhandlung der Reaktion des Angeklagten auf die Augenscheinseinnahme im Urteil (UA S. 19), sogar auf der Hand, dass die Strafkammervorsitzende auf von der Nebenklägerin erläuterte, teils gar markierte Kalendereintragungen im Rahmen der Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO in Gegenwart der übrigen Verfahrensbeteiligten – entsprechend der Erörterung bei der Augenscheinseinnahme im Rahmen der Zeugenvernehmung – besonders hingewiesen hat; weitergehender Protokollierung hätte dieser Vorgang nicht bedurft (vgl. Alsberg /Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess 5. Aufl. S. 240). Die Verteidigung hat in diesem Zusammenhang auch nicht etwa eine unzulängliche Unterrichtung des Angeklagten geltend gemacht und auch mit der Revision zu einer etwa unterschiedlichen Kommunikation bei der Augenscheinseinnahme in Abwesenheit des Angeklagten und bei der Besichtigung im Rahmen seiner Unterrichtung nichts vorgetragen.
13
b) Der 2. Strafsenat hat bereits bei identischer Fallgestaltung eine wirksame Heilung des angenommenen Verstoßes bejaht (BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 1; ähnlich bereits in StV 1983, 3; entsprechend der Antwortbeschluss vom 17. Juni 2009 – 2 ARs 138/09). Der erkennende 5. Straf- senat hat seine einer Heilung – mangels nochmaliger förmlicher Besichtigung des Augenscheinsobjekts durch sämtliche Prozessbeteiligte gemeinsam – entgegenstehende Rechtsprechung (BGHR StPO § 247 Abwesenheit 5; BGH StV 1981, 57; 1986, 418; vgl. auch Beschluss vom 26. Februar 1985 – 5 StR 108/85), auf die sich die Revision beruft, bereits im Anfragebeschluss aufgegeben. Auch nach Überprüfung der Ergebnisse des Anfrageverfahrens , in dem die übrigen Strafsenate bestätigt haben, bislang nicht entsprechend entschieden zu haben, hält der Senat an dieser Auffassung fest. Sie ist auch vom 1. und vom 4. Strafsenat ausdrücklich gebilligt worden (vgl. die Antwortbeschlüsse vom 22. April 2009 – 1 ARs 6/09 – und vom 25. August 2009 – 4 ARs 7/09).
14
c) Soweit der 3. Strafsenat (Antwortbeschluss vom 7. Juli 2009 – 3 ARs 7/09) zu einer abweichenden Auffassung neigt und die Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen wegen grundsätzlicher Bedeutung anregt, folgt der erkennende Senat dem nicht. Er sieht bei Annahme einer Heilung in Form des hier in Frage stehenden Vorgehens keine Anhaltspunkte für ernstliche rechtsstaatliche Defizite. Die Gefahr, dass die insgesamt schwer überschaubare Rechtsprechung zu § 247 StPO noch komplizierter würde, könnte der Senat allein in der Fortführung seiner bisherigen überformalen Rechtsprechung erblicken. Ob in sonstigen Fällen weitergehender Beweiserhebung während einer gemäß § 247 StPO in Abwesenheit des Angeklagten erfolgten Vernehmung eine Heilung anders als durch vollständige Wiederholung erfolgen könnte, etwa gar in einer Art Selbstleseverfahren beim Urkundenbeweis , wird gegebenenfalls zu entscheiden sein.
15
5. Abschließend bemerkt der Senat zu den für eine Vorlage an den Großen Senat ins Feld geführten Argumenten des 3. Strafsenats: Dessen Vorschlag, eine einheitliche Rechtsprechung zu den absoluten Revisionsgründen aus § 338 Nr. 5 und 6 StPO durch Aufgabe der „Zusammenhangformel“ bei § 338 Nr. 6 StPO zu finden, folgt der 5. Strafsenat nicht. Dem ste- hen gegenüber der Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes vorrangige Belange einer stringenten Gestaltung der Hauptverhandlung entgegen.
16
6. Trotz der beträchtlichen durch das Anfrageverfahren verursachten Verzögerung der Revisionsentscheidung (vgl. Rieß in NStZ-Sonderheft für Miebach 2009, S. 30, 32 f.) besteht kein Anlass für eine irgendwie geartete Kompensation in der Rechtsfolge. Das Verfahren nach § 132 GVG vermag als rechtsstaatliche Ausgestaltung des gerade auch dem Schutz des Beschwerdeführers dienenden Rechtsmittelrechts grundsätzlich keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu begründen (vgl. BVerfGE 122, 248,

280).


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(1) Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt.

(2) Ist das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt, so ist die Vorführung anzuordnen oder ein Haftbefehl zu erlassen, soweit dies zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten ist.

Das Gericht kann anordnen, daß sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt, wenn zu befürchten ist, ein Mitangeklagter oder ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen. Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 18 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist oder wenn bei einer Vernehmung einer anderen Person als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihre Gesundheit besteht. Die Entfernung des Angeklagten kann für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten angeordnet werden, wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

(1) Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt.

(2) Ist das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt, so ist die Vorführung anzuordnen oder ein Haftbefehl zu erlassen, soweit dies zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten ist.

Das Gericht kann anordnen, daß sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt, wenn zu befürchten ist, ein Mitangeklagter oder ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen. Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 18 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist oder wenn bei einer Vernehmung einer anderen Person als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihre Gesundheit besteht. Die Entfernung des Angeklagten kann für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten angeordnet werden, wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.

(1) Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt.

(2) Ist das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt, so ist die Vorführung anzuordnen oder ein Haftbefehl zu erlassen, soweit dies zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten ist.

(1) Besteht die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl des Zeugen, wenn er in Gegenwart der in der Hauptverhandlung Anwesenden vernommen wird, so kann das Gericht anordnen, daß der Zeuge sich während der Vernehmung an einem anderen Ort aufhält; eine solche Anordnung ist auch unter den Voraussetzungen des § 251 Abs. 2 zulässig, soweit dies zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. Die Entscheidung ist unanfechtbar. Die Aussage wird zeitgleich in Bild und Ton in das Sitzungszimmer übertragen. Sie soll aufgezeichnet werden, wenn zu besorgen ist, daß der Zeuge in einer weiteren Hauptverhandlung nicht vernommen werden kann und die Aufzeichnung zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. § 58a Abs. 2 findet entsprechende Anwendung.

(2) Das Gericht kann anordnen, dass die Vernehmung eines Sachverständigen in der Weise erfolgt, dass dieser sich an einem anderen Ort als das Gericht aufhält und die Vernehmung zeitgleich in Bild und Ton an den Ort, an dem sich der Sachverständige aufhält, und in das Sitzungszimmer übertragen wird. Dies gilt nicht in den Fällen des § 246a. Die Entscheidung nach Satz 1 ist unanfechtbar.

Das Gericht kann anordnen, daß sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt, wenn zu befürchten ist, ein Mitangeklagter oder ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen. Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 18 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist oder wenn bei einer Vernehmung einer anderen Person als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihre Gesundheit besteht. Die Entfernung des Angeklagten kann für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten angeordnet werden, wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 268/06
vom
19. Dezember 2006
BGHSt: ja zu I 2
BGHR: ja
Veröffentlichung: ja
_______________________________
Die gemäß § 247 Satz 4 StPO gebotene Unterrichtung eines vorübergehend
entfernten Angeklagten kann auch so erfolgen, dass er das Geschehen im Sitzungssaal
mittels Videoübertragung mitverfolgen kann. Der Vorsitzende muss
sich dann jedoch vergewissern, dass die Videoübertragung nicht durch technische
Störungen beeinträchtigt wurde. Wie er sich diese Gewissheit verschafft,
bestimmt der Vorsitzende.
BGH, Beschl. vom 19. Dezember 2006 - 1 StR 268/06 - LG Offenburg
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. Dezember 2006 beschlossen
:
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Offenburg vom 21. Dezember 2005 werden verworfen.
Jeder Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels sowie die
der Nebenklägerin R. M. dadurch jeweils entstandenen
notwendigen Auslagen zu tragen, der Angeklagte A.
Mi. auch die der Nebenklägerin I. Mi. durch sein
Rechtsmittel entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe:


1
Die Angeklagten sind Brüder. Sie wurden jeweils zu Freiheitsstrafe verurteilt , weil sie die Stieftochter eines weiteren Bruders, die 1989 geborene R. M. , wiederholt sexuell missbraucht haben, H. Mi. etwa seit 1997, A. Mi. etwa seit 2000. A. Mi. hat außerdem seine Nichte, die 1996 geborene I. Mi. , 2000 wiederholt sexuell missbraucht. Zugleich wurden beide Angeklagte zu Schmerzensgeldzahlung an R. M. verurteilt, A. Mi. auch zu einer Schmerzensgeldzahlung an I. Mi, . Die auf mehrere Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützten Revisionen bleiben erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

