Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Nov. 2012 - 1 StR 239/12

bei uns veröffentlicht am21.11.2012

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 239/12
vom
21. November 2012
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Steuerhinterziehung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. November 2012 beschlossen
:
1. Auf die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des
Landgerichts Mannheim vom 10. November 2011 wird

a) das Verfahren eingestellt, soweit die Angeklagten im Fall
C.II.2.1.1, Tat 1, der Urteilsgründe wegen Steuerhinterziehung
verurteilt worden sind; im Umfang der Einstellung fallen
die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen
der Angeklagten der Staatskasse zur Last,

b) das vorbenannte Urteil im Schuldspruch dahingehend abgeändert
, dass die Angeklagten schuldig sind der Steuerhinterziehung
in 55 Fällen, des Vorenthaltens und Veruntreuens
von Arbeitsentgelt in 61 Fällen sowie des gewerbsund
bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in fünf
Fällen.
2. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.
3. Die Beschwerdeführer haben die verbleibenden Kosten ihrer
Rechtsmittel zu tragen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat die Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in 56 Fällen, Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 61 Fällen sowie wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in fünf Fällen jeweils zu zwei Jahren und neun Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt und ausgesprochen, dass drei Monate hiervon wegen überlanger Verfahrensdauer als vollstreckt gelten. Die auf die ausgeführte Sachrüge und Verfahrensrügen gestützten Revisionen der Angeklagten haben lediglich den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO), im Übrigen sind sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
2
1. Die den Angeklagten zur Last liegende Steuerhinterziehung wegen Abgabe einer falschen Lohnsteueranmeldung betreffend das 2. Quartal des Jahres 1999 (Fall C.II.2.1.1, Tat 1, der Urteilsgründe) ist - wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 17. September 2012 zutreffend dargelegt hat - verjährt. Das Verfahren war daher insoweit gemäß § 206a StPO einzustellen; dies bedingt auch die Änderung des Schuldspruchs.
3
2. Die weitergehenden Revisionen sind aus den vom Generalbundesanwalt in seiner durch die Gegenerklärung nicht entkräfteten Antragsschrift dargelegten Gründen unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Ergänzend bemerkt der Senat lediglich:
4
a) Die Verurteilung der Angeklagten wegen gewerbs- und bandenmäßiger Schleusung (§§ 92a, 92b AuslG aF, §§ 96, 97 Abs. 2 AufenthG) wird von den Feststellungen getragen. Danach verfügten die aus der Ukraine, aus Weißrussland, aus Georgien und aus Moldawien stammenden und in Deutschland erwerbstätigen Lkw-Fahrer zum maßgeblichen Tatzeitpunkt (vgl. BGH, Urteil vom 27. April 2005 - 2 StR 457/04, BGHSt 50, 105; Gericke in MüKomm-StGB, § 95 AufenthG Rn. 14 mwN) lediglich über ein nationales portugiesisches Visum der Kategorie „D“ und damit nicht über die gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1, § 58 Abs. 1 AuslG aF erforderliche Aufenthaltserlaubnis (vgl. Art. 18, Art. 21 SDÜ aF, Ziffer VI.1.7. der Gemeinsamen Konsularischen In- struktion, ABl. [EG] C 313 vom 16. Dezember 2002). Schon deswegen drängte nichts, das durch einen als Beweisermittlungsantrag zu qualifizierenden Antrag angeregte (und nicht grundsätzlich unzulässige) Sachverständigengut- achten zu den Rechtswirkungen einer portugiesischen „Autorização de Per- manência“ zu erholen.
5
b) Auch die Verurteilung der Angeklagten wegen Hinterziehung von Lohnsteuer (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) sowie wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a Abs.1, Abs. 2 Nr.1 StGB), jeweils begangen durch Abgabe unvollständiger und daher unrichtiger Anmeldungen bzw. Erklärungen, weist keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf. Auf die Prüfung der von der Revision aufgeworfenen Frage, ob einer inländischen (und auch bei lediglich zum Schein mit einem ausländischen Arbeitgeber geschlossenen Arbeitsverträgen bestehenden, vgl. BGH, Urteil vom 24. Oktober 2006 - 1 StR 44/06, BGHSt 51, 124; BGH, Beschluss vom 7. März 2007 - 1 StR 301/06, BGHSt 51, 224) Sozialversicherungspflicht eine gemäß Verordnung (EG) Nr. 484/2002 vom 1. März 2002 (Abl. Nr. L 76 vom 19. März 2003) ausgestellte Fahrerbescheinigung entgegenstehen könnte, kommt es nicht an. Denn ausweislich der Urteilsgründe ist nicht festgestellt, dass für die verfahrensrelevanten Lkw-Fahrer eine solche Bescheinigung tatsächlich ausgestellt worden war (vgl. zu den freilich andersgelagerten Bescheinigungen nach Verordnung [EWG] Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971, ABl. Nr. L 149 vom 5. Juli 1971 i.V.m. Verordnung [EWG] Nr. 574/72 vom 21. März 1972, ABl. Nr. L 74 vom 27. März 1972 [sog. „E 101 Bescheinigungen“]: BGH, Urteil vom 24. Oktober 2006 - 1 StR 44/06, BGHSt 51, 124). Eine zulässige Aufklärungsrüge insoweit ist nicht erhoben. Soweit derartige Fahrerbescheinigungen, wie sich dem Revisionsvortrag noch entnehmen lässt, Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen sein sollen, ist eine diesbezügliche Inbegriffsrüge (§ 261 StPO) nicht in der gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotenen Form ausgeführt (vgl. auch zur Maßgeblichkeit der bezeichneten Angriffsrichtung BGH, Beschluss vom 12. September 2007 - 1 StR 407/07, NStZ 2008, 229, 230; BGH, Beschluss vom 29. August 2006 - 1 StR 371/06, NStZ 2007, 161, 162; OLGMünchen, Urteil vom 19. Januar 2006 - 5 St RR 130/05, NStZ 2006, 353; Sander/Cirener JR 2006, 300).
6
3. Die Teileinstellung (oben 1.) bedingt für jeden Angeklagten den Wegfall der insoweit verhängten Einzelgeldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 50 €. Dadurch wird aber weder der Bestand der ansonsten rechtsfehlerfrei verhängten Einzelstrafen noch der des jeweiligen Gesamtstrafausspruchs gefährdet. Der Senat kann angesichts der verbleibenden Vielzahl von Einzelstrafen und deren Höhe (allein für jeden Fall der gewerbs- und bandenmäßigen Schleusung jeweils ein Jahr und neun Monate Freiheitsstrafe) ausschließen, dass sich der Wegfall einer Einzelgeldstrafe auf die Höhe der ohnehin milden Gesamtfreiheitsstrafen ausgewirkt haben könnte.
Nack Wahl Jäger Sander Radtke

ra.de-Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Nov. 2012 - 1 StR 239/12

Urteilsbesprechung schreiben

0 Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Nov. 2012 - 1 StR 239/12

Referenzen - Gesetze

Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Nov. 2012 - 1 StR 239/12 zitiert 10 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafprozeßordnung - StPO | § 344 Revisionsbegründung


(1) Der Beschwerdeführer hat die Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen. (2) Aus der Begründung muß hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer R

Strafprozeßordnung - StPO | § 261 Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung


Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Abgabenordnung - AO 1977 | § 370 Steuerhinterziehung


(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer1.den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht,2.die Finanzbehörden pflichtwidrig über steu

Strafgesetzbuch - StGB | § 266a Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt


(1) Wer als Arbeitgeber der Einzugsstelle Beiträge des Arbeitnehmers zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung, unabhängig davon, ob Arbeitsentgelt gezahlt wird, vorenthält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldst

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 95 Strafvorschriften


(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. entgegen § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 48 Abs. 2 sich im Bundesgebiet aufhält,2. ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Absatz 1 Satz 1 sich im Bundesgebiet a

Strafprozeßordnung - StPO | § 206a Einstellung des Verfahrens bei Verfahrenshindernis


(1) Stellt sich nach Eröffnung des Hauptverfahrens ein Verfahrenshindernis heraus, so kann das Gericht außerhalb der Hauptverhandlung das Verfahren durch Beschluß einstellen. (2) Der Beschluß ist mit sofortiger Beschwerde anfechtbar.

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 96 Einschleusen von Ausländern


(1) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer einen anderen anstiftet oder ihm dazu Hilfe leistet, eine Handlung 1. nach § 95 Abs.

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 97 Einschleusen mit Todesfolge; gewerbs- und bandenmäßiges Einschleusen


(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren wird bestraft, wer in den Fällen des § 96 Abs. 1, auch in Verbindung mit § 96 Abs. 4, den Tod des Geschleusten verursacht. (2) Mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren wird bestraft, we

Referenzen - Urteile

Urteil einreichen

Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Nov. 2012 - 1 StR 239/12 zitiert oder wird zitiert von 4 Urteil(en).

Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Nov. 2012 - 1 StR 239/12 zitiert 4 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bundesgerichtshof Beschluss, 07. März 2007 - 1 StR 301/06

bei uns veröffentlicht am 07.03.2007

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 301/06 vom 7. März 2007 in der Strafsache gegen BGHSt: ja Veröffentlichung: ja BGHR: ja ________________________ StGB § 266a Zur Anwendbarkeit von § 266a StGB bei einem durch türkische Scheinfirmen vorget

Bundesgerichtshof Beschluss, 12. Sept. 2007 - 1 StR 407/07

bei uns veröffentlicht am 12.09.2007

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 407/07 vom 12. September 2007 in der Strafsache gegen wegen Mordes Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. September 2007 beschlossen : Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts H

Bundesgerichtshof Beschluss, 29. Aug. 2006 - 1 StR 371/06

bei uns veröffentlicht am 29.08.2006

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 371/06 vom 29. August 2006 in der Strafsache gegen wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. August 2006 beschlossen : Die

Bundesgerichtshof Urteil, 24. Okt. 2006 - 1 StR 44/06

bei uns veröffentlicht am 24.10.2006

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 1 StR 44/06 BGHSt: ja BGHR: ja ____________________ StGB § 266a Abs. 1 und 2, § 5 Abs. 1; SGB IV § 6 1. Eine von einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union erteilte Entsendebescheinigung (E 10

Referenzen

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Stellt sich nach Eröffnung des Hauptverfahrens ein Verfahrenshindernis heraus, so kann das Gericht außerhalb der Hauptverhandlung das Verfahren durch Beschluß einstellen.

(2) Der Beschluß ist mit sofortiger Beschwerde anfechtbar.

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer einen anderen anstiftet oder ihm dazu Hilfe leistet, eine Handlung

1.
nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 oder Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a zu begehen und
a)
dafür einen Vorteil erhält oder sich versprechen lässt oder
b)
wiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern handelt oder
2.
nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2, Abs. 1a oder Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b oder Nr. 2 zu begehen und dafür einen Vermögensvorteil erhält oder sich versprechen lässt.

(2) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer in den Fällen des Absatzes 1

1.
gewerbsmäßig handelt,
2.
als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat, handelt,
3.
eine Schusswaffe bei sich führt, wenn sich die Tat auf eine Handlung nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 oder Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a bezieht,
4.
eine andere Waffe bei sich führt, um diese bei der Tat zu verwenden, wenn sich die Tat auf eine Handlung nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 oder Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a bezieht, oder
5.
den Geschleusten einer das Leben gefährdenden, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder der Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt.
Ebenso wird bestraft, wer in den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 Buchstabe a zugunsten eines minderjährigen ledigen Ausländers handelt, der ohne Begleitung einer personensorgeberechtigten Person oder einer dritten Person, die die Fürsorge oder Obhut für ihn übernommen hat, in das Bundesgebiet einreist.

(3) Der Versuch ist strafbar.

(4) Absatz 1 Nr. 1 Buchstabe a, Nr. 2, Absatz 2 Satz 1 Nummer 1, 2 und 5 und Absatz 3 sind auf Zuwiderhandlungen gegen Rechtsvorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder eines Schengen-Staates anzuwenden, wenn

1.
sie den in § 95 Abs. 1 Nr. 2 oder 3 oder Abs. 2 Nr. 1 bezeichneten Handlungen entsprechen und
2.
der Täter einen Ausländer unterstützt, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum besitzt.

(5) § 74a des Strafgesetzbuchs ist anzuwenden.

(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren wird bestraft, wer in den Fällen des § 96 Abs. 1, auch in Verbindung mit § 96 Abs. 4, den Tod des Geschleusten verursacht.

(2) Mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer in den Fällen des § 96 Abs. 1, auch in Verbindung mit § 96 Abs. 4, als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat, gewerbsmäßig handelt.

(3) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen des Absatzes 2 Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren.

(4) § 74a des Strafgesetzbuches ist anzuwenden.

(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer

1.
entgegen § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 48 Abs. 2 sich im Bundesgebiet aufhält,
2.
ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Absatz 1 Satz 1 sich im Bundesgebiet aufhält, wenn
a)
er vollziehbar ausreisepflichtig ist,
b)
ihm eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen ist und
c)
dessen Abschiebung nicht ausgesetzt ist,
3.
entgegen § 14 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 in das Bundesgebiet einreist,
4.
einer vollziehbaren Anordnung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 oder 2 oder § 47 Abs. 1 Satz 2 oder Abs. 2 zuwiderhandelt,
5.
entgegen § 49 Abs. 2 eine Angabe nicht, nicht richtig oder nicht vollständig macht, sofern die Tat nicht in Absatz 2 Nr. 2 mit Strafe bedroht ist,
6.
entgegen § 49 Abs. 10 eine dort genannte Maßnahme nicht duldet,
6a.
entgegen § 56 wiederholt einer Meldepflicht nicht nachkommt, wiederholt gegen räumliche Beschränkungen des Aufenthalts oder sonstige Auflagen verstößt oder trotz wiederholten Hinweises auf die rechtlichen Folgen einer Weigerung der Verpflichtung zur Wohnsitznahme nicht nachkommt oder entgegen § 56 Abs. 4 bestimmte Kommunikationsmittel nutzt oder bestimmte Kontaktverbote nicht beachtet,
7.
wiederholt einer räumlichen Beschränkung nach § 61 Abs. 1 oder Absatz 1c zuwiderhandelt oder
8.
im Bundesgebiet einer überwiegend aus Ausländern bestehenden Vereinigung oder Gruppe angehört, deren Bestehen, Zielsetzung oder Tätigkeit vor den Behörden geheim gehalten wird, um ihr Verbot abzuwenden.

(1a) Ebenso wird bestraft, wer vorsätzlich eine in § 404 Abs. 2 Nr. 4 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch oder in § 98 Abs. 3 Nr. 1 bezeichnete Handlung begeht, für den Aufenthalt im Bundesgebiet nach § 4 Abs. 1 Satz 1 eines Aufenthaltstitels bedarf und als Aufenthaltstitel nur ein Schengen-Visum nach § 6 Abs. 1 Nummer 1 besitzt.

(2) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer

1.
entgegen § 11 Absatz 1 oder in Zuwiderhandlung einer vollziehbaren Anordnung nach § 11 Absatz 6 Satz 1 oder Absatz 7 Satz 1
a)
in das Bundesgebiet einreist oder
b)
sich darin aufhält,
1a.
einer vollstreckbaren gerichtlichen Anordnung nach § 56a Absatz 1 zuwiderhandelt und dadurch die kontinuierliche Feststellung seines Aufenthaltsortes durch eine in § 56a Absatz 3 genannte zuständige Stelle verhindert oder
2.
unrichtige oder unvollständige Angaben macht oder benutzt, um für sich oder einen anderen einen Aufenthaltstitel oder eine Duldung zu beschaffen oder das Erlöschen oder die nachträgliche Beschränkung des Aufenthaltstitels oder der Duldung abzuwenden oder eine so beschaffte Urkunde wissentlich zur Täuschung im Rechtsverkehr gebraucht.

(3) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 3 und der Absätze 1a und 2 Nr. 1 Buchstabe a ist der Versuch strafbar.

(4) Gegenstände, auf die sich eine Straftat nach Absatz 2 Nr. 2 bezieht, können eingezogen werden.

(5) Artikel 31 Abs. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge bleibt unberührt.

(6) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 und 3 steht einem Handeln ohne erforderlichen Aufenthaltstitel ein Handeln auf Grund eines durch Drohung, Bestechung oder Kollusion erwirkten oder durch unrichtige oder unvollständige Angaben erschlichenen Aufenthaltstitels gleich.

(7) In Fällen des Absatzes 2 Nummer 1a wird die Tat nur auf Antrag einer dort genannten zuständigen Stelle verfolgt.

(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer

1.
den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht,
2.
die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt oder
3.
pflichtwidrig die Verwendung von Steuerzeichen oder Steuerstemplern unterlässt
und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt.

(2) Der Versuch ist strafbar.

