Bundesgerichtshof Beschluss, 24. Okt. 2019 - 1 StR 393/19

published on 24/10/2019 00:00
Bundesgerichtshof Beschluss, 24. Okt. 2019 - 1 StR 393/19
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Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 393/19
vom
24. Oktober 2019
in der Strafsache
gegen
wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern
ECLI:DE:BGH:2019:241019B1STR393.19.0

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts – zu 2. auf dessen Antrag – am 24. Oktober 2019 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Weiden i.d. OPf. vom 10. Mai 2019 aufgehoben
a) in den Fällen II.1.-6. (1. Fahrt bis 6. Fahrt) der Urteilsgründe ;
b) im gesamten Strafausspruch;
c) im Ausspruch über die Einziehung des Wertes von Taterträgen , soweit mehr als 5.550 Euro eingezogen worden sind. 2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen. 3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine Strafkammer des Landgerichts Regensburg zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in acht Fällen zu einer Gesamtfreiheits- strafe von fünf Jahren verurteilt. Zudem hat es die Einziehung des Wertes von Taterträgen angeordnet. Hiergegen richtet sich die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es offensichtlich unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I.


2
1. Der Schuldspruch in den Fällen II.1.-6. der Urteilsgründe ist aufzuheben. Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Verurteilung des Angeklagten insoweit aufgrund der Entscheidung des Sonderstrafgerichts in Sofia vom 31. Juli 2018 das Verfahrenshindernis des zwischenstaatlichen Verbots der Strafverfolgung wegen derselben Tat gemäß Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) entgegensteht. Das Vorliegen eines solchen Verfahrenshindernisses ist in jeder Lage des Verfahrens zu berücksichtigen und durch das Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen (vgl. BGH, Urteil vom 12. Dezember 2013 – 3 StR 531/12, BGHSt 59, 120 Rn. 10; Beschluss vom 9. Juni 2017 – 1 StR 39/17, BGHR SDÜ Art. 54 Strafklageverbrauch 7 Rn. 7). Nach Art. 4 Abs. 1 i.V.m. Anhang II Nr. 2 der EU-Beitrittsakte 2005 ist Art. 54 SDÜ im Verhältnis zu Bulgarien anzuwenden.
3
a) Die formellen Voraussetzungen des Art. 54 SDÜ liegen nach den Erkenntnisquellen , die dem Senat zur Verfügung stehen, vor. Der in den Verfahrensakten enthaltene Beschluss des bulgarischen Sonderstrafgerichts, die Vereinbarung des Angeklagten mit der Staatsanwaltschaft über eine dreijährige Freiheitsstrafe zu bewilligen und das Strafverfahren einzustellen (HA Bl. 741 ff.), ist eine rechtskräftige Aburteilung des Angeklagten im Sinne von Art. 54 SDÜ. Eine solche liegt vor, wenn die Sachentscheidung im Erstverfolgungsstaat nach dessen Recht endgültig und bindend ist mit der Folge, dass sie dort den sich aus dem Verbot der Doppelbestrafung ergebenden Schutz bewirkt (vgl. EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2008 – C 491/07 – Turansky – Rn. 32; BGH, Urteile vom 12. Dezember 2013 – 3 StR 531/12, BGHSt 59, 120 Rn. 11 und vom 28. Juli 2016 – 3 StR 25/16 Rn. 15 f.; jeweils mwN). Dem bulgarischen Gerichtsbeschluss kommt laut dem übersetzten Gerichtsprotokoll die Wirkung eines nicht mehr anfechtbaren Urteils zu, womit die Strafklage in Bulgarien verbraucht ist (vgl. Art. 24 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 3 der bulgarischen Strafprozessordnung). Zudem wird die Freiheitsstrafe „gerade vollstreckt“, weil dem Angeklagten ihre Vollstreckung für fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt worden ist (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 9. Juni 2017 – 1 StR 39/17 Rn. 24 ff. mwN, BGHR SDÜ Art. 54 Strafklageverbrauch 7).
4
b) Dem Senat ist keine abschließende Prüfung möglich, ob der bulgarischen Entscheidung zudem dieselben Taten zugrunde liegen wie der Verurteilung des Angeklagten in den Fällen II.1.-6. der Urteilsgründe.
5
aa) Nach der für die nationalen Gerichte verbindlichen Auslegung des Art. 54 SDÜ durch den Gerichtshof der Europäischen Union gilt im Rahmen dieser Vorschrift ein im Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen eigenständiger , autonom nach unionsrechtlichen Maßstäben auszulegender Tatbegriff (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007 – C – 288/05 – Kretzinger – Rn. 28 ff.; BGH, Urteil vom 12. Dezember 2013 – 3 StR 531/12, BGHSt 59, 120 Rn. 15; Beschluss vom 11. Mai 2016 – 1 StR 627/15 Rn. 7; jeweils mwN). Maßgebendes Kriterium für die Anwendung des Art. 54 SDÜ ist danach die Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes konkreter, in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbundener Tatsachen (vgl. EuGH aaO Rn. 34; BGH, Beschluss vom 4. Juni 2019 – 5 StR 96/19 Rn. 11 