2
Der näheren Ausführung bedarf dies hinsichtlich zweier Verfahrensrügen. Diese sind für beide Angeklagten in ihrem rechtlichen Kern identisch erhoben. Kleinere Unterschiede im Vortrag sind für die rechtliche Bewertung des Vorbringens ohne Bedeutung und können daher auf sich beruhen.
3
1. R. M. wurde am 4. Verhandlungstag als Zeugin gehört und anschließend entlassen. Im Hinblick auf anderweitige Hilfsbeweisanträge, denen das Gericht stattgegeben hatte, wurde von Amts wegen auch R. M. am 17. Verhandlungstag nochmals als Zeugin geladen. Es ging um die näheren Umstände eines Umzugs, anlässlich dessen es zu sexuellen Übergriffen auf R. M. gekommen sein soll.
4
Auf Antrag der Nebenklägervertreterin wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen (§ 171b GVG). Zur Begründung nahm die Jugendkammer Bezug auf den entsprechenden Beschluss vom 4. Verhandlungstag.
5
Hiergegen wendet sich die Revision. Sie meint, da nur über die Umstände des Umzugs noch Beweis zu erheben war - über ein anderes Thema sei es bei der erneuten Vernehmung der Zeugin dann auch nicht gegangen - hätten die Voraussetzungen für einen Ausschluss der Öffentlichkeit nicht vorgelegen.
6
Außerdem hätte unter den gegebenen Umständen nicht nur auf den früheren Beschluss Bezug genommen werden dürfen.
7
Im Rahmen des Vorbringens zu dieser Rüge gibt es von der Revision (insbesondere für den Angeklagten H. Mi. ) einerseits und dem Generalbundesanwalt andererseits umfangreiches und inhaltlich gegenläufiges Vorbringen zum erforderlichen Revisionsvortrag, den Gründen, warum dieser Vortrag unterblieben sei, und dementsprechend gegenläufige Anträge zu des- halb zu gewährender oder zu versagender Wiedereinsetzung. All dies kann auf sich beruhen bleiben. Die Rüge ist in weitem Umfang unstatthaft, soweit sie statthaft ist, ist sie jedenfalls offensichtlich unbegründet.
8
a) Statthaft ist hier allein die Rüge, es fehle an der gemäß § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG gebotenen Begründung des Beschlusses (vgl. BGH StV 1990, 10). Mit der Bezugnahme auf die Gründe des früheren Beschlusses sind die nach Auffassung des Gerichts maßgeblichen Gründe für den erneuten Ausschluss der Öffentlichkeit ausreichend angegeben (BGHSt 30, 298, 300, 304; BGH GA 1983, 361; in vergleichbarem Sinne auch BGH NStZ-RR 2004, 118, 119). Die Frage, ob die Gründe für den erneuten Ausschluss der Öffentlichkeit ausreichend deutlich sind, darf nicht - auch nicht im Zusammenhang mit den Anforderungen an den notwendigen Umfang des Revisionsvorbringens - mit der Frage vermengt werden, ob die Annahme des Gerichts, die Gründe der früheren Entscheidung rechtfertigten auch die erneut zu treffende Entscheidung, rechtlich zutrifft oder nicht.
9
b) Im Übrigen ist die Rüge unstatthaft, wie sich aus § 171b Abs. 3 GVG in Verbindung mit § 336 Satz 2 StPO ergibt. Unanfechtbar und damit revisionsgerichtlicher Überprüfung entzogen sind sämtliche im Rahmen von § 171b GVG inhaltlich zu treffenden Entscheidungen (vgl. Wickern in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 171b GVG Rdn. 25). Dies gilt auch für die einer solchen Entscheidung notwendig vorausgehende Prognose, ob eine Erörterung der in § 171b GVG genannten Umstände in dem Verfahrensabschnitt, für den die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden soll, zu erwarten ist (vgl. hierzu näher Wickern aaO Rdn. 11). Im Übrigen ist die Prognose, bei einer Vernehmung der zentralen Belastungszeugin für den Vorwurf sexuellen Missbrauchs würden in § 171b GVG genannte Umstände erörtert werden, auch dann nahe liegend, wenn es nur deshalb zu einer - erneuten - Vernehmung dieser Zeugin kommt, weil eine für sich genommen „neutrale“ Frage zum Randgeschehen (hier: nähere Umstände eines Umzugs) noch geklärt werden muss. Auch in einem solchen Fall ist kein Verfahrensbeteiligter rechtlich gehindert, bisher noch nicht gestellte, aber zur Sache gehörende - also den gesamten Anklagevorwurf betreffende - Fragen zu stellen; eine Beschränkung des Fragerechts auf ein bestimmtes Beweisthema gibt es nicht. All dies gilt entsprechend auch für das Gericht selbst. Schließlich wird das Verfahren auch dann nicht fehlerhaft, wenn sich die Prognose des Gerichts nicht bestätigt und es zu einer Erörterung der genannten Umstände nicht kommt (vgl. BGHSt 30, 212, 215 zu § 172 GVG).
10
2. Während der Vernehmung der Zeugin R. M. hatten sich die Angeklagten zu entfernen (§ 247 Satz 1 StPO). Sie konnten jedoch die Vernehmung von einem Nebenraum aus per Videoübertragung mitverfolgen. Nachdem die Angeklagten wieder im Sitzungssaal waren, erklärten ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung sämtliche Angeklagte „mit Zustimmung ihrer Verteidiger“ Folgendes:
11
“Ich konnte die Aussage der Zeugin R. M. uneingeschränkt optisch und akustisch in dem gesonderten Raum wahrnehmen. Aus diesem Grunde verzichte ich auf den Bericht des Vorsitzenden gemäß § 247 Satz 4 StPO.“
12
Dementsprechend wurde von einer weiteren Unterrichtung abgesehen. Nunmehr trägt die Revision unter Darlegung technischer Details vor, während der Vernehmung habe es Mängel der Übertragung gegeben, es sei „häufig“ bzw. „mehrfach“ vorgekommen, dass „keine vollständige Übertragung in den Nebenraum stattfand“. Der Angeklagte hätte gemäß § 247 Satz 4 StPO über den Inhalt der Vernehmung der Zeugin unterrichtet werden müssen.
13
Gleiches wird für das identisch abgelaufene Verfahrensgeschehen am 17. Verhandlungstag geltend gemacht, vom Angeklagten A. Mi. darüber hinaus auch für einen anderen Verhandlungstag, als nur er während der Vernehmung der Zeugin I. Mi. entfernt worden war.
14
Ein Rechtsfehler ist nicht ersichtlich.
15
a) In welcher Form eine gemäß § 247 Satz 4 StPO gebotene Unterrichtung zu erfolgen hat, ist im Gesetz nicht näher geregelt und daher im Rahmen der Verhandlungsleitung (§ 238 Abs. 1 StPO) vom Vorsitzenden zu bestimmen (vgl. Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 247 Rdn. 44; Diemer in KK 5. Aufl. § 247 Rdn. 15). Die Unterrichtung kann auch in der Weise erfolgen, dass der Angeklagte das Geschehen im Gerichtssaal mittels Videoübertragung unmittelbar mit verfolgen kann. Durch die alsbaldige Unterrichtung gemäß § 247 Satz 4 StPO soll der Angeklagte in die Lage versetzt werden, den weiteren Gang der Verhandlung sofort zu beeinflussen. Damit soll sein Recht gewahrt werden, sich trotz seiner vorübergehenden Abwesenheit bestmöglich zu verteidigen (vgl. zusammenfassend BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 8 m.w.N.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 15. November 1992 - 2 BvR 1793/ 92). All dies wird durch die in Rede stehende Verfahrensweise nicht gefährdet; daher ist es unschädlich, dass die Unterrichtung nicht erst erfolgt, wenn der Angeklagte wieder im Gerichtssaal ist, sondern schon vorher außerhalb des Gerichtssaals zeitgleich mit dem Geschehen im Gerichtssaal, und dass sie nicht verbal durch den Vorsitzenden erfolgt, sondern dadurch, dass dieser die Kenntnisnahme durch Videoübertragung ermöglicht. Ein unmittelbares Erleben einer Aussage durch Videoübertragung wird regelmäßig sogar eindrücklicher sein, als dies ein späterer verbaler Bericht hierüber sein kann.
16
