Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 21. Mai 2015 - 19 ZB 14.1181

bei uns veröffentlicht am21.05.2015

Tenor

I.

Das Verfahren betreffend das Begehren nach einer Verkürzung der Ausweisungswirkungen von zehn auf sechs Jahre wird abgetrennt und unter dem Az. 19 ZB 15.1083 fortgeführt.

II.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hinsichtlich des verbliebenen Verfahrensteils wird abgelehnt.

III.

Die Kostenentscheidung und die Streitwertfestsetzung bleiben der abschließenden Entscheidung im Verfahren 19 ZB 15.1083 vorbehalten.

Gründe

I.

Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts begründet ist, durch das die Klage gegen den Ausweisungsbescheid vom 20. März 2013 abgewiesen worden ist. Hinsichtlich der (für den Fall der Aufrechterhaltung der Ausweisung bedeutsamen) Befristung der Wirkungen des § 11 Abs. 1 AufenthG (im Bescheid vom 20.3.2013 auf zehn Jahre festgesetzt) ist nur noch das Begehren nach einer Verkürzung von sechs auf drei Jahre streitgegenständlich, denn der Kläger hatte eine Befristung „auf nicht mehr als drei Jahre“ beantragt und die Beklagte hat auf Anregung des Senats mit Schriftsatz vom 18. Mai 2015 den Bescheid dahingehend abgeändert, dass die Ausweisungswirkungen auf die Dauer von sechs Jahren ab Ausreise/Abschiebung befristet werden, woraufhin der durch Teilabhilfe erledigte Verfahrensteil durch Nr. I dieses Beschlusses abgetrennt worden ist.

II.

Die fristgerechten Darlegungen zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung (vgl. § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO) greifen nicht durch, so dass dieser Antrag abzulehnen ist. Durch Schriftsatz vom 16. Juli 2014 (Mittwoch) mittels Fernkopie und durch spätere Schriftsätze sind weitere Darlegungen zur Begründung des Zulassungsantrags vorgetragen worden. Diese Darlegungen sind - ausgenommen diejenigen, mit denen fristgerecht vorgetragene Zulassungsgründe näher erläutert werden - unbeachtlich, da insoweit die durch die Zustellung des mit einer zutreffenden Rechtsmittelbelehrung versehenen Urteils am 15. Mai 2014 in Gang gesetzte Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO versäumt ist (§ 157 Abs. 2 VwGO, § 222 ZPO, §§ 187, 188 BGB). Diese aus prozessualen Gründen unbeachtlichen Darlegungen hätten im Übrigen - wie den nachfolgenden Ausführungen zu entnehmen ist - eine Zulassung der Berufung ebenfalls nicht bewirken können.

1. Der Kläger beruft sich auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Solche Zweifel sind jedoch nicht hinreichend dargelegt.

a) Das Zulassungsantragsvorbringen begründet keine Zweifel daran, dass das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen ist, der im Bundesgebiet als Kind türkischer Arbeitnehmer geborene und deshalb assoziationsberechtigte Kläger (vgl. Art. 7 Abs. 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80) stelle eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit dar (zu diesem Maßstab vgl. EuGH, U.v. 8.12.2011 - C-371/08, „Ziebell“ - Rn. 82 ff., und vom 29.3.2012 - C-7/10 und C-9/10, „Kahveci“ und „Inan“ - Rn. 40; zur Gleichwertigkeit des Begriffs der „hinreichend schweren Gefahr“ in der Bestimmung des Art. 12 RL 2003/109 und des durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80< u. a. U.v. 22.12.2010 - C-303/08, „Bozkurt“ - Slg. 2010, I-0000, Rn. 42, und U.v. 16. 6. 2011 - C-484/07, „Pehlivan“ - Rn. 62 > entwickelten Begriffs der „schwerwiegenden Gefahr“ vgl. das Urteil „Ziebell“, insbesondere Rn. 49, 74 und 80).

aa) Es trifft zwar zu, dass der Kläger nicht wegen Drogendelikten verurteilt worden ist, dass seine Verurteilungen im Zusammenhang mit unerlaubtem Waffenbesitz bereits in den Jahren 2002 und 2003 erfolgt sind und dass er am 26. Juli 2012 zu einer Freiheitsstrafe von „nur“ zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden ist. Hierdurch wird jedoch die behördliche und verwaltungsgerichtliche Annahme einer vom Kläger ausgehenden gegenwärtigen, tatsächlichen und hinreichend schweren Gefahr für die öffentliche Sicherheit nicht ernstlich in Zweifel gezogen. Über das Zulassungsantragsvorbringen hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Kläger seit seiner Volljährigkeit im Jahr 1991 zehnmal rechtskräftig verurteilt worden ist, wobei sich die Schwere der Delikte gesteigert hat, dass die Strafgerichte schon seit der Verurteilung des Klägers vom 19. September 2002 von einer negativen Sozialprognose ausgehen (die am 11.3.2010 ausgesprochene Freiheitsstrafe ist lediglich wegen einer entsprechenden Bitte der - wie sich später ergeben hat: den Pressionen des Klägers ausgesetzten - Geschädigten zur Bewährung ausgesetzt worden), dass es sich insbesondere bei den letzten Verurteilungen um Gewaltdelikte gehandelt hat, die zum Teil mit erheblicher Brutalität (u. a. Schläge, die eine halbe Stunde lang angedauert haben) und unter Gefährdung der Gesundheit des Opfers begangen worden sind, dass der Kläger während laufender Bewährung erneut straffällig geworden ist, dass er insbesondere in letzter Zeit eine hohe Rückfallgeschwindigkeit an den Tag gelegt hat, dass das Verhalten des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht nicht für eine Haltungsänderung spricht und dass die Justizvollzugsanstalt zufolge Nr. 3.2 der Vollzugsplan-Fassung vom 10. März 2015 (wenige Monate vor der Vollverbüßung) Vollzugslockerungen keineswegs nur wegen der ausländerrechtlichen Situation ablehnend gegenübersteht. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der Art der Straftaten des Klägers ist nicht festzustellen, dass die Beklagte den Kläger ohne Grund einem „kriminellen Milieu“ zugeordnet hat.

bb) Eine Entkräftung der Anhaltspunkte für eine Begehung weiterer schwerer Straftaten durch den Kläger, die sich aus seiner Delinquenz ergeben, ist nicht erkennbar.

Es trifft zwar zu, dass der Kläger in der Haft zahlreiche Förderangebote genutzt hat. An mehreren in der Justizvollzugsanstalt angebotenen Maßnahmen, die durch Anforderungen geprägt sind und besondere Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung besitzen, hat er jedoch kein nachhaltiges Interesse gezeigt. Dies betrifft vor allem schulische Maßnahmen und eine Berufsausbildung. An einer mehrstufigen Gewalttherapie nimmt der Kläger zwar seit dem Anfang des Jahres 2013 teil (voraussichtlicher Abschluss: Sommer 2015). Dem Strafvollzugsplan in der Fassung vom 21. August 2014 ist jedoch zu entnehmen, dass er in der Therapie eine Motivation und eine Veränderungsbereitschaft gezeigt hat, die „ausbaufähig“ erscheinen (an anderen Stellen ist von einer „ausreichenden“ Motivation und von „Fortschritten bezüglich seines Problembewusstseins“ die Rede). Er könne sich die theoretischen Inhalte der Therapie gut aneignen, es bestünden aber „erhebliche Bedenken bezüglich der therapeutischen Erreichbarkeit im Sinne einer authentischen intrinsischen Veränderungsbereitschaft“. Die aktuelle Vollzugsplan-Fassung vom 10. März 2015 (zwei Jahre nach Beginn der Therapie und wenige Monate vor deren Abschluss) zeigt insoweit keine Veränderungen auf; auch sie enthält die erwähnten einschränkenden Formulierungen. Bei der Bewertung dieser Stellungnahmen ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass Therapeuten während einer laufenden Therapie erfahrungsgemäß Negativurteile nur äußerst zurückhaltend abgeben, um das Therapieklima nicht zu gefährden (in diesem Sinn interpretiert der Senat auch das dem Klägerschriftsatz vom 8.10.2014 beigegebene Schreiben der JVA vom 11.9.2014). Bei dieser Sachlage kommt es nicht mehr auf die Frage an, inwieweit die Tatsache, dass eine Therapie durchgeführt wird, für sich genommen einen wesentlichen Anhaltspunkt für eine positive Prognose zu liefern vermag. Die (auch in der Fallpraxis des Senats festzustellende) erhebliche Rückfallquote spricht im Übrigen gegen eine solche allgemeine Annahme.

Seine Behauptung, das Therapieprogramm sei „völlig neuartig“ (gemeint: besonders aussichtsreich), hat der Kläger in keiner Weise belegt. Ein tatsachengestützter Vergleich der Therapie des Klägers mit sonstigen Therapieformen ist seinen Ausführungen nicht zu entnehmen. Aus der Darstellung „DOT (deliktorientiertes Training) für Gewalttäter“ ergeben sich keine Besonderheiten; eine Bearbeitung derjenigen Thematik und eine Verfolgung derjenigen Ziele, die in dieser Darstellung aufgeführt sind, sind für jede sinnvolle Gewalttherapie unabdingbar. Seine Ankündigung, über dieses in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Papier hinaus weitere Unterlagen über die Therapie vorzulegen, hat der Kläger lediglich in Form der weiteren Unterlage „Sozialtherapeutische Abteilung für Gewalt- und Sexualstraftäter der JVA A.“ (Anlage zum Klägerschriftsatz vom 23.10.2014) erfüllt, der ebenfalls nichts zu entnehmen ist, was auf Abweichungen seines Therapiekonzepts von anderen sinnvollen und intensiven Gewalttherapien hindeutet. Schließlich sprechen die erwähnten Stellungnahmen über den Verlauf der Therapie des Klägers nicht dafür, dass die bei dem Kläger angewendeten Therapiemaßnahmen die Rückfallgefahr stärker zu mindern geeignet sind als die in anderen Fällen angewendeten.

Der vom Kläger herbeigeführte (seine Schulden erhöhende) Täter-Opfer-Ausgleich kann nicht ohne Berücksichtigung der dadurch erreichten Strafmilderung (vgl. Abschnitt IV des Strafurteils vom 26.7.2012) gewürdigt werden. Dem Hinweis des Klägers, er sei letztmals am 26. Juli 2012 - also vor (nunmehr) annähernd drei Jahren - zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, kommt vor dem Hintergrund des offenen Ausweisungsverfahrens und der Inhaftierung des Klägers bereits vor dieser Verurteilung und seines seitherigen Aufenthalts in Haft keine maßgebliche Bedeutung zu. Es spricht viel dafür, dass der Überlegung des Beklagten, die Gefahr erneuter Rechtsverstöße sei derzeit noch durch die Bedingungen der Haft, die nicht mehr lange gegeben sein werden, erheblich gemindert, im vorliegenden Fall besonderes Gewicht zukommt. Der Kläger hat - trotz der genannten Umstände - Anfang des Jahres 2014 einen Rechtsverstoß begangen und ist deshalb von der Justizvollzugsanstalt disziplinarisch belangt worden. Die Art dieses Rechtsverstoßes (Versuch eines illegalen Geschäftes mit einem Mitgefangenen) deutet ebenso wie der Umstand, dass die von ihm begangenen vier Gewaltstraftaten gegen Frauen (Lebensgefährtin oder ehemalige Lebensgefährtinnen) gerichtet waren, darauf hin, dass vom Kläger eher dann Gefahren ausgehen, wenn er sich in einer Überlegenheits-Situation wähnt, als dann, wenn dies (wie regelmäßig in der Haft) nicht der Fall ist. Die Annahme, der Kläger stelle trotz der Strafverbüßung eine schwere Sicherheitsbedrohung dar, steht nicht in Widerspruch zu dem im Klägerschriftsatz vom 1. Dezember 2014 hervorgehobenen Resozialisierungszweck des Strafvollzugs; sie trägt lediglich der individuell unterschiedlichen Erreichbarkeit durch staatliche Maßnahmen Rechnung.

b) Im Rahmen der Ermessensausübung, die der Ausweisung zugrunde liegt (vgl. S. 5, 6, 7, 10 ff. des streitgegenständlichen Bescheides, welcher hier der Rspr. des BVerwG Rechnung trägt, die die Rspr. des EGMR zu Art. 8 EMRK umsetzt), hat die Beklagte - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt - die privaten Belange des Klägers angemessen berücksichtigt. Dies betrifft sowohl die Bewertung, dass von einer gelebten Eltern-Kind-Beziehung zwischen dem Kläger und seinem Sohn keine Rede sein kann (inwieweit die nunmehr intensiven Bemühungen des Klägers um seinen Sohn die ausländerrechtlichen Wirkungen einer solchen Beziehung zum Hintergrund haben, kann angesichts der früheren Vernachlässigung dieser Beziehung durch den Kläger sowie des Umstandes offenbleiben, dass der Sohn des Klägers - nachvollziehbar angesichts der Gewaltakte des Klägers gegen seine Mutter - lediglich seine Briefe zur Kenntnis nimmt und persönliche Kontakte zu ihm ablehnt), als auch die Bewertung, dass den substantiiert dargelegten Beziehungen zwischen dem (nunmehr 41-jährigen) Kläger und seiner Herkunftsfamilie (die ihn teilweise bei seiner Gewalttätigkeit mental unterstützt und gedeckt hat) kein maßgebliches Gewicht zukommt, sowie die Berücksichtigung des Umstandes, dass der Kläger sich wiederholt (zuletzt - unmittelbar vor seiner Festnahme - etwa ein halbes Jahr lang) in der Türkei aufgehalten hat (vgl. im Einzelnen die Ausführungen in Nr. 3 des Senatsbeschlusses vom 4.2.2014 - 19 CS 13.1317 - betreffend das einstweilige Rechtsschutzverfahren des Klägers).

c) Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung des Klägers und seiner Abschiebung auf nunmehr sechs Jahre (vgl. die durch den Beklagtenschriftsatz vom 18.5.2015 vorgenommene Änderung des Ausweisungsbescheids) ist nicht wegen Missachtung der in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG geregelten Voraussetzungen für eine die Dauer von fünf Jahren überschreitende Sperrfrist rechtswidrig. Vom Kläger geht eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus (vgl. Nr. 1 lit. a). Die Beklagte ist daher bei ihrer Einzelfallabwägung rechtsfehlerfrei vom Vorliegen der Voraussetzungen der zweiten Tatbestandsvariante der erwähnten Bestimmung ausgegangen (zu einer ähnlichen Fallkonstellation vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19/11 - InfAuslR 2012, 397, Rn. 43). Angesichts dessen kommt es nicht mehr auf die Fragen an, welche Fälle die erste Variante der Bestimmung („…wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist…“) erfasst und ob ein solcher Fall hier vorliegt. Nebenbei weist der Senat jedoch darauf hin, dass das vom Kläger in Bezug genommene Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Dezember 2011 (12 B 19.11, Rn. 25 ff.) zum einen die vor allem wegen Art. 6 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie naheliegende Frage übergeht, ob die Rückführungsrichtlinie überhaupt auf Entscheidungen anwendbar ist, die - wie die Ausweisung - die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beenden (hinsichtlich der gegenteiligen Auffassung vgl. VGH Baden-Württemberg, U.v. 10.2.2012 - 11 S 1361/11 - NVwZ-RR 2012, 492; OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 11.3.2012 - 18 A 951/09 - EzAR-NF 19 Nr. 59; Funke-Kaiser in GK AufenthG, Stand 3/2013, § 59 Rn. 262 ff.; Bauer in Renner/Bergmann/Dienelt, AuslR, 10. Aufl. 2013, § 11 AufenthG Rn. 28 ff.), und zum andern entscheidend auf den Umstand abstellt, dass die Behörde in dem von ihm entschiedenen Fall die Sperrfrist in enger Anlehnung an die diesbezüglichen Regelungen der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum AufenthG und ohne Berücksichtigung der in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG geregelten Fünfjahresstufe festgelegt hat, was vorliegend nicht der Fall ist (vgl. die Fristfestlegung unter Berücksichtigung der Einzelfallumstände sowie der Fünfjahresfrist-Regelung in Abschnitt V des streitgegenständlichen Bescheides).

d) Die von der Beklagten ausgesprochene Ausweisung einschließlich der nunmehr festgelegten Sperrfrist von sechs Jahren erfüllt die Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Sie berücksichtigt angemessen die Umstände des Einzelfalls, insbesondere das Privatleben des (wohl assoziationsberechtigten) Klägers im Bundesgebiet seit seiner Geburt, aber auch die von ihm ausgehende erhebliche Gefahr schwerer Straftaten mit Gewaltpotenzial, seinen geringen Grad an Integration in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben im Bundesgebiet, das beschränkte Gewicht seines Familienlebens im Bundesgebiet und seine noch bestehenden Beziehungen zur Türkei.

Der Rechtsprechung, die der Kläger in der Begründung seines Zulassungsantrags in Bezug nimmt, ist nichts Gegenteiliges zu entnehmen. Aus der Entscheidung „Mehemi“ des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (U.v. 26.9.1997 - Rs. 85/1996/704/896 - InfAuslR 1997, 430) ergibt sich bereits deshalb kein Anhaltspunkt für eine Unverhältnismäßigkeit im vorliegenden Fall, weil das Verhalten des hiesigen Klägers noch kurz vor seiner Inhaftierung auf starke Verbindungen zu seinem Heimatland hinweist, während im Fall des Herr Mehemi - der im Übrigen drei Kinder in Frankreich hatte, zu denen er Beziehungen unterhielt, jedoch auf Dauer ausgewiesen worden war (Rn. 27 und 29) - die französische Regierung nicht belegen konnte, dass der Beschwerdeführer auch nur eine einzige Reise in sein Heimatland unternommen hat (Rn. 36). Auch Herr Beldjoudi (EGMR, U.v. 26.3.1992 - Rs. 55/1990/246/317 - InfAuslR 1993,86) - der im Übrigen eine eheliche Lebensgemeinschaft mit einer französischen Staatsangehörigen führte - hatte keine anderen Beziehungen zu Algerien als seine Staatsangehörigkeit; der Gerichtshof ging davon aus, dass er die arabische Sprache nicht versteht (Rn. 77). Herr Moustaquim (EGMR, U.v. 18.2.1991 - Rs. 31/1989/191/291 - InfAuslR 1991, 149) - der im Übrigen erst 21 Jahre alt war, als er ausgewiesen wurde, Delikte nur während einer Zeitspanne von ungefähr 11 Monaten begangen hatte und in den letzten zwei (in Freiheit verbrachten) Jahren vor der Ausweisung nicht straffällig geworden war (Rn. 2 und 44) - war nur zweimal für Urlaubstage in Marokko (Rn. 45). Herr Lamguindaz (EMRK, Bericht an den Ministerausschuss vom 13.10.1992 - Rs. 16152/92 - InfAuslR 1995, 133) - der im Übrigen nur Straftaten geringfügiger Natur sowie ein Drogendelikt begangen hat, für das er nur eine relativ leichte, zur Bewährung ausgesetzte Strafe erhalten hat (Rn. 47) - hat sich nur deshalb mehrere Monate lang in Marokko aufgehalten, weil ihn sein Vater dorthin gebracht, ihm den Pass abgenommen und ihn anschließend verlassen hat, woraufhin er unter erbärmlichen Bedingungen lebte, bis er von seiner Schwester aufgefunden und zurück nach England gebracht wurde. Herr Amrollahi (EGMR, U.v. 11.7.2002 - Rs. 56811/00 - InfAuslR 2004, 180) - der im Übrigen eine Lebensgemeinschaft mit seiner Frau, seiner Tochter und einer Stieftochter (alle dänische Staatsbürgerinnen) führte - ist zwar im Iran aufgewachsen, aber im Vorfeld des Irakkriegs von der iranischen Armee desertiert und ausgereist, woraufhin seine iranische Herkunftsfamilie jeden Kontakt zu ihm abgebrochen hat. Der Forderung des Gerichtshofs in der Rechtssache „Üner“ (EGMR, U.v. 18.10.2006 - 18 Nr. 10/06 - DVBl. 2007, 689), der Dauer des Aufenthalts im Gastland (wegen der regelmäßig hierdurch wachsenden Bindungen zu diesem Land und schwächer werdenden Bindungen zum Herkunftsland) angemessen Rechnung zu tragen, ist das Verwaltungsgericht nachgekommen; im Übrigen hat der Gerichtshof in der letztgenannten Rechtssache keinen Verstoß gegen Art. 8 EMRK festgestellt, obgleich der Beschwerdeführer vorgetragen hatte (ein Bestreiten der Regierung ist der EGMR-Entscheidung nicht zu entnehmen), er sei vor seiner Abschiebung im Jahr 1998 nur ein einziges Mal in die Türkei zurückgekehrt, um an der Beerdigung seiner Großmutter teilzunehmen, spreche von einigen Ausdrücken abgesehen kein Türkisch und habe in der Türkei lediglich einen Onkel, mit dem er keinen Kontakt pflege (Rn. 27). Auch der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 25. Oktober 2000 (24 CS 00.2611) ist nichts für eine Unverhältnismäßigkeit der vorliegenden Ausweisung zu entnehmen. Diese Entscheidung ist in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangen, geht von offenen Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage aus und kommt lediglich aufgrund der Interessenabwägung zu einer Stattgabe (Rn. 11 und 13). Der Verwaltungsgerichtshof hat hier dem Verwaltungsgericht unter anderem eine Prüfung der (vorliegend hinreichend geklärten) Fragen aufgegeben, ob der Antragsteller überhaupt Berührungspunkte zum Land seiner Staatsangehörigkeit hat und dessen Sprache spricht.

2. Die Rechtssache weist auch keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf. Auch insoweit kommt es darauf an, was der Kläger innerhalb offener Frist zur Begründung seines Zulassungsantrags hat darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).

a) Die diesbezüglichen Ausführungen des Klägers betreffend den Resozialisierungseffekt seiner Gewalttherapie decken sich mit dem, was zum Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vorgetragen wird, ohne dass sich insoweit besondere Schwierigkeiten ergeben hätten.

b) Soweit der Kläger allerdings geltend macht, die zum 1. Januar 1997 aufgrund des 6. Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung (BGBl I S. 1626) eingeführte Rechtsmittelbeschränkung (zunächst) auf den Antrag, die Berufung zuzulassen (§§ 124, 124a VwGO), verstoße gegen die Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80, kann dieses Vorbringen schon deshalb keine Berücksichtigung finden, weil es (obwohl schon vorher darlegbar) erstmals mit Schriftsatz vom 16. Juli 2014 dargelegt worden ist, also nach dem Ablauf der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO (vgl. die Ausführungen in Abschnitt II dieser Gründe, vor Nr. 1). Nur nebenbei bemerkt der Senat, dass außerdem die Behauptung des Klägers, im vorliegenden Fall sei nach diesem Fristablauf eine entscheidende Veränderung der Sachlage (eine die Wiederholungsgefahr ausschließende Resozialisierung) eingetreten, nicht zutrifft (vgl. Nr. II.1 lit. a). Schließlich betrifft die Vorschaltung eines Zulassungsverfahrens nicht nur türkische Assoziationsberechtigte, sondern Unionsbürger in gleicher Weise. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union steht der Erlass oder Wegfall von Regelungen, die - wie hier - in gleicher Weise auf türkische Staatsangehörige und auf Unionsangehörige Anwendung finden, nicht in Widerspruch zur Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 - 1 C 20/11 - juris Rn. 34; U.v. 14.5.2013 - 1 C 13/12 - juris Rn. 23). Im Übrigen wäre die Aufrechterhaltung des Berufungsverfahrens ohne Vorschaltung eines Zulassungsverfahrens nur für türkische Staatsangehörige nicht mit dem Besserstellungsverbot des Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl 1972 II S. 385) - ZP - vereinbar, denn nach dieser Vorschrift darf der Türkei in den von diesem Protokoll erfassten Bereichen keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, wie sie die Mitgliedstaaten aufgrund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft sich untereinander einräumen. Da das Zulassungsverfahren auch auf Fälle Anwendung findet, in denen es um den Verlust des Rechts von Unionsbürgern auf Einreise und Aufenthalt geht, kann für türkische Staatsangehörige in deren Ausweisungsverfahren nichts anderes gelten (ebenso BayVGH, B.v. 26.1.2015 - 10 ZB 13.898 - juris). Das Argument, seit der Entscheidung „Ziebell“ des Gerichtshofs (U.v. 8.12.2011 - C-371/08 - juris) gelte für Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger ein anderer (weniger strenger) Maßstab als für Feststellungen des Verlustes der Freizügigkeit daueraufenthaltsberechtigter Unionsbürger, ist nicht geeignet, dem Ansinnen des Klägers den Charakter einer Besserstellung zu nehmen. Das Besserstellungsverbot des Art. 59 ZP bezieht sich auf die jeweilige konkrete Regelung („In den von diesem Protokoll erfassten Bereichen…“) und nicht auf die Bilanz all derjenigen Regelungen, die die Rechtsstellung der jeweiligen Gruppe gestalten (und die der Kläger durch seine Bezugnahme auf die Regelungen betreffend den Zugang zum Berufungsverfahren und betreffend die Ausweisung/Verlustfeststellung ohnehin nur äußerst unvollständig erfasst). Die Voraussetzungen für die Durchführung eines Berufungsverfahrens sind (im Gegensatz zu den Voraussetzungen für Zuzug und Aufenthalt - vgl. hierzu EuGH, U.v. 18.7.2007 - C-325/5, „Derin“ - InfAuslR 2007, 326) für Unionsbürger und für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige gleich. Für die vom Kläger beantragte Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Zulassungsantragsverfahren oder - nach Zulassung der Berufung - im Berufungsverfahren) fehlt daher jeder Anlass. Nach allem kommt es nicht mehr auf die (mit Schriftsatz vom 7.4.2015 erneut vertiefte, von der obergerichtlichen Rechtsprechung jedoch verneinte, vgl. BayVGH, B.v. 26.1.2015, a. a. O., mit weiteren Nachweisen) Frage an, ob die prozessuale Regelung, ein Berufungsverfahren nur nach Zulassung der Berufung durchzuführen, tatsächlich in den Schutzbereich des Art. 13 ARB 1/80 fällt. Auch auf die Frage, ob die Tatsache, dass der Senat in Verfahren über Anträge auf Zulassung der Berufung auf der Grundlage der überzeugenden Ausführungen von Happ (in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 21 ff. unter Hinweis auf § 128 Satz 2 VwGO) auch Entwicklungen nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht berücksichtigt sowie - wenn sie nicht fristgerecht vorgetragen werden konnten - auch Entwicklungen nach dem Ablauf der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO (vgl. insoweit auch BayVGH, B.v. 26.1.2015, a. a. O., Rn. 25), nicht einer Standstill-Verpflichtung genügen würde, kommt es nicht mehr an.

3. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) hat der Kläger nicht ausreichend dargelegt. Eine solche Darlegung setzt die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Rechtsmittelentscheidung erheblichen Rechtsfrage und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll (BVerwG, B.v. 11.1.2001 - 4 B 37/00 - NVwZ 2001, 1398 - st.Rspr. - zur entsprechenden revisionsrechtlichen Vorschrift des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

a) Die Frage, ob im Ausweisungsverfahren über die Frage des Vorliegens einer Wiederholungsgefahr gemäß § 86 Abs. 1 VwGO nur unter Beiziehung psychiatrischen bzw. psychologischen Fachwissens (der Kläger hat die Einholung eines entsprechend Gutachtens sowie die Einvernahme der für ihn in der JVA zuständigen Therapeutin beantragt) entscheiden können, ist nicht ungeklärt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bedarf es zur Einschätzung künftiger Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nur in Ausnahmefällen - etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen - der Einholung einer sachverständigen Äußerung (BVerwG, B.v. 4.5.1990 - 1 B 82.89 - Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 124, v. 14.3.1997 - 1 B 63.97 - Buchholz 402.240 § 45 AuslG 1990 Nr. 10, v. 22.10.2008 - 1 B 5/08 - Juris Rn. 5; vgl. auch U.v. 13.12.2012 - 1 C 20/11 - InfAuslR 2013, 169, Juris, Rn. 22). Der Kläger macht insoweit geltend, sein Therapieprogramm sei „völlig neuartig“ (gemeint: wesentlich aussichtsreicher als andere Therapien), hat dies jedoch in keiner Weise belegt und auch sonst nichts vorgetragen, was auf Abweichungen des bei ihm angewendeten Therapiekonzepts von anderen sinnvollen und intensiven Gewalttherapien hindeutet. Die vorliegenden (aktualisierten) Stellungnahmen über den Verlauf der Therapie des Klägers deuten ebenfalls nicht darauf hin, dass die bei ihm angewendeten Therapiemaßnahmen die Rückfallgefahr stärker mindern als die in anderen Fällen angewendeten (vgl. im einzelnen Nr. II.1 lit. a, bb). Bei dieser Sachlage und angesichts des Fehlens anderweitiger Anhaltspunkte für einen Ausnahmefall ist ein hinreichender Anlass für die Einbeziehung wissenschaftlichen Sachverstandes nicht zu erkennen.

Der Umstand, dass die Ausweisung einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen betrifft und daher den hierfür geltenden unionsrechtlichen Anforderungen genügen muss, führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Gerichtshof der Europäischen Union hebt in ständiger Rechtsprechung - auch hinsichtlich der Frage der Wiederholungsgefahr - die Bedeutung der richterlichen Überzeugungsbildung hervor (vgl. u. a. das Urteil „Ziebell“, a. a. O., das in Rn. 85 detaillierte Vorgaben für die gerichtliche Prüfung der hinreichend schweren Gefahr enthält, jedoch keine Gutachtensverpflichtung, das Urteil „Polat“ v. 4.10.2007 - C-349/06 - InfAuslR 2007, 425, Rn. 39, das Urteil „Tum und Dari“ v. 20.9.2007 - C-16/05 - Rn. 74 sowie das Urteil „Cetinkaya“ v. 11.11.2004 - C-467/02 - InfAuslR 2005, 13, das sich in Rn. 47 mit Tatsachen befasst, die für eine Verminderung der Sicherheitsgefahr nach dem Erlass des Ausweisungsbescheides sprechen, ohne eine Gutachtensverpflichtung zu erwähnen). Der Kläger benennt weder eine unionsrechtliche Regelung noch eine Entscheidung des Gerichtshofs noch eine sonstige Entscheidung oder Literaturäußerung, in der die Auffassung vertreten wird, das Gericht sei auch in Fällen ohne Besonderheiten nicht befugt, die Frage der Wiederholungsgefahr ohne Zuziehung wissenschaftlichen Sachverstandes zu beurteilen. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs, der zufolge Ausnahmen von Freizügigkeitsrechten - wie etwa die vorliegend inmitten stehende Bestimmung des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 - eng auszulegen sind, bildet angesichts ihrer Zugehörigkeit zum materiellen Unionsrecht keinen Anhaltspunkt für eine Fragwürdigkeit des (auch den Entscheidungen des Gerichtshofs zu Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger zu entnehmenden) Verfahrensgrundsatzes, demzufolge bei der Urteilsfindung besondere Sachkunde nur dann zuzuziehen ist, wenn die Sachkunde des Gerichts nicht ausreicht. Es kann offenbleiben, unter welchen Voraussetzungen der besondere Zuschnitt einer Therapie die Zuziehung wissenschaftlichen Sachverstandes erforderlich macht, denn von einem irgendwie ungewöhnlich gearteten Therapiekonzept kann angesichts der insoweit unsubstantiierten Behauptungen des Klägers nicht ausgegangen werden. Die Chancen und Wirksamkeitseinschränkungen von Resozialisierungstherapien sind dem Senat aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt, so dass er auch für diesen Prognoseaspekt hinreichend sachkundig ist. Angesichts des Fehlens einer ungeklärten Frage des Unionsrechts ist die Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV weder geboten noch zulässig.

b) Nachdem der Kläger die Frage, ob die Einführung der Zulassungsberufung gegen die Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 verstößt, erst nach dem Ablauf der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO aufgeworfen hat, scheidet insoweit eine Zulassung der Berufung auch unter dem Gesichtspunkt einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache aus (vgl. die Ausführungen in Abschnitt II vor Nr. 1 dieser Gründe sowie in Nr. II.2 lit. b). Die vom Kläger aufgeworfenen Frage, eine Unionsrechtswidrigkeit der Zulassungsberufung wäre allerdings auch dann, wenn die genannte Frist nicht versäumt wäre, aus mehreren Gründen nicht geeignet, eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache zu begründen (vgl. Nr. 2 lit. b), weshalb auch insoweit die Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV weder geboten noch zulässig ist.

4. Das Urteil des Verwaltungsgerichts leidet auch nicht an einem Verfahrensmangel, der der Beurteilung des Verwaltungsgerichtshofs unterliegt (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).

Das Verwaltungsgericht ist nicht genötigt gewesen, den ihm vorliegenden Führungsbericht vom 18. Januar 2013 zu aktualisieren. Dieser ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht wenig mehr als ein Jahr alt gewesen; das Vorbringen der Klägerseite ist - wie dargelegt - nicht geeignet gewesen, eine wesentliche Veränderung der im Führungsbericht vom 18. Januar 2013 niedergelegten Erkenntnislage darzutun. Die in das Zulassungsantragsverfahren eingeführten Fassungen des Strafvollzugsplans vom 21. August 2014 und vom 10. März 2015 bestätigen die Einschätzung des Verwaltungsgerichts (vgl. Nr. II.1 lit. a, bb). Das Verwaltungsgericht hat auch nicht dadurch gegen seine Aufklärungspflicht verstoßen, dass es die Beweisanträge des Klägers betreffend eine Vernehmung seiner Therapeutin und die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis dafür, dass aufgrund der Entwicklung des Klägers während der Gewalttherapie eine Wiederholungsgefahr nicht mehr besteht, abgelehnt hat. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass keine Ausnahmesituation vorliegt, in der es selbst für eine diesbezügliche Überzeugungsbildung nicht ausreichend sachkundig ist (vgl. Nr. II.1 lit. a, bb sowie Nr. II.3 lit. a).

III.

Wegen des Grundsatzes der einheitlichen Kostenentscheidung ist diese sowie die Streitwertfestsetzung der instanzabschließenden Entscheidung im Verfahren 19 ZB 15.1083 vorzubehalten.

Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil (mit der sich aus Nr. I dieses Beschlusses ergebenden Einschränkung) rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

ra.de-Urteilsbesprechung zu Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 21. Mai 2015 - 19 ZB 14.1181

Urteilsbesprechung schreiben

0 Urteilsbesprechungen zu Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 21. Mai 2015 - 19 ZB 14.1181

Referenzen - Gesetze

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 21. Mai 2015 - 19 ZB 14.1181 zitiert 12 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 124


(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird. (2) Die B

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 132


(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulas

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 124a


(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nic

Gesetz


Aufenthaltsgesetz - AufenthG

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 11 Einreise- und Aufenthaltsverbot


(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen n

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 86


(1) Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. (2) Ein in der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisantrag ka

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 187 Fristbeginn


(1) Ist für den Anfang einer Frist ein Ereignis oder ein in den Lauf eines Tages fallender Zeitpunkt maßgebend, so wird bei der Berechnung der Frist der Tag nicht mitgerechnet, in welchen das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt. (2) Ist der Beginn

Zivilprozessordnung - ZPO | § 222 Fristberechnung


(1) Für die Berechnung der Fristen gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs. (2) Fällt das Ende einer Frist auf einen Sonntag, einen allgemeinen Feiertag oder einen Sonnabend, so endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages.

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 188 Fristende


(1) Eine nach Tagen bestimmte Frist endigt mit dem Ablauf des letzten Tages der Frist. (2) Eine Frist, die nach Wochen, nach Monaten oder nach einem mehrere Monate umfassenden Zeitraum - Jahr, halbes Jahr, Vierteljahr - bestimmt ist, endigt im Fa

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 128


Das Oberverwaltungsgericht prüft den Streitfall innerhalb des Berufungsantrags im gleichen Umfang wie das Verwaltungsgericht. Es berücksichtigt auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel.

Referenzen - Urteile

Urteil einreichen

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 21. Mai 2015 - 19 ZB 14.1181 zitiert oder wird zitiert von 5 Urteil(en).

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 21. Mai 2015 - 19 ZB 14.1181 zitiert 5 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 26. Jan. 2015 - 10 ZB 13.898

bei uns veröffentlicht am 26.01.2015

Tenor I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt. II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt. Gründ

Bundesverwaltungsgericht Urteil, 14. Mai 2013 - 1 C 13/12

bei uns veröffentlicht am 14.05.2013

Tatbestand 1 Der im Jahr 1974 in Deutschland geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine Ausweisung.

Bundesverwaltungsgericht Urteil, 13. Dez. 2012 - 1 C 20/11

bei uns veröffentlicht am 13.12.2012

Tatbestand 1 Der im Jahr 1981 in Deutschland geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine unbefristete Ausweisung.

Bundesverwaltungsgericht Urteil, 10. Juli 2012 - 1 C 19/11

bei uns veröffentlicht am 10.07.2012

Tatbestand 1 Der im Jahr 1964 geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine unbefristete Ausweisung.

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 10. Feb. 2012 - 11 S 1361/11

bei uns veröffentlicht am 10.02.2012

Tenor Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28. März 2011 – 6 K 2480/10 – wird zurückgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.Die Revision wird zugelassen. Tatbestand   1 Der am

Referenzen

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

(1) Für die Berechnung der Fristen gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs.

(2) Fällt das Ende einer Frist auf einen Sonntag, einen allgemeinen Feiertag oder einen Sonnabend, so endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages.

(3) Bei der Berechnung einer Frist, die nach Stunden bestimmt ist, werden Sonntage, allgemeine Feiertage und Sonnabende nicht mitgerechnet.

(1) Ist für den Anfang einer Frist ein Ereignis oder ein in den Lauf eines Tages fallender Zeitpunkt maßgebend, so wird bei der Berechnung der Frist der Tag nicht mitgerechnet, in welchen das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt.

(2) Ist der Beginn eines Tages der für den Anfang einer Frist maßgebende Zeitpunkt, so wird dieser Tag bei der Berechnung der Frist mitgerechnet. Das Gleiche gilt von dem Tage der Geburt bei der Berechnung des Lebensalters.

(1) Eine nach Tagen bestimmte Frist endigt mit dem Ablauf des letzten Tages der Frist.

(2) Eine Frist, die nach Wochen, nach Monaten oder nach einem mehrere Monate umfassenden Zeitraum - Jahr, halbes Jahr, Vierteljahr - bestimmt ist, endigt im Falle des § 187 Abs. 1 mit dem Ablauf desjenigen Tages der letzten Woche oder des letzten Monats, welcher durch seine Benennung oder seine Zahl dem Tage entspricht, in den das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt, im Falle des § 187 Abs. 2 mit dem Ablauf desjenigen Tages der letzten Woche oder des letzten Monats, welcher dem Tage vorhergeht, der durch seine Benennung oder seine Zahl dem Anfangstag der Frist entspricht.

(3) Fehlt bei einer nach Monaten bestimmten Frist in dem letzten Monat der für ihren Ablauf maßgebende Tag, so endigt die Frist mit dem Ablauf des letzten Tages dieses Monats.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

Tatbestand

1

Der im Jahr 1964 geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine unbefristete Ausweisung.

2

Der Kläger reiste 1976 in das Bundesgebiet zu seinen Eltern ein. Seine Mutter war von 1969 bis 1982 als Arbeitnehmerin beschäftigt. Nach dem Besuch der Hauptschule schloss er eine Lehre als Elektrokaufmann ab. Im Dezember 1987 erhielt er eine Aufenthaltsberechtigung. Aus der im März 1988 geschlossenen Ehe mit einer türkischen Staatsangehörigen sind zwei Töchter hervorgegangen. Die Ehe wurde mittlerweile geschieden.