mwN). Die rechtliche Qualifizierung dieser Tatsachen, die geschützten rechtlichen Interessen oder sonstige materiellrechtliche Bewertungen, etwa ob die verschiedenen begangenen Delikte nach deutschem Recht im Verhältnis von Tateinheit oder Tatmehrheit stehen, sind unmaßgeblich. Eine Identität der Sachverhalte lässt sich indes nicht allein aus einem einheitlichen Vorsatz herleiten, sondern erfordert eine objektive Verbindung der zu beurteilenden Handlungen (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007 – C – 367/05 – Kraaijenbrink – Rn. 29; BGH, Urteil vom 12. Dezember 2013 – 3 StR 531/12, BGHSt 59, 120 Rn. 16). Ob im konkreten Fall eine einheitliche Tat anzunehmen ist, obliegt der Beurteilung durch die zuständigen nationalen Gerichte.
6
bb) Nach diesen Maßgaben kommt ein Strafklageverbrauch gemäß Art. 54 SDÜ in den Fällen II.1.-6. der Urteilsgründe in Betracht. Dem übersetzten bulgarischen Gerichtsprotokoll zufolge erklärte sich der Angeklagte schuldig , bei organisierten Schleusungen nach Bulgarien (vgl. Art. 280 des bulgarischen Strafgesetzbuchs) als Leiter einer Bande in S. im Zeitraum von Januar
2017
bis zum 14. Dezember 2017 tätig gewesen zu sein. Die vom Landgericht der Verurteilung zugrunde gelegten ersten sechs Schleusungsfahrten fanden innerhalb dieses Zeitraums, nämlich vom 6. Juli 2017 bis zum 4. September 2017, statt. Den Urteilsfeststellungen zufolge brachte der Angeklagte in jedem dieser Fälle die nach Deutschland geschleusten Personen unter anderem zwischenzeitlich in hierzu von ihm angemieteten Wohnungen (sog. „safe houses“) in S. unter. Eine zeitliche und – durch den in derselben Stadt liegenden Tatort begründete – räumliche Verbindung ist daher nach Aktenlage zu bejahen.
7
Zugleich läge eine unlösbare sachliche Verknüpfung nahe, sollte der Angeklagte mithilfe der Mitglieder der von ihm geleiteten Bande auch die von ihnen nach Bulgarien geschleusten Personen in jenen „safe houses“ untergebracht haben. Denn bereits dadurch würde sich das jeweilige Tatgeschehen, das die in Bulgarien und in Deutschland geführten Verfahren zum Gegenstand haben, aufgrund der in S. unterhaltenen Wohnungen objektiv überschneiden. Falls hierbei eine (teilweise) Identität der weiteren Beteiligten, also der für den Angeklagten jeweils tätigen Personen (vgl. UA S. 11) sowie der nach Bulgarien und in den Fällen II.1.-6. der Urteilsgründe nach Deutschland geschleusten Personen bestünde, könnte erst recht ein einheitlicher Tatsachenkomplex, den beide Verfahren zum Gegenstand haben, zu bejahen sein.
8
c) Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist insbesondere das dem Angeklagten vorgeworfene tatsächliche Geschehen aufzuklären, das seiner bulgarischen Verurteilung zugrunde liegt. Ob das Verfahrenshindernis besteht, hat zwar der Senat aufgrund der vorliegenden oder von ihm noch weiter zu treffenden Feststellungen und des Akteninhalts grundsätzlich selbst zu entscheiden. Es ist ihm aber nicht verwehrt, die Sache zur Nachholung fehlender Feststellungen an das Tatgericht zurückzuverweisen. Dazu besteht insbesondere dann Anlass, wenn die Ermittlung der maßgebenden Tatsachen (auch) eine Beweisaufnahme wie in der tatgerichtlichen Hauptverhandlung erforderlich machen würde (vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. Juni 2019 – 5 StR 96/19 Rn. 14 und vom 18. November 2015 – 4 StR 76/15 Rn. 9).
9
Ein solcher Fall liegt hier vor. Denn es ist zu erwarten, dass ein neues Tatgericht auch noch ergänzende Feststellungen zu den angeklagten Taten in den Fällen II.1.-6. der Urteilsgründe treffen kann, was dem Strengbeweis in der Hauptverhandlung vorbehalten ist. Derartige Feststellungen – etwa zu der Frage , welche weiteren Personen den Angeklagten bei der Beherbergung der nach Deutschland geschleusten Personen unterstützt haben – sind für eine mögliche Tatidentität nach Art. 54 SDÜ relevant, die unter Beachtung des Zweifelssatzes zu prüfen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Juni 2019 – 5 StR 96/19 Rn. 9 mwN). Die bisherigen Feststellungen sind dabei rechtsfehlerfrei getroffen und können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen sind möglich , soweit sie den bisherigen nicht widersprechen.
10
2. Der Schuldspruch in den Fällen II.7. und II.8. der Urteilsgründe ist von dem möglichen Verfahrenshindernis nicht betroffen. Diese Taten beging der Angeklagte im Januar 2018 und damit außerhalb des Tatzeitraums, der von der bulgarischen Entscheidung erfasst ist. Insoweit hat die rechtliche Nachprüfung des Urteils – auch was die Anordnung betrifft, in diesen Fällen den Wert von Taterträgen in Höhe von 5.550 Euro (37 geschleuste Personen x 150 Euro) einzuziehen – keinen Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten ergeben.