b) All dies ändert jedoch nichts daran, dass die Verantwortung für die Unterrichtung des Angeklagten letztlich beim Vorsitzenden verbleibt. Dementsprechend muss er sich vergewissern, dass der Angeklagte nicht aus technischen Gründen gehindert war, die im Sitzungssaal gemachte Aussage uneingeschränkt zur Kenntnis zu nehmen. Wie er sich diese Gewissheit verschafft, bestimmt der Vorsitzende; es gelten insoweit vergleichbare Grundsätze wie bei der Gestaltung der Unterrichtung. Eine Befragung des Angeklagten, ob es Störungen gab, wie sie der Vorsitzende hier offenbar vorgenommen hat, wird regelmäßig zweckmäßig sein. Die Auffassung, dass der Vorsitzende darüber hinaus stets den Aussageinhalt darlegen müsse, weil es sonst nicht zuverlässig möglich sei, etwaige Unzulänglichkeiten der Übertragung festzustellen, teilt der Senat nicht. Allein dadurch, dass der Angeklagte eine Unterrichtung durch den Vorsitzenden entgegennimmt, kann offensichtlich nicht deutlich werden, was er durch die vorangegangene Übertragung schon weiß und was er wegen Übertragungsmängeln nicht wissen kann. Bei einer Fallgestaltung wie hier kann sich die Erkenntnis von Übertragungsmängeln nicht aus der Unterrichtung durch den Vorsitzenden, sondern nur aus einer Erklärung des Angeklagten ergeben. Die Möglichkeit, dass der Angeklagte zu Unrecht glaubt, alles wahrgenommen zu haben und erst durch die Unterrichtung eine sonst unbemerkt gebliebene Störung erkennt, ist praktisch nicht vorstellbar und kann daher außer Acht bleiben. Auch sonst sind Anhaltspunkte für die Annahme, die genannte Erklärung der Angeklagten, sie hätten der Vernehmung uneingeschränkt folgen können, könnte objektiv falsch sein, nicht ersichtlich. Ob bei einer Videoübertragung optische oder akustische Einschränkungen aufgetreten sind, ist eine sehr einfach zu beurteilende Frage. Anhaltspunkte dafür, dass die Angeklagten gleichwohl hierzu nicht in der Lage gewesen sein könnten, sind weder nachvollziehbar vorgetragen , noch sonst ersichtlich. Ebenso wenig ist ersichtlich, warum die Angeklagten hierzu absichtlich etwas Falsches vorgetragen haben könnten. Schließlich fällt ins Gewicht, dass diese Erklärung ausdrücklich mit Zustimmung der Verteidiger abgegeben wurde. Dass diese einer solchen Erklärung zugestimmt hätten , wenn ein - selbst ganz geringer - Zweifel an ihrer Richtigkeit bestanden hätte, liegt fern. Konkrete Anhaltspunkte, die hier eine andere Beurteilung nahe legen könnten, sind nicht ersichtlich. Nach alledem hat sich der Vorsitzende hier in rechtlich bedenkenfreier Weise die Gewissheit verschafft, dass die Angeklagten der Vernehmung uneingeschränkt folgen konnten.
17
c) Ob es generell möglich ist, dies mit neuem Tatsachenvortrag im Revisionsverfahren in Frage zu stellen, mag hier dahinstehen. Die nunmehr aufgestellte Behauptung technischer Störungen hat sich nämlich nicht erwiesen. Die - von der Revision inhaltlich nicht angezweifelte - dienstliche Erklärung des Ersten Justizhauptwachtmeisters E. ergibt nämlich, dass eine „lückenlose Übertragung in Bild und Ton“ sichergestellt war. Wie er näher darlegt, ist die technische Schilderung der Revision unzutreffend, selbst unter den von ihr behaupteten Umständen wären keine Tonstörungen aufgetreten, sondern allenfalls Bildstörungen. Der Senat braucht der Frage, ob es rechtlich überhaupt Bedeutung haben könnte, wenn die Angeklagten zwar alles gehört, aber nicht alles gesehen hätten, aber nicht näher nachzugehen. Aus der Erklärung des Ersten Justizhauptwachtmeisters E. ergibt sich nämlich nur, dass (allenfalls) Bildstörungen aufgetreten wären, wenn die Behauptungen der Revision zutreffen würden. Dass derartige Bildstörungen tatsächlich aufgetreten sind, ergibt sich hieraus jedoch nicht. Die in der Hauptverhandlung abgegebenen Erklärungen sprechen dagegen. Der Zweifelssatz gilt nicht hinsichtlich der Erweislichkeit von Tatsachen, aus denen sich ein Verfahrensverstoß ergeben soll (vgl. BGHSt 21, 4, 10; w. N. b. Kuckein in KK 5. Aufl. § 344 Rdn. 41).
18
d) Besteht aber kein Zweifel daran, dass der Angeklagte durch die Videoübertragung umfassend über das Geschehen während seiner Abwesenheit im Sitzungssaal informiert ist, hätte eine gleichwohl nochmals vorgenommene Unterrichtung des Angeklagten über dieses Geschehen keinen erkennbaren Sinn. Außerdem kann ein Urteil offensichtlich nicht darauf beruhen, dass der Angeklagte nicht über etwas unterrichtet worden ist, was er ohnehin zuverlässig weiß.
19
e) Der Senat bemerkt, dass alledem bei sinngerechtem Verständnis die Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 26. August 2005 - 3 StR 269/05 (BGHR StPO § 247 Abwesenheit 29) nicht entgegensteht. Außerdem ist diese Entscheidung nicht einschlägig i. S. d. § 132 GVG (vgl. hierzu Hannich in KK 5. Aufl. § 132 GVG Rdn. 3 f. m.w.N.), da der 3. Strafsenat über einen Sachverhalt zu entscheiden hatte, der mit dem vorliegenden nicht zu vergleichen ist: Dort waren während der Zeugenvernehmung unverzüglich geltend gemachte technische Mängel aufgetreten, die den Angeklagten an der weiteren Kenntnisnahme der Vernehmung mittels der zunächst einwandfrei gewesenen Videoübertragung hinderten. In diesem Zusammenhang machte er mit seiner Revision nicht etwa geltend, dass er nach Abschluss der Vernehmung nicht vollständig unterrichtet worden wäre; er wandte sich vielmehr (vergeblich) dagegen , dass die von der Störung betroffenen Vernehmungsteile nicht wiederholt worden waren, um ihm zu ermöglichen, auch diesen Teil der Vernehmung doch noch mittels Videoübertragung mitzuverfolgen.
20
f) Der Senat sieht Anlass zu folgenden Hinweisen:
21
(1) Bei einer Fallgestaltung wie der vorliegenden kann das Gericht etwaige technische Störungen, anders als im Fall des § 247a StPO, nicht selbst unmittelbar bemerken. Es erscheint daher zweckmäßig, dass ein Justizangehöriger in Gegenwart des Angeklagten die Videoübertragung verfolgt. Er kann das Gericht unmittelbar benachrichtigen, wenn dies während der Übertragung we- gen technischer Störungen oder aus sonstigen Gründen erforderlich wird. Nach Abschluss der Übertragung könnten Angaben eines solchen Beobachters gewichtiges Beweisanzeichen sein, sowohl bei der Überprüfung, ob der Angeklagte unterrichtet ist (vgl. I. 2. b), als auch dann, wenn, wie hier, Monate nach der Hauptverhandlung erstmals im Revisionsverfahren das Gegenteil von dem behauptet wird („häufig ... keine vollständige Übertragung“), was in der Hauptverhandlung noch unmissverständlich erklärt worden war („konnte … uneingeschränkt … wahrnehmen“).
22
(2) Ebenso kann sich empfehlen, insoweit vergleichbar dem Fall des § 247a Satz 4 StPO, den übertragenen Vorgang zugleich aufzuzeichnen, damit er in etwaigen Zweifelsfällen dem Angeklagten erforderlichenfalls nochmals vorgespielt werden kann.
23
(3) Schließlich wird in Fällen, in denen - anders als hier - etwa Pläne, Skizzen oder auch Lichtbilder als Vernehmungsbehelfe verwendet werden (vgl. hierzu BGHR StPO § 247 Abwesenheit 10, 28; BGH, Urteil vom 22. November 2001 - 1 StR 367/01; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 247 Rdn.19), auf die Wahrung der Recht e des Angeklagten in besonderer Weise Bedacht zu nehmen sein. Es versteht sich nämlich nicht von selbst, dass derartige Unterlagen ohne weiteres von der Videoübertragung erfasst werden und sich dementsprechend die hierzu gemachten Aussagen des Zeugen allein durch die Videoübertragung in vollem Umfang erschließen. In derartigen Fällen wird es sich empfehlen, den Angeklagten so zu unterrichten, wie dies ohne Videoübertragung zu geschehen hat.