(3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter

1.
in großem Ausmaß Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt,
2.
seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger oder Europäischer Amtsträger (§ 11 Absatz 1 Nummer 2a des Strafgesetzbuchs) missbraucht,
3.
die Mithilfe eines Amtsträgers oder Europäischen Amtsträgers (§ 11 Absatz 1 Nummer 2a des Strafgesetzbuchs) ausnutzt, der seine Befugnisse oder seine Stellung missbraucht,
4.
unter Verwendung nachgemachter oder verfälschter Belege fortgesetzt Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt,
5.
als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Taten nach Absatz 1 verbunden hat, Umsatz- oder Verbrauchssteuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Umsatz- oder Verbrauchssteuervorteile erlangt oder
6.
eine Drittstaat-Gesellschaft im Sinne des § 138 Absatz 3, auf die er alleine oder zusammen mit nahestehenden Personen im Sinne des § 1 Absatz 2 des Außensteuergesetzes unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden oder bestimmenden Einfluss ausüben kann, zur Verschleierung steuerlich erheblicher Tatsachen nutzt und auf diese Weise fortgesetzt Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt.

(4) Steuern sind namentlich dann verkürzt, wenn sie nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig festgesetzt werden; dies gilt auch dann, wenn die Steuer vorläufig oder unter Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt wird oder eine Steueranmeldung einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht. Steuervorteile sind auch Steuervergütungen; nicht gerechtfertigte Steuervorteile sind erlangt, soweit sie zu Unrecht gewährt oder belassen werden. Die Voraussetzungen der Sätze 1 und 2 sind auch dann erfüllt, wenn die Steuer, auf die sich die Tat bezieht, aus anderen Gründen hätte ermäßigt oder der Steuervorteil aus anderen Gründen hätte beansprucht werden können.

(5) Die Tat kann auch hinsichtlich solcher Waren begangen werden, deren Einfuhr, Ausfuhr oder Durchfuhr verboten ist.

(6) Die Absätze 1 bis 5 gelten auch dann, wenn sich die Tat auf Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben bezieht, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verwaltet werden oder die einem Mitgliedstaat der Europäischen Freihandelsassoziation oder einem mit dieser assoziierten Staat zustehen. Das Gleiche gilt, wenn sich die Tat auf Umsatzsteuern oder auf die in Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. L 9 vom 14.1.2009, S. 12) genannten harmonisierten Verbrauchsteuern bezieht, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verwaltet werden.

(7) Die Absätze 1 bis 6 gelten unabhängig von dem Recht des Tatortes auch für Taten, die außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes begangen werden.

(1) Wer als Arbeitgeber der Einzugsstelle Beiträge des Arbeitnehmers zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung, unabhängig davon, ob Arbeitsentgelt gezahlt wird, vorenthält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer als Arbeitgeber

1.
der für den Einzug der Beiträge zuständigen Stelle über sozialversicherungsrechtlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht oder
2.
die für den Einzug der Beiträge zuständige Stelle pflichtwidrig über sozialversicherungsrechtlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt
und dadurch dieser Stelle vom Arbeitgeber zu tragende Beiträge zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung, unabhängig davon, ob Arbeitsentgelt gezahlt wird, vorenthält.

(3) Wer als Arbeitgeber sonst Teile des Arbeitsentgelts, die er für den Arbeitnehmer an einen anderen zu zahlen hat, dem Arbeitnehmer einbehält, sie jedoch an den anderen nicht zahlt und es unterlässt, den Arbeitnehmer spätestens im Zeitpunkt der Fälligkeit oder unverzüglich danach über das Unterlassen der Zahlung an den anderen zu unterrichten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Satz 1 gilt nicht für Teile des Arbeitsentgelts, die als Lohnsteuer einbehalten werden.

(4) In besonders schweren Fällen der Absätze 1 und 2 ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter

1.
aus grobem Eigennutz in großem Ausmaß Beiträge vorenthält,
2.
unter Verwendung nachgemachter oder verfälschter Belege fortgesetzt Beiträge vorenthält,
3.
fortgesetzt Beiträge vorenthält und sich zur Verschleierung der tatsächlichen Beschäftigungsverhältnisse unrichtige, nachgemachte oder verfälschte Belege von einem Dritten verschafft, der diese gewerbsmäßig anbietet,
4.
als Mitglied einer Bande handelt, die sich zum fortgesetzten Vorenthalten von Beiträgen zusammengeschlossen hat und die zur Verschleierung der tatsächlichen Beschäftigungsverhältnisse unrichtige, nachgemachte oder verfälschte Belege vorhält, oder
5.
die Mithilfe eines Amtsträgers ausnutzt, der seine Befugnisse oder seine Stellung missbraucht.

(5) Dem Arbeitgeber stehen der Auftraggeber eines Heimarbeiters, Hausgewerbetreibenden oder einer Person, die im Sinne des Heimarbeitsgesetzes diesen gleichgestellt ist, sowie der Zwischenmeister gleich.

(6) In den Fällen der Absätze 1 und 2 kann das Gericht von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn der Arbeitgeber spätestens im Zeitpunkt der Fälligkeit oder unverzüglich danach der Einzugsstelle schriftlich

1.
die Höhe der vorenthaltenen Beiträge mitteilt und
2.
darlegt, warum die fristgemäße Zahlung nicht möglich ist, obwohl er sich darum ernsthaft bemüht hat.
Liegen die Voraussetzungen des Satzes 1 vor und werden die Beiträge dann nachträglich innerhalb der von der Einzugsstelle bestimmten angemessenen Frist entrichtet, wird der Täter insoweit nicht bestraft. In den Fällen des Absatzes 3 gelten die Sätze 1 und 2 entsprechend.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 44/06
BGHSt: ja
BGHR: ja
____________________
1. Eine von einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union erteilte Entsendebescheinigung
(E 101) bindet auch die deutschen Organe der Strafrechtspflege.
2. Die Durchführung eines Strafverfahrens wegen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen
(§ 266a Abs. 1 StGB) ist ebenso gehindert wie eine Strafverfolgung
in Zusammenhang mit Erklärungen gegenüber den Behörden des Entsendestaates
zur Erlangung der E 101-Bescheinigung jedenfalls solange die erteilte Bescheinigung
nicht zurückgenommen ist.
BGH, Urteil vom 24. Oktober 2006 - 1 StR 44/06 - LG München I
vom
24. Oktober 2006
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
24. Oktober 2006, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Kolz,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Graf,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger für den Angeklagten F. ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger für den Angeklagten H. ,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 14. Juli 2005 aufgehoben. Die Angeklagten werden freigesprochen. 2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last. 3. Die Entscheidung über die Entschädigung der Angeklagten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht vorbehalten.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Das Landgericht München I hat den Angeklagten F. durch Urteil vom 14. Juli 2005 wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 11 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Den Angeklagten H. hat es wegen Beihilfe zu diesen Taten unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt; daneben hat es eine Gesamtgeldstrafe von 200 Tagessätzen zu jeweils 10,-- € verhängt. Die Vollstreckung beider Gesamtfreiheitsstrafen hat das Landgericht zur Bewährung ausgesetzt.
2
Die Angeklagten machen mit ihren auf die Sachrüge gestützten Revisionen geltend, dass den Angeklagten F. wegen Unanwendbarkeit deutschen Sozialversicherungsrechtes keine Pflicht zur Abführung von Beiträgen zur deutschen Sozialversicherung treffe, eine Strafbarkeit nach § 266a StGB daher für beide Angeklagte ausscheide. Die Rechtsmittel haben Erfolg.

I.

3
1. Das Landgericht hat festgestellt: Der Angeklagte F. war Geschäftsführer der „A. GmbH“ mit Sitz in M. (fortan: A. GmbH), die auf Baustellen in Deutschland als Subunternehmerin Aufträge im Bereich der Fassadenmontage ausführte und dabei portugiesische Arbeiter einsetzte. Um die Arbeiter der deutschen Sozialversicherungspflicht zu entziehen, wurden sie auf Veranlassung des Angeklagten F. zum Schein bei zwei portugiesischen Bauunternehmen angestellt. Die portugiesischen Unternehmen traten formell auch in die Bauaufträge der A. GmbH ein. Tatsächlich hatten die portugiesischen Firmen keinerlei Geschäftsbeziehungen nach Deutschland, insbesondere weder Kontakt zu den Auftraggebern der A. GmbH noch zu den portugiesischen Arbeitnehmern. Diese blieben faktisch bei der A. GmbH beschäftigt, von der sie auch ihren - auf Konten der portugiesischen Unternehmen überwiesenen und von dort ausgezahlten - Arbeitslohn erhielten. Der Angeklagte H. , ein ehemaliger Rechtsanwalt, hatte zusammen mit dem Angeklagten F. die Verhandlungen mit den portugiesischen Firmen geführt, die abgeschlossenen Scheinarbeitsverträge entworfen und die Organisation der umgeleiteten Lohnzahlungen übernommen.
4
Die Angeklagten beabsichtigten, durch die angeblichen Arbeitsverhältnisse in Portugal den Anschein einer nur vorübergehenden Entsendung der Ar- beiter von Portugal nach Deutschland zu erwecken. Das deutsche und das europäische Sozialversicherungsrecht sehen für einen derartigen Fall vor, dass die entsandten Arbeitnehmer nur in ihrem Herkunftsstaat zu versichern sind, im Gastland dagegen beitragsfrei beschäftigt werden können. Die Geschäftsführer der portugiesischen Gesellschaften stellten nach Absprache mit den Angeklagten daher bei den portugiesischen Sozialversicherungsträgern Anträge auf Erteilung so genannter E 101-Bescheinigungen, welche daraufhin auch ausgestellt wurden. In den Bescheinigungen bestätigten die portugiesischen Behörden , dass die eingesetzten Arbeiter nach der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 aufgrund von Werkverträgen für nicht länger als ein Jahr ins Ausland entsandt wurden mit der rechtlichen Folge, dass sie in Portugal sozialversicherungspflichtig blieben. Tatsächlich lagen die Voraussetzungen hierfür - wie das Landgericht feststellt - nicht vor, da die Arbeitnehmer bereits zum Zeitpunkt ihrer angeblichen Entsendung durch die portugiesischen Unternehmen länger als ein Jahr in Deutschland tätig und vollständig in den Betrieb der A. GmbH eingegliedert waren.
5
Bei den deutschen Sozialversicherungsbehörden meldeten die Angeklagten die Arbeiter nicht an und führten auch keine Beiträge für sie ab. Nach der Berechnung des Landgerichts entzogen sie dadurch im Zeitraum zwischen Juli 2001 und Juni 2002 in Deutschland Beiträge in Höhe von insgesamt 112.132,40 €. In Portugal sollten Beiträge nach Vorstellung der Angeklagten aus dem an die dortigen Unternehmen überwiesenen Arbeitslohn entrichtet werden. Ob dies tatsächlich geschah, hat das Landgericht nicht festgestellt.
6
Zur behördlichen Handhabung der E 101-Bescheinigungen teilt das Urteil mit, dass die deutschen Sozialversicherungsträger aufgrund von Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes darin übereingekommen seien, den Bescheinigungen bindende Wirkung beizumessen. Die Landesversicherungsan- stalt Oberbayern hob daher in einem das Vorgängerunternehmen der A. GmbH betreffenden Verfahren mit ähnlichem Sachverhalt - die Arbeitnehmer wurden bei zu diesem Zweck eigens gegründeten portugiesischen Briefkastenfirmen angestellt und erlangten auf diesem Weg E 101-Bescheinigungen - einen bereits ergangenen Leistungsbescheid wieder auf, nachdem die portugiesischen Behörden die Richtigkeit der von ihnen ausgestellten Bescheinigungen bestätigt hatten. Im laufenden, gegen den Angeklagten F. gerichteten sozialversicherungsrechtlichen Verfahren wurden Beitragsforderungen gar nicht erst erhoben. Nach Aussage von Mitarbeitern der befassten deutschen Sozialbehörden ist dies auch für die Zukunft nicht beabsichtigt, sofern die vorliegenden Bescheinigungen Bestand haben.
7
2. Das Landgericht ist der Auffassung, dass die portugiesischen Arbeiter ungeachtet der vorgelegten E 101-Bescheinigungen in Deutschland sozialversicherungspflichtig waren, da die Voraussetzungen für eine versicherungsfreie Tätigkeit nicht gegeben waren. Den Bescheinigungen misst es eine nur formale Bedeutung zu. Sie entfalten nach Auffassung des Landgerichts bindende Wirkung nur im Sozialversicherungsrecht, begründen auch dort aber nur eine widerlegbare Vermutung dafür, dass der betroffene Arbeitnehmer in das Sozialversicherungssystem eines anderen Landes eingebunden ist. Die deutschen Sozialversicherungsträger seien bis zur Rücknahme der auf falschen Annahmen beruhenden Bescheinigungen durch die ausstellende Behörde zwar gehindert , Beiträge einzuziehen. Am Bestehen eines darauf gerichteten materiellen Anspruches und an der strafrechtlichen Bedeutung unterlassener Beitragsabführung ändere dies aber nichts.

II.

8
Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Nach den Kollisionsvorschriften des europäischen Sozialversicherungsrechtes in der ihnen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zukommenden Reichweite und Wirkung findet deutsches Sozialversicherungsrecht auf die dem Urteil des Landgerichts zugrunde liegenden Beschäftigungsverhältnisse keine Anwendung. Eine Strafbarkeit der Angeklagten nach § 266a StGB scheidet infolgedessen aus.
9
1. Gegenstand einer Beitragsstraftat nach § 266a StGB sind fällige Arbeitnehmerbeiträge , die aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuches geschuldet sind. § 266a StGB ist insoweit sozialrechtsakzessorisch ausgestaltet (vgl. BGHSt 47, 318 f.; Tröndle /Fischer StGB 53. Aufl. § 266a Rdn. 9a, 10; Ignor/Rixen, wistra 2001, 201, 202). Auch das Landgericht geht zutreffend davon aus, dass eine sozialversicherungsrechtliche Beitragspflicht die Voraussetzung für eine Beitragsstraftat bildet.
10
2. In Fällen mit Auslandsbezug ist daher von vorrangiger Bedeutung, ob der betroffene Arbeitnehmer der inländischen Sozialversicherungspflicht unterliegt oder davon ausgenommen ist. § 266a StGB knüpft hierbei nicht allein an die deutschen Sozialgesetze, sondern auch an zwischen- und überstaatliche Bestimmungen an, soweit sie in Deutschland gelten und das anzuwendende Sozialversicherungsrecht bestimmen. Danach ergibt sich Folgendes:
11
a) Nach den Bestimmungen des deutschen Sozialgesetzbuches führt eine inländische Beschäftigung zur Sozialversicherungspflicht des Arbeitnehmers (§ 2 Abs. 2, § 3 Nr. 1 SGB IV); maßgeblich ist dabei der Ort, an dem die Beschäftigung tatsächlich ausgeübt wird (§ 9 Abs. 1 SGB IV). Die Versicherungs- pflicht entfällt gem. § 5 Abs. 1 SGB IV bei Personen, die im Rahmen eines ausländischen Beschäftigungsverhältnisses in das Inland entsandt werden, sofern die Entsendung im Voraus zeitlich begrenzt ist.
12
Nach diesem Maßstab unterlagen die portugiesischen Arbeiter in der zugrunde liegenden Fallkonstellation der deut schen Sozialversicherungspflicht. An einer zur Versicherungsfreiheit führenden Entsendung fehlte es bereits deshalb , weil ein ausländisches Beschäftigungsverhältnis im Sinne des § 5 Abs. 1 SGB IV nicht bestand, die Arbeiter vielmehr allein von der inländischen A. GmbH beschäftigt wurden. Sie waren insbesondere weder an Weisungen der nur nach außen als Arbeitgeber auftretenden portugiesischen Unternehmen gebunden noch in deren Arbeitsorganisation eingegliedert (vgl. § 7 Abs. 1 SGB

IV).