3

Der Kläger ist mehrfach strafrechtlich aufgefallen: Wegen Vergewaltigung seiner damaligen Ehefrau wurde er im November 2000 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung verurteilt. Das Landgericht Krefeld verhängte gegen ihn im Oktober 2005 eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 11 Fällen und Körperverletzung. Dem Strafurteil ist zu entnehmen, dass der Kläger ab Januar 2004 Zeiten berufsbedingter Abwesenheit seiner Ehefrau zur Vornahme sexueller Handlungen an seiner älteren Tochter ausnutzte. Als er bemerkte, dass diese trotz des elterlichen Verbots Kontakt zu einem Jungen hatte, schlug er sie mit der Hand und der Faust ins Gesicht.

4

Der Beklagte wies den Kläger mit Bescheid vom 2. Mai 2006 aus und drohte ihm für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Über die Ausweisung des assoziationsberechtigten Klägers sei im Ermessenswege zu entscheiden. Wegen der als Niederlassungserlaubnis fortgeltenden Aufenthaltsberechtigung genieße dieser besonderen Ausweisungsschutz, so dass er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden könne. Diese lägen in spezialpräventiver Ausprägung vor, denn der Schutz von Kindern vor Sexualdelikten und gewalttätigen Übergriffen sei eine überragend wichtige Aufgabe der Gemeinschaft und berühre ein Grundinteresse der Gesellschaft. Die den Ausweisungsanlass bildende Tat wiege schwer; besonders fielen die Ausnutzung der Vertrauensstellung, die Wehrlosigkeit des Opfers und die Intensität der Tatbegehung ins Gewicht. Angesichts der Gesamtpersönlichkeit des Klägers und seines bisherigen Verhaltens bestehe eine hohe Wiederholungsgefahr. Er sei einschlägig vorbestraft und habe weder Einsicht in das begangene Unrecht gezeigt noch seien eine Aufarbeitung der Geschehnisse und der Versuch einer Überwindung seiner Neigungen erkennbar. Trotz Verwurzelung in den hiesigen Verhältnissen sowie familiärer Bindungen sei die Ausweisung angesichts der künftig vom Kläger ausgehenden Gefahren für elementare Rechtsgüter auch mit Blick auf Art. 8 EMRK gerechtfertigt. Die Ausweisung werde zunächst auf unbefristete Zeit ausgesprochen, da über eine Befristung erst nach positiven Veränderungen in der Person des Klägers entschieden werden könne. Den dagegen erhobenen Widerspruch wies die Bezirksregierung Düsseldorf am 25. August 2006 zurück.

5

Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 16. Januar 2007 ab. Die auf § 55 AufenthG und Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 gestützte Ermessensausweisung sei nicht zu beanstanden, weil der weitere Aufenthalt des Klägers eine tatsächliche und hinreichend schwere, das Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefährdung begründe. Die spezialpräventive Ausweisung stütze sich nicht allein auf die strafrechtliche Verurteilung. Vielmehr bestünden Anhaltspunkte dafür, dass eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch neue Verfehlungen des Klägers drohe, wenn er zu seiner Familie und damit auch zu seiner jüngeren minderjährigen Tochter in das Umfeld komme, das seine Straftaten ermöglicht habe. Art. 8 EMRK und Art. 6 GG seien nicht verletzt, da bei der Abwägung die Art und Schwere der begangenen Straftaten sowie die Wiederholungsgefahr erheblich zulasten des Klägers ins Gewicht fielen.

6

Während des Berufungsverfahrens hat die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 7. März 2008 die Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe wegen erhöhter Rückfallgefährdung des Klägers abgelehnt. Die dagegen erhobene sofortige Beschwerde hat das Oberlandesgericht Düsseldorf mit Beschluss vom 13. Mai 2008 verworfen.

7

Mit Beschluss vom 5. September 2008 hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat sich die Begründung des Verwaltungsgerichts zu eigen gemacht und darüber hinaus ausgeführt, dass das Ausweisungsverfahren nach Durchführung des Widerspruchsverfahrens nicht zu beanstanden sei. Die Ausweisung sei auch materiell rechtmäßig, denn die Gefahrenprognose habe - bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts - weiterhin Bestand. Der Kläger sei in erhöhtem Maße rückfallgefährdet. Dies verdeutlichten die Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer sowie des Oberlandesgerichts Düsseldorf.

8

Auf die Revision des Klägers hat der Senat das Verfahren mit Beschluss vom 25. August 2009 - BVerwG 1 C 25.08 - (Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 53) ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) die Frage vorgelegt, ob sich der Schutz vor Ausweisung gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zugunsten eines türkischen Staatsangehörigen, der eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 gegenüber dem Mitgliedstaat besitzt, in dem er seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren gehabt hat, nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG richtet. Der EuGH hat die Frage mit Urteil vom 8. Dezember 2011 - Rs. C-371/08 - (Ziebell) in einem Parallelverfahren verneint und entschieden, dass Art. 14 ARB 1/80 einer Ausweisung nicht entgegensteht, sofern das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats darstellt und die Maßnahme für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Der Senat hat daraufhin mit Beschluss vom 20. Dezember 2011 den Vorlagebeschluss aufgehoben.

9

Der Kläger rügt mit der Revision eine Verletzung des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG (Vier-Augen-Prinzip), das nach der Stand-Still-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 weiter anzuwenden sei. Die Befassung der Widerspruchsbehörde im Nachgang zur Ausweisung genüge dem nicht. Bei der Gefahrenprognose seien auch nach der letzten Behördenentscheidung eingetretene Veränderungen zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, der sich nach der Entlassung aus der Strafhaft im September 2009 einer psychotherapeutischen Behandlung unterzogen und straffrei geführt habe. Klärungsbedürftig sei, was der EuGH in der Ziebell-Entscheidung mit der Schranke der Unerlässlichkeit der Ausweisung meine. Im Übrigen verstoße die unbefristete Ausweisung gegen das Übermaßverbot sowie Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Der Kläger sei faktischer Inländer, da er sich wirtschaftlich und sozial integriert habe. Schließlich verletze die Ausweisung Art. 24 Abs. 3 der Grundrechte-Charta. Hilfsweise begehrt der Kläger im Revisionsverfahren, die Wirkungen der Ausweisung mit sofortiger Wirkung zu befristen. Er habe einen Befristungsanspruch aus der Rückführungsrichtlinie sowie § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG i.d.F. des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011.

10

Der Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung. Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren beteiligt und hält die Revision für unbegründet.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision des Klägers hat nur in geringem Umfang Erfolg. Das Berufungsgericht hat ohne Verletzung revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) die Ausweisung (1.) und die Abschiebungsandrohung (3.) als rechtmäßig angesehen. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG i.d.F. des während des Revisionsverfahrens in Kraft getretenen Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 ist der Beklagte jedoch zu verpflichten, die in Satz 1 und 2 der Vorschrift genannten Wirkungen der Ausweisung auf die Dauer von sieben Jahren zu befristen (2.).

12

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung, des Befristungsbegehrens und der noch nicht vollzogenen Abschiebungsandrohung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts, hier also des Berufungsgerichts am 5. September 2008 (Urteil vom 15. November 2007 - BVerwG 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20 Rn. 12 für die Ausweisung; Urteil vom 22. März 2012 - BVerwG 1 C 3.11 - Rn. 13 - zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE vorgesehen - für die Abschiebungsandrohung). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind allerdings zu beachten, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (Urteil vom 11. Januar 2011 - BVerwG 1 C 1.10 - BVerwGE 138, 371 Rn. 10 m.w.N.). Maßgeblich sind deshalb die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dezember 2011 (BGBl I S. 3044). Damit sind insbesondere auch die Änderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) - im Folgenden: Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 - zu beachten.

13

1. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig.

14

1.1 Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 55 Abs. 1, § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 (ANBA 1981, 4 = InfAuslR 1982, 33) - ARB 1/80 -. Denn der Kläger besitzt eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80. Er ist im Alter von 12 Jahren zum Zweck der Familienzusammenführung erlaubt in das Bundesgebiet eingereist. Die Vorinstanzen haben festgestellt, dass seine Mutter von 1969 bis 1982 dem regulären Arbeitsmarkt angehört hat. Der Kläger hat bei seinen Eltern gelebt und die Mindestaufenthaltszeiten des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erfüllt. Nach Abschluss der Lehre zum Elektrokaufmann greift auch Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 zu seinen Gunsten. Demzufolge kann der Kläger gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt und die Maßnahme für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - Rs. C-371/08, Ziebell - NVwZ 2012, 422). Das ist hier der Fall. Damit liegen auch schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i.S.d. § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vor.

15

1.2 Der Senat hat bereits in dem Vorlagebeschluss vom 25. August 2009 - BVerwG 1 C 25.08 - (Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 53 Rn. 21) darauf hingewiesen, dass die Vergewaltigung der Ehefrau und der mehrfache sexuelle Missbrauch der älteren Tochter einen Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht bilden. Das strafrechtlich geahndete persönliche Verhalten des Klägers begründet eine - über die mit jedem Rechtsverstoß verbundene Störung der öffentlichen Ordnung hinausgehende - tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft. Die betroffenen Schutzgüter der sexuellen Selbstbestimmung und der körperlichen Integrität nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen sehr hohen Rang ein und lösen - insbesondere bei sexuellem Missbrauch von Minderjährigen - staatliche Schutzpflichten aus, die sich auch gegen die Eltern richten.

16

In dem Vorlagebeschluss (a.a.O. Rn. 22) hat der Senat des Weiteren ausgeführt, dass bei bedrohten Rechtsgütern mit einer hervorgehobenen Bedeutung für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr eher geringere Anforderungen gelten (ebenso Urteile vom 2. September 2009 - BVerwG 1 C 2.09 - Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 54 Rn. 17 und vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 <305 f.>). An diesem differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung Kritik geäußert worden, da er dem Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten und der daher gebotenen engen Auslegung der unionsrechtlichen Rechtsgrundlagen für die Aufenthaltsbeendigung als ultima ratio nicht gerecht werde (VGH Mannheim, Urteile vom 4. Mai 2011 - 11 S 207/11 - NVwZ 2011, 1210 und vom 10. Februar 2012 - 11 S 1361/11 - NVwZ-RR 2012, 492). Dem vermag der Senat schon deshalb nicht zu folgen, da jede sicherheitsrechtliche Gefahrenprognose nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts eine Korrelation aus Eintrittswahrscheinlichkeit und (möglichem) Schadensausmaß ist. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (Urteile vom 6. September 1974 - BVerwG 1 C 17.73 - BVerwGE 47, 31 <40>; vom 17. März 1981 - BVerwG 1 C 74.76 - BVerwGE 62, 36 <39> und vom 3. Juli 2002 - BVerwG 6 CN 8.01 - BVerwGE 116, 347 <356>). Auch die den Gerichten der Mitgliedstaaten obliegende und auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O.), kann im Hinblick auf die erforderliche Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts den Rang des bedrohten Rechtsguts nicht außer Acht lassen, denn dieser bestimmt die mögliche Schadenshöhe. Das bedeutet aber nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit eine Wiederholungsgefahr begründet. Der Senat hat schon zu § 12 Abs. 3 AufenthG/EWG entschieden, dass im Hinblick auf die Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit keine zu geringen Anforderungen gestellt werden dürfen (Urteil vom 27. Oktober 1978 - BVerwG 1 C 91.76 - BVerwGE 57, 61 <65>).

17

Diesen Maßgaben genügt die von dem Beklagten gestellte und von den Vorinstanzen bestätigte Prognose der konkreten Wiederholungsgefahr beim Kläger. Beklagter und Verwaltungsgericht haben die Tatumstände, die Persönlichkeitsstruktur des Klägers, bei dem Einsicht, Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Geschehenen fehlen, sowie die mangelnde Überwindung seiner Neigungen durch therapeutische Unterstützung umfassend gewürdigt. Das Berufungsgericht hat sich das zu eigen gemacht. Darüber hinaus hat es darauf abgestellt, dass die Strafvollstreckungskammer wegen der erhöhten Rückfallgefährdung des Klägers die Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung abgelehnt und die Justizvollzugsanstalt sich dahingehend geäußert hat, dass bereits eine Gewährung von Hafturlaub nicht kalkulierbare Sicherheitsrisiken berge. Auf der Grundlage dieser das Revisionsgericht bindenden tatrichterlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) zur erhöhten Rückfallgefährdung des Klägers ist auch nicht ansatzweise zu erkennen, dass das Berufungsgericht seiner Prognose zulasten des Klägers einen zu niedrigen und damit unzutreffenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt hat. Die ausführliche Würdigung der Persönlichkeit des Klägers und die aus konkreten Umständen abgeleitete Wiederholungsgefahr belegen, dass der Beklagte nicht allein die strafrechtliche Verurteilung zum Anlass für die ausschließlich spezialpräventiv motivierte Ausweisung genommen, sondern die zukünftig vom Kläger ausgehende Gefahr in den Blick genommen hat.

