Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Jan. 2024 - 2 StR 171/23

bei uns veröffentlicht am21.05.2024

Eingereicht durch

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

Zusammenfassung des Autors

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seinem Beschluss vom 10. Januar 2024 (Az.: 2 StR 171/23) entschieden, dass die Ergebnisse einer Funkzellenabfrage, die nicht bei Verdacht auf eine besonders schwere Straftat angeordnet wurde, nicht als Beweismittel in einem Gerichtsverfahren verwendet werden dürfen. Dies führte zur teilweisen Aufhebung des Urteils des Landgerichts Frankfurt am Main gegen einen Mann, der wegen Diebstahls mit Waffen zu zwei Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurde.

Das Landgericht hatte seine Entscheidung unter anderem auf die Daten gestützt, die zeigten, dass sich der Angeklagte zur Tatzeit in der Nähe des Tatorts aufhielt. Der BGH erklärte jedoch, dass die Anordnung der Funkzellenabfrage rechtswidrig war, da der bloße Verdacht auf Diebstahl nicht ausreicht, um eine solche Abfrage zu rechtfertigen. Der BGH betonte, dass nur bei Verdacht auf besonders schwere Straftaten, wie Mord oder Raub, eine solche Abfrage zulässig ist.

Der Fall wird nun zurück an das Landgericht Frankfurt verwiesen, wo erneut über Teile des Falls ohne die Verwendung der aus der Funkzellenabfrage gewonnenen Daten entschieden werden soll. Es bleibt offen, ob das Landgericht ohne die fraglichen Beweise zu einem für den Angeklagten günstigeren Urteil gelangen könnte.

Amtliche Leitsätze

1. Die Anordnung einer Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO setzt den Verdacht einer besonders schweren Straftat nach § 100g Abs. 2 StPO voraus. Die in § 100g Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StPO enthaltene Verweisung auf § 100g Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO ist so auszulegen, dass diese zugleich die Anordnungsvoraussetzungen des § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO erfasst.


2. Fehlt es bei einer Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO an dem Verdacht einer Katalogtat nach § 100g Abs. 2 StPO, hat dies ein Beweisverwertungsverbot zur Folge.

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten B.  wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 3. Juni 2022 – soweit es ihn betrifft –

a) hinsichtlich der Einziehungsentscheidung im Fall II.1 der Urteilsgründe dahin abgeändert, dass der Angeklagte in Höhe von 500 € als Gesamtschuldner haftet;

b) aufgehoben

aa) im Fall II.5 der Urteilsgründe; die zugehörigen Feststellungen – mit Ausnahme derjenigen zur Täterschaft des Angeklagten – bleiben bestehen,

bb) im Gesamtstrafenausspruch und

cc) mit den zugehörigen Feststellungen und unter Erstreckung auf den Mitangeklagten S.   im Ausspruch über die Einziehung im Fall II.9 der Urteilsgründe.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

 

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten B.  wegen Diebstahls mit Waffen in drei Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, und Diebstahls in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt und im Übrigen freigesprochen. Zudem hat es einen Kubotan eingezogen und gegen den Angeklagten und den nicht revidierenden Mitangeklagten S.  in den Fällen II.5 und II.9 der Urteilsgründe die „gesamtschuldnerische Einziehung eines Geldbetrages in Höhe von 29.812,55 € als Ersatz des Wertes der Taterträge“ angeordnet, gegen den Angeklagten außerdem in Höhe eines weiteren Betrages von 500 € (Fall II.1 der Urteilsgründe).

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Diese hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Sie ist hinsichtlich der Aufhebung der Einziehungsentscheidung im Fall II.9 der Urteilsgründe auf den Mitangeklagten S.  zu erstrecken (§ 357 StPO). Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

A.

Nach den durch das Landgericht getroffenen Feststellungen entwendete der Angeklagte im Zeitraum vom 8. Oktober 2019 bis zum 1. März 2020 bei vier Gelegenheiten stehlenswertes Gut aus einer Gaststätte (Fall II.1 der Urteilsgründe), einem Kiosk (Fall II.5 der Urteilsgründe) und zwei Shisha-Bars (Fälle II.8 und II.9 der Urteilsgründe); in einem weiteren Fall wurde das entsprechende Vorhaben nach Entdeckung der Tat abgebrochen, als sich der Angeklagte und der Mitangeklagte S.  bereits in den Räumlichkeiten einer weiteren Shisha-Bar befanden (Fall II.7 der Urteilsgründe). In den Fällen II.7 bis II.9 der Urteilsgründe führte der Angeklagte jeweils griffbereit einen Kubotan mit sich.

Im Einzelnen hat das Landgericht – soweit hier von Bedeutung – folgende Feststellungen getroffen:

I.

In der Nacht vom 7. auf den 8. Oktober 2019 stieg der Angeklagte gemeinsam mit einem unbekannten Dritten durch ein Souterrainfenster in eine Pizzeria ein, wo sie die Kassenschublade mit 500 € entwendeten (Fall II.1 der Urteilsgründe).

II.

Am 10. Februar 2020 verschafften sich der Angeklagte und der Mitangeklagte S.   gegen 2.30 Uhr gewaltsam Zutritt zu einem Kiosk in F.       . Sie entwendeten den gesamten Zigarettenbestand, Tabakboxen, Bargeld, eine Geldzählmaschine sowie diverse Alkoholika. Das Diebesgut hatte einen Gesamtwert von 23.432,70 € (Fall II.5 der Urteilsgründe).

III.

Am 14. Februar 2020 verschafften sie sich zu einer in F.     gelegenen Shisha-Bar gewaltsam Zutritt. Anschließend entnahmen sie aus dem Gastraum sechsundzwanzig Shishas, neunundzwanzig Shisha-Schläuche, fünfunddreißig Mundstücke, drei traditionelle Schläuche, fünf Schlauchadapter und die Tageseinnahmen in Höhe von 679,90 €, die der Mitangeklagte S.   einsteckte. Außerdem entwendeten sie eine Flasche Tequila Don Julio 1942, eine Flasche Whisky Johnny Walker Blue Label und eine Flasche Champagner Dom Perignon. Die Shishas, Zubehörteile und Alkoholika verluden sie anschließend in das Fluchtfahrzeug, in dem nach polizeilichem Aufgriff unter anderem zwanzig Wasserpfeifen, neunundzwanzig Shisha-Schläuche mit Metallendstück sowie jeweils eine Flasche Tequila Don Julio 1942 und Whisky Johnny Walker Blue Label sichergestellt wurden. Das Diebesgut hatte einen Gesamtwert von 6.379,85 € (Fall II.9 der Urteilsgründe).

B.

Die Revision des Angeklagten führt auf die erhobene Verfahrensrüge zur Aufhebung der Verurteilung im Fall II.5 der Urteilsgründe, die die Aufhebung der in diesem Fall getroffenen Einziehungsentscheidung und des Gesamtstrafenausspruchs nach sich zieht (hierzu unter I.). Daneben unterliegt die Einziehungsentscheidung auf die Sachrüge im Fall II.1 der Urteilsgründe der Abänderung, ferner der Aufhebung im Fall II.9 der Urteilsgründe (hierzu unter II.). Im Übrigen bleibt das Rechtsmittel ohne Erfolg.