13
b) Die Vorschriften der §§ 2 ff. SGB IV stehen jedoch unter dem Vorbehalt über- und zwischenstaatlichen Rechtes (§ 6 SGB IV). Als derartige, nach Art. 249 Abs. 2 EG-Vertrag mit unmittelbarem Geltungsvorrang ausgestattete Regelung enthält die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 (sog. „Wanderarbeitnehmerverordnung“, ABl. L 149 vom 5. Juli 1971 S. 2; fortan: VO 1408/71) für Fälle grenzüberschreitender Beschäftigung in Ländern der europäischen Union Kollisionsvorschriften, die das anwendbare nationale Sozialversicherungsrecht bestimmen.
14
Nach der Grundregel des Art. 13 Abs. 1 der VO 1408/71 sollen grenzüberschreitend beschäftigte Personen dem Sozialversicherungsrecht nur eines Mitgliedstaates unterliegen. Art. 13 Abs. 2 lit. a) der VO 1408/71 bestimmt insoweit , dass auf einen Arbeitnehmer, der im Gebiet eines Mitgliedstaates beschäftigt ist, unabhängig von seinem Wohnsitz und dem Sitz seines Arbeitgebers das Recht dieses Staates Anwendung findet. Als Ausnahme hierzu findet im Falle einer Entsendung von voraussichtlich nicht mehr als zwölf Monaten nach Art. 14 Abs. 1 Nr. 1 a) der VO 1408/71 weiterhin das Sozialversicherungsrecht des Herkunftsstaates Anwendung, aus dem der Arbeitnehmer entsandt wird, sofern der Arbeitnehmer einem dortigen Unternehmen gewöhnlich angehört und für Rechnung dieses Unternehmens entsandt wird. Voraussetzung für die Anwendung dieser Ausnahmeregelung ist eine auch während der Entsendung fortbestehende arbeitsrechtliche Bindung zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer, die sich in der Zahlung des Entgeltes , der Erhaltung eines Abhängigkeitsverhältnisses, der Verantwortung für Anwerbung, Arbeitsvertrag, Entlassung und der Entscheidungsgewalt über die Art der Arbeit ausdrückt (vgl. die Beschlüsse der - nach Art. 80, 81 der VO 1408/71 zu Fragen der Auslegung und Durchführung der Verordnung eingesetzten - Verwaltungskommission Nr. 128 vom 17. Oktober 1985, ABl. C 141 vom 7. Juni 1986, S. 6; Nr. 162 vom 31. Mai 1996, ABl. L 241 vom 21. September 1996, S. 28; Nr. 181 vom 13. Dezember 2000, ABl. L 329 vom 14. Dezember 2001, S. 73).
15
Auch nach diesem Maßstab lagen die Voraussetzungen einer zur inländischen Versicherungsfreiheit führenden Entsendung auf Grundlage der Feststellungen des Landgerichts nicht vor; denn die portugiesischen Arbeitnehmer befanden sich in keiner arbeitsrechtlichen Bindung zu den portugiesischen Unternehmen. Sie waren auch nicht für deren Rechnung tätig, da ihre Arbeitskraft allein zur Durchführung der tatsächlich bei der A. GmbH verbliebenen Bauaufträge diente und sie faktisch auch ihren Lohn von der GmbH bezogen.
16
3. Dem Landgericht war es gleichwohl verwehrt, seiner Beurteilung die Anwendung deutschen Sozialversicherungsrechtes zugrunde zu legen. Nach den zur Durchführung der VO 1408/71 ergangenen europäischen Rechtsvorschriften war es an die Bescheinigung des portugiesischen Sozialversiche- rungsträgers gebunden, wonach die Arbeiter der A. GmbH portugiesischem Sozialversicherungsrecht unterliegen. Die Strafkammer war daher gehindert , entgegen der Bewertung der portugiesischen Behörde dennoch zu einer bestehenden Sozialversicherungspflicht in Deutschland zu gelangen.
17
a) Die VO 1408/71 wird ergänzt durch Durchführungsvorschriften in der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 vom 21. März 1972 (ABl. L 74 vom 27. März 1972, S. 1; fortan: VO 574/72). Für die Fälle einer Entsendung nach Art. 14 Abs. 1 der VO 1408/71 sieht Art. 11 der VO 574/72 ein Verfahren vor, in dem der zuständige Sozialversicherungsträger des Herkunftsstaates auf Antrag des betroffenen Arbeitnehmers oder Arbeitgebers die Entsendung bestätigt und für einen begrenzten Zeitraum bescheinigt, dass der Beschäftigte den Rechtsvorschriften des Herkunftsstaates unterstellt bleibt. Die Bescheinigung erfolgt auf einem gemäß Art. 2 der VO 574/72 von der Verwaltungskommission entworfenen einheitlichen Formblatt mit der Bezeichnung „E 101“.
18
Über die Rechtsnatur und Wirkung einer derartigen E 101-Bescheinigung verhält sich die VO 574/72 nicht unmittelbar. Ihr ist insbesondere nicht zu entnehmen , welche Wirkung der Bescheinigung in einem das Sozialversicherungsverhältnis eines entsandten Arbeitnehmers betreffenden Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren im Gastland zukommt, ob sie dort etwa nur verfahrensrechtliche Bedeutung im Sinne einer Beweiserleichterung oder widerleglichen Vermutung für das Vorliegen des bescheinigten Entsendetatbestandes erlangt, oder ob sie materielle Bindungswirkung dahingehend entfaltet, dass sie die sich aus der bescheinigten Entsendung ergebende Anwendung des Sozialversicherungsrechtes des Entsendestaates verbindlich festschreibt.
19
b) Der Europäische Gerichtshof hat in mehreren Entscheidungen, denen Vorlagefragen aus arbeits- und sozialgerichtlichen Verfahren der Mitgliedsstaa- ten zugrunde lagen, zur Wirkung einer E 101-Bescheinigung ausgesprochen, dass die nationalen Behörden des Gastlandes und dessen Gerichte an die bescheinigte Anwendbarkeit des Sozialversicherungsrechtes des Herkunftslandes gebunden sind (Urteil vom 10. Februar 2000 - Rs. C-202/97, EuZW 2000, 380; Urteil vom 30. März 2000 - Rs. C-178/97, Slg. 2000 I, 2005, 2040 ff.; Urteil vom 26. Januar 2006 - Rs. C-2/05, AP EWG-Verordnung Nr. 1408/71 Nr. 13.).
20
Der Gerichtshof begründet seine Auffassung mit dem Zweck der Verordnungen , dass ein Arbeitnehmer nur an ein einziges System der sozialen Sicherheit angeschlossen werden soll, der damit verbundenen Rechtssicherheit und der mit der Verordnung und der Bescheinigung beabsichtigten Förderung von Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit. Er führt darüber hinaus aus, dass der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit nach Art. 10 (alt: Art. 5) EG-Vertrag den ausstellenden Träger verpflichte, den Sachverhalt ordnungsgemäß zu beurteilen und damit die Richtigkeit der Bescheinigung zu gewährleisten. Umgekehrt würde der zuständige Träger des Aufnahmestaates seine Verpflichtung zur Zusammenarbeit verletzen, wenn er sich nicht an die Angaben in der Bescheinigung gebunden sähe und den Betroffenen (zusätzlich) seinem eigenen Sozialversicherungssystem unterstellen würde. In Konfliktfällen habe der Träger des Aufnahmestaates sich vielmehr zunächst an den Träger des Entsendestaates zu wenden, dann an die Verwaltungskommission. Gelinge dieser keine Vermittlung, könne der Träger des Aufnahmestaates im Entsendestaat klagen oder ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 227 (alt: Art. 170) EG-Vertrag einleiten.
21
Zur Reichweite der Bindung führt der Europäische Gerichtshof aus, dass eine E 101-Bescheinigung notwendig zur Folge habe, dass das System der sozialen Sicherheit des anderen Mitgliedstaates nicht angewandt werden kann. Hieran seien auch die nationalen Gerichte gebunden (Urteil vom 26. Januar 2006 - Rs. C-2/05; AP EWG-Verordnung Nr. 1408/71 Nr. 13). Der Gerichtshof hatte insoweit über die Vorlagefrage zu befinden, ob ein Gericht des Gaststaates das Fortbestehen einer arbeitsrechtlichen Bindung zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem entsandten Arbeitnehmer prüfen darf, weiterhin, ob es die E 101-Bescheinigung unbeachtet lassen darf, wenn nach den ihm vorliegenden tatsächlichen Umständen feststeht, dass während des Entsendungszeitraums eine solche Bindung nicht bestand. Der Europäische Gerichtshof hat dies abgelehnt und ausgeführt, ein Gericht des Gaststaates sei „nicht befugt, die Gültigkeit einer Bescheinigung E 101 im Hinblick auf die Bestätigung der Tatsachen, auf deren Grundlage eine solche Bescheinigung ausgestellt wurde, insbesondere das Bestehen einer arbeitsrechtlichen Bindung im Sinne von Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (…) zu überprüfen“ (EuGH aaO Rdn. 33).
22
c) Der Senat sieht vor diesem Hintergrund auch die an einem innerstaatlichen Strafverfahren beteiligten Behörden und Gerichte an eine von einem ausländischen Sozialversicherungsträger ausgestellte E 101-Bescheinigung gebunden , soweit sich das Strafverfahren auf eine Verletzung der Beitragspflicht des Arbeitgebers bezieht.
23
Er hält zunächst für nicht zweifelhaft, dass der Europäische Gerichtshof trotz einzelner Formulierungen, die der Bescheinigung lediglich Beweiskraft oder die Wirkung einer Vermutung zuschreiben (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000 - Rs. C-202/97, EuZW 2000, 380, 384), eine behördliche oder gerichtliche Auseinandersetzung über die tatsächlichen Verhältnisse, aufgrund derer die Bescheinigung erteilt wurde, im Gastland für ausgeschlossen hält. Die seitens des Gerichtshofes betonte Bindung lässt sich nicht anders verstehen, als dass eine derartige Sachprüfung durch dortige Behörden nicht stattfinden darf.
24
Dies betrifft auch die Organe der Strafrechtspflege. Der Europäische Gerichtshof hat in seiner - erst nach dem Urteil des Landgerichts ergangenen - Entscheidung vom 26. Januar 2006 (Rs. C-2/05) bereits die Vorlagefragen weitreichend im Hinblick auf eine Bindung der „innerstaatlichen Rechtsordnung des Gaststaates“ verstanden und eine Bindung der nationalen Gerichte ohne Unterscheidung nach Gerichtsbarkeit ausgesprochen. Ein solches Verständnis entspricht dem Zweck der europäischen Kollisionsvorschriften und der Entsendebescheinigung. Denn ein strafrechtliches Urteil, das sich auf von der Bescheinigung abweichende Feststellungen stützt, hätte wegen der einschneidenden Sanktionsfolge tiefergreifende Auswirkungen als eine von der Bescheinigung abweichende Beitragserhebung durch die Sozialversicherungsbehörden des Gastlandes.
25
Im Hinblick auf § 266a StGB ergibt sich eine Bindung auch mittelbar aus der sozialrechtsakzessorischen Natur der Strafvorschrift. Da die strafrechtliche Beitragsvorenthaltung eine sozialrechtlich begründete Beitragspflicht voraussetzt , lässt eine Unanwendbarkeit deutschen Sozialversicherungsrechtes infolge der bindenden Bewertung der Entsendebehörde zugleich die Strafbarkeit nach § 266a StGB entfallen (zutreffend Ignor/Rixen, wistra 2001, 201, 204; a.A. Heitmann in Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht 4. Aufl. § 36 Rdn. 70 f., 76, der einer Entsendebescheinigung allerdings auch für das sozialrechtliche Verfahren nur eine Beweisfunktion zuschreibt). Dies zeigt auch die Struktur von § 266a StGB als echtes Unterlassungsdelikt. Dem Unterlassen steht bei Vorliegen einer Entsendebescheinigung eine erfüllbare Rechtspflicht nicht gegenüber; da mangels eines Sozialversicherungsverhältnisses kein Anspruch eines inländischen Sozialversicherungsträgers besteht, ist dem Täter die von § 266a StGB abverlangte Handlung - rechtzeitige Beitragsabführung - rechtlich und tatsächlich unmöglich. Eine strafrechtliche Feststellung fehlender Entsendungsvoraussetzungen, wie von dem Landgericht vorgenommen, ver- mag hieran nichts zu ändern, da sie eine Sozialversicherungspflicht nicht begründen kann.
26
d) Der Senat hat erwogen, ob die Bindungswirkung der E 101Bescheinigung in Fallgestaltungen wie der vorliegenden in Frage steht, in denen die Bescheinigung durch Manipulation erschlichen worden ist. Der Europäische Gerichtshof hat insoweit in anderem Zusammenhang mehrfach ausgesprochen , dass das Gemeinschaftsrecht die missbräuchliche oder betrügerische Anwendung von Vorschriften nicht gestatte (vgl. Urteil vom 2. Mai 1996 - Rs. C-206/94, BB 1996, 1116, 1117 m.w.N.).
27
Sollte der Verdacht von Manipulationen eine Überprüfungsmöglichkeit des Entsendetatbestandes durch die Behörden und Gerichte des Gaststaates eröffnen, würde dies allerdings die von den Verordnungen bezweckte und in der Rechtsprechung des Gerichtshofes als wesentliche Zielsetzung betonte eindeutige Rechtszuordnung unterlaufen, da eine auf den Missbrauchsverdacht gestützte Ermittlungs- und Eingriffsbefugnis keine trennscharfen Konturen aufweist und zu Konflikten zwischen den Versicherungsträgern der beteiligten Mitgliedstaaten Anlass geben würde.
28
Dementsprechend hat der Europäische Gerichtshof eine Ausnahme von der Bindungswirkung nicht vorgesehen und an der Richtigkeit der Bescheinigung zweifelnde Gastlandbehörden ausnahmslos auf eine Überprüfungsanregung bei der Ausstellungsbehörde verwiesen. Dies betrifft auch das vom Gerichtshof mit Urteil vom 30. März 2000 (- Rs. C-178/97, Slg. 2000 I, 2005) entschiedene Vorlageverfahren, dem die Problematik einer Scheinselbständigkeit zugrunde lag. In den im Verfahren eingeholten Stellungnahmen der deutschen und niederländischen Regierungen wurde der Befürchtung Ausdruck verliehen, dass mit einer allzu großzügigen Handhabung der Verordnungen und der auf ihrer Grundlage ergangenen Bescheinigungen einem Missbrauch durch erschlichene Rechtswahl der Sozialrechtsordnung eines Mitgliedsstaates, dessen Sozialabgaben niedriger als jene im tatsächlichen Beschäftigungsstaat ausfallen, Vorschub geleistet würde (vgl. Slg. 2000 I, 2005, 2016). Der Gerichtshof hat gleichwohl auch in diesem Fall keine Veranlassung gesehen, die Bindungswirkung der E 101-Bescheinigung unter einen Missbrauchsvorbehalt zu stellen.
29
Nach Auffassung des Senats liegt daher eine gesicherte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes vor, die vernünftige Zweifel an der Auslegung des Gemeinschaftsrechtes im vorliegenden Fall nicht zulässt; hiermit entfällt zugleich eine Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag, § 1 Abs. 2 EuGHG zur Klärung der Rechtsfrage (vgl. hierzu Kokott, JZ 2006, 633).
30
4. Eine Beitragsvorenthaltung zu Lasten der portugiesischen Sozialbehörden kommt nach den Feststellungen des Landgerichts gleichfalls nicht in Betracht. Angesichts des durch die Entsendebescheinigung festgestellten Arbeitsverhältnisses trifft eine Beitragspflicht allein die portugiesischen Unternehmen und ihre Organe. Darüber hinaus ergeben die Feststellungen des Landgerichts , dass nach Absicht der Angeklagten aus den von ihnen an die portugiesischen Firmen überwiesenen Lohnzahlungen Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden sollten. Es kann daher dahinstehen, ob § 266a StGB allein die Nichtabführung von Beiträgen aufgrund einer inländischen Sozialversicherungspflicht betrifft oder aufgrund der Verknüpfung der europäischen Sozialsysteme auch das gesamteuropäische Beitragsaufkommen schützt.

III.

31
Der Senat hat weiterhin erwogen, ob das Landgericht - gegebenenfalls nach einem Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 StPO - der Frage hätte nachgehen müssen, ob sich die Angeklagten aufgrund der Beantragung der Entsendebescheinigungen eines Beitragsbetruges nach § 263 StGB schuldig gemacht haben. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen legen nahe, dass die E 101-Bescheinigungen von den portugiesischen Sozialversicherungsbehörden infolge einer - von den Angeklagten zumindest veranlassten - Täuschung über die tatsächlichen Voraussetzungen des Entsendetatbestandes ausgestellt worden sein könnten. Die Ausstellung der Bescheinigungen könnte in diesem Fall eine irrtumsbedingte Verfügung darstellen, da sie aufgrund ihrer Bindungswirkung die Erhebung höherer Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland hindern.
32
Eine Zurückverweisung der Sache zur ergänzenden Sachaufklärung war gleichwohl nicht veranlasst. Unabhängig davon, ob die einem etwaigen Beitragsbetrug zugrunde liegenden Tathandlungen von der zugelassenen Anklage und damit der Kognitionspflicht des Landgerichts umfasst sind, steht einer solchen Prüfung gleichfalls die Bindungswirkung der erteilten Entsendebescheinigungen entgegen. Nach der - für den Senat bindenden - Auffassung des Europäischen Gerichtshofes sind die Gerichte des Gaststaates nicht befugt, die der Entsendebescheinigung zugrunde liegenden Tatsachen einer eigenständigen Überprüfung zu unterziehen (vgl. Urteil vom 26. Januar 2006, Rs. C-2/05 Rdn. 32 f.). Die Annahme eines Beitragsbetruges widerspräche einer solchen Bindung. Denn sie setzt die Bewertung voraus, dass es an den tatsächlichen Voraussetzungen einer Entsendung fehlt, diese dem ausländischen Versicherungsträger vielmehr nur vorgetäuscht wurden und die von ihm ausgestellte Bescheinigung auf einer fehlerhaften Tatsachengrundlage beruht.
33
Der Senat braucht vorliegend nicht zu entscheiden, welche Rechtsfolgen ein möglicher Widerruf der erteilten E 101-Bescheinigungen durch die ausstellende Behörde hätte, doch könnte bei erschlichenen Bescheinigungen Betrug zum Nachteil deutscher Sozialversicherungsträger nahe liegen.
34
Da mithin lediglich ein Mangel der rechtlichen Würdigung vorliegt und weitergehende Feststellungen ausscheiden, kann der Senat in der Sache selbst entscheiden. Die Entscheidung über die Verpflichtung zur Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (§ 8 StrEG) ist vom Landgericht zu treffen, weil Art und Umfang der entschädigungspflichtigen Maßnahmen ohne weitere Feststellungen und ohne weitere Anhörung der Beteiligten nicht zu bestimmen sind (vgl. BGH StV 2002, 422, 423). Der Senat weist im übrigen klarstellend darauf hin, dass die in die Gesamtstrafe gegenüber dem Angeklagten H. gem. § 55 StGB einbezogenen Einzelstrafen aus einer früheren Verurteilung von dem Freispruch nicht berührt werden. Insoweit verbleibt es bei der in dem früheren Erkenntnis gebildeten Gesamtstrafe, deren Auflösung mit Aufhebung des landgerichtlichen Urteils entfallen ist. Nack Kolz Hebenstreit Elf Graf

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 301/06
vom
7. März 2007
in der Strafsache
gegen
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
BGHR: ja
________________________
Zur Anwendbarkeit von § 266a StGB bei einem durch türkische Scheinfirmen vorgetä
uschten Entsendetatbestand (im Anschluss an BGH NJW 2007, 233, zur Veröffentli
chung in BGHSt vorgesehen).
BGH, Beschluss vom 7. März 2007 - 1 StR 301/06 - LG Landshut
wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. März 2007 beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Landshut vom 30. Januar 2006
a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des Vorenthaltens von Arbeitsentgelt in 53 Fällen, des Betruges in 14 Fällen sowie der Beschaffung einer Aufenthaltsgenehmigung durch unrichtige Angaben in 62 Fällen schuldig ist;
b) in den Einzelstrafaussprüchen zu V. 1. c) Fälle 3. bis 11. der Urteilsgründe aufgehoben. 2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen. 3. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:


I.