II.

24
Auch im Übrigen hat die auf Grund der Revisionsrechtfertigungen gebotene Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben. Insoweit verweist der Senat auf die Ausführungen des Generalbundesanwalts. Nack Wahl Kolz Elf Graf

(1) Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt.

(2) Ist das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt, so ist die Vorführung anzuordnen oder ein Haftbefehl zu erlassen, soweit dies zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten ist.

Das Gericht kann anordnen, daß sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt, wenn zu befürchten ist, ein Mitangeklagter oder ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen. Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 18 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist oder wenn bei einer Vernehmung einer anderen Person als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihre Gesundheit besteht. Die Entfernung des Angeklagten kann für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten angeordnet werden, wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

(1) Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt.

(2) Ist das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt, so ist die Vorführung anzuordnen oder ein Haftbefehl zu erlassen, soweit dies zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten ist.

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 131/06
vom
11. Mai 2006
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes u. a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 11. Mai 2006 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Halle vom 23. November 2005 wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass der Teilfreispruch entfällt. Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern dadurch entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe:

1
Das Landgericht hatte den Angeklagten durch Urteil vom 3. Mai 2004 wegen sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Jugendlichen in zwei Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hatte es die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet und ihn zur Zahlung von Schmerzensgeld an die Geschädigten verurteilt. Dieses Urteil hat der Senat auf die Revision des Angeklagten durch Beschluss vom 21. April 2005 - 4 StR 89/05 - (NStZ-RR 2005, 232) insgesamt aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgeric ht zurückverwiesen. Es hat nunmehr den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen sexuellen Missbrauchs eines Jugendlichen und sexuellen Missbrauchs eines Kindes unter Einbeziehung einer viermonatigen Freiheitsstrafe aus einem früheren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und fünf Monaten verurteilt. Ferner hat es erneut die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet und den Angeklagten wiederum zur Zahlung von Schmerzensgeld verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel führt lediglich zum Wegfall des Teilfreispruchs; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Der Teilfreispruch war nicht veranlasst. Zwar hat das Landgericht den Angeklagten, soweit es die sexuellen Übergriffe zum Nachteil des Ronny M. betrifft, statt der angeklagten zwei Fälle nur wegen einer Tat (§ 182 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB) verurteilt. Es hat jedoch die angeklagten Tathandlungen als erwiesen erachtet und lediglich nicht auszuschließen vermocht, dass beide Fälle bei einer einzigen Gelegenheit stattfanden und deshalb eine Tat im Rechtssinne bilden. Unter diesen Umständen war für einen Teilfreispruch kein Raum (BGHSt 44, 196, 201 f.).
3
2. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat im Übrigen keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf die Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 31. März 2006.
4
Ergänzende Ausführungen des Senats sind lediglich zu der Verfahrensrüge veranlasst, mit der der Beschwerdeführer den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO geltend macht, weil die Entscheidung über die Vereidigung und Entlassung des als Geschädigter vernommenen Zeugen Ronny M. in Abwesenheit des für die Dauer dieser Vernehmung gemäß § 247 (Sätze 1 und
2) StPO von der Verhandlung ausgeschlossenen Angeklagten stattgefunden habe. Auch diese Rüge dringt im Ergebnis nicht durch. Ihr liegt folgender von der Revision zutreffend mitgeteilter Verfahrensgang zugrunde:
5
a) Nachdem durch Kammerbeschluss bereits am zweiten Hauptverhandlungstag für die Dauer der Vernehmung des Ronny M. sowohl die Entfernung des Angeklagten gemäß § 247 StPO als auch der Ausschluss der Öffentlichkeit gemäß § 171 b GVG angeordnet worden war, ordnete der Vorsitzende am vierten Hauptverhandlungstag die Videoübertragung der Vernehmung des Zeugen in einen Nebenraum an, damit der Angeklagte dort die Vernehmung in Wort und Bild unmittelbar mitverfolgen könne. Sodann wurde der Zeuge in Abwesenheit des Angeklagten vernommen. Nach 40 Minuten wurde die Sitzung unterbrochen , "damit der Verteidiger mit dem Angeklagten Rücksprache nehmen kann". Die Sitzung wurde neun Minuten später - weiterhin nicht öffentlich und in Abwesenheit des Angeklagten - fortgesetzt, wobei der Verteidiger erklärte, "dass die Pause ausreichend war, um mit seinem Mandanten Rücksprache zu nehmen". Danach sagte der Zeuge weiter zur Sache aus. Sodann ist im Protokoll vermerkt : Anordnung des Vorsitzenden "Der Zeuge bleibt nach richterlichem Ermessen gemäß § 59 StPO unvereidigt und wird im allseitigen Einverständnis entlassen". Die Entlassung des Zeugen erfolgte sechs Minuten nach Ende der vorangehenden Sitzungspause. Erst dann wurde die Öffentlichkeit wieder hergestellt und der Angeklagte wieder in den Gerichtssaal verbracht.
6
Danach wurden zunächst zwei Zeugen in Anwesenheit des Angeklagten und sodann - nunmehr wiederum nach Entfernen des Angeklagten gemäß § 247 StPO - das Kind Katja L. vernommen. Im Anschluss an dessen Vernehmung , die wiederum zeitgleich in Wort und Bild in den Nebenraum, in dem sich der Angeklagte aufhielt, übertragen wurde, erklärte der Angeklagte, dass er die Zeugenvernehmungen des Ronny M. und der Katja L. "voll umfänglich verfolgen konnte". Nachdem sodann noch fünf weitere Zeugen vernommen waren, erklärte der Angeklagte am Ende dieses Verhandlungstages, "dass er keine Fragen mehr an den Zeugen Ronny M. habe".
7
b) Dieser Verfahrensgang begründet den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht. Allerdings gehören nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Verhandlung über die Vereidigung ebenso wie die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen nicht mehr zu dessen Vernehmung , sondern bilden einen selbständigen Verfahrensabschnitt. Danach ist in der Regel der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben, wenn der Angeklagte während dieser Verhandlungsteile von der Hauptverhandlung ausgeschlossen war (vgl. BGHSt 26, 218; BGH NStZ 2000, 440; BGH, Beschluss vom 21. März 2002 - 1 StR 543/01; kritisch - allerdings nicht tragend - BGH NStZ 1998, 425; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 19, 20 und StPO § 338 Nr. 5 Angeklagter 25). Der absolute Revisionsgrund scheitert hier indes trotz förmlicher Erfüllung seiner Voraussetzungen (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 25) angesichts der Besonderheiten des Verfahrensgangs im Zusammenhang mit der Vernehmung des Zeugen Ronny M.: - Der Angeklagte hat die gesamte Vernehmung des Zeugen durch die Videoübertragung in Wort und Bild mitverfolgt (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 26. August 2005 - 3 StR 269/05, StraFo 2005, 509). Dies sicherte die umfassende Information des Angeklagten über die Aussage. Das hat der Angeklagte mit seiner persönlichen Erklärung auch ausdrücklich bestätigt. - Nach dem weit überwiegenden Teil der Vernehmung hatten während deren Unterbrechung der Verteidiger und der Angeklagte ausreichend Gelegenheit zur Besprechung. Zwar teilt die Revision den Inhalt dieser Rücksprache nicht mit. Es liegt aber nicht fern, dass Gegenstand auch ein Verzicht auf eine Vereidigung und auf weitere Fragen war, zumal der Vermerk über das "allseitige" Einverständnis mit der Entlassung ein insoweit von dem Verteidiger vorher vom Angeklagten eingeholtes Einverständnis jedenfalls nicht ausschließt (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 20 S. 2).
- Nach der Unterbrechung zur Rücksprache des Verteidigers mit dem Angeklagten wurde die Vernehmung des Zeugen bereits nach wenigen Minuten beendet (vgl. zum Fall einer möglicherweise vorher festgelegten ganz punktuellen Befragung des Zeugen BGH, Beschluss vom 24. Januar 2001 – 5 StR 603/00) und wurden Anträge zur Vereidigung auch seitens des Verteidigers nicht gestellt. - Der Angeklagte hat - wovon hier auszugehen ist - durch die Videoübertragung auch die Anordnung des Vorsitzenden, den Zeugen nicht zu vereidigen und ihn zu entlassen, mitverfolgt. Gleichwohl hat er nach der weiteren Beweisaufnahme ausdrücklich auf weitere Befragung des Zeugen verzichtet.
8
Angesichts dieser Besonderheiten spricht hier nichts dafür, dass es sich bei der genannten Anordnung des Vorsitzenden um wesentliche Teile der Hauptverhandlung gehandelt haben könnte (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 21), bezüglich derer allein die bloße Abwesenheit des Angeklagten den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO begründete und - ungeachtet der Berücksichtigung des Zeugen- und Opferschutzes (vgl. dazu BGH NStZ 1998, 425, 426; Basdorf in Festschrift für Salger, 1995, S. 203, 205, 209 f.) - zur Aufhebung eines ansonsten materiell richtigen Urteils und zur Neuverhandlung der Sache führen müsste. Jedenfalls kann unter den hier gegebenen Umständen ausnahmsweise jegliches Beruhen des Urteils auf der bloßen Abwesenheit des Angeklagten während der Entscheidung über die Vereidigung und Entlassung des Zeugen denkgesetzlich ausgeschlossen werden (vgl. BGHR StPO § 338 Beruhen 1 und StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Besetzungsrüge 6; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 338 Rdn. 2 m.w.Nachw.). Dies gilt hinsichtlich der Anordnung des Vorsitzenden, den Zeugen nicht zu vereidigen, schon deshalb, weil nach der Änderung des § 59 StPO durch das 1. Justizmodernisie-rungsgesetz vom 28. August 2004 (BGBl. I 2198) die Nichtvereidigung den Regelfall bildet (vgl.
dazu BGH NJW 2006, 388, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt; BGHR StPO § 338 Nr. 5 Angeklagter 25; BGH, Beschluss vom 30. März 2005 - 1 StR 67/05, NStZ-RR 2005, 208). Nichts spricht dafür, dass das Gericht bei Anwesenheit des Angeklagten in diesem Verfahrensabschnitt den Zeugen Ronny M. ausnahmsweise vereidigt hätte, zumal ersichtlich keiner der (anwesenden) Verfahrensbeteiligten überhaupt in Erwägung gezogen hat, eine Vereidigung zu beantragen. Es kommt deshalb insoweit auch nicht mehr darauf an, dass wegen des Ausmaßes der im Urteil festgestellten geistigen Behinderung dieses Zeugen (UA 23) einer Vereidigung von vorneherein nahe liegend auch das Vereidigungsverbot des § 60 Nr. 1 StPO entgegengestanden hat. Auch das Fragerecht (vgl. zur Sicherung des Fragerechts in diesen Fällen BGHR StPO § 247 Abwesenheit 20 S. 2 f.) ist nicht verletzt, weil der Angeklagte auf Fragen an den Zeugen ausdrücklich verzichtet hat. Tepperwien Maatz Kuckein Ernemann Sost-Scheible