I.

Die Verfahrensrüge, mit der der Angeklagte beanstandet, das Landgericht habe bei seiner Beweiswürdigung im Fall II.5 der Urteilsgründe retrograde Standortdaten aus einer Funkzellenabfrage rechtsfehlerhaft verwertet, dringt durch.

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

a) Auf der Grundlage des mit „wegen besonders schweren Fall des Diebstahls […] gemäß §§ 242, 243 StGB“ eingeleiteten Ermittlungsberichts der Polizei vom 12. Februar 2020 beantragte die Staatsanwaltschaft den Erlass eines „Funkzellenbeschlusses“ beim Amtsgericht -Ermittlungsrichter- F.             . Der Ermittlungsrichter erließ den Beschluss zur Erhebung der nach § 96 TKG in der Fassung vom 3. Mai 2012 (im Folgenden: § 96 TKG a.F.) erhobenen und gespeicherten Verkehrsdaten, bei mobilen Anschlüssen unter anderem auch der Standortdaten, betreffend die Tatortfunkzelle am Folgetag wegen des Verdachts einer Straftat nach §§ 242, 243 StGB. Der Erhebungszeitraum lief vom 9. Februar 2020, 22.30 Uhr, bis zum 10. Februar 2020, 11.58 Uhr. Nach Umsetzung des Beschlusses am 17. Februar 2020 wurde der Angeklagte auf Basis der erhobenen Verkehrsdaten als möglicher Täter ermittelt.

b) Das Landgericht hat die Inhalte der Funkzellenauswertung im Selbstleseverfahren und durch Vernehmung eines Polizeibeamten entgegen dem jeweiligen Widerspruch der Verteidigung in die Hauptverhandlung eingeführt. Seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten hat es auch auf die Verwertung der aus der Funkzellenabfrage gewonnenen Erkenntnisse gestützt.

2. Die zulässig erhobene Verfahrensrüge, mit der sich die Revision gegen die mit einer Funkzellenabfrage erfolgte Erhebung und Verwertung der retrograden Standortdaten des Angeklagten wendet, ist begründet. Die Beweiserhebung im Ermittlungsverfahren verstieß gegen § 100g Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO in der aktuellen Fassung vom 20. November 2019, § 100g Abs. 2 StPO (dazu unter a)). Aus dem Beweiserhebungsverbot folgt ein Beweisverwertungsverbot (dazu unter b)).

a) Die Anordnung der Funkzellenabfrage im Ermittlungsverfahren auf Grundlage des § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO war gesetzeswidrig, weil im Zeitpunkt der Anordnung der Verdacht einer besonders schweren Straftat nach § 100g Abs. 2 StPO nicht bestand. Eine solche Katalogtat ist für die Funkzellenabfrage aber Anordnungsvoraussetzung (vgl. im Ergebnis auch MüKoStPO/Rückert, 2. Aufl., § 100g Rn. 86 f.; SSW StPO/Eschelbach, 5. Aufl., § 100g Rn. 39; SK-StPO/Greco/Wolter, 6. Aufl., § 100g Rn. 58; wohl auch Singelnstein, JZ 2012, 601, 603). Bei Anwendung der anerkannten Auslegungsmethoden ist § 100g Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StPO so zu verstehen, dass die Verweisung auf § 100g Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO zugleich den mit Gesetz vom 20. November 2019 eingefügten (BGBl. I S. 1724) und seither unverändert geltenden § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO erfasst.

aa) Bereits der Wortlaut des § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO legt nahe, dass über die dort in Nummer 1 enthaltene Verweisung nicht nur § 100g Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO, sondern auch die zusätzlichen Voraussetzungen der retrograden Standortdatenerhebung gemäß § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO – und damit § 100g Abs. 2 StPO – in Bezug genommen werden.

Die Funkzellenabfrage ist legaldefiniert als „Erhebung aller in einer Funkzelle angefallenen Verkehrsdaten“. Sie stellt sich damit per se als retrograd dar („angefallenen“). Zudem werden – ungeachtet der Frage, ob eine Differenzierung zwischen einer retrograden Standortdatenerhebung und einer Funkzellenabfrage überhaupt denkbar ist (so BGH, Beschluss vom 3. August 2017 – 1 BGs 237/17, NStZ 2018, 47) – von der Ermittlungsmaßnahme auch Standortdaten erfasst („alle […] Verkehrsdaten“), handelt es sich bei solchen doch um Verkehrsdaten (vgl. zum Begriff der Verkehrsdaten § 3 Nr. 30 TKG in der Fassung vom 27. Juni 2017 [§ 3 Nr. 70 TKG n.F.] und jetzt § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TTDSG; vgl. auch Säcker/Körber/Körber, TKG, 4. Aufl., § 3 Rn. 120).

bb) Die Gesetzeshistorie belegt, dass die Verweisung in § 100g Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StPO auch als Verweisung auf § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO zu lesen ist. Hiernach soll die Erhebung retrograder Standortdaten, die – wie soeben aufgezeigt – bei einer Funkzellenabfrage jedenfalls miterhoben werden, generell, mithin auch hinsichtlich der in § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO relevanten geschäftlich gespeicherten Standortdaten, nur unter den Voraussetzungen des § 100g Abs. 2 StPO zulässig sein.

Die im Anordnungszeitpunkt und weiterhin geltende Fassung des § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO geht zurück auf das Gesetz zur Einführung einer Speicherfrist und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10. Dezember 2015 (BGBl. I S. 2218), mit dem der Gesetzgeber in Reaktion auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteil vom 2. März 2010 − 1 BvR 256, 263, 586/08, BVerfGE 125, 260) und des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 8. April 2014 − C-293, 594/12, NJW 2014, 2169) „Unzulänglichkeiten bei der Strafverfolgungsvorsorge und bei der Gefahrenabwehr“ beseitigen wollte.