1
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
2
Der Angeklagte war von 1996 bis 2001 faktischer und seit 2001 formeller Geschäftsführer der Firma HaCe GmbH (im Folgenden: HaCe GmbH) mit Sitz in P. . Die Gesellschaft führte unter Einschaltung von Subunternehmen Bauarbeiten im Bereich der Eisenflechterei durch. Auf Veranlassung des Angeklagten gründete der anderweitig Verfolgte O. in der Türkei in den Jahren 1999 und 2002 die Firmen Eryilmaz Limited (im Folgenden: Eryilmaz Ltd.) und Kanal Ltd. (im Folgenden: Kanal Ltd.), zwei Gesellschaften mit beschränkter Haftung türkischen Rechts. Faktischer Geschäftsführer auch dieser Gesellschaften war der Angeklagte. Ihr alleiniger Zweck bestand darin, Arbeiter anzuwerben, die in Deutschland auf Baustellen der HaCe GmbH Arbeiten verrichten sollten; im Übrigen waren sie, wie die Strafkammer im Einzelnen ausführt, nicht unternehmerisch tätig. Zweigstellen beider Firmen wurden in Deutschland in P. angemeldet.
3
Die HaCe GmbH schloss mit der Eryilmaz Ltd. und der Kanal Ltd. Werkverträge , denen zufolge die türkischen Gesellschaften unter Einsatz der angeworbenen Arbeiter in Deutschland als Subunternehmer für die HaCe GmbH tätig werden sollten. Gegenüber den deutschen Behörden stellte der Angeklagte mit Unterstützung des - früheren - Mitangeklagten A. - der keine Revision eingelegt hat - die beabsichtigte Beschäftigung der Arbeiter als „Entsendefall“ dar. Bei den deutschen Sozialversicherungsbehörden meldete der Angeklagte die türkischen Arbeiter nicht an und führte auch keine Beiträge für sie ab. Hierdurch wurden der deutschen Sozialversicherung zwischen April 1999 und Juni 2003 insgesamt 315.290,93 € entzogen. In der Türkei wurden für die Arbeiter Sozialversicherungsbeiträge in dem dort vorgeschriebenen Umfang entrichtet.
4
Der Angeklagte beschäftigte bei der HaCe GmbH zugleich deutsche Arbeitnehmer , die sich auf seine Weisung in den Wintermonaten arbeitslos meldeten , tatsächlich jedoch im Betrieb der Firma weiterbeschäftigt wurden. In den Monaten Januar, Februar und Dezember der Jahre 1999 bis 2001 sowie im Januar und Februar 2002 entzog der Angeklagte auf diese Weise Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 20.979,78 €.
5
2. Das Landgericht hat die unterlassene Beitragsabführung als auf den monatlichen Fälligkeitszeitpunkt bezogene Fälle des Vorenthaltens von Arbeitsentgelt gemäß § 266a Abs. 1 StGB bewertet. Hinsichtlich der türkischen Arbeiter ist es von 51 selbständigen Taten ausgegangen; hinsichtlich der nicht angemeldeten deutschen Arbeiter hat es weitere elf Taten angenommen.
6
Nach Auffassung des Landgerichts waren die auf Baustellen der HaCe GmbH tätigen türkischen Arbeiter in Deutschland sozialversicherungs- und daher beitragspflichtig. Bei ihnen habe es sich zwar nicht um Arbeitnehmer der deutschen HaCe GmbH gehandelt, da sie nicht hinreichend in deren Betrieb integriert gewesen seien, sondern um solche der Eryilmaz Ltd. und der Kanal Ltd.. Aufgrund ihrer Tätigkeit in Deutschland unterlägen sie gleichwohl der deutschen Sozialversicherungspflicht. Eine nur vorübergehende Entsendung der Arbeiter nach § 5 SGB IV mit der Folge, dass die Arbeiter in Deutschland hätten beitragsfrei beschäftigt werden können, scheide aus.
7
Die Verantwortung des Angeklagten für die Beitragsabführung hinsichtlich der türkischen Arbeitnehmer folge - so das Landgericht - aus seiner Eigenschaft als faktischer Geschäftsführer der Eryilmaz Ltd. und der Kanal Ltd.. Hinsichtlich der deutschen Arbeitnehmer sei der Angeklagte aufgrund seiner Stellung als zunächst faktischer, später formeller Geschäftsführer der HaCe GmbH zur Zahlung der Beiträge verpflichtet gewesen.
8
3. Das Landgericht hat den Angeklagten auf dieser Grundlage wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt in 62 Fällen verurteilt. Wegen dieser Taten und weiterer Verurteilungen wegen Betruges in 14 Fällen und wegen Verstoßes gegen § 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG in 62 Fällen hat es eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verhängt. Die hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten bleibt weitgehend erfolglos. Sie führt bei gleichblei- bendem Schuldumfang zu einer Änderung des Schuldspruchs und dementsprechend zum Wegfall von neun Einzelstrafen; der Gesamtstrafenausspruch bleibt hiervon unberührt.

II.

9
Das Landgericht hat für die Strafbarkeit nach § 266a StGB zu Recht auf die sozialversicherungsrechtliche Pflicht zur Beitragsabführung abgestellt (vgl. BGH NJW 2007, 233, 234 - „E 101“, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen; BGHSt 47, 318 f.; Tröndle/Fischer, StGB 54. Aufl. § 266a Rdn. 9 ff.). Es hat die in der Türkei angeworbenen und in Deutschland tätigen Arbeitnehmer im Ergebnis zutreffend für sozialversicherungspflichtig in Deutschland gehalten und dem Angeklagten die unterlassene Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen als Vorenthaltung von Arbeitsentgelt gemäß § 266a Abs. 1 StGB angelastet.
10
Rechtlichen Bedenken begegnet allerdings der Ausgangspunkt des Landgerichts, wonach es sich bei den betroffenen türkischen Arbeitnehmern um Angehörige ausländischer Unternehmen gehandelt haben soll. Auf Grundlage der getroffenen Feststellungen waren die angeworbenen türkischen Arbeiter nicht bei der Eryilmaz Ltd. und der Kanal Ltd., sondern bei der deutschen HaCe GmbH beschäftigt. Eine zur Versicherungsfreiheit führende Entsendung der Arbeiter war danach von vornherein ausgeschlossen. Zugleich ergibt sich eine abweichende konkurrenzrechtliche Beurteilung der festgestellten Taten.
11
1. Die - fehlerfrei getroffenen - Feststellungen des Landgerichts tragen nicht die Bewertung, dass es sich bei den in der Türkei angeworbenen Arbeitern um Beschäftigte der Firmen Eryilmaz Ltd. und Kanal Ltd. gehandelt hat. Sie belegen vielmehr, dass die Arbeiter nur zum Schein bei diesen Gesellschaften angestellt wurden, tatsächlich jedoch der deutschen HaCe GmbH zuzuordnen waren.
12
a) Nach den teilweise an unterschiedlichen Stellen der Urteilsgründe getroffenen Feststellungen ging die Gründung der beiden türkischen Gesellschaften auf den Angeklagten zurück, der türkische Arbeitnehmer einstellen, durch Vortäuschung eines Entsendefalles die deutschen Sozialversicherungsbeiträge ersparen und dadurch Wettbewerbsvorteile erlangen wollte. Die Gründung der Kanal Ltd. erfolgte auch deshalb, weil Lohnsteuerverpflichtungen umgangen werden sollten. Die Gesellschaften traten in der Türkei nicht nach außen auf; sie besaßen keine Betriebsräume, sondern verwendeten die Anschrift eines Steuerberatungsbüros. Nach der Aussage des Zeugen O. haben sie „lediglich auf dem Papier existiert“. Nach der den Feststellungen gleichfalls zugrunde gelegten Einlassung des Mitangeklagten A. haben die Firmen in der Türkei „keinen eigentlichen Firmensitz“ gehabt. Die Arbeiter seien bei den Firmen auch nicht beschäftigt gewesen.
13
Das Landgericht stellt weiter fest, dass alle maßgeblichen, das Arbeitsverhältnis der türkischen Arbeitnehmer betreffenden Vorgänge durch den Angeklagten in Deutschland abgewickelt wurden. Zu diesem Zweck befand sich bei der HaCe GmbH eine „grüne Kiste“, in welcher sich Blankoformulare (Schecks, Überweisungsträger, Briefpapier) und Stempel der Eryilmaz Ltd. und Kanal Ltd. befanden, und die auf der jeweiligen Baustelle nach Bedarf eingesetzt wurde. Nach der Einlassung des Mitangeklagten A. habe diese Kiste letztlich das „Büro“ der Firmen dargestellt. Die türkischen Firmen unterhielten auch ihre Konten am Firmensitz der HaCe GmbH, auf die der Angeklagte Zugriff hatte und über die er die finanziellen Angelegenheiten der Firmen abwickelte ; dies schloss die Lohnzahlungen an die türkischen Arbeiter ein. Die finanziellen Mittel hierfür stammten aus dem Vermögen der HaCe GmbH. Der Angeklagte hatte auch in allen Personalangelegenheiten der türkischen Arbeitnehmer bis in Einzelheiten das Sagen, entschied insbesondere über Einstellungen , Entlassungen und Urlaub. Er bestimmte den Einsatz der Arbeiter an den Baustellen der HaCe GmbH, zum Teil über die durch die Werkverträge bestimmten Einsatzorte hinaus, und gab vermittelt über die Vorarbeiter oder den als Strohmann eingesetzten Zeugen O. Weisungen. Auf den Baustellen hatte er „das letzte Wort“.
14
b) Bei der Eryilmaz Ltd. und Kanal Ltd. handelte es sich demnach um bloße Scheinfirmen ohne eigene Organisationsstruktur und Tätigkeit, deren Zweck allein darin bestand, Beschäftigungsverhältnisse formal zu begründen und mittels Vortäuschung eines Entsendetatbestandes die bei der HaCe GmbH anfallenden Lohnnebenkosten zu verringern. Dass die türkischen Arbeiter gleichwohl bei der Eryilmaz Ltd. oder Kanal Ltd. beschäftigt waren, scheidet bereits deshalb aus, weil es gänzlich an einer betrieblichen Organisation fehlt, in die die Arbeiter hätten eingegliedert sein können (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB

IV).