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 643/09
vom
28. Juli 2010
in der Strafsache
gegen
wegen Steuerhinterziehung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 28. Juli 2010,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Hebenstreit,
Dr. Graf,
Prof. Dr. Jäger,
Prof. Dr. Sander,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 22. Juli 2009 mit den Feststellungen zur Höhe des Mehrumsatzes und zur nachfolgenden Bestimmung der Höhe der hinterzogenen Steuer aufgehoben. Die übrigen Feststellungen, auch die festgestellten Rohgewinnaufschläge, bleiben bestehen. 2. Die weitergehende Revision wird verworfen. 3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen tateinheitlicher Umsatz-, Gewerbe- und Einkommensteuerhinterziehung in sechs Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt. Drei Monate gelten als vollstreckt. Gegen diese Verurteilung richtet sich die Revision der Angeklagten. Sie beanstandet einen Verfahrensverstoß (Verhandlung in ihrer Abwesenheit , §§ 230 Abs. 1, 338 Nr. 5 StPO) und die Verletzung sachlichen Rechts. Der Formalrüge bleibt der Erfolg versagt. Die Sachrüge führt zur Aufhebung des Schuld- und Strafausspruchs mit den Feststellungen zur Höhe des Mehrumsat- zes und zu den hierauf aufbauenden Feststellungen zur Berechnung der Höhe der hinterzogenen Steuern. Die übrigen Feststellungen bleiben bestehen.

I.

2
1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:
3
Die Angeklagte betrieb in Ludwigsburg in zentraler Lage zwei gastronomische Betriebe unter den Firmen „A. “ (von April 1999 bis August 2005) und „S. “ (von Ende Januar 1998 bis Oktober 2006). Die Gewinne aus den beiden Unternehmen wurden in den Jahren 1998 bis 2001 getrennt durch Einnahmen-Überschussrechnungen und anschließend zusammengefasst durch Bilanzierung ermittelt.
4
Die Einnahmen-Überschussrechnungen und die Bilanzen enthalten jeweils zu niedrige Betriebseinnahmen. Die hierauf beruhenden Umsatz-, Gewerbe - und Einkommensteuerklärungen der Angeklagten sind deshalb unzutreffend. In den Einkommensteuererklärungen der Jahre 2001 und 2002 verschwieg die Angeklagte zudem Kapitaleinkünfte aus einer Geldanlage bei der Filiale der P. bank in B. . Insgesamt führte das zu einer Steuerverkürzung in Höhe von 950.002 €.
5
2. Zur Grundlage dieser Feststellungen:
6
a) Hinsichtlich der unversteuerten Zinseinkünfte aus B. hat die Angeklagte eingeräumt, dass das entsprechende Konto auf sie und ihren Ehemann lautete und dass die Einnahmen hieraus gleichwohl keinen Eingang in die Steuererklärungen gefunden haben. Bei der Anlage habe es sich aber tat- sächlich um Gelder ihrer in der Schweiz lebenden Schwester gehandelt. Dies sah die Strafkammer insbesondere aufgrund der widersprüchlichen Angaben der als Zeugin gehörten Schwester als widerlegt an.
7
b) Unzutreffende Angaben zu den Betriebseinnahmen beider gastronomischer Betriebe hat die Angeklagte bestritten. Die beim Fleischgroßhändler Bi. über die Lieferungen an sie erhobenen Rechnungen seien zwar zutreffend. Die als bezogen ausgewiesene Gesamtmenge entspreche jedoch nicht dem Absatz. Durch Fett- und Wasserverlust sei ein Schwund von mindestens 40 % eingetreten. Auch hätten die Spieße ein geringeres Gewicht gehabt, als auf den Etiketten angegeben gewesen sei. Viele Kilos unverkäuflicher Kruste und Reste an den Spießen hätten weggeworfen werden müssen. Sie habe einen hohen Eigenverbrauch gehabt, für die Familie und die Schulfreunde ihrer Kinder. Dem türkischen Kulturverein habe sie täglich 7,5 bis 10 kg gegartes Dönerfleisch geschenkt.
8
Mehreinnahmen folgten nach den Feststellungen der Strafkammer schon aus dem während der entsprechenden Jahre angesammelten Vermögen der Angeklagten. Bei der Berechnung der tatsächlichen Umsätze war die Strafkammer auf Schätzungen angewiesen. Denn Buchhaltungsunterlagen, aufgrund derer die Umsatzangaben in den vom Steuerberater gefertigten Einnahmen -Überschussrechnungen und Bilanzen hätten überprüft werden können, waren bei der Angeklagten bzw. in ihren Betrieben nicht mehr vorhanden. Als einzige objektive Berechnungsgrundlage konnte die Strafkammer auf die beim Fleischlieferanten der Angeklagten erhobenen Rechnungen zurückgreifen.
9
Die Strafkammer hat zunächst eine möglichst konkrete Schätzung versucht. Für die Gesamtumsatzberechnung hat sie dazu in einem ersten Schritt die Umsatzbereiche Döner, Pizzen und Getränke unterschieden. Auf der Grundlage der Einkaufsrechnungen für die Döner-Fleischspieße konnte die Ausgangsmenge an verarbeitetem Dönerfleisch für jedes Jahr festgestellt werden. Unter Berücksichtigung der oben genannten Schwundfaktoren, deren Größenordnung durch das Ergebnis der Beweisaufnahme allerdings in erheblichem Umfang reduziert worden ist, hat das Landgericht einen Verkaufsanteil von 62 % des eingekauften Rohfleisches zugrunde gelegt und anhand der festgestellten Portionsmenge und eines mittleren Verkaufspreises hieraus den jeweiligen Jahresumsatz im Bereich Döner ermittelt. Hinsichtlich der Pizzaumsätze hat das Landgericht auf Grundlage der Angaben der Angeklagten und eines mit der Gewinnermittlung der Betriebe befassten Steuerfachwirts eine bestimmte Größenordnung pro Jahr festgelegt und diese mit einem mittleren Verkaufspreis multipliziert. Den Getränkeumsatz hat das Landgericht schließlich mittels eines 100 %-Aufschlags auf die Getränkeeinkaufsbeträge, wie sie aus den Einnahme -Überschussrechnungen und den Bilanzen hervorgehen, berechnet.
10
Bei der Gegenüberstellung der so errechneten Gesamtumsätze mit den Wareneinsatzbeträgen ergaben sich jedoch unerklärbare Schwankungen des auf diese Weise ermittelten Rohgewinnaufschlags. Teilweise blieb der so errechnete Jahresumsatz sogar hinter dem von der Angeklagten erklärten Jahresumsatz zurück. Mangels ausreichend zuverlässiger Datenbasis erwies sich dieser Weg der Schätzung der tatsächlichen Umsätze somit als untauglich.
11
Das Landgericht hat den Mehrumsatz deshalb im Wege einer pauschalen Schätzung ermittelt. Es hat die Jahresumsätze der Angeklagten auf der Grundlage einer durch das Bundesministerium für Finanzen jährlich herausgegebenen Richtsatzsammlung von Rohgewinnaufschlägen für Imbissbetriebe und Pizzerien ermittelt, indem es einen Rohgewinnaufschlag von 190 % auf die in den Einnahme-Überschussrechnungen bzw. Bilanzen enthaltenen Waren- einsatzbeträge vorgenommen hat. Dieser Wert stellt einen Mischwert aus den Richtsatzwerten für Imbissbetriebe und Pizzerien dar, der entsprechend den jeweils festgestellten Umsatzanteilen im Betrieb der Angeklagten von der Kammer im Verhältnis 3 (Döner-Imbiss) zu 1 (Pizzeria) gebildet wurde. Bei dem Rohgewinnaufschlag von 190 % handelt es sich um einen Mindestwert. In Vergleichsfällen sind im Bezirk des Finanzamts Ludwigsburg Rohgewinnaufschlagsätze von 220 bis zu 270 % ermittelt worden.
12
Ausgehend von diesem Rohgewinnaufschlag errechnete die Strafkammer die Mehrumsätze und die daraus resultierenden Mehrsteuern, ohne allerdings den Berechnungsvorgang umfassend mitzuteilen. Die Urteilsgründe enthalten weder die aus den Gewinn- und Verlustrechnungen bzw. Bilanzen entnommenen Wareneinsatzbeträge noch die daraus auf dem dargestellten Weg errechneten Gesamtumsätze. In den Feststellungen wird zwar der Mehrumsatz und die insoweit verkürzte Umsatzsteuer pro Jahr angegeben. Der Inhalt der jeweils abgegebenen Steuererklärung und der überprüfbare Vergleich zwischen Ist-Steuer und Soll-Steuer fehlen jedoch.