Innerhalb des durch dieses Gesetz stark veränderten § 100g StPO in der Fassung vom 10. Dezember 2015 (im Folgenden: § 100g StPO a.F.) unterschied der Gesetzgeber einerseits zwischen der Erhebung von zu geschäftlichen Zwecken gespeicherten Daten nach § 96 TKG a.F. (§ 100g Abs. 1 Satz 1 StPO a.F.) und andererseits der nur unter strengeren Voraussetzungen zulässigen Erhebung anlasslos gespeicherter Daten (§ 100g Abs. 2 StPO a.F.). Die Erhebung retrograder Standortdaten über § 100g StPO a.F. sollte nach dem Willen des Gesetzgebers nur dann zulässig sein, wenn es sich um anlasslos nach § 113b Abs. 1 Nr. 2 TKG in der Fassung vom 10. Dezember 2015 (im Folgenden: § 113b TKG a.F.) gespeicherte Verkehrsdaten handelte und deshalb immer zwingend auch die qualifizierten Voraussetzungen des § 100g Abs. 2 StPO a.F. erfüllt waren. Der Gesetzgeber hielt ausdrücklich fest, die Erhebung der besonders sensiblen Standortdaten werde im Vergleich zum geltenden Recht stark eingeschränkt. Auf zu geschäftlichen Zwecken gespeicherte Verkehrsdaten dürfe – anders als bisher – zur Ermittlung des Aufenthaltsortes nicht zurückgegriffen werden (BT-Drucks. 18/5088, S. 24; vgl. auch BT-Drucks. 19/4671, S. 61). Entsprechend fasste er § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO so, dass Verkehrsdaten nur in Echtzeit oder anterograd erhoben werden durften. Die im Gegenschluss zu § 100g Abs. 3 Satz 2 StPO a.F. (Funkzellenabfrage anhand der anlasslos nach § 113b TKG a.F. gespeicherten Daten) allein auf die Erhebung von zu geschäftlichen Zwecken gespeicherten Daten gerichtete Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO durfte daher zunächst die Abfrage retrograder Standortdaten nicht umfassen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. August 2017 − 1 BGs 237/17, NStZ 2018, 47).

Weil die Speicherpflicht nach § 113b TKG a.F. erst zum 1. Juli 2017 umzusetzen war (§ 150 Abs. 13 TKG in der Fassung vom 10. Dezember 2015), führte der Gesetzgeber zugleich mit der Neufassung des § 100g StPO zum 18. Dezember 2015 in § 12 EGStPO die Möglichkeit ein, nach § 96 Abs. 1 TKG a.F. gespeicherte Standortdaten bis zum 29. Juli 2017 auf der Grundlage des § 100g Abs. 1 StPO in der bis zum 17. Dezember 2015 geltenden Fassung – und damit ausnahmsweise ohne Einhaltung der Voraussetzungen des § 100g Abs. 2 StPO – zu erheben. Da es sich erkennbar um eine Ausnahme von der eigentlichen Gesetzeskonzeption handelte, sollte nach Ablauf der Übergangsfrist die Erhebung retrograder Standortdaten nach der gesetzgeberischen Vorstellung allein im Normgefüge der ab dem 1. Juli 2017 wirksamen anlasslosen Speicherung von Verkehrsdaten zulässig sein, was stets die Einhaltung der Voraussetzungen des § 100g Abs. 2 StPO erfordert hätte.

Entgegen den vom Gesetzgeber gehegten Erwartungen ließ sich das von ihm im Jahr 2015 eingeführte Regelungskonzept nach Auslaufen der Übergangsfrist des § 12 EGStPO ab Mitte 2017 indes nicht mehr durchsetzen. Nachdem das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 22. Juni 2017 (13 B 238/17, NVwZ-RR 2018, 43) festgestellt hatte, dass bis zum rechtskräftigen Abschluss eines bei dem Verwaltungsgericht Köln geführten Hauptsacheverfahrens keine Verpflichtung bestehe, die in § 113b Abs. 3 TKG a.F. genannten Telekommunikationsverkehrsdaten zu speichern, sah die Bundesnetzagentur aufgrund einer Erklärung vom 28. Juni 2017 bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens von Anordnungen und sonstigen Maßnahmen (einschließlich der Einleitung von Bußgeldverfahren) zur Durchsetzung der in § 113b TKG a.F. geregelten Speicherungspflichten gegenüber allen verpflichteten Unternehmen ab (vgl. dazu OVG Münster, Beschluss vom 25. August 2017 − 13 B 762/17, NVwZ-RR 2018, 54, 58 Rn. 19 ff.). Damit lief die zunächst weiter von Gesetzes wegen mögliche Erhebung retrograder Standortdaten tatsächlich leer.

Noch vor dem rechtskräftigen Abschluss des in Bezug genommenen Hauptsacheverfahrens (vgl. zunächst VG Köln, Urteil vom 20. April 2018 − 9 K 3859/16, juris; nachfolgend BVerwG, Urteil vom 14. August 2023 − 6 C 22/22, NJW 2024, 98) reagierte der Gesetzgeber, indem er auf der Grundlage des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 im Strafverfahren sowie zur Anpassung datenschutzrechtlicher Bestimmungen an die Verordnung (EU) 2016/679 vom 20. November 2019 (BGBl. I 1724) § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO seine heutige Fassung verlieh. Dabei hielt er ausdrücklich fest, durch die Anpassung des Wortlauts von § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO solle gewährleistet werden, dass die Strafverfolgungsbehörden bei Vorliegen der in § 100g Abs. 2 StPO genannten Voraussetzungen auch auf geschäftlich gespeicherte Standortdaten zugreifen könnten. Er sah zugleich seine bereits 2015 verlautbarte Intention gewahrt, die Erhebung von Standortdaten nur unter den strengeren Anforderungen des § 100g Abs. 2 StPO zu erlauben (BT-Drucks. 19/4671, S. 61). Damit brachte er zum Ausdruck, dass er künftig zwar den der Erhebung zur Verfügung stehenden Datenbestand auf geschäftlich erhobene Daten erstrecken, an den gemäß § 100g Abs. 2 StPO engeren Voraussetzungen einer Erhebung retrograder Standortdaten aber festhalten wollte.

cc) Die systematische Auslegung des § 100g StPO steht diesem Normverständnis nicht entgegen; sie liefert kein eindeutiges Ergebnis. Einerseits verweist § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO – anders als § 100g Abs. 3 Satz 2 StPO – nicht ausdrücklich auf § 100g Abs. 2 StPO. Andererseits verbindet das aufgezeigte Regelungskonzept des Gesetzgebers § 100g Abs. 1 Satz 1 StPO und § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO untrennbar, so dass eine Verweisung auf § 100g Abs. 1 Satz 1 StPO sachgedanklich auch eine Verweisung auf § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO beinhaltet. Letzteres spricht, da – wie im Rahmen der Wortlautauslegung aufgezeigt – mit einer Funkzellenabfrage retrograde Standortdaten miterhoben werden, dafür, dass § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO innerhalb des § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO ebenfalls Geltung beansprucht.

dd) Schließlich ergibt die Auslegung des § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO nach seinem Sinn und Zweck, dass die Anordnung einer Funkzellenabfrage unter denselben Voraussetzungen steht wie Maßnahmen nach § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO.