15
Ein Beschäftigungsverhältnis bestand demgegenüber zur deutschen HaCe GmbH (zu den maßgeblichen Kriterien vgl. Radtke in: MüKo StGB § 266a Rdn. 9; Heitmann in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht 4. Aufl. § 36 Rdn. 15). Die türkischen Arbeiter waren von dem Angeklagten als Geschäftsführer der HaCe GmbH weisungsabhängig, erhielten auf seine Veranlassung aus dem Vermögen der Gesellschaft ihren Lohn und arbeiteten auf den Baustellen der Gesellschaft zur Erledigung der von ihr übernommenen Bauaufträge. Das Landgericht sieht sich an einer Einordnung der Arbeiter als Beschäftigte der HaCe GmbH gleichwohl dadurch gehindert, dass es eine weiterreichende Integration der Arbeiter in den Geschäftsbetrieb des Unternehmens, insbesondere eine „Vermischung“ der von den türkischen Gesellschaften ge- worbenen Arbeiter mit sonstigen Arbeitnehmern der HaCe GmbH nicht festzustellen vermochte. Nach den Umständen des Falles war dies aber nicht zu verlangen. Die Feststellungen belegen, dass der Angeklagte eine Zugehörigkeit der Arbeiter zu einem Fremdunternehmen gezielt - etwa durch gefälschte Lohnund Arbeitszeitlisten für den Fall einer Kontrolle durch die Zollbehörden - vorzutäuschen versuchte. Dem entsprach es, die türkischen Arbeiter Bauleistungen nur abgetrennt an „ihren“ Gewerken verrichten zu lassen.
16
2. Bereits hieraus folgt, dass die türkischen Arbeitnehmer der deutschen Sozialversicherungspflicht unterlagen.
17
a) Nach den Vorschriften des deutschen Sozialgesetzbuches führt eine inländische Beschäftigung zur Sozialversicherungspflicht des Arbeitnehmers (§ 3 Nr. 1 SGB IV); maßgeblich ist dabei der Ort, an dem die Beschäftigung tatsächlich ausgeübt wird (§ 9 SGB IV). Abweichend hiervon gelten für Arbeitnehmer , die im Rahmen eines ausländischen Beschäftigungsverhältnisses für einen im Voraus begrenzten Zeitraum in das Inland entsandt worden sind, gemäß § 5 Abs. 1 SGB IV die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften ihres Heimatlandes fort; eine Versicherungspflicht am Beschäftigungsort besteht nicht.
18
Die auf Baustellen in Deutschland eingesetzten türkischen Arbeitnehmer waren danach in Deutschland zu versichern. An den Voraussetzungen einer zur Versicherungsfreiheit in Deutschland führenden Entsendung fehlt es schon deshalb, weil ein ausländisches Beschäftigungsverhältnis nicht bestand. Auf die Erwägungen des Landgerichts, dass eine Entsendung nach sozialgerichtlicher Rechtsprechung einen ausländischen Schwerpunkt des Beschäftigungsverhältnisses (vgl. BSGE 79, 214, 217) und eine beabsichtigte Rückkehr in das Ausland unter Fortsetzung der Tätigkeit (vgl. BSGE 71, 227, 234 f. zu den insoweit identischen Voraussetzungen von § 4 SGB IV) voraussetze, kommt es demnach nicht mehr an.
19
b) Die Vorschriften der §§ 2 ff. SGB IV stehen unter dem Vorbehalt überund zwischenstaatlichen Rechts, soweit es in Deutschland gilt und das anzuwendende Sozialversicherungsrecht bestimmt (§ 6 SGB IV). Hiernach ergibt sich keine abweichende Bewertung.
20
aa) Solches Recht bildet das durch Zustimmungsgesetz vom 13. September 1965 (BGBl. II 1965, 1169) umgesetzte bilaterale Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 30. April 1964 (BGBl. II 1965, 1170; fortan: Sozialversicherungsabkommen ) in der Fassung des Änderungsabkommens vom 28. Mai 1969 (BGBl. II 1972, 2) und des Zwischenabkommens vom 25. Oktober 1974 (BGBl. II 1975, 374), ergänzt durch Zusatzabkommen vom 2. November 1984 (BGBl. II 1986, 1040). Das Abkommen enthält zur Frage des anwendbaren Rechts für Fälle länderübergreifender Beschäftigung Kollisionsvorschriften, die das anwendbare Sozialversicherungsrecht bestimmen.
21
Art. 5 des Sozialversicherungsabkommens geht - entsprechend § 3 SGB IV - als Grundregel davon aus, dass die Versicherungspflicht von Arbeitnehmern sich unabhängig vom Sitz des Arbeitgebers nach dem Sozialversicherungsrecht des Beschäftigungsortes richtet. Art. 6 Abs. 1 des Sozialversicherungsabkommens sieht hiervon - insoweit ähnlich § 5 SGB IV - eine Ausnahme für den Fall einer Entsendung vor: Nach dem Vertragstext gelten für den „Arbeitnehmer eines Unternehmens mit dem Sitz im Gebiet der einen Vertragspartei“ , welcher „vorübergehend zur Arbeitsleistung in das Gebiet der anderen Vertragspartei entsandt“ wird, die Rechtsvorschriften der ersten Vertragspartei fort.
22
Auch nach diesem Maßstab liegt eine zur Versicherungsfreiheit in Deutschland führende Entsendung nicht vor. Denn die türkischen Arbeiter waren auf Grundlage der Feststellungen gerade nicht Arbeitnehmer eines Unternehmens mit Sitz in der Türkei. Damit fehlt es bereits an der personalen Anknüpfung des im Abkommen enthaltenen Entsendetatbestandes.
23
bb) Die zur Frage des anwendbaren Sozialversicherungsrechts in Ländern der Europäischen Union geltenden Kollisions- und Verfahrensvorschriften (Verordnung [EWG] 1408/71, ABl. L 149 vom 5. Juli 1971, S. 2; Verordnung [EWG] 574/72, ABl. L 74 vom 27. März 1972, S. 1) finden mangels einer Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union keine unmittelbare Anwendung. Sie sind auch auf Grundlage des im Hinblick auf eine Annäherung der Türkei an die Europäische Union abgeschlossenen Assoziationsabkommens vom 12. September 1963 (BGBl. II 1964 S. 510) und den zu seiner Umsetzung getroffenen Maßnahmen nicht heranzuziehen. Soweit der Assoziationsratsbeschluss 3/80 (ABl. C 110 vom 25. April 1983, S. 60) die Vorschriften der VO (EWG) 1408/71 für anwendbar erklärt, gilt dies nach der Ermächtigung in Art. 39 Abs. 1 des zu dem Assoziationsabkommen vereinbarten Zusatzprotokolls vom 23. November 1970 (ABl. L 293 vom 29. Dezember 1972, S. 4) nur für Arbeitnehmer türkischer Staatsangehörigkeit, die von einem Mitgliedsstaat in einen anderen zu- oder abwandern, nicht aber für den - vorliegenden - Fall eines rein bilateralen Geschehens zwischen einem Mitgliedsstaat und der Türkei (Hänlein, Sozialrechtliche Probleme türkischer Staatsangehöriger in Deutschland , S. 24 ff.; Sieveking ZIAS 2001, 160, 162; vgl. auch VO [EWG] Nr. 859/03 vom 14. Mai 2003, ABl. L 124 vom 20. Mai 2003, S. 1).
24
cc) Schließlich hindern auch Besonderheiten des zwischenstaatlichen sozialversicherungsrechtlichen Verfahrens nicht, auf das Beschäftigungsver- hältnis der türkischen Arbeitnehmer deutsches Sozialversicherungsrecht zur Anwendung zu bringen.
25
Die zu dem deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommen am 2. November 1984 geschlossene Durchführungsvereinbarung (BGBl. II 1986, 1055) sieht in Artikel 5 Abs. 1 vor, dass in Entsendungsfällen der zuständige Träger des Entsendestaates dem Betroffenen auf Antrag eine Bescheinigung darüber ausstellt, dass er den Rechtsvorschriften des Entsendestaates untersteht. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSGE 85, 240) ist eine derartige - im EU-Raum der E 101-Bescheinigung entsprechende - Entsendebescheinigung von den Sozialgerichten des Gaststaates nur in begrenztem Umfang auf ihren materiellen Gehalt überprüfbar. Eine derartige Bescheinigung hat hier - wie das Landgericht ausdrücklich feststellt - nicht vorgelegen. Der Senat braucht daher nicht darüber zu befinden, inwieweit ihr auch im Strafverfahren Bindungswirkung im Hinblick auf die bescheinigte Anwendbarkeit ausländischen Sozialversicherungsrechts zukommen würde (zum europäischen Recht vgl. BGH NJW 2007, 233).
26
Nach den Feststellungen des Landgerichts verfügte ein Teil der von dem Angeklagten eingesetzten türkischen Arbeiter allein hinsichtlich ihrer Krankenversicherung über einen Leistungsberechtigungsschein, der aufgrund der Anmeldung der Arbeiter bei der türkischen Sozialversicherung ausgestellt wurde und sie berechtigte, Sachleistungen bei einem Aufenthalt in Deutschland in Anspruch zu nehmen („A/T 11-Schein“). Die Ausstellung des Scheines beruht auf der Anwendung der leistungsrechtlichen Koordinierungsvorschriften des Sozialversicherungsabkommens (Art. 12 Abs.1 b) und c), Art. 14 Abs. 1 Satz 2, Art. 14 Abs. 3 Satz 2 des Abkommens; Art. 9 der Durchführungsvereinbarung). Diese Vorschriften sind nicht kollisionsrechtlicher Natur. Entgegen der Auffassung der Revision verhält sich der Leistungsschein daher nicht zur Frage des anwendbaren Sozialversicherungsrechts. Eine Bindungswirkung im Hinblick auf die Sozialversicherungspflicht kann ihm daher unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zukommen.
27
c) Für die Abführung der geschuldeten Beiträge war der Angeklagte als zunächst faktischer, später formeller Geschäftführer der HaCe GmbH auch strafrechtlich verantwortlich. Aus den Feststellungen des Landgerichts geht hinlänglich hervor, dass er auch vor seiner Berufung zum formellen Geschäftsführer mit allen Belangen der Gesellschaft befasst war. Dies begründet seine Täterstellung für eine Beitragsstraftat nach § 266a StGB (vgl. BGHSt 47, 318; 324, 21, 101, 103).
28
3. Die Einordnung der türkischen Arbeitnehmer als Beschäftigte der HaCe GmbH führt zu einer Änderung des Schuldspruchs und zum Wegfall von neun Einzelstrafen.
29
Das Landgericht hat die unterlassene Beitragsabführung hinsichtlich der bei der HaCe GmbH beschäftigten deutschen Arbeitnehmer und der - nach Auffassung des Landgerichts der Eryilmaz Ltd. und der Kanal Ltd. zugehörigen - türkischen Arbeitnehmer jeweils als selbständige Taten gewertet, auch soweit sie in den Monaten Dezember 1999, Januar 2000, Februar 2000, Dezember 2000, Januar 2001, Februar 2001, Dezember 2001, Januar 2002 und Februar 2002 auf gleiche Beitragszeiträume und Fälligkeitszeitpunkte bezogen waren und die Beiträge zur gleichen Einzugsstelle zu entrichten waren. Es kann offen bleiben, ob dieser Bewertung auf der Grundlage einer Zugehörigkeit der Arbeitnehmer zu unterschiedlichen Unternehmen zu folgen wäre. Denn bei zutreffender Einordnung der türkischen Arbeitnehmer als Beschäftigte der deutschen HaCe GmbH bildet die unterlassene Beitragsabführung zum jeweiligen Fällig- keitszeitpunkt gegenüber derselben Einzugsstelle jedenfalls nur eine Tat (vgl. Gribbohm in LK, 11. Aufl. § 266a Rdn. 108).
30
Der Senat hat daher die auf die betroffenen Beitragszeiträume entfallenden neun Einzelstrafen, die das Landgericht hinsichtlich der deutschen Arbeitnehmer verhängt hat (Geldstrafen in Höhe von jeweils 70 Tagessätzen zu 150 €), in Wegfall gebracht. Die hinsichtlich der türkischen Arbeitnehmer für die gleichen Beitragszeiträume verhängten - jeweils höheren - Einzelstrafen können angesichts des erhöhten Schuldgehalts der erfassten Taten bestehen bleiben.
31
Die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe kann gleichfalls bestehen bleiben. Der Schuldgehalt der Beitragsstraftaten bleibt im Hinblick auf die unveränderte Höhe der entzogenen Beiträge gleich. Auch angesichts von Zahl und Gewicht der verbleibenden 129 Taten, der Höhe der für sie verhängten Einzelstrafen und aller sonstiger im angefochtenen Urteil getroffener für die Strafzumessung bedeutsamer Feststellungen hält der Senat die verhängte Gesamtstrafe jedenfalls für angemessen (§ 354 Abs. 1a StPO; vgl. BGH StV 2005, 118; NStZ-RR 2006, 44; Beschluss vom 6. Dezember 2005 - 1 StR 445/05).
32
4. § 265 StPO steht all dem nicht entgegen. Dem Angeklagten war bereits in der zugelassenen Anklage vorgeworfen worden, auch für die türkischen Arbeitnehmer als Geschäftsführer der deutschen HaCe GmbH Sozialversicherungsbeiträge nicht abgeführt zu haben, da es sich bei ihnen um Beschäftigte der HaCe GmbH handele. Die Anklage qualifiziert die Taten allerdings als (Beitrags -)Betrug gemäß § 263 StGB. Das Landgericht hat dem Angeklagten daraufhin in der Hauptverhandlung den Hinweis erteilt, dass auch eine Bewertung als Beitragsvorenthaltung gemäß § 266a StGB in Betracht komme. Erst hiernach hat es an einem nachfolgenden Verhandlungstag darauf hingewiesen, dass der Tatvorwurf auch an seine Stellung als faktischer Geschäftsführer der Eryilmaz Ltd. und der Kanal Ltd. anknüpfen könne. Für den Angeklagten war damit hinreichend ersichtlich, dass eine Verurteilung wegen Beitragsvorenthaltung insgesamt aufgrund seiner Organstellung bei der deutschen Gesellschaft erfolgen konnte.

III.


33
Auch im Übrigen hat die Überprüfung des landgerichtlichen Urteils auf Grundlage der Revisionsrechtfertigung keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben. Soweit der Angeklagte beanstandet, dass das Landgericht ihn zu Unrecht als faktischen Geschäftsführer eingestuft habe, geht dieser Vortrag bereits im Ansatz ins Leere (vgl. oben II. 2. c)). Soweit er vorbringt § 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG sei unrichtig angewandt, verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts.
Nack Wahl Boetticher Frau RiinBGH Elf befindet sich in Urlaub und ist deshalb an der Unterschrift verhindert. Kolz Nack

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 44/06
BGHSt: ja
BGHR: ja
____________________
1. Eine von einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union erteilte Entsendebescheinigung
(E 101) bindet auch die deutschen Organe der Strafrechtspflege.
2. Die Durchführung eines Strafverfahrens wegen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen
(§ 266a Abs. 1 StGB) ist ebenso gehindert wie eine Strafverfolgung
in Zusammenhang mit Erklärungen gegenüber den Behörden des Entsendestaates
zur Erlangung der E 101-Bescheinigung jedenfalls solange die erteilte Bescheinigung
nicht zurückgenommen ist.
BGH, Urteil vom 24. Oktober 2006 - 1 StR 44/06 - LG München I
vom
24. Oktober 2006
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
24. Oktober 2006, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Kolz,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Graf,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger für den Angeklagten F. ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger für den Angeklagten H. ,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 14. Juli 2005 aufgehoben. Die Angeklagten werden freigesprochen. 2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last. 3. Die Entscheidung über die Entschädigung der Angeklagten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht vorbehalten.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Das Landgericht München I hat den Angeklagten F. durch Urteil vom 14. Juli 2005 wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 11 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Den Angeklagten H. hat es wegen Beihilfe zu diesen Taten unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt; daneben hat es eine Gesamtgeldstrafe von 200 Tagessätzen zu jeweils 10,-- € verhängt. Die Vollstreckung beider Gesamtfreiheitsstrafen hat das Landgericht zur Bewährung ausgesetzt.
2
Die Angeklagten machen mit ihren auf die Sachrüge gestützten Revisionen geltend, dass den Angeklagten F. wegen Unanwendbarkeit deutschen Sozialversicherungsrechtes keine Pflicht zur Abführung von Beiträgen zur deutschen Sozialversicherung treffe, eine Strafbarkeit nach § 266a StGB daher für beide Angeklagte ausscheide. Die Rechtsmittel haben Erfolg.

I.

3
1. Das Landgericht hat festgestellt: Der Angeklagte F. war Geschäftsführer der „A. GmbH“ mit Sitz in M. (fortan: A. GmbH), die auf Baustellen in Deutschland als Subunternehmerin Aufträge im Bereich der Fassadenmontage ausführte und dabei portugiesische Arbeiter einsetzte. Um die Arbeiter der deutschen Sozialversicherungspflicht zu entziehen, wurden sie auf Veranlassung des Angeklagten F. zum Schein bei zwei portugiesischen Bauunternehmen angestellt. Die portugiesischen Unternehmen traten formell auch in die Bauaufträge der A. GmbH ein. Tatsächlich hatten die portugiesischen Firmen keinerlei Geschäftsbeziehungen nach Deutschland, insbesondere weder Kontakt zu den Auftraggebern der A. GmbH noch zu den portugiesischen Arbeitnehmern. Diese blieben faktisch bei der A. GmbH beschäftigt, von der sie auch ihren - auf Konten der portugiesischen Unternehmen überwiesenen und von dort ausgezahlten - Arbeitslohn erhielten. Der Angeklagte H. , ein ehemaliger Rechtsanwalt, hatte zusammen mit dem Angeklagten F. die Verhandlungen mit den portugiesischen Firmen geführt, die abgeschlossenen Scheinarbeitsverträge entworfen und die Organisation der umgeleiteten Lohnzahlungen übernommen.
4
Die Angeklagten beabsichtigten, durch die angeblichen Arbeitsverhältnisse in Portugal den Anschein einer nur vorübergehenden Entsendung der Ar- beiter von Portugal nach Deutschland zu erwecken. Das deutsche und das europäische Sozialversicherungsrecht sehen für einen derartigen Fall vor, dass die entsandten Arbeitnehmer nur in ihrem Herkunftsstaat zu versichern sind, im Gastland dagegen beitragsfrei beschäftigt werden können. Die Geschäftsführer der portugiesischen Gesellschaften stellten nach Absprache mit den Angeklagten daher bei den portugiesischen Sozialversicherungsträgern Anträge auf Erteilung so genannter E 101-Bescheinigungen, welche daraufhin auch ausgestellt wurden. In den Bescheinigungen bestätigten die portugiesischen Behörden , dass die eingesetzten Arbeiter nach der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 aufgrund von Werkverträgen für nicht länger als ein Jahr ins Ausland entsandt wurden mit der rechtlichen Folge, dass sie in Portugal sozialversicherungspflichtig blieben. Tatsächlich lagen die Voraussetzungen hierfür - wie das Landgericht feststellt - nicht vor, da die Arbeitnehmer bereits zum Zeitpunkt ihrer angeblichen Entsendung durch die portugiesischen Unternehmen länger als ein Jahr in Deutschland tätig und vollständig in den Betrieb der A. GmbH eingegliedert waren.
5
Bei den deutschen Sozialversicherungsbehörden meldeten die Angeklagten die Arbeiter nicht an und führten auch keine Beiträge für sie ab. Nach der Berechnung des Landgerichts entzogen sie dadurch im Zeitraum zwischen Juli 2001 und Juni 2002 in Deutschland Beiträge in Höhe von insgesamt 112.132,40 €. In Portugal sollten Beiträge nach Vorstellung der Angeklagten aus dem an die dortigen Unternehmen überwiesenen Arbeitslohn entrichtet werden. Ob dies tatsächlich geschah, hat das Landgericht nicht festgestellt.
6
Zur behördlichen Handhabung der E 101-Bescheinigungen teilt das Urteil mit, dass die deutschen Sozialversicherungsträger aufgrund von Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes darin übereingekommen seien, den Bescheinigungen bindende Wirkung beizumessen. Die Landesversicherungsan- stalt Oberbayern hob daher in einem das Vorgängerunternehmen der A. GmbH betreffenden Verfahren mit ähnlichem Sachverhalt - die Arbeitnehmer wurden bei zu diesem Zweck eigens gegründeten portugiesischen Briefkastenfirmen angestellt und erlangten auf diesem Weg E 101-Bescheinigungen - einen bereits ergangenen Leistungsbescheid wieder auf, nachdem die portugiesischen Behörden die Richtigkeit der von ihnen ausgestellten Bescheinigungen bestätigt hatten. Im laufenden, gegen den Angeklagten F. gerichteten sozialversicherungsrechtlichen Verfahren wurden Beitragsforderungen gar nicht erst erhoben. Nach Aussage von Mitarbeitern der befassten deutschen Sozialbehörden ist dies auch für die Zukunft nicht beabsichtigt, sofern die vorliegenden Bescheinigungen Bestand haben.
7
2. Das Landgericht ist der Auffassung, dass die portugiesischen Arbeiter ungeachtet der vorgelegten E 101-Bescheinigungen in Deutschland sozialversicherungspflichtig waren, da die Voraussetzungen für eine versicherungsfreie Tätigkeit nicht gegeben waren. Den Bescheinigungen misst es eine nur formale Bedeutung zu. Sie entfalten nach Auffassung des Landgerichts bindende Wirkung nur im Sozialversicherungsrecht, begründen auch dort aber nur eine widerlegbare Vermutung dafür, dass der betroffene Arbeitnehmer in das Sozialversicherungssystem eines anderen Landes eingebunden ist. Die deutschen Sozialversicherungsträger seien bis zur Rücknahme der auf falschen Annahmen beruhenden Bescheinigungen durch die ausstellende Behörde zwar gehindert , Beiträge einzuziehen. Am Bestehen eines darauf gerichteten materiellen Anspruches und an der strafrechtlichen Bedeutung unterlassener Beitragsabführung ändere dies aber nichts.

II.