18

Entgegen der Auffassung des Klägers rechtfertigt die Zeitspanne, die infolge der Aussetzung des Verfahrens und der Vorlage an den EuGH zwischen der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts und der Verhandlung vor dem Senat verstrichen ist, weder die Berücksichtigung der von ihm vorgetragenen neuen tatsächlichen Umstände im Revisionsverfahren noch eine Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Das Bundesverwaltungsgericht ist - abgesehen von Fällen begründeter Verfahrensrügen - entsprechend seiner vornehmlich auf die Rechtsprüfung beschränkten Aufgabenstellung nach § 137 Abs. 2 VwGO an die vom Berufungsgericht in der angefochtenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden. Diese das Rechtsmittel der Revision kennzeichnende Beschränkung führt dazu, dass das Revisionsgericht den Streitfall nicht in gleichem Umfang wie das Berufungsgericht prüft und dass es deshalb - im Gegensatz zum Berufungsgericht (§ 128 VwGO) - neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel nicht berücksichtigt (Urteil vom 3. Juni 1977 - BVerwG 4 C 37.75 - BVerwGE 54, 73 <75>). Dies schließt auch eine Zurückverweisung der Sache nur wegen nachträglicher Veränderung des entscheidungserheblichen Sachverhalts grundsätzlich aus. Damit soll gleichzeitig der Gefahr einer "Endlosigkeit" des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vorgebeugt und verhindert werden, dass einer in rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstandenden Berufungsentscheidung nachträglich die Grundlage entzogen wird (Urteile vom 28. Februar 1984 - BVerwG 9 C 981.81 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 19 S. 48<51 f.> und vom 20. Oktober 1992 - BVerwG 9 C 77.91 - BVerwGE 91, 104 <105 f.>).

19

Die in § 137 Abs. 2 VwGO enthaltene revisionsrechtliche Sperre für die Berücksichtigung neuer tatsächlicher Umstände wird nicht dadurch überwunden, dass Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen das Vorliegen einer gegenwärtigen, d.h. aktuellen Gefahr verlangt (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 80, 82 und insbesondere Rn. 84). Damit wird der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sachlage angesprochen, der infolge der der Verwaltungsgerichtsordnung zu entnehmenden Trennung zwischen Tatsacheninstanzen und Revisionsinstanz nur für Entscheidungen der Tatsachengerichte maßgeblich ist. Denn nur ihnen obliegt gemäß § 86 Abs. 1 und 2, §§ 108 und 128 VwGO die Erforschung des Sachverhalts und die Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen im Wege freier richterlicher Beweiswürdigung. Diese Trennung der Funktionen von Tatsachen- und Rechtsinstanz wird durch das Unionsrecht nicht modifiziert, da es nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich Aufgabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten ist, das gerichtliche Verfahrensrecht auch insoweit zu regeln, als es den Schutz von aus dem Unionsrecht erwachsenden individuellen Rechten gewährleisten soll. Dabei dürfen die prozessrechtlichen Regelungen jedoch nicht weniger günstig ausgestaltet sein als bei entsprechenden, nur auf nationales Recht gestützten Rechtsbehelfen (Äquivalenzgrundsatz). Zudem darf nach dem Effektivitätsgrundsatz die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden (EuGH, Urteile vom 12. Februar 2008 - Rs. C-2/06, Kempter - Slg. 2008, I-411 Rn. 57 und vom 10. April 2003 - Rs. C-276/01, Steffensen - Slg. 2003, I-3735 Rn. 60 ff. - jeweils m.w.N.). Beiden Grundsätzen wird die Bindung des Revisionsgerichts aus § 137 Abs. 2 VwGO auch in der vorliegenden Fallkonstellation gerecht. Die Eröffnung der auf eine reine Rechtskontrolle beschränkten dritten Instanz widerspricht auch nicht dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf aus Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh). Denn der dort niedergelegte Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes eröffnet dem Einzelnen den Zugang zu einem Gericht und nicht zu mehreren Gerichtsinstanzen (EuGH, Urteil vom 28. Juli 2011 - Rs. C-69/10, Samba Diouf - NVwZ 2011, 1380 Rn. 69). Er verlangt nicht, dass ein nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats eröffnetes Rechtsmittel wie die Revision eine Überprüfung der Tatsachen auf aktuellem Sachstand ermöglicht. Im Übrigen steht dem Kläger im Hinblick auf nach der Berufungsentscheidung eingetretene Umstände, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der von ihm ausgehenden Gefahr mit sich bringen können, die Möglichkeit zur Beantragung einer Verkürzung der von der Ausländerbehörde gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 - 5 AufenthG bereits mit der Ausweisung festzusetzenden Frist offen (dazu unter 2.).

20

1.3 Da der Kläger ein assoziationsrechtlich begründetes Aufenthaltsrecht besitzt, darf er nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Bei deren gerichtlicher Überprüfung ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen (EuGH, Urteil vom Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 84; so bereits Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 - BVerwGE 121, 315 <320 f.>). Die Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde über den Erlass einer Ausweisung erfordert eine sachgerechte Abwägung der öffentlichen Interessen an der Ausreise mit den privaten Interessen an einem weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet. Zugunsten des Ausländers sind die Gründe für einen besonderen Ausweisungsschutz (§ 56 AufenthG) sowie die Dauer seines rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet zu berücksichtigen. Außerdem sind die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, in die Abwägung einzustellen (§ 55 Abs. 3 AufenthG). Die von Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange auf Achtung des Privat- und Familienlebens sind dabei entsprechend ihrem Gewicht und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der Gesamtabwägung zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere bei im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen Ausländern, zumal wenn sie über keine Bindungen an das Land ihrer Staatsangehörigkeit verfügen.

21

Mit Blick auf diese Vorgaben hat der Senat bereits im Vorlagebeschluss vom 25. August 2009 (a.a.O. Rn. 24) ausgeführt, dass die Ermessensausübung des Beklagten nicht zu beanstanden ist. Die gesetzlichen Grenzen des Ermessens werden angesichts der vom Kläger ausgehenden konkreten Gefahr für die hochrangigen Rechtsgüter der sexuellen Selbstbestimmung sowie der körperlichen Integrität von Frauen in seiner Umgebung nicht überschritten. Es begegnet keinen Bedenken, dass der Beklagte das durch den Rechtsgüterschutz geprägte und durch grundrechtliche Schutzpflichten zusätzlich verstärkte öffentliche Interesse daran, den Aufenthalt des Klägers zu beenden, höher gewichtet hat als dessen Interesse an einem Verbleib in Deutschland. Zwar schlägt sein über dreißigjähriger rechtmäßiger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland erheblich zu seinen Gunsten zu Buche. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass er über ausreichende persönliche Bindungen in die Türkei verfügt, so dass ihm die Ausreise dorthin zumutbar ist. Der Schutz des Familienlebens und der elterlichen Sorge genießt hohe Bedeutung, verliert aber an Gewicht, wenn man das Kindeswohl der minderjährigen Tochter mitberücksichtigt, so dass die Aufenthaltsbeendigung auch im Hinblick auf Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 24 Abs. 3 der GRCh gerechtfertigt ist. In der Gesamtabwägung aller gegenläufigen Belange ist die Ausweisung verhältnismäßig und "unerlässlich" im Sinne der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 86). Denn mit diesem Begriff hat der Gerichtshof lediglich die gebotene Abwägung der öffentlichen mit den privaten Interessen des Betroffenen, d.h. dessen tatsächlich vorliegende Integrationsfaktoren, im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angesprochen (ebenso VGH Mannheim, Urteil vom 10. Februar 2012 - 11 S 1361/11 - NVwZ-RR 2012, 492).

22

1.4 Die weiteren Rügen der Revision sind unbegründet; insbesondere ist das Ausweisungsverfahren fehlerfrei durchgeführt worden. Zwar war das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene "Vier-Augen-Prinzip" auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige zu übertragen (Urteil vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217 <221 f.> im Anschluss an EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005 - Rs. C-136/03, Dörr und Ünal - Slg. 2005, I-4759 = NVwZ 2006, 72). In dem hier vorliegenden Fall hat der Beklagte den angefochtenen Bescheid aber am 2. Mai 2006 und damit erst nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG zum 30. April 2006 (Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG) erlassen. Zu diesem Zeitpunkt galt Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr; stattdessen ist nunmehr Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG als unionsrechtlicher Bezugsrahmen für die Anwendung des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 heranzuziehen (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 79). Nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG steht langfristig Aufenthaltsberechtigten zur Überprüfung einer Ausweisung der Rechtsweg offen; die Beteiligung einer unabhängigen Stelle im Ausweisungsverfahren zur Prüfung der Zweckmäßigkeit der Maßnahme ist nicht vorgeschrieben.

23

Im Übrigen hat der Gerichtshof vor Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG die Anwendung des "Vier-Augen-Prinzips" auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige damit begründet, dass die im Rahmen von Art. 48 EGV eingeräumten Rechtspositionen so weit wie möglich auf assoziationsberechtigte türkische Arbeitnehmer übertragen werden müssen. Um effektiv zu sein, müssten diese (materiellen) Rechte von den türkischen Staatsangehörigen vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können. Zur Gewährleistung der Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes sei es unabdingbar, ihnen die Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden. Daher müsse es ihnen ermöglicht werden, sich u.a. auf Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG zu berufen, da die Verfahrensgarantien untrennbar mit den materiellen subjektiven Rechten verbunden seien, auf die sie sich beziehen (EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005 a.a.O. Rn. 62 und 67). Da Ausgangspunkt der Betrachtung des Gerichtshofs die Verfahrensgarantien sind, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden, erweist sich seine Rechtsprechung zur Übertragung auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige schon im Ansatz offen für Fälle von Rechtsänderungen, die die Stellung der Unionsbürger betreffen. Für diese gewährleistet Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG gegen Entscheidungen, die aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung getroffen werden, einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde. Im Rechtsbehelfsverfahren sind nach Art. 31 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände zu überprüfen, auf denen die Entscheidung beruht. Nach Satz 2 gewährleistet das Rechtsbehelfsverfahren, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG nicht unverhältnismäßig ist. Demzufolge gebietet Unionsrecht bei Ausweisungen von Unionsbürgern keine behördliche Kontrolle mehr nach dem "Vier-Augen-Prinzip". Dann können assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nach der dynamisch angelegten Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Übertragung von Rechten auf diese Gruppe keine bessere verfahrensrechtliche Rechtsstellung beanspruchen.

24

Demgegenüber beruft sich der Kläger auf die Stillhalteklauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl 1972 II S. 385) - ZP. Gemäß Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Gemäß Art. 41 Abs. 1 ZP werden die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen. Aus diesen Stand-Still-Klauseln ergibt sich nach Auffassung des Klägers, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG bei der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger weiterhin anzuwenden sei. Dem folgt der Senat nicht.

25

Gegen die Auffassung des Klägers spricht bereits, dass Art. 13 ARB 1/80 seinem Wortlaut nach nur die Mitgliedstaaten, nicht aber die Europäische Union verpflichtet. Art. 41 Abs. 1 ZP betrifft sachlich nur Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs, nicht aber die der Arbeitnehmerfreizügigkeit zuzurechnende aufenthaltsrechtliche Stellung aus Art. 7 ARB 1/80. Des Weiteren erscheint fraglich, ob die auf den Zugang zum Arbeits- bzw. Binnenmarkt zugeschnittenen Stand-Still-Klauseln überhaupt Verfahrensregelungen bei der Aufenthaltsbeendigung erfassen (vgl. Urteil vom 30. April 2009 - BVerwG 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 Rn. 20 zu den gesetzlichen Erlöschenstatbeständen für Aufenthaltstitel) und ob die Aufhebung des "Vier-Augen-Prinzips" mit Blick auf die gerichtliche Überprüfbarkeit nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG eine merkliche Verschlechterung der Rechtsposition darstellt. Das kann aber dahinstehen, da die weitere Anwendung des Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige selbst bei Annahme einer rechtserheblichen Verschlechterung gegen Art. 59 ZP verstoßen würde. Nach dieser Vorschrift darf der Türkei in den von diesem Protokoll erfassten Bereichen keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander aufgrund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft einräumen. Das wäre aber bei weiterer Anwendung des "Vier-Augen-Prinzips" im Vergleich zu den Verfahrensrechten von Unionsbürgern aus Art. 31 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/38/EG - wie oben dargelegt - der Fall.

26

Im Übrigen entspricht das im vorliegenden Fall durchgeführte Widerspruchsverfahren nach §§ 68 ff. VwGO den Anforderungen der in Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltenen Verfahrensgarantien (Urteil vom 13. September 2005 a.a.O. S. 221 f.). An dieser Rechtsprechung hält der Senat mangels durchgreifender neuer Argumente der Revision fest.

27

2. Auf den Hilfsantrag des Klägers, mit dem dieser die Befristung der Wirkungen der Ausweisung mit sofortiger Wirkung begehrt, ist die Beklagte zu verpflichten, die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung auf die Dauer von sieben Jahren zu befristen. Im Übrigen ist der Antrag unbegründet.

28

2.1 Der erst in der Revisionsinstanz gestellte Hilfsantrag ist zulässig. Das Verbot der Klageänderung im Revisionsverfahren in § 142 VwGO steht dem nicht entgegen. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift soll sich das Revisionsgericht grundsätzlich auf die rechtliche Prüfung des in der Vorinstanz bereits erörterten und aufbereiteten Streitstoffes beschränken, um nicht wegen eines erstmals im Revisionsverfahren gestellten Klageantrags ohne weitere Rechtsprüfung zu einer Zurückverweisung gemäß § 144 Abs. 3 Nr. 2 VwGO gezwungen zu sein (Urteil vom 14. April 1989 - BVerwG 4 C 21.88 - Buchholz 442.40 § 6 LuftVG Nr. 21 = NVwZ 1990, 260<261>). Eine solche Situation liegt aber hier nicht vor. Während des Revisionsverfahrens ist § 11 AufenthG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 in der Weise geändert worden, dass der Kläger nunmehr einen Anspruch auf gleichzeitige Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung hat (s.u. 2.2.2). Dieser Änderung des materiellen Rechts trägt der gestellte Hilfsantrag Rechnung. Durch dessen Einbeziehung wird der Streitstoff auch nicht verändert, da der Befristungsanspruch in tatsächlicher Hinsicht vollumfänglich auf dem gegen die Ausweisung gerichteten Anfechtungsbegehren aufbaut (vgl. Urteil vom 26. Januar 1995 - BVerwG 3 C 21.93 - BVerwGE 97, 331 <342>).