Mit der gesetzlichen Regelung der Funkzellenabfrage schuf der Gesetzgeber im Jahr 2015 eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigungsgrundlage, die es den Ermittlungsbehörden erlaubt, alle Verkehrsdaten innerhalb einer Funkzelle zu erheben. Sinn und Zweck dieses Ermittlungsinstruments ist, Ermittlungsansätze zu generieren, die an die Anwesenheit in einer oder mehreren Funkzelle(n), an den Abgleich der festgestellten Anwesenheiten (vgl. auch BT-Plenarprotokoll 18/110, S. 10588 [C]) und an eine Kommunikation innerhalb der Funkzelle anknüpfen. Während die retrograde Standortdatenerhebung im Sinne des § 100g Abs. 1 StPO ermitteln soll, in welcher Funkzelle sich eine bestimmte Zielperson zu einer bestimmten Zeit aufgehalten hat, wendet die Funkzellenabfrage den Blick vom Individuum weg auf ein konkretes räumliches Gebiet (vgl. Ruppert in: Handbuch Sicherheits- und Staatsschutzrecht, § 26 Rn. 26).

Dieser bei der teleologischen Auslegung zu berücksichtigende weitreichende Ansatz des Ermittlungsinstruments bedingt zugleich die aufgezeigte einschränkende Auslegung. Denn die Funkzellenabfrage ermöglicht es – was dem Gesetzgeber bei der Schaffung des § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO bewusst war –technisch, alle Verkehrsdaten zu erheben, die in einer bestimmten Funkzelle angefallen sind, um festzustellen, welche Mobilgeräte zu einer bestimmten Zeit der betreffenden Funkzelle zuzuordnen „waren“ (vgl. BT-Drucks. 18/5088, S. 32). Dies unterscheidet sie – mit Blick auf die Erhebung der Funkzelle zugleich als Aufenthaltsort – in ihrer Wirkweise aus der maßgeblichen Sicht der von der Maßnahme Betroffenen nicht von einer retrograden Standortdatenerhebung nach § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO. Schließlich ermöglicht sie – was dem Gesetzgeber ebenfalls gewahr war (BT-Drucks. 18/5088, S. 24) und seiner nicht näher begründeten Wertung, es handele sich bei der Funkzellenabfrage nicht um eine Standortdatenerhebung (BT-Drucks. 18/5088, S. 32), entgegensteht – die Erstellung von (partiellen) Bewegungsprofilen (so SSW-StPO/Eschelbach, 5. Aufl., § 100g Rn. 38; MüKoStPO/Rückert, 2. Aufl., § 100g Rn. 87; Singelnstein, JZ 2012, 601, 602 und 604; a.A. Ruppert in: Handbuch Sicherheits- und Staatsschutzrecht, § 26 Rn. 43 zur Frage eines „spezifischen Bewegungsprofils“). Da die Erhebung retrograder Standortdaten aus Gründen der Verhältnismäßigkeit gerade wegen der Möglichkeit des Erstellens von Bewegungsprofilen nur unter den Voraussetzungen des § 100g Abs. 2 StPO zugelassen werden sollte (BT-Drucks. 18/5088, S. 27 und 31), ist das Instrument der Funkzellenabfrage nach seinem Sinn und Zweck auf die Ermittlung der in § 100g Abs. 2 Satz 2 StPO aufgeführten Katalogtaten beschränkt.

b) Die Anordnung der Funkzellenabfrage war im Fall II.5 der Urteilsgründe rechtswidrig, da der Verdacht einer Katalogtat im Sinne des § 100g Abs. 2 Satz 2 StPO am 12. Februar 2020 nicht bestand. Dies führt zu einem Beweisverwertungsverbot.

aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 100a StPO dürfen mit Blick auf die Grundsätze eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens die aus einer rechtswidrig angeordneten Telefonüberwachung gewonnenen Erkenntnisse regelmäßig nicht als Beweismittel verwertet werden (vgl. BGH, Urteile vom 17. März 1983 − 4 StR 640/82, BGHSt 31, 304, 308 f.; vom 24. August 1983 − 3 StR 136/83, BGHSt 32, 68, 70; vom 16. Februar 1995 − 4 StR 729/94, BGHSt 41, 30, 31; Beschlüsse vom 1. August 2002 – 3 StR 122/02, BGHSt 47, 362, 365 f.; vom 26. Februar 2003 − 5 StR 423/02, BGHSt 48, 240, 248). Das gilt insbesondere für Fälle, in denen es an einer wesentlichen sachlichen Voraussetzung für die Anordnung der Maßnahme nach § 100a StPO gefehlt hat. Dementsprechend hat es etwa die Unverwertbarkeit zur Folge, wenn der Verdacht einer Katalogtat von vornherein nicht bestanden hat (vgl. BGH, Urteil vom 17. März 1983 − 4 StR 640/82, BGHSt 31, 304, 309).

bb) Diese Grundsätze erlangen mit Blick auf die Vergleichbarkeit der Regelungssystematiken (vgl. MüKoStPO/Rückert, 2. Aufl., § 100g Rn. 119) auch im Anwendungsbereich des § 100g StPO und damit bei rechtswidrig erlangten Funkzellendaten Geltung. Auf die Frage, ob ein Beweisverwertungsverbot die Erhebung eines vorherigen Widerspruchs (vgl. zu § 100a StPO BGH, Beschluss vom 7. März 2006 – 1 StR 316/05, BGHSt 51, 1) voraussetzt, kommt es hier nicht an, da die Verteidigung der Verwertung widersprochen hat.

cc) Eine Katalogtat im Sinne des insoweit abschließenden § 100g Abs. 2 Satz 2 StPO lag im Zeitpunkt der Anordnung der Funkzellenabfrage nicht vor. Der in dem ermittlungsrichterlichen Beschluss angenommene Tatverdacht hinsichtlich einer Straftat nach den §§ 242, 243 StGB bildet eine solche nicht ab. Anhaltspunkte für die Annahme eines qualifizierten Tatverdachts hinsichtlich einer denkbaren Katalogtat, nämlich des allein in Betracht kommenden schweren Bandendiebstahls (§ 244a Abs. 1 StGB; vgl. § 100g Abs. 2 Satz 2 Buchstabe g StPO in der Fassung vom 20. November 2019), ergeben sich weder anhand der in dem Beschluss dargelegten Verdachtslage, noch waren solche im Zeitpunkt der Anordnung nach der sich aus dem durch die Revision vorlegten Ermittlungsbericht ergebenden Verdachtssituation gegeben.

c) Der Verfahrensfehler bedingt die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall II.5 der Urteilsgründe mit den der Täterschaft des Angeklagten zugrundeliegenden Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO).

Die Verurteilung des Angeklagten im Fall II.5 der Urteilsgründe beruht auf dem aufgezeigten Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft maßgeblich auf die erhobenen Verkehrsdaten und den Aufenthaltsort des Angeklagten innerhalb der tatortnahen Funkzelle gestützt. Zwar hat es weitere Indizien herangezogen, nämlich die durch den Angeklagten vorgenommene Einzahlung auf sein Bankkonto am darauffolgenden Morgen in Höhe von 297,11 €, was nach der landgerichtlichen Wertung nahezu der Summe des entwendeten Münzgeldes und Kassenbestandes entsprach, sowie den Umstand, dass der Mitangeklagte S.   am 11. Februar 2020 an den Angeklagten eine SMS verschickte, mit der er ihm mitteilte, dass eine nicht näher bezeichnete Person „für die Kippen 2.220 geben will. Sag schnell!“. Ungeachtet dieser Indizienlage kann der Senat nicht ausschließen, dass das Landgericht ohne die Verwertung der Funkzellendaten zu einem für den Angeklagten günstigeren Beweisergebnis gelangt wäre.