II.

13
Die von der Angeklagten erhobene Verfahrensrüge dringt nicht durch. Die Revision behauptet das Vorliegen des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 5 StPO. Am 26. Mai 2009 habe entgegen § 230 Abs. 1 StPO ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung in Abwesenheit der Angeklagten stattgefunden.
14
1. Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde.
15
Die Hauptverhandlung fand in der Zeit vom 21. April bis zum 22. Juli 2009 an zwölf Sitzungstagen statt. Auf den 26. Mai 2009 war die Fortsetzung der am 19. Mai unterbrochenen Hauptverhandlung bestimmt. In der Nacht zum Freitag, dem 22. Mai 2009, verstarb der Vater der Angeklagten und wurde schnellstens in die Türkei zur Beerdigung ausgeflogen. Die Angeklagte reiste ebenfalls dorthin. Darüber wurde der Verteidiger am Vormittag des 22. Mai 2009 telefonisch informiert, der seinerseits am Montag, dem 25. Mai 2009, den Strafkammervorsitzenden anrief und mitteilte, dass mit einem Erscheinen der Angeklagten in der Hauptverhandlung am 26. Mai 2009 voraussichtlich nicht zu rechnen sei. Näheres wisse er auch nicht. Der Strafkammervorsitzende lud daraufhin einen Sachverständigen, die Zeugen und den Dolmetscher ab. Am 25. Mai 2009 fand ab Mittag in der Osttürkei, etwa 1.000 km von Istanbul entfernt , die Beerdigung des Vaters der Angeklagten statt. Die Feierlichkeiten endeten gegen 19.00 Uhr. Am 26. Mai 2009 trat die Angeklagte um 4.00 Uhr die Rückreise an. Gegen 19.00 Uhr erreichte sie Stuttgart.
16
Zum Hauptverhandlungstermin am 26. Mai 2009 war die Angeklagte deshalb nicht erschienen. Ihr Verteidiger gab dazu eine Erklärung ab. Der Beerdigungszeitpunkt war ihm nach wie vor unbekannt. Der Vorsitzende gab die vorsorglichen Abladungen bekannt.
17
Anschließend geschah nach der Sitzungsniederschrift Folgendes:
18
„Der Verteidiger stellte die als Anlage 1, 2, 3 und 4 dem heutigen Protokoll angeschlossenen Beweisanträge.
19
Die Vertreterinnen der Staatsanwaltschaft erklärten, sie wollten später zu diesen Anträgen Stellung nehmen.
20
Die Vorschrift des § 257 wurde beachtet.“
21
Sodann unterbrach der Vorsitzende die Hauptverhandlung und bestimmte den Fortsetzungstermin auf den 9. Juni 2009.
22
Der Termin währte von 09.01 Uhr bis 09.15 Uhr.
23
Mit den - knapp begründeten - Beweisanträgen war die Vernehmung von insgesamt elf Zeugen beantragt worden zu folgenden Tatsachen: - Schenkung von täglich 7 bis 10 kg gebratenen Dönerfleisches an den türkischen Kulturverein. - Nicht mehr verwend- und verkaufbare Reste am Spieß sowie Garschwund von 40 % durch Wasser- und Fettverlust. - Erhebliche Mengen an Speiseresten im Müll der Betriebe; hierauf beruhende Beanstandungen der Entsorgungsfirma. - Die 230.000 DM auf dem Konto der P. bank (heute H. -Bank) gehören der Schwester der Angeklagten.
24
Die Strafkammer ging in den Folgeterminen allen Beweisanträgen - in Anwesenheit der Angeklagten - nach. Im Rahmen dieser Beweisaufnahme erklärte der Verteidiger am 23. Juni 2009 den Verzicht auf die Vernehmung von zwei der fünf in einem Beweisantrag benannten Zeugen. Einen Zeugen tauschte er aus.
25
2. Die Rüge ist unbegründet.
26
§ 338 Nr. 5 StPO bestimmt, dass ein Urteil stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen ist, wenn die Hauptverhandlung in Abwe- senheit des Staatsanwalts oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat. Gemäß § 230 Abs. 1 StPO findet gegen einen ausgebliebenen Angeklagten eine Hauptverhandlung nicht statt.
27
Die Anwesenheitspflicht soll dem Angeklagten nicht nur das rechtliche Gehör gewährleisten, sondern soll ihm auch „die Möglichkeit allseitiger und uneingeschränkter Verteidigung, insbesondere durch Stellung von Anträgen auf Grund des von ihm selbst wahrgenommenen Verlaufs der Hauptverhandlung, sichern“ (BGH, Urteil vom 2. Dezember 1960 - 4 StR 433/60, BGHSt 15, 263, 264). Außerdem soll dem Tatrichter im Interesse der Wahrheitsfindung ein unmittelbarer Eindruck von der Person des Angeklagten, seinem Auftreten und seinen Erklärungen vermittelt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Februar 1975 - 1 StR 107/74, BGHSt 26, 84, 90; Becker in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 230 Rn. 1), insbesondere auch im Hinblick auf die Strafzumessung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2007 - 2 BvR 136 u. 1447/05, Rn. 89).
28
Aber nur, wenn der Angeklagte in einem - im Hinblick auf die genannten Aspekte - wesentlichen Teil der Hauptverhandlung abwesend ist, begründet dies die Revision (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Februar 1975 - 1 StR 107/74, BGHSt 26, 84, 91). Denn § 338 StPO ist nicht anwendbar, wenn das Beruhen des Urteils auf dem Mangel denkgesetzlich ausgeschlossen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Juli 1992 - 4 StR 250/92, BGHR StPO, § 338, Beruhen 1; Meyer-Goßner, StPO 53. Aufl. § 338 Rn. 2; KK-Kuckein, StPO 6. Aufl. § 338 Rn. 5; Graf-Wiedner, StPO § 338 Rn. 4, jew. mwN).
29
Nicht jede Sachverhandlung, auf die es etwa zur Fristwahrung gemäß § 229 Abs. 1 StPO ankommt, wie die Verhandlung über die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten (BGH, Urteil vom 14. März 1990 - 3 StR 109/89, BGHR StPO § 229 Abs. 1, Sachverhandlung 1), die gerichtliche Entscheidung eines Ordnungsmittel- und Kostenbeschlusses gegen einen Zeugen oder die Entscheidung über etwaige Zwangsmaßnahmen gemäß § 51 StPO (vgl. Hanack in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 338 Rn. 84), sind wesentliche Verhandlungsteile i.S.v. § 338 Nr. 5 StPO. Die Entgegennahme von Beweisanträgen ist Sachverhandlung in diesem Sinne (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juli 2000 - 5 StR 613/99, BGHR StPO § 229 Abs. 1, Sachverhandlung 5).
30
Denn ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung i.S.v. § 338 Nr. 5 StPO liegt - im Hinblick auf einen Angeklagten - nicht vor, wenn denkgesetzlich ausgeschlossen ist, dass bezüglich des Prozessgeschehens in seiner Abwesenheit sein Anspruch auf rechtliches Gehör sowie seine prozessualen Mitgestaltungsrechte beeinträchtigt worden sind. Der Verhandlungsteil darf auch sonst das Ergebnis der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) nicht bestimmt haben können. Fehlt es an einem dieser Aspekte, liegt etwa eine Verletzung des Rechts auf Gehör vor, dann ist es bei dem absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO unerheblich, wenn gleichwohl im Nachhinein aus revisionsrechtlicher Sicht eine andere Entscheidung des Tatgerichts ausgeschlossen werden könnte, auch wenn die Angeklagte am fraglichen Teil des Verfahrens teilgenommen hätte.
31
Danach waren die Erörterungen über die Abwesenheit der Angeklagten und die Information über die Abladungen zweifelsfrei unwesentlich i.S.v. § 338 Nr. 5 StPO. Gegenteiliges behauptet auch die Revision nicht.
32
Aber auch die Stellung der Beweisanträge am 26. Mai 2009 war im vorliegenden Fall nicht wesentlich im oben dargestellten Sinn.
33
Beweisanträge zielen auf eine Beweiserhebung und zwingen das Gericht zu einer Entscheidung hierüber. Zur Wahrheitsfindung (vgl. Sander, NStZ 1996, 351) tragen die Anträge allein grundsätzlich noch nichts bei. So ist das jedenfalls - denknotwendig - im vorliegenden Fall. Eine Verhandlung über die Beweisanträge fand am 26. Mai 2009 nicht statt; sie wurden an diesem Tag auch nicht beschieden (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 4. Mai 1993 - 4 StR 207/93 -, BGHR StPO § 231 Abs. 2, Abwesenheit, eigenmächtige 10).
34
Eine Verletzung der Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Angeklagten , sowie ihres Rechts auf Gehör, kann im vorliegenden Fall ebenfalls denkgesetzlich ausgeschlossen werden.
35
Die unter Beweis gestellten Tatsachen decken sich mit - einigen - von der Angeklagten zu ihrer Entlastung vorgebrachten Behauptungen. Die benannten Zeugen konnten dem Verteidiger nur von der Angeklagten oder in ihrem Auftrag genannt worden sein. Dass der Verteidiger die Beweisanträge alleine aufgrund seines eigenen Antragsrechts stellte, dass er die Angeklagte dabei übergangen haben könnte oder gar gegen deren Willen handelte, ist ausgeschlossen. Die Begründungen der Beweisanträge waren knapp und enthielten keinen zusätzlichen sachlichen Gehalt. Weitere Erklärungen wurden im Termin am 26. Mai 2009 nicht abgegeben. Der durch die Anträge veranlassten Beweisaufnahme wohnte die Angeklagte bei. Auch dadurch ist ein Informations - und Mitwirkungsdefizit der Angeklagten im vorliegenden Fall ausgeschlossen.
36
Dass die Abwesenheit der Angeklagten in dem 14-minütigen Termin am 26. Mai 2009, die Möglichkeit der Strafkammer, sich einen ausreichenden persönlichen Eindruck von der Angeklagten zu verschaffen, beeinträchtigt haben könnte, ist bei der insgesamt zwölftägigen Hauptverhandlung ebenfalls denkgesetzlich ausgeschlossen.
37
Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO ist damit nicht gegeben.