29

2.2 Der Hilfsantrag ist nur in geringem Umfang begründet. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG n.F. darf ein Ausländer, der ausgewiesen worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird nach Satz 2 der Vorschrift auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Satz 3 der Vorschrift ordnet an, dass diese kraft Gesetzes eintretenden Wirkungen auf Antrag befristet werden. Die Frist ist gemäß Satz 4 unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Bei Bemessung der Länge der Frist wird berücksichtigt, ob der Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausgereist ist (Satz 5). Die Frist beginnt nach Satz 6 mit der Ausreise. Nach Satz 7 erfolgt keine Befristung, wenn ein Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder aufgrund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG aus dem Bundesgebiet abgeschoben wurde.

30

2.2.1 Seit Inkrafttreten des § 11 AufenthG in der Neufassung des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 haben Ausländer grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass die Ausländerbehörde mit einer Ausweisung zugleich das daran geknüpfte gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die Titelerteilungssperre befristet (Weiterentwicklung der Rechtsprechung im Urteil vom 14. Februar 2012 - BVerwG 1 C 7.11 - juris Rn. 28 f.). Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

31

Die Regelungen zur Befristung der Wirkungen einer Ausweisung und Abschiebung sind seit dem Ausländergesetz 1965 kontinuierlich zugunsten der betroffenen Ausländer verbessert worden. Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 AuslG 1965 stand die Befristung der Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung noch vollumfänglich im Ermessen der Ausländerbehörde. § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG 1990 sah vor, dass auf Antrag eine Befristung in der Regel erfolgte (ebenso § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG 2004); die Länge der Frist lag im Auswahlermessen der Behörde. Diese Entwicklung belegt die gewachsene Sensibilität des Gesetzgebers für die Verhältnismäßigkeit der gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung in zeitlicher Dimension angesichts der einschneidenden Folgen für die persönliche Lebensführung des Ausländers und die ihn ggf. treffenden sozialen, familiären und wirtschaftlichen Nachteile (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386 <398 ff.>). Denn typischerweise genügt eine zeitlich befristete Ausweisung zur Erreichung der mit dieser ordnungsrechtlichen Maßnahme verfolgten präventiven Zwecke (Urteile vom 7. Dezember 1999 - BVerwG 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140 <147> und vom 11. August 2000 - BVerwG 1 C 5.00 - BVerwGE 111, 369 <371 ff.>).

32

Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung setzte nach den bisher geltenden Vorschriften grundsätzlich die vorherige Ausreise des Ausländers voraus (Beschluss vom 17. Januar 1996 - BVerwG 1 B 3.96 - Buchholz 402.240 § 45 AuslG 1990 Nr. 5; Urteil vom 7. Dezember 1999 a.a.O. S. 147; vgl. auch BTDrucks 11/6321 S. 57 zu § 8 Abs. 2 AuslG 1990). Die gesetzliche Systematik von Ausweisung und Befristung war zweitaktig angelegt, da im Zeitpunkt des Erlasses einer (auch) spezialpräventiv motivierten Ausweisung typischerweise kaum zu prognostizieren ist, wie der Betroffene sich zukünftig verhalten wird. Das Verhalten nach der Ausweisung ist aber neben dem Gewicht des Ausweisungsgrundes, der Berücksichtigung des Ausweisungszwecks und der Folgenbetrachtung im Hinblick auf das Übermaßverbot einer der für die Fristbestimmung maßgeblichen Faktoren (Urteil vom 11. August 2000 a.a.O. S. 372 ff.). Die im Gesetz angelegte Trennung von Ausweisung einerseits und Befristung ihrer Wirkungen andererseits hat zur Folge, dass eine fehlerhafte Befristungsentscheidung nicht zur Rechtswidrigkeit der Ausweisung führt, sondern selbstständig angreifbar ist (Beschlüsse vom 31. März 1981 - BVerwG 1 B 853.80 - Buchholz 402.24 § 15 AuslG Nr. 3 und vom 10. Dezember 1993 - BVerwG 1 B 160.93 - Buchholz 402.240 § 47 AuslG 1990 Nr. 2; Urteil vom 14. Februar 2012 a.a.O. Rn. 30).

33

Der Senat hat bereits zur früheren Rechtslage mehrfach entschieden, dass die Ausländerbehörde zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung im Einzelfall auch von Amts wegen verpflichtet sein kann, die Wirkungen der Ausweisung schon bei Erlass der Ausweisung zu befristen. Ob dies erforderlich war, hing bei einer spezialpräventiven Ausweisung von den gesamten Umständen des Einzelfalles, insbesondere dem Ausmaß der von dem Ausländer ausgehenden Gefahr, der Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser Gefahr und den schutzwürdigen Belangen des Ausländers und seiner Angehörigen ab (Urteile vom 15. März 2005 - BVerwG 1 C 2.04 - Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 42, vom 23. Oktober 2007 - BVerwG 1 C 10.07 - BVerwGE 129, 367 Rn. 18 und vom 2. September 2009 - BVerwG 1 C 2.09 - Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 54 Rn. 25 sowie Beschluss vom 20. August 2009 - BVerwG 1 B 13.09 - Buchholz 402.242 § 11 AufenthG Nr. 4 Rn. 8). Bei einer allein generalpräventiv motivierten Ausweisung eines Ausländers mit besonderem Ausweisungsschutz war es demgegenüber regelmäßig geboten, über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung von Amts wegen zugleich mit der Ausweisung zu entscheiden. Denn in diesen Fällen lässt sich bereits in dem für die Ausweisung maßgeblichen Zeitpunkt beurteilen, wie lange der Betroffene unter Berücksichtigung seiner schutzwürdigen privaten Belange vom Bundesgebiet ferngehalten werden muss, um die notwendige generalpräventive Wirkung zu erzielen, so dass es unverhältnismäßig wäre, ihn über diesen für seine Lebensplanung wichtigen Umstand im Unklaren zu lassen (Urteil vom 14. Februar 2012 a.a.O. Rn. 29). Sowohl bei der generalpräventiven als auch bei der spezialpräventiven Ausweisung kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i.V.m. Art. 6 GG ausnahmsweise sogar die Befristung der Sperrwirkung einer Ausweisung "auf Null" gebieten, ohne dass der Ausländer zur vorherigen Ausreise verpflichtet ist (Urteil vom 4. September 2007 - BVerwG 1 C 43.06 - BVerwGE 129, 226 LS 4 und Rn. 28).

34

Das Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 hat die Rechtslage für die betroffenen Ausländer weiter verbessert: § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. verschafft dem Betroffenen nunmehr - vorbehaltlich der Ausnahmen in Satz 7 der Vorschrift - einen uneingeschränkten, auch hinsichtlich der Dauer der Befristung voller gerichtlicher Überprüfung unterliegenden Befristungsanspruch (Urteil vom 14. Februar 2012 a.a.O. Rn. 32 f. - zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE vorgesehen). Zugleich ist hinsichtlich der Dauer der Frist geregelt, dass diese unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen ist und fünf Jahre nur überschreiten darf, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (§ 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG n.F.).

35

Diese Änderungen des § 11 AufenthG dienen der Umsetzung der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 - Rückführungsrichtlinie (ABl EU Nr. L 348 vom 24. Dezember 2008 S. 98). Diese Richtlinie, die auf Art. 63 Abs. 3 Buchst. b EG (jetzt: Art. 79 Abs. 2 Buchst. c AEUV) gestützt ist und die illegale Einwanderung bekämpfen soll, ergänzt die Migrationspolitik um eine wirksame Rückkehrpolitik mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften (4. Erwägungsgrund). Die Richtlinie findet gemäß Art. 2 Abs. 1 - vorbehaltlich der Opt-out-Klausel in Absatz 2 der Vorschrift - Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese die Voraussetzungen für die Einreise bzw. den Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen (5. Erwägungsgrund). Im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts sollen Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden (6. Erwägungsgrund). Um die Interessen der Betroffenen wirksam zu schützen, sollen für Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr eine Reihe gemeinsamer rechtlicher Mindestgarantien gelten (11. Erwägungsgrund). Die Wirkung der einzelstaatlichen Rückführungsmaßnahmen soll einen europäischen Zuschnitt erhalten (14. Erwägungsgrund). Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie definiert die Rückkehrentscheidung als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird. Rückkehrentscheidungen gehen in den in Art. 11 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie genannten Fällen mit einem Einreiseverbot einher; gemäß Satz 2 der Vorschrift können sie in anderen Fällen mit einem Einreiseverbot einhergehen. Das Einreiseverbot definiert Art. 3 Nr. 6 der Richtlinie als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt werden und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Die Dauer des Einreiseverbots wird gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Die Dauer des Einreiseverbots kann jedoch nach Satz 2 der Vorschrift fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Verfahrensrechtlich garantiert Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie die Möglichkeit der Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs gegen Entscheidungen nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie, also Rückkehrentscheidungen sowie ggf. Entscheidungen über ein Einreiseverbot oder eine Abschiebung.

36

Die Begründung des Gesetzentwurfs zum Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 geht davon aus, dass große Teile der in der Rückführungsrichtlinie enthaltenen Vorgaben durch die Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes zur Aufenthaltsbeendigung bereits erfüllt werden. Da die Richtlinie - anders als das geltende Aufenthaltsrecht mit der Differenzierung zwischen Ausreisepflichten kraft Verwaltungsakts und kraft Gesetzes - eine "Rückkehrentscheidung" verlange, an die unterschiedliche prozedurale bzw. formelle Garantien geknüpft würden, seien punktuelle gesetzliche Anpassungen erforderlich. Diese erfolgten jedoch innerhalb der geltenden Systematik, indem sie an den die Ausreisepflicht begründenden Verwaltungsakt (z.B. Ausweisung) oder an die Abschiebungsandrohung nach § 59 des Aufenthaltsgesetzes geknüpft würden. Die Umsetzung der Rückführungsrichtlinie erfordere darüber hinaus die Einführung einer Regelobergrenze von fünf Jahren für die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 AufenthG (BTDrucks 17/5470 S. 17).

37

Das macht deutlich, dass sich der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 11 AufenthG auch hinsichtlich der in Absatz 1 Satz 1 und 2 der Vorschrift genannten gesetzlichen Folgen der Ausweisung und deren Befristung an den unionsrechtlichen Vorgaben für eine Rückkehrentscheidung orientiert hat. Im Regelungsmodell der Richtlinie ist das Einreiseverbot jedoch als antragsunabhängige, mit einer Rückkehrentscheidung von Amts wegen einhergehende Einzelfallentscheidung ausgestaltet, in der die Dauer der befristeten Untersagung des Aufenthalts in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt wird (Art. 3 Nr. 6 i.V.m. Art. 11 Abs. 1 und 2 Satz 1 der Richtlinie). Aus der Absicht des Gesetzgebers, dieses Modell trotz der beibehaltenen systematischen Trennung von Ausweisung und Befristung nachzuvollziehen, ergeben sich zwei Konsequenzen: Zum einen gebietet § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. den gleichzeitigen Erlass von Ausweisung und Befristung. Zum anderen genügt für den in dieser Vorschrift vorgesehenen Antrag jede Form der Willensbekundung des Betroffenen, mit der dieser sich gegen eine Ausweisung wendet (anders noch zu § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG 1990: Beschluss vom 14. Juli 2000 - BVerwG 1 B 40.00 - Buchholz 402.240 § 8 AuslG Nr. 18). Dieser Auslegungsbefund des einfachen Rechts trägt zugleich der besonderen Bedeutung der Befristung für die Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK Rechnung. Denn der EGMR zieht die Frage der Befristung bei der Prüfung von Ausweisungen am Maßstab des Art. 8 Abs. 2 EMRK als ein wesentliches Kriterium heran (EGMR, Urteile vom 17. April 2003 - Nr. 52853/99, Yilmaz/Deutschland - NJW 2004, 2147; vom 27. Oktober 2005 - Nr. 32231/02, Keles/Deutschland - InfAuslR 2006, 3 <4>; vom 22. März 2007 - Nr. 1638/03, Maslov/Österreich - InfAuslR 2007, 221 <223> und vom 25. März 2010 - Nr. 40601/05, Mutlag/Deutschland - InfAuslR 2010, 325 <327>). Diese grund- und menschenrechtlichen Impulse verbunden mit der Absicht des Gesetzgebers, sich am Regelungsmodell der Rückführungsrichtlinie zu orientieren, führen in der Gesamtschau zu dem Ergebnis, dass der Erlass einer Entscheidung zur Befristung der Wirkungen einer Ausweisung gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. nicht mehr die vorherige Ausreise des Ausländers voraussetzt.