3. Der Wegfall der Einzelstrafe hat die Aufhebung der Gesamtstrafe zur Folge. Sie entzieht zugleich der in diesem Fall gegen den Angeklagten gesamtschuldnerisch angeordneten Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 23.432,70 € die Grundlage.

II.

1. Die auf die Sachrüge veranlasste weitere Überprüfung des Urteils in den Fällen II.1 und II.7 bis 9 der Urteilsgründe hat im Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

2. Indes hält die Einziehungsentscheidung rechtlicher Prüfung nicht stand, soweit das Landgericht im Fall II.1 der Urteilsgründe die Einziehung weiterer 500 € gegen den Angeklagten als Alleinschuldner angeordnet hat, ferner, soweit es die Tatbeute in Höhe von 6.379,85 € im Fall II.9 der Urteilsgründe seiner Entscheidung zur Wertersatzeinziehung zugrunde gelegt hat.

a) Soweit das Landgericht gegen den Angeklagten als Alleinschuldner im Fall II.1 der Urteilsgründe den Wertersatz von Taterträgen in Höhe von 500 € eingezogen hat (§ 73 Abs. 1, § 73c Satz 1 StGB), ist dieser Ausspruch um die gesamtschuldnerische Haftung zu ergänzen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2021 – 6 StR 496/21, juris Rn. 2 mwN). In einer Gesamtschau der Urteilsgründe erlangte der unbekannt gebliebene Mittäter neben dem Angeklagten tatsächliche Verfügungsgewalt über die Kassenschublade und deren Inhalt (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2020 – 6 StR 161/20, juris Rn. 1).

b) Auch die Einziehungsentscheidung im Fall II.9 der Urteilsgründe über einen weiteren Betrag in Höhe von 6.379,85 € hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

aa) Der Senat vermag anhand der insoweit lückenhaften Urteilsgründe nicht auszuschließen, dass das polizeilich sichergestellte Diebesgut in diesem Fall an den Geschädigten zurückgeführt und der Anspruch auf Rückgewähr erloschen ist (§ 73e Abs. 1 Satz 1 StGB). Selbst wenn eine Rückführung noch nicht erfolgt wäre, ist dem Tatgericht insoweit aus dem Blick geraten, dass die Einziehung hinsichtlich des sichergestellten Diebesgutes in diesem Fall gemäß § 73 Abs. 1 StGB zu erfolgen hätte. Die nicht näher begründete Erwägung des Landgerichts, dass ein Geldbetrag einzuziehen sei, wenn die Einziehung eines Gegenstandes nicht möglich sei, trifft zwar abstrakt zu. Warum hier die Einziehung des sichergestellten Diebesgutes nicht möglich war, erschließt sich indes nicht. Insofern fehlt es an der tatbestandlichen Voraussetzung einer Wertersatzeinziehung (§ 73c Abs. 1 StGB).

bb) Der Rechtsfehler betrifft den gesamten Wert des Diebesgutes im Fall II.9 der Urteilsgründe, auch wenn nach den landgerichtlichen Feststellungen nur ein Teil der Beute im Fluchtfahrzeug aufgefunden wurde. Dies steht nämlich im Widerspruch zu der weiteren Feststellung, dass sämtliche Shishas, Zubehörteile und Alkoholika in das Fahrzeug verladen worden waren. Die Feststellungen sind zudem lückenhaft, weil offenbleibt, ob der Angeklagte Mitverfügungsgewalt an den ebenfalls entwendeten Tageseinnahmen erlangt hat.

cc) Der Rechtsfehler führt – auch hinsichtlich des Mitangeklagten S.   (§ 357 Abs. 1 StPO) − zur Aufhebung der Einziehungsentscheidung im Fall II.9 der Urteilsgründe. Der Senat kann nicht ausschließen, dass eine rechtsfehlerfreie Prüfung in diesem Fall zu einem niedrigeren Einziehungsanspruch gegen beide Angeklagte geführt hätte.

III.

Im Umfang der Aufhebung bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen des Einbruchsdiebstahls im Fall II.5 der Urteilsgründe sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen und können mit Ausnahme derjenigen zur Täterschaft des Angeklagten bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Gleiches gilt für die Feststellungen zum Gesamtstrafenausspruch.

Im Fall II.9 der Urteilsgründe sind die Feststellungen zur Einziehungsentscheidung von der Aufhebung mit betroffen. Das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht wird für eine zu treffende Einziehungsentscheidung neue Feststellungen zum Umfang der in das Fluchtfahrzeug verladenen sowie der später sichergestellten Tatbeute und zum Verbleib des entwendeten Bargelds im Hinblick auf eine mögliche Gesamtschuldnerschaft zu treffen haben. Hingegen haben die rechtsfehlerfreien Feststellungen zu dem entwendeten Diebesgut sowie dessen Wert Bestand.

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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
I ZB 5/03
vom
28. August 2003
in der Rechtsbeschwerdesache
betreffend die Markenanmeldung Nr. 399 66 451.3/29
Nachschlagewerk: ja
BGHZ : nein
BGHR : ja
turkey & corn

a) Verwendungsbeispiele, auf die das Bundespatentgericht seine Entscheidung
stützt, müssen den Verfahrensbeteiligten zuvor zur Kenntnis gegeben worden
sein. Ergeht die Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung, müssen sie
zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sein (im Anschluß
an BGH, Beschl. v. 30.1.1997 – I ZB 3/95, GRUR 1997, 637 = WRP
1997, 762 - Top Selection).

b) Eine Entscheidung beruht auf der Versagung des rechtlichen Gehörs, wenn
Umstände, zu denen die Verfahrensbeteiligten sich nicht äußern konnten, zur
Begründung herangezogen werden. Dabei ist unerheblich, ob die weiteren
Begründungselemente, auf die sich die Entscheidung stützt, auch für sich genommen
das Ergebnis hätten tragen können.
BGH, Beschl. v. 28. August 2003 – I ZB 5/03 – Bundespatentgericht
Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. August 2003 durch den
Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Ullmann und die Richter Dr. v. Ungern-Sternberg,
Prof. Dr. Bornkamm, Pokrant und Dr. Büscher

beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Anmelderin wird der am 10. Januar 2003 an Verkündungs Statt zugestellte Beschluß des 28. Senats (Marken -Beschwerdesenats) des Bundespatentgerichts aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Bundespatentgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde wird auf 50.000 esetzt.