III.

38
Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge deckt einen Darlegungsmangel auf, eine Lücke in der Darstellung der Berechnung der Mehrumsätze und darauf aufbauend der jeweiligen Hinterziehungsbeträge. Der Senat vermag deshalb nicht zu überprüfen, ob die Strafkammer den Schuldumfang zutreffend ermittelt hat. Dies führt zur Aufhebung des Schuldspruchs und in der Folge des Strafausspruchs.
39
Die Strafkammer hat die Umsätze der einzelnen Jahre schließlich pauschal geschätzt. Sie hat dabei einen Rohgewinnaufschlag von 190 % auf die in den Einnahmen-Überschussrechnungen bzw. Bilanzen enthaltenen Wareneinsatzbeträge zugrunde gelegt. Ohne Rechtsfehler ist das Landgericht zur Feststellung dieses Rohgewinnaufschlags gelangt, wie auch zur Feststellung, dass in diesem Fall eine konkretere Schätzung mangels ausreichend verlässlicher Tatsachengrundlage unmöglich ist.
40
Auch im Steuerstrafverfahren ist die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen zulässig, wenn zwar feststeht, dass der Steuerpflichtige einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat, das Ausmaß der verwirklichten Besteuerungsgrundlagen aber ungewiss ist. Dies gilt auch und gerade dann, wenn Belege nicht mehr vorhanden sind. Fehlende Buchhaltung befreit nicht von strafrechtlicher Verantwortung. Dies gilt auch dann, wenn keine handelsrechtliche Buchführungspflicht besteht, etwa ab dem Geschäftsjahr 2008 in den Fällen des § 241a HGB, zumal besondere steuerrechtliche Aufzeichnungspflichten (z.B. §§ 141 ff. AO, § 22 UStG i.V.m. §§ 63 ff. UStDV) hiervon unberührt bleiben. Zur Durchführung der Schätzung kommen die auch im Besteuerungsverfahren anerkann- ten Schätzungsmethoden einschließlich der Heranziehung der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen zur Anwendung (BGH, Beschluss vom 24. Mai 2007 - 5 StR 58/07, BGHR AO § 370 Abs. 1, Steuerschätzung 3). Der Tatrichter muss dann in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar darlegen, wie er zu den Schätzungsergebnissen gelangt ist (BGH, Beschluss vom 26. April 2001 - 5 StR 448/00; zu den Anforderungen an die Feststellung und die Beweiswürdigung von Besteuerungsgrundlagen in steuerstrafrechtlichen Urteilen vgl. BGH, Urteil vom 12. Mai 2009 - 1 StR 718/08 Rn. 11 ff., BGHR StPO § 267 Abs. 1, Steuerhinterziehung 1; vgl. auch BGH, Beschluss vom 25. März 2010 - 1 StR 52/10).
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Erweist sich eine konkrete Ermittlung oder Schätzung der tatsächlichen Umsätze danach von vorneherein oder - wie im vorliegenden Fall - nach entsprechenden Berechnungsversuchen als nicht möglich, kann pauschal geschätzt werden, etwa - wie hier - unter Heranziehung der Richtwerte für Rohgewinnaufschlagsätze aus der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen.
42
Eine auch nur annähernd zutreffende konkrete Ermittlung wird in aller Regel - jedenfalls bei Gastronomiebetrieben der vorliegenden Art - schon dann von vorneherein nicht möglich sein, wenn Buchungsbelege völlig fehlen. Denn dass in derartigen Fällen in den Einnahmen-Überschussrechnungen bzw. Bilanzen allein die Umsatzzahlen (Verkäufe) unzutreffend sind, ist eher unwahrscheinlich. Auch die sonstigen Zahlen in diesen Abschlüssen erscheinen daher als Basis für eine konkrete Berechnung von vorneherein als eher ungeeignet. Einer entsprechenden Einlassung (keine Schwarzeinkäufe) muss das Tatgericht bei einem derartigen Hintergrund ohne weitere Anhaltspunkte für Richtigkeit dieser Darstellung im Hinblick auf die Wahl einer geeigneten Schätzmetho- de nicht allein deshalb glauben, weil es die Behauptung nicht widerlegen kann (vgl. BGH, Urteil vom 18. August 2009 - 1 StR 107/09, Rn. 18; Urteil vom 4. Dezember 2008 - 1 StR 327/08, Rn. 8; Urteil vom 21. Oktober 2008 - 1 StR 292/08, Rn. 24; Urteil vom 1. Juli 2008 - 1 StR 654/07, Rn. 22; Beschluss vom 19. Juni 2008 - 1 StR 217/08, Rn. 19; Urteil vom 8. Mai 2008 - 3 StR 102/08, Rn. 9).
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Bei der Festsetzung des Rohgewinnaufschlagsatzes muss sich das Gericht nicht zugunsten eines Angeklagten an den unteren Werten der in der Richtsatzsammlung genannten Spannen orientieren, wenn sich Anhaltspunkte für eine positivere Ertragslage ergeben, wie z.B. ein guter Standort, sonst nicht erklärbare Vermögenszuwächse oder örtliche Vergleichsdaten.
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Das Landgericht durfte hier somit nach dem Scheitern einer Schätzung aufgrund eines individuellen Berechnungsmodells auf die von ihm gewählte generalisierende Schätzungsmethode zurückgreifen. Auch die Bildung eines Mischwertes aus zwei Richtsatzwerten im Verhältnis der jeweiligen Umsatzanteile begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
45
In den schriftlichen Gründen des Urteils fehlt im vorliegenden Fall allerdings über den - sehr zugunsten der Angeklagten - ermittelten Rohgewinnaufschlag hinaus die Mitteilung maßgeblicher Umstände, die dann die Grundlage für die weitere Umsatz- und Steuerberechnung bilden.
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Es werden zwar die Mehrumsätze und die insoweit verkürzte Umsatzsteuer pro Jahr angegeben. Jedoch enthalten die Gründe weder die aus den Gewinn- und Verlustrechnungen bzw. Bilanzen entnommenen Wareneinsatzbeträge noch die daraus auf dem dargestellten Weg errechneten Gesamtum- sätze. Zudem fehlen der Inhalt der jeweils abgegebenen Steuererklärung und damit ein überprüfbarer Vergleich zwischen Ist-Steuer und Soll-Steuer. Dass die Strafkammer als Basis der pauschalierten Berechnung nur die in den Jahresabschlüssen enthaltenen Wareneinkäufe ansetzte und keine Ermittlungen zu eventuellen sonstigen Einkäufen anstellte, beschwert die Angeklagte nicht.
47
Der Schuldspruch - und in der Folge der Strafausspruch - sowie die zur Höhe des Schuldumfangs getroffenen Feststellungen (Hinterziehungsbeträge und zugrundeliegender jeweiliger Mehrumsatz) haben daher keinen Bestand. Die Feststellungen zum Rohgewinnaufschlag und zu dessen Ermittlung sowie die Feststellung, dass eine konkretere Schätzung nicht möglich ist, bleiben aufrechterhalten.
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Ebenso hat das Landgericht alle Feststellungen zu den Geldern der Angeklagten bei der P. bank in B. rechtsfehlerfrei getroffen. Sie bleiben ebenfalls bestehen.
49
Unberührt von der Aufhebung sind auch die Feststellungen zur Person der Angeklagten und zu ihren Vermögensverhältnissen.
50
Der Senat weist abschließend darauf hin, dass eine Verletzung von Buchführungs- und Aufbewahrungspflichten (hinsichtlich der geschäftlichen Unterlagen ) in Fällen der vorliegenden Art ein bestimmender Strafschärfungsgrund ist (vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2009 - 1 StR 283/09, Rn. 47). Auch bei der Prüfung der Frage, ob besondere Umstände im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB vorliegen, wird dies ggf. zu berücksichtigen sein. Nack Hebenstreit Graf RiBGH Prof. Dr. Sander befindet sich in Urlaub und ist deshalb an der Unterschrift gehindert. Jäger Nack
5 StR 387/10