38

Dagegen lässt sich nicht mit Erfolg einwenden, aus § 11 Abs. 1 Satz 5 AufenthG ergebe sich, dass der Gesetzgeber nach wie vor von einer nachträglichen Befristung ausgehe. Nach dieser Vorschrift ist bei der Bemessung der Fristlänge zu berücksichtigen, ob der Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausgereist ist. Es liegt auf der Hand, dass sich diese Umstände erst nach Erlass der Ausweisung feststellen lassen. Dennoch läuft die Vorschrift bei gleichzeitigem Erlass von Ausweisung und Befristung nicht leer. Denn die Ausländerbehörde hat ihre zusammen mit der Ausweisung getroffene Befristungsentscheidung, die sich u.a. auf eine Prognose des künftigen Verhaltens des Ausländers stützt und die Folgen der Ausweisung im Hinblick auf das zeitliche Übermaßverbot berücksichtigt, auf Antrag zu überprüfen und ggf. neu zu fassen, wenn einer der für die Fristbestimmung maßgeblichen Faktoren sich im Nachhinein ändert. Neben nachgewiesenen entscheidungserheblichen Änderungen der Sachlage kennzeichnet § 11 Abs. 1 Satz 5 AufenthG einen zusätzlichen Punkt, der von der Ausländerbehörde bei einer nachträglich beantragten Verkürzung der Frist zu berücksichtigen ist. Im Übrigen haben auch die Gerichte bei ihrer Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Befristungsentscheidung, die auch hinsichtlich der Bemessung der Fristdauer seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 nicht mehr im Ermessen der Ausländerbehörde steht (Urteil vom 14. Februar 2012 a.a.O. Rn. 31), die rechtzeitige und freiwillige Ausreise des Betroffenen zu berücksichtigen.

39

2.2.2 Fehlt die notwendige Befristung der Wirkungen der Ausweisung, hat das aber auch nach Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 nicht zur Folge, dass die - als solche rechtmäßige - Ausweisung aufzuheben ist. Vielmehr kann der Ausländer zugleich mit Anfechtung der Ausweisung seinen Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gerichtlich durchsetzen (Urteil vom 14. Februar 2012 a.a.O. Rn. 30). Damit wird dem sich aus dem materiellen Recht ergebenden Anspruch des Betroffenen auf gleichzeitige Entscheidung über die Ausweisung und die Befristung ihrer Wirkungen Rechnung getragen und die Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung im Ergebnis gewährleistet. Diese verfahrensrechtliche Ausgestaltung entspricht der gesetzlichen Systematik, die nach wie vor zwei getrennte Verwaltungsakte - die Ausweisung einerseits und die Befristung ihrer Wirkungen andererseits - vorsieht (s.o. Rn. 32). Prozessual wird dieses Ergebnis dadurch sichergestellt, dass in der Anfechtung der Ausweisung zugleich - als minus - für den Fall der Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung ein (Hilfs-)Antrag auf Verpflichtung der Ausländerbehörde zu einer angemessenen Befristung ihrer Wirkungen gesehen wird, sofern eine solche nicht bereits von der Ausländerbehörde verfügt worden ist. Das Prozessrecht muss gewährleisten, dass der Ausländer gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. nicht auf ein eigenständiges neues Verfahren verwiesen wird. Daher ist im Fall der gerichtlichen Bestätigung der Ausweisung auf den Hilfsantrag zugleich eine Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung zu treffen.

40

Erachtet das Gericht die Ausweisung für rechtmäßig, hat es auf den Hilfsantrag des Betroffenen hin die Befristungsentscheidung der Ausländerbehörde vollumfänglich zu überprüfen. Hat eine Ausländerbehörde eine zu lange Frist festgesetzt oder fehlt - wie hier - eine behördliche Befristungsentscheidung, hat das Gericht über die konkrete Dauer einer angemessenen Frist selbst zu befinden und die Ausländerbehörde zu einer entsprechenden Befristung der Ausweisung zu verpflichten (Weiterentwicklung des Urteils vom 14. Februar 2012 a.a.O. Rn. 31).

41

2.2.3 Der Senat hält im vorliegenden Fall - bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts und auf der Grundlage von dessen tatsächlichen Feststellungen - eine Frist von sieben Jahren für angemessen.

42

Die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (zu der zuletzt genannten Voraussetzung vgl. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG). Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr mit Blick auf die im vorliegenden Fall bedeutsame Gefahrenschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Höchstfrist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. Urteile vom 11. August 2000 - BVerwG 1 C 5.00 - BVerwGE 111, 369 <373> und vom 4. September 2007 - BVerwG 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243 Rn. 19 ff.). Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Die Abwägung ist nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles im Zeitpunkt der Behördenentscheidung vorzunehmen bzw. von den Verwaltungsgerichten zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des Gerichts zu überprüfen oder bei fehlender behördlicher Befristungsentscheidung - wie hier - durch eine eigene Abwägung als Grundlage des Verpflichtungsausspruchs zu ersetzen.

43

Die in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG genannte Höchstfrist von fünf Jahren ist im vorliegenden Fall ohne Bedeutung, da von dem Kläger - im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts - eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht; das ergibt sich aus den Ausführungen zu den Ausweisungsvoraussetzungen. Wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der vom Berufungsgericht festgestellten hohen Wiederholungsgefahr erachtet der Senat auch im Hinblick auf die familiären und persönlichen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet einen Zeitraum von sieben Jahren für erforderlich, um dem hohen Gefahrenpotential in der Person des Klägers Rechnung tragen zu können. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Rückfallgefahr bei Delikten dieser Art, des Alters des Klägers, seines (Nach-)Tatverhaltens ohne therapeutische Auf- und Verarbeitung des Geschehens sowie seines familiären Umfelds ist nicht zu erwarten, dass er die hier maßgebliche Gefahrenschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vor Ablauf der festgesetzten Frist unterschreiten wird. Zur Klarstellung weist der Senat darauf hin, dass der Beklagte auf den bei ihm während des Revisionsverfahrens gestellten Befristungsantrag auf aktueller Tatsachengrundlage zu prüfen hat, ob sich aus dem Vorbringen des Klägers zur Entwicklung seit dem 5. September 2008 Anhaltspunkte für eine Verkürzung der Frist ergeben.

44

3. Die Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig. Der Kläger ist ausreisepflichtig (§ 50 Abs. 1 AufenthG), da infolge der Ausweisung seine gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgeltende Aufenthaltsberechtigung erloschen ist (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die im angefochtenen Bescheid vom Beklagten getroffene Festsetzung der Ausreisefrist von einem Monat legt der Senat in Übereinstimmung mit § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG n.F. zugunsten des Klägers dahingehend aus, dass ihm eine Frist von 31 Tagen für die freiwillige Ausreise zur Verfügung steht.

45

4. Die Frage, ob die Ausweisung, die Befristung ihrer Wirkungen und die Abschiebungsandrohung an den Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie zu messen sind, kann im vorliegenden Fall offen bleiben. Der Senat ist bisher davon ausgegangen, dass die Rückführungsrichtlinie, die von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG bis zum 24. Dezember 2010 umzusetzen war, für davor erlassene und mit der Klage angegriffene Abschiebungsandrohungen keine Geltung beansprucht (Urteile vom 14. Februar 2012 a.a.O. Rn. 35 und vom 22. März 2012 a.a.O. Rn. 15; a.A. VGH Mannheim, Urteil vom 16. April 2012 - 11 S 4/12 - juris Rn. 49 ff.; vgl. auch VerwGH Wien, Urteile vom 16. Juni 2011 - Az. 2011/18/0064 - und vom 20. März 2012 - Az. 2011/21/0298). Für den sachlichen Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie ist zudem umstritten, ob die Ausweisung als Rückkehrentscheidung i.S.d. Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115/EG angesehen werden kann (dafür: Basse/Burbaum/Richard, ZAR 2011, 361<364>; Hörich, ZAR 2011, 281 <284 Fn. 45>; dagegen: VGH Mannheim, Urteil vom 7. Dezember 2011 - 11 S 897/11 - NVwZ-RR 2012, 412; offen: OVG Münster, Urteil vom 22. März 2012 - 18 A 951/09 - juris Rn. 88). Das alles kann indes hier dahinstehen. Denn selbst wenn man die intertemporale Geltung und die sachliche Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie auf die (Wirkungen der) Ausweisung und die Abschiebungsandrohung unterstellt, verhilft das der Revision im vorliegenden Fall nicht in weitergehendem Umfang zum Erfolg. Da der Kläger mit seinem Hilfsantrag die gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. gebotene Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung zusammen mit deren gerichtlicher Prüfung durchsetzen kann, wird den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie im Ergebnis Genüge getan. In dem hier vorliegenden Fall konnte die Dauer des Einreiseverbots auch die Regelfrist von fünf Jahren überschreiten, da der Kläger eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung i.S.d. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG darstellt.