Gründe:


I. Die Anmelderin hat die Eintragung des Zeichens
turkey-corn
zur Kennzeichnung der Waren
lebendes und geschlachtetes Geflügel und Geflügelteile sowie daraus hergestellte Geflügelspezialitäten, auch Convenience-Waren, insbesondere in panierter, marinierter Form, sowie als Fertiggerichte, Halb-
fertiggerichte und Suppen, letztere auch in Instantform, ausgenommen Mais als Ingredienzie; Tierfuttermittel aus Geflügel und Geflügelteilen
beantragt.
Die Markenstelle des Deutschen Patent- und Markenamts hat die Eintragung mit der Begründung abgelehnt, die angemeldete Wortfolge bedeute „Truthahnfleisch mit/und Korn (i.S. von Getreide)“ und sei deshalb unmittelbar beschreibend.
Die Beschwerde hatte lediglich hinsichtlich der beanspruchten Ware „lebendes Geflügel“ Erfolg.
Gegen die Zurückweisung ihrer Beschwerde wendet sich die Anmelderin mit der – vom Bundespatentgericht nicht zugelassenen – Rechtsbeschwerde.
II. Das Bundespatentgericht hat angenommen, daß das angemeldete Zeichen „turkey-corn“ – soweit seine Eintragung für andere Waren als für lebendes Geflügel begehrt werde – wegen des absoluten Schutzhindernisses des § 8 Abs. 2 Nr. 2 MarkenG nicht eingetragen werden könne. Hierzu hat es ausgeführt:
Das angemeldete Zeichen sei bezogen auf die Waren, für die die Eintragung versagt worden sei, eine unmittelbar beschreibende Angabe, die freizuhalten sei. Die lexikalisch nicht nachgewiesene englischsprachige Wortfolge bedeute „Truthahn -Mais“ oder „Truthahn-Korn“ und beschreibe die damit gekennzeichneten Waren als ein aus Truthahnstücken und Mais oder Korn bestehendes Gericht oder Futter, und zwar mit Begriffen, die – wie eine Umschau in Lebensmittelgeschäften und eine Internetrecherche ergeben hätten – auch deutschen Verkehrskreisen geläufig seien. So werde die in Frage stehende Wortfolge beispielsweise in diversen Rezepten als Bezeichnung für Truthahngerichte verwendet. Soweit die An-
melderin im Wege eines Disclaimers im Warenverzeichnis die Verwendung von Mais ausschließen wolle, führe das entweder zum Eintragungshindernis der Irreführung oder die Eintragung scheitere daran, daß „corn“ auch „Korn“ oder „Getreide“ bedeuten könne und daher auch in der eingeschränkten Verwendung nicht aus dem beschreibenden Bereich herausführe.
Danach dränge sich der Eindruck auf, daß die beanspruchte Wortfolge von den beteiligten Verkehrskreisen als Hinweis auf ein Truthahngericht verwendet und benötigt werde. Auch wenn es sich regelmäßig verbiete, fremdsprachige Begriffe mit der deutschen Übersetzung gleichzustellen, gelte doch etwas anderes, wenn ein Begriff von den inländischen Verkehrskreisen ohne weiteres erkannt oder von den Mitbewerbern benötigt werde. Beides sei vorliegend der Fall. Zum einen erkenne der Verkehr bei „turkey corn“ unschwer die Bedeutung „TruthahnMais“ oder „Truthahn-Getreide“. Zum anderen dürfe es Mitbewerbern nicht verwehrt werden, die Wortfolge unmittelbar beschreibend einzusetzen, und zwar auch für „Tierfuttermittel aus Geflügel und Geflügelteilen“, zumal im Internet bereits „Turkey Bites“ für Hunde angeboten würden.
III. Die Rechtsbeschwerde der Anmelderin hat Erfolg.
1. Die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde ist statthaft. Das Bundespatentgericht hat sie zwar nicht zugelassen. Ihre Statthaftigkeit folgt jedoch daraus, daß im Gesetz aufgeführte, die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde eröffnende Verfahrensmängel gerügt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 2.10.2002 – I ZB 27/00, GRUR 2003, 546 = WRP 2003, 655 – TURBO-TABS, m.w.N.). Hier beruft sich die Rechtsbeschwerde auf eine Versagung des rechtlichen Gehörs sowie darauf, daß der angefochtene Beschluß nicht mit Gründen versehen sei (§ 83 Abs. 3 Nr. 3 und 6 MarkenG). Dies hat sie im einzelnen begründet. Darauf, ob die
Rügen durchgreifen, kommt es für die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde nicht an.
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.

a) Die Rüge der Anmelderin, der angefochtene Beschluß sei nicht mit Gründen versehen (§ 83 Abs. 3 Nr. 6 MarkenG), greift allerdings nicht durch.
Die Rechtsbeschwerde steht auf dem Standpunkt, es mangele dem angefochtenen Beschluß insofern an einer Begründung, als das Verständnis des Verkehrs von „turkey-corn“ als einer beschreibenden Angabe auch durch eine Umschau in Lebensmittelgeschäften begründet wird. Der Beschluß sei insoweit nicht nachvollziehbar, weil die bei der Umschau gewonnenen Erkenntnisse nicht mitgeteilt würden.
Mit diesem Vorbringen hat die Rechtsbeschwerde keinen Erfolg. Die Vorschrift des § 83 Abs. 3 Nr. 6 MarkenG soll allein den Begründungszwang sichern. Es kommt deshalb darauf an, ob erkennbar ist, welcher Grund – mag dieser tatsächlich vorgelegen haben oder nicht, mag er rechtsfehlerhaft beurteilt worden sein oder nicht – für die Entscheidung über die einzelnen Ansprüche und Verteidigungsmittel maßgebend gewesen ist; dies kann auch bei lückenhafter und unvollständiger Begründung der Fall sein. Dem Erfordernis einer Begründung ist deshalb schon dann genügt, wenn die Entscheidung zu jedem selbständigen Angriffs - und Verteidigungsmittel Stellung nimmt, das ein Verfahrensbeteiligter vorgetragen hat (vgl. BGH GRUR 2003, 546, 548 – TURBO-TABS, m.w.N.). Diesen Anforderungen an den Begründungszwang genügt der angefochtene Beschluß. Ihm läßt sich insbesondere entnehmen, daß der Verkehr nach der Beurteilung des Bundespatentgerichts „turkey-corn“ als beschreibenden Begriff versteht und daß sich diese Beurteilung auf entsprechende Kennzeichnungspraktiken stützt. Daß
der angefochtene Beschluß nicht im einzelnen aufführt, welche Beobachtungen dieser Beurteilung zugrunde liegen, ist vorliegend ohne Belang.