8
Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Nach den Kollisionsvorschriften des europäischen Sozialversicherungsrechtes in der ihnen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zukommenden Reichweite und Wirkung findet deutsches Sozialversicherungsrecht auf die dem Urteil des Landgerichts zugrunde liegenden Beschäftigungsverhältnisse keine Anwendung. Eine Strafbarkeit der Angeklagten nach § 266a StGB scheidet infolgedessen aus.
9
1. Gegenstand einer Beitragsstraftat nach § 266a StGB sind fällige Arbeitnehmerbeiträge , die aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuches geschuldet sind. § 266a StGB ist insoweit sozialrechtsakzessorisch ausgestaltet (vgl. BGHSt 47, 318 f.; Tröndle /Fischer StGB 53. Aufl. § 266a Rdn. 9a, 10; Ignor/Rixen, wistra 2001, 201, 202). Auch das Landgericht geht zutreffend davon aus, dass eine sozialversicherungsrechtliche Beitragspflicht die Voraussetzung für eine Beitragsstraftat bildet.
10
2. In Fällen mit Auslandsbezug ist daher von vorrangiger Bedeutung, ob der betroffene Arbeitnehmer der inländischen Sozialversicherungspflicht unterliegt oder davon ausgenommen ist. § 266a StGB knüpft hierbei nicht allein an die deutschen Sozialgesetze, sondern auch an zwischen- und überstaatliche Bestimmungen an, soweit sie in Deutschland gelten und das anzuwendende Sozialversicherungsrecht bestimmen. Danach ergibt sich Folgendes:
11
a) Nach den Bestimmungen des deutschen Sozialgesetzbuches führt eine inländische Beschäftigung zur Sozialversicherungspflicht des Arbeitnehmers (§ 2 Abs. 2, § 3 Nr. 1 SGB IV); maßgeblich ist dabei der Ort, an dem die Beschäftigung tatsächlich ausgeübt wird (§ 9 Abs. 1 SGB IV). Die Versicherungs- pflicht entfällt gem. § 5 Abs. 1 SGB IV bei Personen, die im Rahmen eines ausländischen Beschäftigungsverhältnisses in das Inland entsandt werden, sofern die Entsendung im Voraus zeitlich begrenzt ist.
12
Nach diesem Maßstab unterlagen die portugiesischen Arbeiter in der zugrunde liegenden Fallkonstellation der deut schen Sozialversicherungspflicht. An einer zur Versicherungsfreiheit führenden Entsendung fehlte es bereits deshalb , weil ein ausländisches Beschäftigungsverhältnis im Sinne des § 5 Abs. 1 SGB IV nicht bestand, die Arbeiter vielmehr allein von der inländischen A. GmbH beschäftigt wurden. Sie waren insbesondere weder an Weisungen der nur nach außen als Arbeitgeber auftretenden portugiesischen Unternehmen gebunden noch in deren Arbeitsorganisation eingegliedert (vgl. § 7 Abs. 1 SGB

IV).

13
b) Die Vorschriften der §§ 2 ff. SGB IV stehen jedoch unter dem Vorbehalt über- und zwischenstaatlichen Rechtes (§ 6 SGB IV). Als derartige, nach Art. 249 Abs. 2 EG-Vertrag mit unmittelbarem Geltungsvorrang ausgestattete Regelung enthält die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 (sog. „Wanderarbeitnehmerverordnung“, ABl. L 149 vom 5. Juli 1971 S. 2; fortan: VO 1408/71) für Fälle grenzüberschreitender Beschäftigung in Ländern der europäischen Union Kollisionsvorschriften, die das anwendbare nationale Sozialversicherungsrecht bestimmen.
14
Nach der Grundregel des Art. 13 Abs. 1 der VO 1408/71 sollen grenzüberschreitend beschäftigte Personen dem Sozialversicherungsrecht nur eines Mitgliedstaates unterliegen. Art. 13 Abs. 2 lit. a) der VO 1408/71 bestimmt insoweit , dass auf einen Arbeitnehmer, der im Gebiet eines Mitgliedstaates beschäftigt ist, unabhängig von seinem Wohnsitz und dem Sitz seines Arbeitgebers das Recht dieses Staates Anwendung findet. Als Ausnahme hierzu findet im Falle einer Entsendung von voraussichtlich nicht mehr als zwölf Monaten nach Art. 14 Abs. 1 Nr. 1 a) der VO 1408/71 weiterhin das Sozialversicherungsrecht des Herkunftsstaates Anwendung, aus dem der Arbeitnehmer entsandt wird, sofern der Arbeitnehmer einem dortigen Unternehmen gewöhnlich angehört und für Rechnung dieses Unternehmens entsandt wird. Voraussetzung für die Anwendung dieser Ausnahmeregelung ist eine auch während der Entsendung fortbestehende arbeitsrechtliche Bindung zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer, die sich in der Zahlung des Entgeltes , der Erhaltung eines Abhängigkeitsverhältnisses, der Verantwortung für Anwerbung, Arbeitsvertrag, Entlassung und der Entscheidungsgewalt über die Art der Arbeit ausdrückt (vgl. die Beschlüsse der - nach Art. 80, 81 der VO 1408/71 zu Fragen der Auslegung und Durchführung der Verordnung eingesetzten - Verwaltungskommission Nr. 128 vom 17. Oktober 1985, ABl. C 141 vom 7. Juni 1986, S. 6; Nr. 162 vom 31. Mai 1996, ABl. L 241 vom 21. September 1996, S. 28; Nr. 181 vom 13. Dezember 2000, ABl. L 329 vom 14. Dezember 2001, S. 73).
15
Auch nach diesem Maßstab lagen die Voraussetzungen einer zur inländischen Versicherungsfreiheit führenden Entsendung auf Grundlage der Feststellungen des Landgerichts nicht vor; denn die portugiesischen Arbeitnehmer befanden sich in keiner arbeitsrechtlichen Bindung zu den portugiesischen Unternehmen. Sie waren auch nicht für deren Rechnung tätig, da ihre Arbeitskraft allein zur Durchführung der tatsächlich bei der A. GmbH verbliebenen Bauaufträge diente und sie faktisch auch ihren Lohn von der GmbH bezogen.
16
3. Dem Landgericht war es gleichwohl verwehrt, seiner Beurteilung die Anwendung deutschen Sozialversicherungsrechtes zugrunde zu legen. Nach den zur Durchführung der VO 1408/71 ergangenen europäischen Rechtsvorschriften war es an die Bescheinigung des portugiesischen Sozialversiche- rungsträgers gebunden, wonach die Arbeiter der A. GmbH portugiesischem Sozialversicherungsrecht unterliegen. Die Strafkammer war daher gehindert , entgegen der Bewertung der portugiesischen Behörde dennoch zu einer bestehenden Sozialversicherungspflicht in Deutschland zu gelangen.
17
a) Die VO 1408/71 wird ergänzt durch Durchführungsvorschriften in der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 vom 21. März 1972 (ABl. L 74 vom 27. März 1972, S. 1; fortan: VO 574/72). Für die Fälle einer Entsendung nach Art. 14 Abs. 1 der VO 1408/71 sieht Art. 11 der VO 574/72 ein Verfahren vor, in dem der zuständige Sozialversicherungsträger des Herkunftsstaates auf Antrag des betroffenen Arbeitnehmers oder Arbeitgebers die Entsendung bestätigt und für einen begrenzten Zeitraum bescheinigt, dass der Beschäftigte den Rechtsvorschriften des Herkunftsstaates unterstellt bleibt. Die Bescheinigung erfolgt auf einem gemäß Art. 2 der VO 574/72 von der Verwaltungskommission entworfenen einheitlichen Formblatt mit der Bezeichnung „E 101“.
18
Über die Rechtsnatur und Wirkung einer derartigen E 101-Bescheinigung verhält sich die VO 574/72 nicht unmittelbar. Ihr ist insbesondere nicht zu entnehmen , welche Wirkung der Bescheinigung in einem das Sozialversicherungsverhältnis eines entsandten Arbeitnehmers betreffenden Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren im Gastland zukommt, ob sie dort etwa nur verfahrensrechtliche Bedeutung im Sinne einer Beweiserleichterung oder widerleglichen Vermutung für das Vorliegen des bescheinigten Entsendetatbestandes erlangt, oder ob sie materielle Bindungswirkung dahingehend entfaltet, dass sie die sich aus der bescheinigten Entsendung ergebende Anwendung des Sozialversicherungsrechtes des Entsendestaates verbindlich festschreibt.
19
b) Der Europäische Gerichtshof hat in mehreren Entscheidungen, denen Vorlagefragen aus arbeits- und sozialgerichtlichen Verfahren der Mitgliedsstaa- ten zugrunde lagen, zur Wirkung einer E 101-Bescheinigung ausgesprochen, dass die nationalen Behörden des Gastlandes und dessen Gerichte an die bescheinigte Anwendbarkeit des Sozialversicherungsrechtes des Herkunftslandes gebunden sind (Urteil vom 10. Februar 2000 - Rs. C-202/97, EuZW 2000, 380; Urteil vom 30. März 2000 - Rs. C-178/97, Slg. 2000 I, 2005, 2040 ff.; Urteil vom 26. Januar 2006 - Rs. C-2/05, AP EWG-Verordnung Nr. 1408/71 Nr. 13.).
20
Der Gerichtshof begründet seine Auffassung mit dem Zweck der Verordnungen , dass ein Arbeitnehmer nur an ein einziges System der sozialen Sicherheit angeschlossen werden soll, der damit verbundenen Rechtssicherheit und der mit der Verordnung und der Bescheinigung beabsichtigten Förderung von Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit. Er führt darüber hinaus aus, dass der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit nach Art. 10 (alt: Art. 5) EG-Vertrag den ausstellenden Träger verpflichte, den Sachverhalt ordnungsgemäß zu beurteilen und damit die Richtigkeit der Bescheinigung zu gewährleisten. Umgekehrt würde der zuständige Träger des Aufnahmestaates seine Verpflichtung zur Zusammenarbeit verletzen, wenn er sich nicht an die Angaben in der Bescheinigung gebunden sähe und den Betroffenen (zusätzlich) seinem eigenen Sozialversicherungssystem unterstellen würde. In Konfliktfällen habe der Träger des Aufnahmestaates sich vielmehr zunächst an den Träger des Entsendestaates zu wenden, dann an die Verwaltungskommission. Gelinge dieser keine Vermittlung, könne der Träger des Aufnahmestaates im Entsendestaat klagen oder ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 227 (alt: Art. 170) EG-Vertrag einleiten.
21
Zur Reichweite der Bindung führt der Europäische Gerichtshof aus, dass eine E 101-Bescheinigung notwendig zur Folge habe, dass das System der sozialen Sicherheit des anderen Mitgliedstaates nicht angewandt werden kann. Hieran seien auch die nationalen Gerichte gebunden (Urteil vom 26. Januar 2006 - Rs. C-2/05; AP EWG-Verordnung Nr. 1408/71 Nr. 13). Der Gerichtshof hatte insoweit über die Vorlagefrage zu befinden, ob ein Gericht des Gaststaates das Fortbestehen einer arbeitsrechtlichen Bindung zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem entsandten Arbeitnehmer prüfen darf, weiterhin, ob es die E 101-Bescheinigung unbeachtet lassen darf, wenn nach den ihm vorliegenden tatsächlichen Umständen feststeht, dass während des Entsendungszeitraums eine solche Bindung nicht bestand. Der Europäische Gerichtshof hat dies abgelehnt und ausgeführt, ein Gericht des Gaststaates sei „nicht befugt, die Gültigkeit einer Bescheinigung E 101 im Hinblick auf die Bestätigung der Tatsachen, auf deren Grundlage eine solche Bescheinigung ausgestellt wurde, insbesondere das Bestehen einer arbeitsrechtlichen Bindung im Sinne von Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (…) zu überprüfen“ (EuGH aaO Rdn. 33).
22
c) Der Senat sieht vor diesem Hintergrund auch die an einem innerstaatlichen Strafverfahren beteiligten Behörden und Gerichte an eine von einem ausländischen Sozialversicherungsträger ausgestellte E 101-Bescheinigung gebunden , soweit sich das Strafverfahren auf eine Verletzung der Beitragspflicht des Arbeitgebers bezieht.
23
Er hält zunächst für nicht zweifelhaft, dass der Europäische Gerichtshof trotz einzelner Formulierungen, die der Bescheinigung lediglich Beweiskraft oder die Wirkung einer Vermutung zuschreiben (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000 - Rs. C-202/97, EuZW 2000, 380, 384), eine behördliche oder gerichtliche Auseinandersetzung über die tatsächlichen Verhältnisse, aufgrund derer die Bescheinigung erteilt wurde, im Gastland für ausgeschlossen hält. Die seitens des Gerichtshofes betonte Bindung lässt sich nicht anders verstehen, als dass eine derartige Sachprüfung durch dortige Behörden nicht stattfinden darf.
24
Dies betrifft auch die Organe der Strafrechtspflege. Der Europäische Gerichtshof hat in seiner - erst nach dem Urteil des Landgerichts ergangenen - Entscheidung vom 26. Januar 2006 (Rs. C-2/05) bereits die Vorlagefragen weitreichend im Hinblick auf eine Bindung der „innerstaatlichen Rechtsordnung des Gaststaates“ verstanden und eine Bindung der nationalen Gerichte ohne Unterscheidung nach Gerichtsbarkeit ausgesprochen. Ein solches Verständnis entspricht dem Zweck der europäischen Kollisionsvorschriften und der Entsendebescheinigung. Denn ein strafrechtliches Urteil, das sich auf von der Bescheinigung abweichende Feststellungen stützt, hätte wegen der einschneidenden Sanktionsfolge tiefergreifende Auswirkungen als eine von der Bescheinigung abweichende Beitragserhebung durch die Sozialversicherungsbehörden des Gastlandes.
25
Im Hinblick auf § 266a StGB ergibt sich eine Bindung auch mittelbar aus der sozialrechtsakzessorischen Natur der Strafvorschrift. Da die strafrechtliche Beitragsvorenthaltung eine sozialrechtlich begründete Beitragspflicht voraussetzt , lässt eine Unanwendbarkeit deutschen Sozialversicherungsrechtes infolge der bindenden Bewertung der Entsendebehörde zugleich die Strafbarkeit nach § 266a StGB entfallen (zutreffend Ignor/Rixen, wistra 2001, 201, 204; a.A. Heitmann in Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht 4. Aufl. § 36 Rdn. 70 f., 76, der einer Entsendebescheinigung allerdings auch für das sozialrechtliche Verfahren nur eine Beweisfunktion zuschreibt). Dies zeigt auch die Struktur von § 266a StGB als echtes Unterlassungsdelikt. Dem Unterlassen steht bei Vorliegen einer Entsendebescheinigung eine erfüllbare Rechtspflicht nicht gegenüber; da mangels eines Sozialversicherungsverhältnisses kein Anspruch eines inländischen Sozialversicherungsträgers besteht, ist dem Täter die von § 266a StGB abverlangte Handlung - rechtzeitige Beitragsabführung - rechtlich und tatsächlich unmöglich. Eine strafrechtliche Feststellung fehlender Entsendungsvoraussetzungen, wie von dem Landgericht vorgenommen, ver- mag hieran nichts zu ändern, da sie eine Sozialversicherungspflicht nicht begründen kann.
26
d) Der Senat hat erwogen, ob die Bindungswirkung der E 101Bescheinigung in Fallgestaltungen wie der vorliegenden in Frage steht, in denen die Bescheinigung durch Manipulation erschlichen worden ist. Der Europäische Gerichtshof hat insoweit in anderem Zusammenhang mehrfach ausgesprochen , dass das Gemeinschaftsrecht die missbräuchliche oder betrügerische Anwendung von Vorschriften nicht gestatte (vgl. Urteil vom 2. Mai 1996 - Rs. C-206/94, BB 1996, 1116, 1117 m.w.N.).
27
Sollte der Verdacht von Manipulationen eine Überprüfungsmöglichkeit des Entsendetatbestandes durch die Behörden und Gerichte des Gaststaates eröffnen, würde dies allerdings die von den Verordnungen bezweckte und in der Rechtsprechung des Gerichtshofes als wesentliche Zielsetzung betonte eindeutige Rechtszuordnung unterlaufen, da eine auf den Missbrauchsverdacht gestützte Ermittlungs- und Eingriffsbefugnis keine trennscharfen Konturen aufweist und zu Konflikten zwischen den Versicherungsträgern der beteiligten Mitgliedstaaten Anlass geben würde.
28
Dementsprechend hat der Europäische Gerichtshof eine Ausnahme von der Bindungswirkung nicht vorgesehen und an der Richtigkeit der Bescheinigung zweifelnde Gastlandbehörden ausnahmslos auf eine Überprüfungsanregung bei der Ausstellungsbehörde verwiesen. Dies betrifft auch das vom Gerichtshof mit Urteil vom 30. März 2000 (- Rs. C-178/97, Slg. 2000 I, 2005) entschiedene Vorlageverfahren, dem die Problematik einer Scheinselbständigkeit zugrunde lag. In den im Verfahren eingeholten Stellungnahmen der deutschen und niederländischen Regierungen wurde der Befürchtung Ausdruck verliehen, dass mit einer allzu großzügigen Handhabung der Verordnungen und der auf ihrer Grundlage ergangenen Bescheinigungen einem Missbrauch durch erschlichene Rechtswahl der Sozialrechtsordnung eines Mitgliedsstaates, dessen Sozialabgaben niedriger als jene im tatsächlichen Beschäftigungsstaat ausfallen, Vorschub geleistet würde (vgl. Slg. 2000 I, 2005, 2016). Der Gerichtshof hat gleichwohl auch in diesem Fall keine Veranlassung gesehen, die Bindungswirkung der E 101-Bescheinigung unter einen Missbrauchsvorbehalt zu stellen.
29
Nach Auffassung des Senats liegt daher eine gesicherte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes vor, die vernünftige Zweifel an der Auslegung des Gemeinschaftsrechtes im vorliegenden Fall nicht zulässt; hiermit entfällt zugleich eine Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag, § 1 Abs. 2 EuGHG zur Klärung der Rechtsfrage (vgl. hierzu Kokott, JZ 2006, 633).
30
4. Eine Beitragsvorenthaltung zu Lasten der portugiesischen Sozialbehörden kommt nach den Feststellungen des Landgerichts gleichfalls nicht in Betracht. Angesichts des durch die Entsendebescheinigung festgestellten Arbeitsverhältnisses trifft eine Beitragspflicht allein die portugiesischen Unternehmen und ihre Organe. Darüber hinaus ergeben die Feststellungen des Landgerichts , dass nach Absicht der Angeklagten aus den von ihnen an die portugiesischen Firmen überwiesenen Lohnzahlungen Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden sollten. Es kann daher dahinstehen, ob § 266a StGB allein die Nichtabführung von Beiträgen aufgrund einer inländischen Sozialversicherungspflicht betrifft oder aufgrund der Verknüpfung der europäischen Sozialsysteme auch das gesamteuropäische Beitragsaufkommen schützt.