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 9. Februar 2011
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 9. Februar
2011, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Dr. Brause,
Richter Schaal,
Richterin Dr. Schneider,
Richter Prof. Dr. König
alsbeisitzendeRichter,
Staatsanwalt beim Bundesgerichtshof
alsVertreterderBundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
alsVerteidiger,
Justizangestellte
alsUrkundsbeamtinderGeschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 12. Mai 2010 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, die auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützt ist. Dem Rechtsmittel bleibt aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts der Erfolg versagt. Der Erörterung bedarf nur Folgendes:
2
Die Beanstandung, die Verhandlung über die Entlassung des zu diesem Zeitpunkt 14-jährigen Zeugen K. (Sohn der Lebensgefährtin des Angeklagten) sei zu Unrecht in Abwesenheit des Angeklagten erfolgt, weswegen der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO erfüllt sei, greift nicht durch. Die Rüge scheitert an § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.
3
1. Folgendes Verfahrensgeschehen liegt zugrunde:
4
Das Landgericht hat den Zeugen am zweiten Hauptverhandlungstag vernommen und für die Dauer der Vernehmung die Entfernung des Ange- klagten gemäß § 247 Satz 2 StPO angeordnet. Der Angeklagte wurde in einen Raum gebracht, in dem er den Fortgang der Verhandlung über eine BildTon -Übertragung mitverfolgen konnte. Das Zimmer war mit einer Gegensprechanlage ausgestattet, über die eine Verständigung mit den im Sitzungssaal befindlichen Verfahrensbeteiligten möglich war.
5
Ausweislich der Niederschrift über die Hauptverhandlung wurde der Zeuge nach seiner Vernehmung „im allseitigen Einverständnis“ um 12.48 Uhr entlassen; von 12.49 bis 12.51 Uhr wurde die Hauptverhandlung unterbrochen. Das Protokoll hält dann fest: „Nunmehr war der Angeklagte wieder im Gerichtssaal erschienen.“ (PB S. 14)
6
Nach einer weiteren Unterbrechung der Hauptverhandlung wurde die Schwester des Zeugen vernommen, wobei der Angeklagte unter denselben Maßgaben wie zuvor aus dem Sitzungssaal entfernt worden war. In der Niederschrift ist zum Verlauf dieser Einvernahme unter anderem eine nach einer Unterbrechung der Hauptverhandlung abgegebene Erklärung des Verteidigers zu einem Hinweis des Angeklagten vermerkt, dass er die Aussage der Zeugin zwar gehört, aber ihr Bild nicht vollständig gesehen habe; daraufhin habe ein Wachtmeister das Gerät so eingestellt, dass das Bild für den Angeklagten wieder voll einsehbar gewesen sei (PB S. 15 f.).
7
2. Im Hinblick auf die sich hieraus ergebende Unklarheit der Hauptverhandlungsniederschrift zu der Frage, ob in das „allseitige“ Einverständnis mit der Entlassung des Zeugen K. nur die im Sitzungssaal anwesenden Verfahrensbeteiligten oder auch der Angeklagte einbezogen waren, hat der Senat eine dienstliche Stellungnahme des Vorsitzenden eingeholt. Der Vorsitzende hat sich dahin geäußert, dass er wie auch ein Justizwachtmeister den Angeklagten über die Funktionsweise der Gegensprechanlage belehrt habe. Vor der Entlassung des Zeugen habe er den Angeklagten ausdrücklich gefragt, ob er noch Fragen stellen wolle, was nicht der Fall gewesen sei. Die Beisitzerin, die Protokollführerin und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft sind der Stellungnahme des Vorsitzenden beigetreten. Das Gleiche gilt für die beiden anwesenden Justizwachtmeister. Demgegenüber stellt der Verteidiger sowohl die Belehrung als auch die abschließende Befragung des Angeklagten in Abrede.
8
3. Nach dem durch den Vorsitzenden dargestellten und von weiteren Amtspersonen bestätigten Ablauf des Geschehens würde der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO auch im Lichte des Beschlusses des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 21. April 2010 – GSSt 1/09 (NJW 2010, 2450; zum Abdruck in BGHSt bestimmt) nicht durchgreifen. Denn die Entlassungsverhandlung wäre unter den danach gegebenen Umständen kein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung.
9
Nach ständiger Rechtsprechung bestimmt sich die Frage der Wesentlichkeit eines Verfahrensteils nach dem Zweck der jeweils betroffenen Vorschriften sowie danach, in welchem Umfang deren sachliche Bedeutung betroffen sein kann; die Entlassungsverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten ist danach grundsätzlich als wesentlich anzusehen, weil der von der Entlassungsverhandlung ausgeschlossene Angeklagte unmittelbar nach der Zeugenvernehmung keine Fragen oder Anträge stellen kann, die den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen vermögen (vgl. BGH – GS – aaO S. 2452 mwN). Diese Gedanken treffen jedoch ersichtlich nicht zu, wenn der die Vernehmung über eine Bild-Ton-Übertragung zeitgleich mitverfolgende Angeklagte nach ausdrücklicher Befragung des Vorsitzenden von seinem Fragerecht keinen Gebrauch machen will. Es wäre bloße Förmelei, wenn ihm – gegebenenfalls nach vorheriger Entfernung des Opferzeugen aus dem Gerichtssaal – in Anwesenheit ein weiteres Mal Fragen anheimgegeben werden müssten (vgl. zur Ersetzung der Unterrichtungspflicht nach § 247 Satz 4 StPO durch Bild-Ton-Übertragung auch BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180; ferner zum Frageverzicht in solchen Fällen BGH, Urteil vom 27. Januar 2011 – 5 StR 482/10).
10
4. Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob der Inhalt der dienstlichen Äußerungen durch den weiteren Vortrag der Verteidigung im Revisionsverfahren durchgreifend erschüttert wird. Denn der Protokollvermerk zur einvernehmlichen Entlassung in Verbindung mit der durchgeführten Bild-TonÜbertragung legten jedenfalls nahe, dass der Vorsitzende dem Angeklagten die Möglichkeit der Intervention gegen die Entlassung des Zeugen gegeben hat, ohne dass dieser sie wahrnahm, und ihn so in das allseitige Einvernehmen mit der Entlassung eingebunden hat. Bei einer besonderen Fallgestaltung wie der hier gegebenen hätte deshalb bereits in der Revisionsbegründungsschrift zu den näheren Umständen namentlich der Videoübertragung im Einzelnen vorgetragen werden müssen. Allein auf Grund der gegebenen Revisionsbegründung kann der Senat hingegen nicht nachprüfen, ob Verfahrensrecht verletzt ist. Die Verfahrensrüge ist daher nicht zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dies lässt unberührt, dass eine Wiederzulassung des Angeklagten vor der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen angezeigt gewesen wäre. Eine hinreichend detaillierte Protokollierung der Geschehnisse wäre zudem wünschenswert gewesen.
Basdorf Brause Schaal Schneider König

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn
a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder
b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und
aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind,
bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder
cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war;
3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist;
4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat;
5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat;
6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;
8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.