b) Das Verfahren vor dem Bundespatentgericht verletzt die Anmelderin jedoch in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 83 Abs. 3 Nr. 3 MarkenG).
aa) Mit Recht wendet sich die Rechtsbeschwerde dagegen, daß der Anmelderin keine Gelegenheit gegeben worden ist, zu den Beobachtungen Stellung zu nehmen, die die Richter des Bundespatentgerichts in Lebensmittelgeschäften gemacht haben. Das Gericht kann seine Entscheidung auf derartige offenkundige Tatsachen stützen. Handelt es sich dabei nicht um Umstände, die allen Beteiligten ohne weiteres gegenwärtig sind, ist Voraussetzung aber stets, daß die Beteiligten erfahren, welche Erkenntnisse die Richter außerhalb des Verfahrens gewonnen haben und ins Verfahren einführen möchten (BGH, Beschl. v. 30.1.1997 – I ZB 3/95, GRUR 1997, 637, 638 = WRP 1997, 762 – Top Selection). Da die Niederschrift über die mündliche Verhandlung in der Beschwerdeinstanz ebenso wie die Gründe des angefochtenen Beschlusses insoweit schweigen, muß für das Rechtsbeschwerdeverfahren davon ausgegangen werden, daß ein entsprechender Hinweis im Streitfall unterblieben ist.
bb) Das Bundespatentgericht hat sich ferner zur Begründung und zum Beleg dafür, daß die Begriffe „turkey“ und „corn“ auch deutschen Verkehrskreisen als Sachhinweis auf Truthahn und Mais oder Getreide geläufig sind, auf die aus dem Internet gezogene Speisekarte von „A. Schloßwirtschaft in N. “ gestützt. Auch hinsichtlich dieser Belegstelle muß – wie die Rechtsbeschwerde ebenfalls rügt – davon ausgegangen werden, daß sie der Anmelderin nicht zur Kenntnis gegeben worden ist. Sie findet sich nicht unter den Verwendungsbeispielen aus dem englischen Sprachraum, die das Bundespatentgericht der Anmelderin rechtzeitig
vor der mündlichen Verhandlung in Kopie überlassen hat, sondern in einer Hülle, in der sich in erster Linie zwei von der Anmelderin im Verhandlungstermin vorgelegte Unterlagen befinden, mit denen für die Anmelderin günstige Tatsachen belegt werden sollten („turkey corn“ als englische Bezeichnung von Lerchensporn; Nachweis der Eintragung von „turkey-corn“ als Gemeinschaftsmarke). Allein der Umstand, daß sich die fragliche Speisekarte in einer mit „Anlagen zum Protokoll vom 18.09.2002“ gekennzeichneten Hülle befindet, besagt nicht, daß sie Gegenstand der mündlichen Verhandlung war. Denn es ist kaum anzunehmen, daß die Anmelderin dem Gericht diese für sie ungünstige Belegstelle vorgelegt hat. Dies gilt nicht zuletzt für den hier in Rede stehenden Beleg aus „A. Schloßwirtschaft“, der – nach dem Datum in der Fußzeile zu urteilen – erst am 2. Dezember 2002, also zweieinhalb Monate nach dem Verhandlungstermin, ausgedruckt worden ist.
cc) Die angefochtene Entscheidung beruht auf der Versagung des rechtlichen Gehörs (vgl. dazu BGH GRUR 1997, 637, 638 f. – Top Selection). Das Bundespatentgericht hat sich gerade auch auf Beobachtungen in Lebensmittelgeschäften berufen, zu denen sich die Anmelderin nicht äußern konnte. Auch die Verwendungsbeispiele aus dem Internet, die nach dem im Rechtsbeschwerdeverfahren zu unterstellenden Verfahrensablauf nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren und auf die daher die Entscheidung nicht hätte gestützt werden dürfen (§ 78 Abs. 2 MarkenG), sind vom Bundespatentgericht ausdrücklich zur Begründung der Entscheidung herangezogen worden. Ob die gegebene Begründung das Ergebnis auch ohne diese Hinweise auf das Verkehrsverständnis tragen könnte, bedarf unter diesen Umständen keiner Erörterung.
IV. Die Begründetheit der Rüge nach § 83 Abs. 3 Nr. 3 MarkenG führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Bundespatentgericht (§ 89 Abs. 4 MarkenG).
Eine Nachprüfung des angefochtenen Beschlusses auf sonstige Verstöße gegen das formelle oder gegen das materielle Recht findet – anders als bei der zugelassenen Rechtsbeschwerde (§ 83 Abs. 2 MarkenG) – bei Begründetheit einer zulassungsfreien Rechtsbeschwerde nicht statt (vgl. BGH GRUR 1997, 637, 639 – Top Selection, m.w.N.).
Ullmann v. Ungern-Sternberg Bornkamm
Pokrant Büscher

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
I ZB 33/06
vom
1. März 2007
in der Rechtsbeschwerdesache
betreffend die IR-Marke Nr. 730 038
Nachschlagewerk: ja
BGHZ : nein
BGHR : ja
WEST
Ist im markenrechtlichen Löschungsverfahren nicht auszuschließen, dass die
angefochtene Beschwerdeentscheidung auf der Versagung rechtlichen Gehörs
beruht, so muß der Rechtsbeschwerdeführer nicht vortragen, was er auf einen
Hinweis des Gerichts ausgeführt hätte; die insoweit im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde
nach § 544 ZPO geltenden Grundsätze sind nicht anzuwenden.
BGH, Beschl. v. 1. März 2007 - I ZB 33/06 - Bundespatentgericht
Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 1. März 2007 durch die
Richter Dr. v. Ungern-Sternberg, Prof. Dr. Büscher, Dr. Schaffert, Dr. Bergmann
und Dr. Kirchhoff

beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Markeninhaberin wird der Beschluss des 26. Senats (Marken-Beschwerdesenats) des Bundespatentgerichts vom 25. Januar 2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Bundespatentgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde wird auf 50.000 € festgesetzt.

Gründe:


1
I. Die Widersprechende ist Inhaberin der für "Filterzigaretten" aufgrund von Verkehrsdurchsetzung eingetragenen Marke Nr. 1 152 164 WEST.
Aus dieser Marke hat sie gegen die Schutzbewilligung für die IR-Marke der Markeninhaberin Nr. 730 038
WELT
in der Bundesrepublik Deutschland Widerspruch erhoben. Diese Marke ist für "Cigarettes et autres articles de tabac" eingetragen.
2
Die Markenstelle hat den Widerspruch sowie die Erinnerung der Widersprechenden zurückgewiesen. Zwischen der Widerspruchsmarke, bei der nur von normaler Kennzeichnungskraft ausgegangen werden könne, und der angegriffenen Marke bestehe trotz einer teilweisen Identität der Waren keine Verwechslungsgefahr.
3
Der hiergegen eingelegten Beschwerde der Widersprechenden hat das Bundespatentgericht stattgegeben. Gegen diesen Beschluss richtet sich die - vom Bundespatentgericht nicht zugelassene - Rechtsbeschwerde der Markeninhaberin.
4
II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Bundespatentgericht (§ 89 Abs. 4 MarkenG).
5
1. Die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde ist auch ohne Zulassung statthaft, weil die Markeninhaberin einen im Gesetz aufgeführten, die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde eröffnenden Verfahrensmangel - die Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 83 Abs. 3 Nr. 3 MarkenG) - mit konkreter Be- gründung gerügt hat (vgl. BGH, Beschl. v. 28.8.2003 - I ZB 5/03, GRUR 2004, 76 = WRP 2004, 103 - turkey & corn; Beschl. v. 1.6.2006 - I ZB 121/05, Umdruck S. 4).
6
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Entscheidung des Bundespatentgerichts auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs der Markeninhaberin beruht (Art. 103 Abs. 1 GG).
7
a) Das Bundespatentgericht hat bei seiner Entscheidung maßgeblich auf eine erheblich überdurchschnittliche Kennzeichnungskraft der Widerspruchsmarke abgestellt. Dafür hat es sich auf den Umsatz und den Marktanteil der Widerspruchsmarke sowie den großen Werbeaufwand für diese Marke gestützt. Dass die Widerspruchsmarke für Zigaretten dauerhaft und intensiv beworben worden sei, ergebe sich aus der Vielzahl der im Verfahren vor der Markenstelle zu den Akten gereichten Werbebeispiele und sei zudem gerichtsbekannt. Die Werbung für die Widerspruchsmarke sei in allen Bereichen, in denen für Zigaretten geworben werden dürfe, nahezu omnipräsent. Aufgrund der Dauer und des Umfangs dieser Werbung, z.B. auf Werbewänden, auf Litfasssäulen, in Zeitungen und Zeitschriften sowie anlässlich von Sportveranstaltungen, insbesondere solchen des Motorrennsports, sei davon auszugehen, dass die Widersprechende den Bekanntheitsgrad ihrer Marke seit dem Zeitpunkt der Eintragung nochmals nicht unerheblich gesteigert habe.
8
b) Die Rechtsbeschwerde rügt u.a., das Bundespatentgericht habe anders als das Deutsche Patent- und Markenamt festgestellt, die für eine erhöhte Kennzeichnungskraft der Widerspruchsmarke maßgeblichen Umstände seien gerichtsbekannt und damit nicht beweisbedürftig, ohne der Markeninhaberin zuvor durch einen entsprechenden Hinweis Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Dies sei jedoch zur Wahrung des Anspruchs der Markeninhaberin auf rechtliches Gehör notwendig gewesen, weil die Markeninhaberin vor dem Deutschen Patent- und Markenamt eine erhöhte Kennzeichnungskraft der Widerspruchsmarke bestritten habe.
9
c) Das Bundespatentgericht hat das Recht der Markeninhaberin auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es seiner Entscheidung bestimmte Tatsachen als gerichtsbekannt zugrunde gelegt hat. Dabei handelt es sich um die Ausführungen zu Bereichen, Dauer und Umfang der Werbung für die Widerspruchsmarke. Möchte das Gericht offenkundige Tatsachen (§ 82 Abs. 1 Satz 1 MarkenG i.V. mit § 291 ZPO), zu denen auch die gerichtsbekannten Tatsachen zählen, seiner Entscheidung zugrunde legen, so muss es sie zuvor in das Verfahren einführen, damit die Beteiligten Stellung nehmen können (BGH, Beschl. v. 30.1.1997 - I ZB 3/95, GRUR 1997, 637, 638 = WRP 1997, 762 - Top Selection; Beschl. v. 19.6.1997 - I ZB 21/95, GRUR 1998, 396, 397 = WRP 1998, 184 - Individual). Sofern keine mündliche Verhandlung stattfindet, ist ein schriftlicher Hinweis an die Verfahrensbeteiligten geboten.
10
Eine derartige Hinweispflicht besteht allerdings dann nicht, wenn es sich um Umstände handelt, die allen Beteiligten ohne Weiteres gegenwärtig sind und von deren Entscheidungserheblichkeit sie wissen. Denn in einem solchen Fall kann angenommen werden, dass die Beteiligten auch ohne einen ausdrücklichen Hinweis hinreichende Gelegenheit zur Stellungnahme haben (BGHZ 31, 43, 45; BGH GRUR 1997, 637, 638 - Top Selection). Im Streitfall kann jedoch nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass der Markeninhaberin , einem polnischen Unternehmen, Einzelheiten der Zigarettenwerbung in Deutschland geläufig sein müssen.
11
Nach der Begründung des angefochtenen Beschlusses kann auch nicht angenommen werden, dass die als gerichtsbekannt behandelten Tatsachen neben den von der Widersprechenden vor der Markenstelle eingeführten Tatsachen nur als zusätzliche, die Entscheidung letztlich nicht tragende Begründung herangezogen werden sollten. Damit ist nicht auszuschließen, dass die angefochtene Entscheidung auf der Versagung des rechtlichen Gehörs beruhen kann (BGH GRUR 1997, 637, 638 - Top Selection). Die Markeninhaberin musste nicht vortragen, was sie auf einen Hinweis des Gerichts zu den für gerichtsbekannt erachteten Tatsachen ausgeführt hätte. Die insoweit im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 544 ZPO geltenden Grundsätze (vgl. BGH, Beschl. v. 11.2.2003 - XI ZR 153/02, NJW-RR 2003, 1003) sind im markenrechtlichen Löschungsverfahren, das durch den Amtsermittlungsgrundsatz geprägt ist, nicht anzuwenden.
v.Ungern-Sternberg Büscher Schaffert
Kirchhoff Bergmann
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 25.01.2006 - 26 W(pat) 324/03 -

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

(1) Sind an dem Verfahren mehrere Personen beteiligt, so kann der Bundesgerichtshof bestimmen, daß die Kosten des Verfahrens einschließlich der den Beteiligten erwachsenen Kosten, soweit sie zur zweckentsprechenden Wahrung der Ansprüche und Rechte notwendig waren, einem Beteiligten ganz oder teilweise zur Last fallen, wenn dies der Billigkeit entspricht. Die Bestimmung kann auch getroffen werden, wenn der Beteiligte die Rechtsbeschwerde, die Anmeldung der Marke, den Widerspruch oder den Antrag auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit ganz oder teilweise zurücknimmt oder wenn die Eintragung der Marke wegen Verzichts oder wegen Nichtverlängerung der Schutzdauer ganz oder teilweise im Register gelöscht wird. Soweit eine Bestimmung über die Kosten nicht getroffen wird, trägt jeder Beteiligte die ihm erwachsenen Kosten selbst.

(2) Wird die Rechtsbeschwerde zurückgewiesen oder als unzulässig verworfen, so sind die durch die Rechtsbeschwerde veranlaßten Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen. Hat ein Beteiligter durch grobes Verschulden Kosten veranlaßt, so sind ihm diese aufzuerlegen.

(3) Dem Präsidenten oder der Präsidentin des Deutschen Patent- und Markenamts können Kosten nur auferlegt werden, wenn er oder sie die Rechtsbeschwerde eingelegt oder in dem Verfahren Anträge gestellt hat.

(4) Im Übrigen gelten die Vorschriften der Zivilprozessordnung über das Kostenfestsetzungsverfahren (§§ 103 bis 107) und die Zwangsvollstreckung aus Kostenfestsetzungsbeschlüssen (§§ 724 bis 802) entsprechend.