II.


11
Die Teilaufhebung des Schuldspruchs in den Fällen II.1.-6. der Urteilsgründe entzieht neben der insoweit angeordneten Einziehung dem gesamten Strafausspruch die Grundlage. Denn der Senat kann nicht ausschließen, dass die Bemessung der Einzelstrafen in den Fällen II.7. und II.8. der Urteilsgründe von der auch im Fall II.1. verhängten höchsten Einzelstrafe (sog. Einsatzstrafe) sowie von der Anzahl der einen engen inneren Zusammenhang aufweisenden Taten beeinflusst war (vgl. allgemein hierzu BGH, Urteil vom 7. Februar 2012 – 1 StR 525/11, BGHSt 57, 123 Rn. 23 mwN). Die Aufhebung des gesamten Strafausspruchs – wobei die zugehörigen sowie die zur Einziehungsentscheidung getroffenen Feststellungen ebenfalls bestehen bleiben können – ermöglicht es ferner dem neuen Tatgericht, alle Einzelstrafen in einem ausgewogenen Verhältnis neu festzusetzen, sollte das Verfahrenshindernis nicht bestehen.

III.


12
1. Im Umfang der Aufhebung des angefochtenen Urteils bedarf die Sache neuer tatrichterlicher Prüfung und Entscheidung. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen.
13
2. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass die gegen den Angeklagten in Bulgarien verhängte Strafe – insbesondere wenn die ihm gewährte Strafaussetzung infolge des hiesigen Verfahrens wegzufallen droht – zudem im Rahmen der Bemessung einer neuen Gesamtstrafe bei dem Gesamtstrafübel in den Blick zu nehmen sein wird (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2018 – 1 StR 508/18 Rn. 6 mwN).
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Annotations

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Soweit die Revision für begründet erachtet wird, ist das angefochtene Urteil aufzuheben.

(2) Gleichzeitig sind die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben, sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden, wegen deren das Urteil aufgehoben wird.