III.

31
Der Senat hat weiterhin erwogen, ob das Landgericht - gegebenenfalls nach einem Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 StPO - der Frage hätte nachgehen müssen, ob sich die Angeklagten aufgrund der Beantragung der Entsendebescheinigungen eines Beitragsbetruges nach § 263 StGB schuldig gemacht haben. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen legen nahe, dass die E 101-Bescheinigungen von den portugiesischen Sozialversicherungsbehörden infolge einer - von den Angeklagten zumindest veranlassten - Täuschung über die tatsächlichen Voraussetzungen des Entsendetatbestandes ausgestellt worden sein könnten. Die Ausstellung der Bescheinigungen könnte in diesem Fall eine irrtumsbedingte Verfügung darstellen, da sie aufgrund ihrer Bindungswirkung die Erhebung höherer Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland hindern.
32
Eine Zurückverweisung der Sache zur ergänzenden Sachaufklärung war gleichwohl nicht veranlasst. Unabhängig davon, ob die einem etwaigen Beitragsbetrug zugrunde liegenden Tathandlungen von der zugelassenen Anklage und damit der Kognitionspflicht des Landgerichts umfasst sind, steht einer solchen Prüfung gleichfalls die Bindungswirkung der erteilten Entsendebescheinigungen entgegen. Nach der - für den Senat bindenden - Auffassung des Europäischen Gerichtshofes sind die Gerichte des Gaststaates nicht befugt, die der Entsendebescheinigung zugrunde liegenden Tatsachen einer eigenständigen Überprüfung zu unterziehen (vgl. Urteil vom 26. Januar 2006, Rs. C-2/05 Rdn. 32 f.). Die Annahme eines Beitragsbetruges widerspräche einer solchen Bindung. Denn sie setzt die Bewertung voraus, dass es an den tatsächlichen Voraussetzungen einer Entsendung fehlt, diese dem ausländischen Versicherungsträger vielmehr nur vorgetäuscht wurden und die von ihm ausgestellte Bescheinigung auf einer fehlerhaften Tatsachengrundlage beruht.
33
Der Senat braucht vorliegend nicht zu entscheiden, welche Rechtsfolgen ein möglicher Widerruf der erteilten E 101-Bescheinigungen durch die ausstellende Behörde hätte, doch könnte bei erschlichenen Bescheinigungen Betrug zum Nachteil deutscher Sozialversicherungsträger nahe liegen.
34
Da mithin lediglich ein Mangel der rechtlichen Würdigung vorliegt und weitergehende Feststellungen ausscheiden, kann der Senat in der Sache selbst entscheiden. Die Entscheidung über die Verpflichtung zur Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (§ 8 StrEG) ist vom Landgericht zu treffen, weil Art und Umfang der entschädigungspflichtigen Maßnahmen ohne weitere Feststellungen und ohne weitere Anhörung der Beteiligten nicht zu bestimmen sind (vgl. BGH StV 2002, 422, 423). Der Senat weist im übrigen klarstellend darauf hin, dass die in die Gesamtstrafe gegenüber dem Angeklagten H. gem. § 55 StGB einbezogenen Einzelstrafen aus einer früheren Verurteilung von dem Freispruch nicht berührt werden. Insoweit verbleibt es bei der in dem früheren Erkenntnis gebildeten Gesamtstrafe, deren Auflösung mit Aufhebung des landgerichtlichen Urteils entfallen ist. Nack Kolz Hebenstreit Elf Graf

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

(1) Der Beschwerdeführer hat die Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen.

(2) Aus der Begründung muß hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird. Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 407/07
vom
12. September 2007
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. September 2007 beschlossen
:
Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Hechingen vom 14. Mai 2007 wird verworfen.
Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

1
Um ihren geschiedenen Ehemann zu töten, übergoss ihn die Angeklagte von hinten mit einer brennbaren Flüssigkeit und zündete ihn an. Er erlitt schwerste Verbrennungen, denen er nach einigen Tagen erlag.
2
Deshalb wurde sie wegen heimtückischen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.
3
Ihre auf Verfahrensrügen und die näher ausgeführte Sachrüge gestützte Revision ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
4
1. Der psychiatrische Sachverständige hatte bereits mehrere Monate vor der Hauptverhandlung ein - vorläufiges - schriftliches Gutachten zu den Akten gebracht. Danach hatte die Verteidigung, immer noch längere Zeit vor der Hauptverhandlung, Akteneinsicht gehabt, kannte also das vorläufige Gutachten. Dies belegt auch der Umstand, dass bereits vor der Hauptverhandlung ein Antrag einging, mit dem der Sachverständige (unter anderem auch) wegen des Inhalts des vorläufigen Gutachtens wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wurde. Sein - endgültiges - Gutachten hat der Sachverständige - selbst- verständlich - in der Hauptverhandlung erstattet. Eine wie auch immer geartete Verletzung prozessualer Rechte der Angeklagten durch diesen Verfahrensablauf ist nicht erkennbar.
5
a) Demgegenüber vertritt die Revision offenbar die Auffassung, ein Sachverständiger müsse (nicht nur ein vorläufiges, sondern bereits) sein endgültiges Gutachten schon vor der Hauptverhandlung zu den Akten bringen. Die Auffassung der Revision hätte die Konsequenz, dass ein Sachverständiger Erkenntnisse bei seiner Begutachtung auszuklammern habe, die erst in der Hauptverhandlung angefallen sind. Dies liegt neben der Sache.
6
b) Weiteres Revisionsvorbringen stützt sich in diesem Zusammenhang auf die Annahme, der Verteidigung sei zugemutet worden, in einem kurzen Zeitraum zwischen Erstattung des Gutachtens in der Hauptverhandlung und der Befragung des Sachverständigen durch die Verteidigung dessen umfangreiches (61 Seiten langes) vorläufiges Gutachten durchzuarbeiten. Dies ist in tatsächlicher Hinsicht falsch, wie sich aus der - von der Revision entgegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht mitgeteilten - vorherigen Akteneinsicht der Verteidigung ergibt.
7
c) Nach alledem gehen sämtliche in diesem Zusammenhang erhobenen Verfahrensrügen (z. B. Behinderung der Verteidigung, § 338 Nr. 8 StPO, Verletzung des Rechts auf Einsicht in Sachverständigengutachten, § 147 Abs. 3 StPO) fehl. Anzumerken ist lediglich Folgendes: Der im Zusammenhang mit dem Gutachten geltend gemachte Aussetzungsantrag könnte allenfalls dann eine Grundlage haben, wenn - etwa im Hinblick auf neue Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung - das in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten in wesentlichen Punkten von dem vorläufigen Gutachten abgewichen wäre. Hierfür ist dem Revisionsvorbringen jedoch nichts zu entnehmen.
8
2. Ohne Erfolg bleibt auch die Rüge, ein Antrag auf Ablehnung des psychiatrischen Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 74 StPO) sei zu Unrecht zurückgewiesen worden.
a) Zur Begründung des Ablehnungsantrags war vorgetragen worden: (1) Bei einer Exploration, bei der auch der Verteidiger anwesend war, habe der Sachverständige der Angeklagten folgendes auseinandergesetzt : Der Bundesgerichtshof habe schon einmal eine Entscheidung der - erkennenden - Strafkammer aufgehoben, der ein Sachverhalt zu Grunde gelegen habe, der dem ähnlich sei, wie er von der Angeklagten behauptet werde. In einem weiteren ebenfalls vergleichbaren Fall sei deshalb die Strafe nach Auffassung des Vorsitzenden der Strafkammer zu milde ausgefallen. Deshalb werde der Vorsitzende bei der geringsten Unstimmigkeit Einlassungen wie die der Angeklagten gar nicht erst glauben. Die Angeklagte solle sich daher ihre Einlassung nochmals durch den Kopf gehen lassen. (2) Im Übrigen sei dem Sachverständigen im Rahmen dieser Expoloration erklärt worden, dass die Angeklagte erst in der Hauptverhandlung weitere Angaben zum Tatgeschehen machen werde. Nachdem der Verteidiger die Vollzugsanstalt wieder verlassen gehabt habe, habe der Sachverständige sich dann aber doch die Angeklagte nochmals vorführen lassen und versucht, sie zum Tatgeschehen zu befragen. (3) Außerdem sei sein - vorläufiges - Gutachten unvollständig.
9
b) Die Strafkammer hat zu diesem Vorbringen den Sachverständigen angehört und weitere Ermittlungen angestellt. Sodann hat sie den Antrag zurückgewiesen. (1) Die in Anwesenheit des Verteidigers abgegebene Empfehlung des Sachverständigen zu einer Überprüfung der Einlassung - die, so der Sachverständige, mit dem Akteninhalt nicht übereingestimmt habe - hat sie als "übertriebene Fürsorge" des Sachverständigen bewertet. Auf die in dem Ablehnungsantrag näher ausgeführten Darlegungen des Sachverständigen zu den Gründen für seine Prognose - die dieser in seiner Stellungnahme weder bestätigt noch bestritten hatte - ist sie dabei nicht eingegangen. (2) Soweit der Antrag auf Vorbringen zum Geschehen gestützt war, das sich abgespielt haben soll, nachdem der Verteidiger die Vollzugsanstalt verlassen hatte, wurde der Antrag abgelehnt, weil die ihm zu Grunde liegenden Behauptungen nicht erwiesen seien. Nach den Angaben des Sachverständigen stelle es sich vielmehr so dar, dass er, nachdem er zuvor in ihre Krankenakte im Revier Einblick genommen gehabt habe, die Angeklagte in Abwesenheit des Verteidigers nur zu ihrer depressiven Verstimmung am Tattag befragt habe, wie dies auch mit dem Verteidiger vereinbart gewesen sei; zum Tatgeschehen habe er sie nicht befragt. (3) Die (behauptete) Unvollständigkeit des vorläufigen Gutachtens sei bedeutungslos. Entscheidend sei das endgültige Gutachten.
10
c) Die Revision hält diesen Beschluss für fehlerhaft. Zur Begründung führt sie näher aus, dass und warum die Strafkammer den in dem Ablehnungsantrag geschilderten Geschehensablauf hinsichtlich des Befragungsversuchs in Abwesenheit des Verteidigers hätte als bewiesen ansehen müssen. Demgegenüber befasst sich das Revisionsvorbringen nicht mit den Teilen des Beschlusses , die den Ablehnungsantrag zurückweisen, soweit dieser auf die Empfehlung des Sachverständigen, das Verteidigungsvorbringen zu überdenken, und die Unvollständigkeit des vorläufigen Gutachtens gestützt war.
11
d) Der Senat neigt nicht zu der Auffassung, dass ein Sachverständiger verständigerweise das Misstrauen hervorruft, er selbst sei zum Nachteil einer Angeklagten voreingenommen, wenn er ihr und ihrem Verteidiger eingehend erläutert , dass und warum aus seiner Sicht ein bestimmtes Verteidigungsvorbringen bei Gericht keinen Erfolg haben wird und deshalb dessen Abänderung empfiehlt. Einer Entscheidung hierüber bedarf es aber nicht. Der Ablehnungsantrag ist nämlich mit mehreren, voneinander unabhängigen Vorwürfen begründet, die Entscheidung hierüber dementsprechend auf mehrere, ebenso voneinander unabhängige Gründe gestützt. Eine solche Entscheidung hat das Revisionsgericht nur in dem Umfang zu überprüfen, in dem sie von der Revision ausweislich ihrer Begründung als rechtsfehlerhaft gerügt ist (zur Maßgeblichkeit der "Angriffsrichtung" einer Rüge vgl. auch BGH NStZ 2007, 161, 162; Kuckein in KK 5. Aufl. § 344 Rdn. 34; Cirener/Sander JR 2006, 300 jew. m. w. N.). Dies ist hinsichtlich des Teils des Beschlusses nicht der Fall, der sich mit der angesonnenen Änderung des Verteidigungsvorbringens befasst.
12
Unabhängig von alledem bemerkt der Senat, dass ein Sachverständiger keine Fürsorgepflicht für den Erfolg (der Anklage oder) der Verteidigung hat. Vielmehr hat er sich darauf zu beschränken, den ihm von seinem Auftraggeber (Staatsanwaltschaft oder Gericht) vorgegebenen Sachverhalt (vgl. § 78 StPO) aus seiner fachlichen Sicht zu bewerten. Findet er im Rahmen seiner Tätigkeit Anhaltspunkte für einen abweichenden Sachverhalt - diese können sich auch aus (neuen) Angaben des Beschuldigten (Angeklagten) ergeben - hat er seinen Auftraggeber hierauf hinzuweisen; gegebenenfalls kann er dann als (sachverständiger ) Zeuge in Betracht kommen (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 264, 265 m. w. N.). Die Bewertung derartiger Anhaltspunkte ist allein Sache des Gerichts, das dem Sachverständigen gegebenenfalls zu verdeutlichen hat, von welchem Sachverhalt - erforderlichenfalls welchen alternativen Sachverhalten - er bei seinem Gutachten auszugehen hat. Zu (hier jedenfalls unbestritten behaupteten ) Voraussagen, wie und warum das Gericht Beweiswürdigung und Strafzumessung vermengen werde, und einer Beratung von Verfahrensbeteiligten über ihr Prozessverhalten ist ein Sachverständiger keinesfalls berufen (zur Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche vgl. auch Nedopil NStZ 1999, 433, 437 f.). Wie hier deutlich wird, kann derartiges Verhalten zu Missdeutungen Anlass geben und so das Verfahren belasten.
13
e) Hinsichtlich der gerügten Bewertung der geltend gemachten Befragung in Abwesenheit des Verteidigers bleibt die Revision ebenfalls erfolglos:
14
Das Recht des Beschuldigten (Angeklagten), sich in jeder Lage des Verfahrens anwaltlicher Hilfe zu bedienen, führt nicht zu einem Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei der Exploration durch einen Sachverständigen, der mit der Erstellung eines Gutachtens (hier: zur Frage der Schuldfähigkeit der Angeklagten ) beauftragt ist (BGH NStZ 2003, 101). Hier ist nun allerdings geltend gemacht , der Sachverständige habe - gleichwohl - zunächst zugesagt, (weitere) Explorationen nur in Anwesenheit des Verteidigers vorzunehmen, sich dann aber nicht an diese Zusage gehalten. Es verstünde sich auch bei einem solchen - freilich inkonsequenten - Verhalten des Sachverständigen nicht von selbst, dass allein die Stellung sachgerechter Fragen - anderes ist weder konkret behauptet noch sonst ersichtlich - verständigerweise die Besorgnis begründete, der Sachverständige sei zum Nachteil der Angeklagten befangen.
15
Einer abschließenden Entscheidung hierüber bedarf es aber nicht, da die Strafkammer die in dem Ablehnungsantrag aufgestellten tatsächlichen Behauptungen als widerlegt ansieht. Mit dem Vorbringen, in Wahrheit sei es doch so gewesen, wie in dem Antrag behauptet, kann die Revision nicht gehört werden. Bei der Beurteilung der Ablehnung von Sachverständigen ist das Revisionsgericht an die Tatsachen gebunden, die der Tatrichter seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat. Eigene Ermittlungen des Revisionsgerichts kommen - anders als bei der Richterablehnung - nicht in Betracht. Es entscheidet als Rechtsfrage, ob die Strafkammer über das Ablehnungsgesuch ohne Verfahrensfehler und mit ausreichender Begründung befunden hat (st. Rspr., vgl. BGH NStZ 1994, 388; BGH bei Becker NStZ-RR 2002, 66 m. w. N.). Die Strafkammer ist in ihrem Beschluss aber rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gelangt, die Äußerung des Sachverständigen zu dem Ablehnungsantrag ergebe, dass er seine Absprache mit dem Verteidiger eingehalten habe. Unabhängig davon belegen die Ausführungen des Sachverständigen jedenfalls, dass er nicht davon ausgegangen ist, eine mit dem Verteidiger getroffene Vereinbarung zu verletzen. Selbst wenn das Verhalten des Sachverständigen zunächst die Besorgnis der Befangenheit begründet hätte, hätte die Erläuterung des Sachverständigen diese Besorgnis ausgeräumt. Es gilt insoweit nichts anderes als hinsichtlich der dienstlichen Erklärung eines wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnten Richters. Diese kann ebenfalls ein ursprünglich berechtigt erscheinendes Misstrauen ausräumen (vgl. BGH wistra 2002, 267; StV 2004, 356, 357 jew. m. w. N.).
16
f) Soweit die Ablehnung mit der Unvollständigkeit des vorläufigen Gutachtens begründet ist, sind die Ausführungen der Strafkammer, mit denen dieser Teil des Ablehnungsantrags zurückgewiesen wurde, von der Revision nicht erkennbar angegriffen. Es gilt insoweit nichts anderes als hinsichtlich der geltend gemachten Besorgnis der Befangenheit des Sachverständigen wegen sei- ner Empfehlungen zum Verteidigungsverhalten. Darauf, dass allein der (im Übrigen nicht in einer den Anforderungen von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Weise mitgeteilte) Inhalt eines Gutachtens - also die fachliche Qualität des Gutachters - in aller Regel die Besorgnis der Befangenheit ohnehin nicht begründen könnte (vgl. BGHR StPO § 74 Ablehnung 1 m. w. N.), kommt es daher nicht mehr an.
17
3. Die Rüge gegen den Beschluss, mit dem der Antrag auf Ablehnung des Gerichts wegen Besorgnis der Befangenheit zurückgewiesen wurde, ist ebenfalls offensichtlich unbegründet. Da dieser Antrag allein auf die Bescheidung des Vorbringens zur angeblich unzulänglichen Möglichkeit, von dem vorläufigen Gutachten Kenntnis zu nehmen und auf die Zurückweisung des gegen den Sachverständigen gerichteten Ablehnungsantrags gestützt war, bedarf dies keiner weiteren Darlegung.
18
4. Schließlich bleibt auch die Sachrüge erfolglos. Insoweit nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts Bezug. Nack Wahl Kolz Hebenstreit Graf

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 371/06
vom
29. August 2006
in der Strafsache
gegen
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in
nicht geringer Menge
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. August 2006 beschlossen
:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Landshut vom 6. März 2006 wird als unbegründet verworfen, da
die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung
keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§
349 Abs. 2 StPO).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.
2
Näherer Erörterung bedarf lediglich die Rüge, an dem Urteil habe der Vorsitzende Richter L. mitgewirkt, nachdem ein gegen ihn gerichtetes Ablehnungsgesuch mit Unrecht verworfen worden sei (Verstoß gegen § 338 Nr. 3 i.V.m. § 24 Abs. 1 StPO).
3
1. Der Beschwerdeführer trägt folgendes Verfahrensgeschehen vor:
4
In die Hauptverhandlung wurden Erkenntnisse aus einer Telefonüberwachung eingeführt. Die Gespräche wurden weitgehend in dem Sinti-Dialekt "Sintitikes" geführt. Da der Angeklagte Zweifel an der Richtigkeit der im Ermittlungsverfahren gefertigten Übersetzung äußerte, wurde auf den dritten Verhandlungstag eine Sprachsachverständige geladen. Zur Vorbereitung des Termins hatte der Vorsitzende der Sachverständigen vier aufgezeichnete Gespräche in digitalisierter Form und die jeweiligen Übertragungsprotokolle der Ermittlungsbehörden zur Verfügung gestellt.
5
Mit der Beweiserhebung durch Abspielen einzelner Gespräche aus der Telefonüberwachung und ihre Übersetzung durch die Sachverständige wurde nach 11.50 Uhr begonnen. Dabei erfolgte auch die Mitteilung an die Verfahrensbeteiligten , dass der Sachverständigen Aktenteile überlassen worden waren. Um 12.32 Uhr wurde die Hauptverhandlung unterbrochen und um 13.36 Uhr fortgesetzt.
6
Der Verteidiger lehnte anschließend namens des Angeklagten den Vorsitzenden wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Das Ablehnungsgesuch begründete er damit, der Vorsitzende habe die Verteidigung nicht darüber informiert , dass er der Sachverständigen Aktenteile zur Vorbereitung des Termins zur Verfügung gestellt habe; er habe auf ausdrückliche Nachfrage des Verteidigers geäußert, die der Sachverständigen überlassenen Gespräche seien für den Tatnachweis nicht relevant, obwohl eins davon das "Kernstück" der Telefonüberwachung darstellen würde. Das Befangenheitsgesuch wurde mit Gerichtsbeschluss unter Mitwirkung des abgelehnten Richters als unzulässig verworfen , da der Ablehnungsgrund nicht glaubhaft gemacht und das Gesuch verspätet eingebracht worden sei.
7
Daraufhin brachte der Verteidiger ein zweites inhaltsgleiches Ablehnungsgesuch an und bezog sich zur Glaubhaftmachung auf die noch einzuholenden dienstlichen Stellungnahmen des Vorsitzenden und des Sitzungsstaatsanwalts. Auch dieses zweite Gesuch wurde mit Gerichtsbeschluss unter Mitwirkung des abgelehnten Richters als unzulässig verworfen, weil es sich um die unzulässige Wiederholung eines bereits abgelehnten Gesuchs handele.
8
2. Die Revision greift ausschließlich den auf das erste Befangenheitsgesuch ergangenen Beschluss an; den zweiten Beschluss lässt sie unbeanstandet. Sie macht geltend, dass die Verwerfung des ersten Antrags rechtsfehlerhaft gewesen sei, weil eine Glaubhaftmachung über die anwaltliche Erklärung hinaus nicht erforderlich gewesen und er nicht verspätet eingebracht worden sei. Dass der zweite Antrag verworfen wurde, rügt der Beschwerdeführer hingegen nicht.
9
Dem Senat ist es demnach verwehrt, den zweiten Verwerfungsbeschluss zu prüfen. Kommen nach den vorgetragenen Tatsachen mehrere Verfahrensmängel in Betracht, ist vom Beschwerdeführer darzutun, welcher Verfahrensmangel geltend gemacht wird, um somit die Angriffsrichtung der Rüge deutlich zu machen (BGH NStZ 1998, 636; 1999, 94; Cirener/Sander JR 2006, 300). Die Angriffsrichtung bestimmt den Prüfungsumfang seitens des Revisionsgerichts.
10
3. Die Rüge ist unbegründet, da die nach Beschwerdegrundsätzen vorgenommene Prüfung durch den Senat ergibt, dass beim Vorsitzenden die Besorgnis der Befangenheit nicht bestand.
11
a) Die Entscheidung der Strafkammer, das erste Ablehnungsgesuch als im Sinne von § 26a Abs. 1 Nr. 1, 2 Alt. 2 StPO unzulässig zu verwerfen, war rechtsfehlerhaft. Der Antrag bedurfte nicht der weiteren Glaubhaftmachung (§ 26 Abs. 2 StPO), da der Verteidiger seine eigenen Wahrnehmungen mitteilte; dass er die Richtigkeit seiner Angaben anwaltlich versicherte, war nicht erforderlich (BayObLG StV 1995, 7; OLG Schleswig MDR 1972, 165; Pfeiffer in KK 5. Aufl. § 26 Rdn. 5; Maul in KK 5. Aufl. § 45 Rdn. 11; a.A. OLG Koblenz OLGSt StPO § 45 Nr. 5). Auch war der Antrag nicht verspätet eingebracht (§ 25 StPO), weil die maßgeblichen Vorgänge, auf die er sich gründete, "unmittelbar" vor der Mittagspause - so die Revision - erfolgten und das Ablehnungsgesuch als erster protokollierter Vorgang danach gestellt wurde.
12
b) Bei zutreffender rechtlicher Beurteilung hätte daher der Vorsitzende nach § 27 Abs. 1 StPO an der Entscheidung über den ersten - zulässigen - Antrag nicht mitwirken dürfen. Hat das Gericht über ein Ablehnungsgesuch in falscher Besetzung entschieden, so ist in dem Fall, dass das Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt worden ist, allein deswegen der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 3 StPO gegeben, und zwar unabhängig davon, ob tatsächlich die Besorgnis der Befangenheit bestand. Denn im Fall eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist es dem Revisionsgericht verwehrt, nach Beschwerdegrundsätzen darüber zu entscheiden , ob das Ablehnungsgesuch begründet war (BVerfG NJW 2005, 3410, 3413 f.; StraFo 2006, 232, 236; BGHSt 50, 216, 219; BGH, Beschluss vom 13. Juli 2006 - 5 StR 154/06 - Umdr. S. 9 f.). Ein derartiger Fall liegt hier allerdings nicht vor.
13
c) Ein Verstoß gegen die Zuständigkeitsregelungen der §§ 26a, 27 StPO führt nur dann zu einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn diese Vorschriften willkürlich angewendet werden oder die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie verkennt (BVerfG NJW 2005, 3410, 3411; StraFo 2006, 232, 235 f.; BGHSt 50, 216, 218; BGH, Beschluss vom 27. Juli 2006 - 5 StR 249/06 - Umdr. S. 3). Willkür liegt vor, wenn der abgelehnte Richter sein eigenes Verhalten wertend beurteilt, sich gleichsam zum "Richter in eigener Sache" macht (BVerfG NJW 2005, 3410, 3412; StraFo 2006, 232, 235; Beschluss vom 2. August 2006 - 2 BvR 1518/06 - Umdr. S. 5; BGHSt aaO 219; BGH, Beschluss vom 25. April 2006 - 3 StR 429/05 - Umdr. S. 4; Beschluss vom 13. Juli 2006 - 5 StR 154/06 - Umdr. S. 7 f.), oder ein Verstoß von vergleichbarem Gewicht gegeben ist. Demgegenüber gibt es auch Fallgestaltungen, in denen sich ein Verfassungsverstoß nicht feststellen lässt, vielmehr die §§ 26a, 27 StPO "nur" schlicht fehlerhaft angewendet wurden (BVerfG StraFo 2006, 232, 236; vgl. ferner BGH StV 2005, 587, 588; Beschluss vom 25. April 2006 - 3 StR 429/05 - Umdr. S. 6).
14
Erfolgt die Verwerfung nur aus formalen Erwägungen, wurden die Ablehnungsgründe aber nicht inhaltlich geprüft, ist im Einzelfall danach zu differenzieren , ob die Entscheidung des Gerichts auf einer groben Missachtung oder Fehlanwendung des Rechts beruht, ob also Auslegung und Handhabung der Verwerfungsgründe nach § 26a Abs. 1 StPO offensichtlich unhaltbar oder aber lediglich schlicht fehlerhaft sind (BGHSt 50, 216, 219 f.). In letzterem Fall entscheidet das Revisionsgericht weiterhin nach Beschwerdegrundsätzen sachlich über die Besorgnis der Befangenheit (zur bisherigen Rspr. vgl. BGHSt 18, 200, 203; 23, 265; BGHR StPO § 26a Unzulässigkeit 1, 3, 9).
15
d) Die Ablehnung des Befangenheitsgesuchs nach § 26a Abs. 1 StPO erfolgte hier nicht willkürlich. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Strafkammer Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verkannt hat.
16
Das mit dem Befangenheitsgesuch beanstandete Verhalten des Vorsitzenden war für die Verwerfung des Ablehnungsgesuchs als unzulässig nicht relevant, sodass er bei der Mitwirkung am Verwerfungsbeschluss sein eigenes Verhalten nicht wertend beurteilen musste. Vielmehr wurde die Verwerfung nur mit formalen Mängeln des Gesuchs - Form und Frist, d.h. fehlende Glaubhaftmachung und Verspätung - begründet.
17
Die Entscheidung, das erste Ablehnungsgesuch wegen fehlender Glaubhaftmachung nach § 26a Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StPO als unzulässig zu verwerfen, war zwar rechtsfehlerhaft; denn der von einem Verteidiger verfasste Antrag genügt schon dann den gesetzlichen Anforderungen, wenn die Tatsachen, mit denen die Besorgnis der Befangenheit begründet wird, gerichtsbekannt sind (vgl. BGH bei Dallinger MDR 1972, 17; Wendisch in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 26 Rdn. 16) oder der Antrag Wahrnehmungen des Verteidigers enthält, wobei das Fehlen einer anwaltlichen Versicherung grundsätzlich unschädlich ist (vgl. BayObLG StV 1995, 7; OLG Schleswig MDR 1972, 165; Pfeiffer in KK 5. Aufl. § 26 Rdn. 5; Maul in KK 5. Aufl. § 45 Rdn. 11).
18
Die Bewertung des Landgerichts ist aber nicht offensichtlich unhaltbar. Die Erklärungen des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung mussten zwar als gerichtsbekannt vorausgesetzt werden. Das gilt jedoch nicht für die unterbliebene Information bezüglich des Überlassens von Aktenteilen im Vorfeld der Sachverständigenvernehmung. Insoweit teilt die Revision nicht mit, ob dieser von der Verteidigung erhobene Vorwurf gerichtsbekannt, insbesondere Gegenstand der Hauptverhandlung war. Auch diesbezüglich genügt zwar die in dem Befangenheitsgesuch enthaltene anwaltliche Erklärung, da es sich um eine eigene Wahrnehmung - gegebenenfalls auch außerhalb der Hauptverhandlung - handelte. Indem die Kammer jedoch insgesamt nicht die schlichte Erklärung ausreichen ließ, sodass zumindest die anwaltliche Versicherung von deren Richtigkeit erforderlich gewesen wäre, wandte sie den Verwerfungsgrund des § 26a Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StPO nicht grob rechtsfehlerhaft an. Zwar setzt die Glaubhaftmachung nach zutreffender Auffassung insoweit eine anwaltliche Versicherung nicht voraus. Die der Entscheidung der Kammer zugrunde liegende Auslegung, die sich auch auf obergerichtliche Rechtsprechung berufen kann (vgl. OLG Koblenz OLGSt StPO § 45 Nr. 5), ist jedoch vertretbar. Sie kann das Argument für sich beanspruchen, dass dem Verteidiger, der ein Ablehnungsgesuch stellt, mit der anwaltlichen Versicherung Bedeutung und Tragweite seiner Erklärung für das Ablehnungsverfahren, in dem keine Beweisaufnahme über den Ablehnungsgrund stattfindet, vor Augen geführt werden.
19
e) Die demnach nach Beschwerdegrundsätzen vorgenommene Prüfung des Sachverhalts ergibt, dass das auf die Überlassung von Aktenteilen bezügliche Verhalten einem verständigen Angeklagten keinen Anlass geben konnte, an der Unparteilichkeit des Vorsitzenden zu zweifeln. Maßstab hierfür ist, ob der Richter den Eindruck erweckt, er habe sich in der Schuld- und Straffrage bereits festgelegt. Dies ist grundsätzlich vom Standpunkt des Angeklagten aus zu beurteilen. Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Richters ist dann gerechtfertigt, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, der Richter nehme ihm gegenüber eine innere Haltung ein, die seine Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann (Senat , Urteil vom 9. August 2006 - 1 StR 50/06 - Umdr. S. 23; Meyer-Goßner, StPO 49. Aufl. § 24 Rdn. 6, 8 m.w.N.).
20
Die umfangreichen Bemühungen des Vorsitzenden um einen Sprachsachverständigen für den Sinti-Dialekt "Sintitikes" erfolgten im Interesse des Angeklagten, der Zweifel an der Richtigkeit der im Ermittlungsverfahren gefertigten Übersetzung äußerte. Dass es der Vorsitzende dabei unterließ, die Verteidigung davon zu informieren, dass er der schließlich beauftragten Sachverständigen zu ihrer Vorbereitung bestimmte Aktenteile zur Verfügung gestellt hatte, konnte von vornherein kein Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit begründen , weil eine Verpflichtung hierzu nicht bestand (vgl. zu § 33 Abs. 2, 3 StPO; Maul aaO § 33 Rdn. 2; Wendisch aaO § 33 Rdn. 7). Weiterhin war die Frage des Verteidigers nach der Tatrelevanz der überlassenen digitalisierten Gespräche mit Übersetzungsprotokollen sachwidrig. Denn es war notwendig, der Sachverständigen den für ihre Übersetzungstätigkeit jedenfalls auch bedeutsamen fremdsprachlichen Akteninhalt zur Kenntnis zu bringen (§ 80 Abs. 2 StPO). Welches Interesse der Angeklagte daran haben konnte, ihr nur für den Tatvorwurf nicht relevante Gespräche zur Verfügung zu stellen, ist weder von der Revision vorgetragen noch sonst ersichtlich, zumal sich der Auftrag an die Sachverständige naturgemäß (auch) auf die relevanten Gespräche bezog. Die Frage des Verteidigers zielte ferner auf eine vorläufige Bewertung der in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise und des Akteninhalts. Hierauf haben die Verfahrensbeteiligten grundsätzlich keinen Anspruch (BGHSt 43, 212); im Übrigen obliegt die Würdigung des Beweisstoffs ohnehin nicht dem Vorsitzenden allein, sondern dem gesamten Spruchkörper. Die vom Vorsitzenden auf diese sachwidrige Frage gegebene Antwort konnte, zumal die Verfahrensbeteiligten sie ohne weiteres überprüfen konnten, vom Standpunkt eines verständigen Angeklagten die Besorgnis der Befangenheit nicht begründen. Wahl Boetticher Kolz Hebenstreit Elf