46

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Senat gewichtet den gegen die Ausweisung und die Abschiebungsandrohung gerichteten Anfechtungsantrag mit 4/5 und den auf Befristung zielenden Verpflichtungsantrag mit 1/5. Nachdem der Kläger aber mit seinem Hilfsantrag nur zum Teil obsiegt hat, hat er 9/10 der Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28. März 2011 – 6 K 2480/10 – wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der am ...1986 in Leonberg geborene Kläger ist lediger und kinderloser türkischer Staatsangehöriger. Nach der Geburt lebte er zunächst einige Jahre bei seinen Eltern in Deutschland und wuchs dann bis zu seinem 9. Lebensjahr gemeinsam mit seinem älteren Bruder bei seiner Großmutter in der Türkei auf. In der Türkei besuchte er die 1. und 2. Klasse der Grundschule. Sein Vater, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist, hielt sich auch in dieser Zeit in Deutschland rechtmäßig als Arbeitnehmer auf. 1995 kehrte der Kläger dann zu seinen Eltern nach Sindelfingen zurück. Der Kläger besuchte in Deutschland zunächst eine Vorbereitungsklasse, dann die Grundschule und wechselte nach der 4. Klasse Grundschule auf das Gymnasium. Von dort musste er nach der 6. Klasse aufgrund unzureichender Leistungen auf die Realschule wechseln. Nachdem er dort die 6. Klasse wiederholt hatte, verließ er schließlich wegen Verhaltensauffälligkeiten und Fehlzeiten die Realschule ohne Abschluss. Im Jahre 2001 und nach dem Besuch verschiedener Schulen erreichte er den Hauptschulabschluss mit dem Notendurchschnitt von 2,3. Eine danach begonnene Lehre als Kfz-Mechaniker endete vorzeitig, weil ihm betriebsbedingt gekündigt worden war. Eine abgeschlossene Berufsausbildung kann der Kläger nicht vorweisen, da er einen Ausbildungsplatz als Industriemechaniker wegen eigenen Fehlverhaltens wieder verlor. Danach hielt er sich bis 2003 immer wieder vorübergehend in der Türkei auf. Nach seiner Rückkehr trennten sich seine Eltern; er lebte in der Folgezeit bei seiner Mutter. Er ging nach seiner Rückkehr auch nur gelegentlichen unselbständigen Erwerbstätigkeiten nach, die immer wieder von Zeiten der Arbeitslosigkeit bzw. durch Inhaftierungen unterbrochen waren. Zuletzt arbeitete er von Juni 2008 bis März 2009 bei einer Zeitarbeitsfirma, jedoch wurde das Arbeitsverhältnis wegen Arbeitsverweigerung fristlos gekündigt.
Ihm wurde am 21.05.1997 eine bis 22.02.2002 befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die anschließend mehrfach verlängert wurde, zuletzt gültig bis zum 28.05.2009. Einen Verlängerungsantrag stellte er nicht.
Bereits im Alter von 12 Jahren begann der Kläger mit regelmäßigem Alkoholkonsum, wenig später mit dem zusätzlichen Konsum von Haschisch und Ecstacy sowie Kokain und Heroin. In der Zeit von Oktober 2006 bis Sommer 2007 nahm er - im Zuge einer Bewährungsauflage - an Gesprächen der Drogenberatung Sindelfingen teil, räumte dort seinen Drogenkonsum aber nur teilweise ein. Nach dem Ergebnis eines vom Landgericht Stuttgart in Auftrag gegebenen forensisch-psychiatrischen Gutachtens vom 11.11.2009 ist beim Kläger zwar von einem anhaltenden, schädlichen politoxikomanen Alkohol-und Drogenmissbrauch mit im zeitlichen Verlauf wechselndem Ausmaß auszugehen, nicht hingegen von einer Suchterkrankung im engeren Sinne mit körperlicher und/oder psychischer Abhängigkeit. Im Übrigen diagnostizierte der Gutachter beim Kläger eine dissoziale Persönlichkeitsstörung.
Der Kläger ist strafrechtlich wie folgt in Erscheinung getreten:
Am 29.09.2000 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen zu zwei Freizeitarresten und zur Erbringung von Arbeitsleistungen.
Am 17.01.2002 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen wegen gefährlicher Körperverletzung zu acht Monaten Jugendstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Am 12.03.2002 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der Verurteilung vom 17.01.2002 wegen gefährlicher Körperverletzung und Nötigung zu einem Jahr Jugendstrafe, die erneut zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Am 31.08.2004 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der beiden vorgenannten Verurteilungen wegen Diebstahls und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einem Jahr und vier Monaten Jugendstrafe, deren Vollstreckung im Berufungsverfahren (vgl. Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 18.11.2004) zur Bewährung ausgesetzt wurde. In diesem Zusammenhang war er bereits vorübergehend vom 10.10.2003 bis 21.11.2003 sowie vom 25.05.2004 bis 18.11.2004 in Untersuchungshaft genommen worden.
Am 25.10.2005 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der drei vorgenannten Verurteilungen wegen schweren Raubes zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten.
10 
Am 22.11.2005 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der vier vorgenannten Verurteilungen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Jugendstrafe von 2 Jahre und sechs Monaten. Der Rest der Strafe wurde bis zum 03.09.2009 zur Bewährung ausgesetzt.
11 
Von einer Ausweisung sahen die Ausländerbehörden zunächst ab, sprachen aber am 15.05.2002 (durch die Ausländerbehörde der Stadt Sindelfingen) sowie am 15.08.2006 (durch das Regierungspräsidium) eine ausländerrechtliche Verwarnung aus.
12 
Am 20.04.2009 wurde der Kläger aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Stuttgart festgenommen und verbüßte während der U-Haft auch Ersatzfreiheitsstrafen aus vorangegangenen Verurteilungen.
13 
Mit Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 04.12.2009, rechtskräftig seit dem 16.04.2010, wurde er wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Dem lag zugrunde, dass er in den Morgenstunden des 20.04.2009 zusammen mit einem Mittäter maskiert und mit einem Messer bewaffnet eine Spielothek betreten und den dort Angestellten mit einem auf ihn gerichteten Messer bedroht und zur Freigabe des Weges zur Kassenschublade veranlasst hatte. Dabei erbeuteten sie Bargeld in Höhe von mindestens 4.000,- EUR das sie allerdings auf der anschließenden Flucht größtenteils wieder verloren.
14 
Nach vorheriger Anhörung wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Kläger mit Verfügung vom 25.06.2010 aus dem Bundesgebiet aus, drohte ihm ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise die Abschiebung in die Türkei auf seine Kosten an und wies ihn darauf hin, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf und der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist. Gleichzeitig wurde er darauf hingewiesen, dass seine Abschiebung für den Zeitpunkt der Haftentlassung angekündigt werde. Die Ausweisungsverfügung wurde als Ermessensausweisung auf § 55 Abs. 1 AufenthG gestützt. Im Wesentlichen wurde ausgeführt, dass besonderer Ausweisungsschutz nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 bestehe, weil der Kläger eine Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 besitze. Seine Ausweisung setze daher außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstelle, eine tatsächliche, hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung durch ein persönliches Verhalten voraus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Zudem setze die Ausweisung nach dem Urteil des EuGH vom 29.04.2004 einen Extremfall voraus, also die konkrete und hohe Wiederholungsgefahr weiterer schwerwiegender Straftaten. Mit ausführlicher Begründung bejahte das Regierungspräsidium eine solche Wiederholungsgefahr im Bereich der Gewaltkriminalität. Sie komme in der schweren und besonders häufigen Straffälligkeit, der hohen Rückfallgeschwindigkeit, der Ergebnislosigkeit der Hafterfahrung und der ausländerrechtlichen Verwarnungen zum Ausdruck und werde durch die fortbestehende Alkohol- und Drogenabhängigkeit verstärkt. Auch ein unterstellter beanstandungsfreier Haftvollzug lasse keinen Rückschluss auf eine fehlende Wiederholungsgefahr zu, zumal bereits eine vorherige Haftverbüßung keinerlei nachhaltige Wirkung auf sein Verhalten gehabt habe. Wegen der Schwere der von ihm begangenen Straftaten und der hohen konkreten Wiederholungsgefahr weiterer schwerer Straftaten stehe Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 einer Ausweisung nicht entgegen. Zu seinen Gunsten greife kein Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG ein, denn ein solcher gelte nur für Unionsbürger. Nationaler Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG greife nicht, weil der Kläger nicht im Besitz der dafür erforderlichen Aufenthaltserlaubnis sei. Unter Würdigung und Abwägung der für und gegen eine Ausweisung sprechenden Gründe und auch im Hinblick auf den Schutz nach Art. 8 EMRK und Art. 6 GG kam das Regierungspräsidium Stuttgart zu dem Ergebnis, dass eine Ausweisung wegen der durch den Kläger wiederholt begangenen schwerwiegenden Verstöße und der Wiederholungsgefahr verhältnismäßig sei.
15 
Der Kläger erhob am 06.07.2010 zum Verwaltungsgericht Stuttgart Klage und machte geltend: Er lebe seit 1 1/2 Jahrzehnten im Bundesgebiet. Sein Aufenthaltsrecht stütze sich auf Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Seine Ausweisung verstoße gegen Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 i.V.m. Art. 28 Abs. 3 lit. a) RL 2004/38/EG. Der Umstand, dass der Kläger gutachterlich als dissoziale Persönlichkeit eingeordnet worden sei, rechtfertige seine Ausweisung nicht. Die Anpassungsschwierigkeiten in der Türkei wären für ihn unlösbar. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Ausweisung wäre eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Sinne der Sicherheit des Staates. Eine solche Gefahr stelle der Kläger nicht dar. In der Sache verdeutliche auch EuGH, Urt. v. 23.11.2010 - Rs C-145/09 , dass nach dem Maßstab des Art. 28 Abs. 3 lit. a) 2004/38/EG eine Ausweisung des Klägers ausscheide. Seine Straftat gefährde die Sicherheit des Staates nicht.
16 
Der Beklagte trat unter Berufung auf die Ausführungen in der angegriffenen Verfügung der Klage entgegen.
17 
Mit Urteil vom 28.03.2011 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte aus: Das Regierungspräsidium habe die Ausweisung zutreffend auf § 55 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 7 Satz 1 und 14 ARB 1/80 gestützt und den Kläger ermessensfehlerfrei aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Das Regierungspräsidium sei zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger eine Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 besitze, denn er sei in Deutschland geboren worden und habe über fünf Jahre bei seinem Vater, der als türkischer Arbeitnehmer dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehört habe, gelebt. Das Aufenthaltsrecht gelte unabhängig davon, ob der Familienangehörige selbst eine Beschäftigung ausübe oder nicht. Aufgrund dieser Rechtsstellung bestehe für den Kläger der besondere Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80, und er könne, selbst wenn er nach nationalem Recht einen Ist-Ausweisungstatbestand (§ 53 AufenthG) verwirklicht habe, nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG ausschließlich aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägervertreters finde Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Unionsbürgerrichtlinie auf den Status des Klägers weder Anwendung noch sonst Berücksichtigung. Das Regierungspräsidium Stuttgart sei weiter mit Recht davon ausgegangen, dass Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 der Ausweisung des Klägers nicht entgegenstehe. Eine Ausweisung des Klägers komme lediglich aus spezialpräventiven Gründen in Betracht, wenn eine tatsächliche und schwerwiegende Gefährdung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit i.S.v. Art. 14 ARB 1/80 vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Das sei der Fall, wenn ein Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht bestehe, der sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergebe, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft drohe und damit eine gewichtige Gefahr für ein wichtiges Schutzgut gegeben sei. Das Regierungspräsidium Stuttgart habe diese Voraussetzungen zutreffend bejaht. Es bestehe nach der Verurteilung vom 04.12.2009 eine erhebliche Gefahr, dass der Kläger wieder ähnlich gelagerte schwerwiegende Straftaten begehen werde. Im angefochtenen Bescheid habe das Regierungspräsidium eine umfassende Gesamtwürdigung vorgenommen und beim Kläger eine konkrete Wiederholungsgefahr ähnlich gelagerter Straftaten der Beschaffungs- und Gewaltkriminalität festgestellt. Dabei habe es sich auf die Vielzahl der seit 2000 begangenen Delikte, auf die hohe Rückfallgeschwindigkeit, auf seine Unbelehrbarkeit auch nach entsprechenden Verwarnungen und Inhaftierungen gestützt. Selbst die Tatsache, dass einer seiner Brüder im Jahre 2004 bereits wegen schwerer Straftaten aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und abgeschoben worden und ihm damit die ausländerrechtlichen Folgen von delinquentem Verhalten ganz konkret vor Augen geführt worden seien, habe ihn nicht von der Begehung von Straftaten abhalten können. Die angesichts des strafrechtlichen Werdegangs große Gefahr weiterer Gewaltkriminalität werde auch durch die vom Gutachter festgestellte dissoziale Persönlichkeitsstruktur verstärkt. Da der Kläger keine Aufenthaltserlaubnis besitze, genieße er nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG keinen besonderen Ausweisungsschutz. Das Regierungspräsidium habe das Ermessen nach § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG fehlerfrei ausgeübt. Danach seien bei der Entscheidung über die Ausweisung die Dauer des rechtmäßigen Aufenthaltes und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet zu berücksichtigen. In seiner Entscheidung habe das Regierungspräsidium zutreffend berücksichtigt, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren sei und sich seit rund 1 1/2 Jahrzehnten, bis auf kurze Unterbrechung, ununterbrochen rechtmäßig hier aufgehalten habe. Das Regierungspräsidium habe ferner die Entwicklung der Lebensverhältnisse des Klägers während seines lang andauernden Aufenthalts berücksichtigt, insbesondere die Tatsache, dass er zwar den Hauptschulabschluss erreicht, aber keine Berufsausbildung abgeschlossen habe und nur gelegentlich unselbständigen Erwerbstätigkeiten nachgegangen, überwiegend aber beschäftigungslos gewesen sei. Er habe sich im Bundesgebiet keine sichere wirtschaftliche Lebensgrundlage aufgebaut. Seine fehlende Integration komme auch in beharrlichen Verstößen gegen die deutsche (Straf-) Rechtsordnung zum Ausdruck. Das Regierungspräsidium habe zutreffend die wirtschaftliche Bindung des Klägers im Bundesgebiet durch sein freies Zugangsrecht zum deutschen Arbeitsmarkt berücksichtigt. Es habe ferner das Ermessen auch im Hinblick auf die persönlichen Bindungen des Klägers, nämlich seine Beziehung zu seiner noch lebenden Mutter und seinem Onkel, pflichtgemäß ausgeübt. Die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten und mit dem Kläger in einer familiären Lebensgemeinschaft lebten, seien gemäß § 55 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG hinreichend berücksichtigt worden. Zutreffend sei erkannt worden, dass die Ausweisung mit der Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG den Kläger künftig daran hindere, die Familieneinheit in der Bundesrepublik Deutschland zu leben und dass damit ein Eingriff in Art. 6 GG vorliege. Allerdings verbiete Art. 6 GG auch einen für die Beteiligten schwerwiegenden Eingriff nicht schlechthin. Im vorliegenden Fall beruhe die Ausweisung auf einem wiederholten, schweren kriminellen Fehlverhalten des Klägers. Der staatliche Schutz der Gesellschaft vor etwaigen weiteren Beeinträchtigungen habe ebenfalls Verfassungsrang und müsse in diesem Fall wegen der konkreten Wiederholungsgefahr Vorrang genießen. Der Kläger habe die zu einem Eingriff in Art. 6 GG führenden Gründe selbst geschaffen. Die Bindung zu seinen Familienangehörigen habe ihn in der Vergangenheit nicht davon abhalten können, eine Vielzahl von Straftaten zu begehen. Die Bindung eines volljährigen erwachsenen Menschen zu seinen Verwandten sei ferner durch eine fortschreitende „Abnabelung" geprägt. Dem Kläger könne daher eine eigenverantwortliche Lebensführung zugemutet werden. Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei gewahrt. Angesichts der Schwere der vom Kläger zuletzt begangenen Straftaten sei der Allgemeinheit das Risiko einer erneuten einschlägigen Straffälligkeit des Klägers unter dem Gesichtspunkt des vorrangigen Schutzes der Bevölkerung vor Gewaltdelikten nicht zuzumuten. Die Ausweisung sei zur Erreichung des beabsichtigten Zwecks erforderlich und angemessen. Ein milderes Mittel zur Abwendung der Gefahr weiterer Beeinträchtigungen durch schwerwiegende Straftaten sei nicht ersichtlich. Die Rückkehr in seine Heimat sei dem Kläger auch zuzumuten. Zwar sei er in Deutschland geboren und aufgewachsen; trotzdem sei davon auszugehen, dass er als Sohn türkischer Staatsangehöriger die türkische Sprache mindestens in den Grundzügen beherrsche. Dafür sprächen auch sein mehrmonatiger Schulaufenthalt in der Türkei und seine kurzzeitigen Aufenthalte dort. Auch einer seiner Brüder, der bereits 2004 dorthin abgeschoben worden sei, lebe in seinem Heimatland. Die Ausweisung sei auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil sie vom Regierungspräsidium nicht bereits bei Erlass befristet worden sei. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei die Frage der Befristung eines Aufenthaltsverbotes nur eines von mehreren Kriterien im Rahmen der einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Ausweisung am Maßstab des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Auch das Bundesverwaltungsgericht stelle insofern auf die Umstände des Einzelfalls ab. Angesichts des hier mit der Ausweisung verfolgten gewichtigen öffentlichen Interesses und der demgegenüber geringer wiegenden Belange des Klägers sei es nicht ermessensfehlerhaft, ihn zunächst unbefristet auszuweisen, die Frage der Befristung aber von seiner künftigen persönlichen Entwicklung abhängig zu machen und in einem gesonderten Verfahren zu prüfen. Die Ausweisung verstoße ferner nicht gegen völker- und europarechtlichen Vorschriften. Einer Ausweisung des Klägers stehe nicht das Europäische Niederlassungsabkommen (ENA) vom 13.12.1955 entgegen, denn der hier überwundene Ausweisungsschutz des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sei weitergehend als derjenige aus Art. 3 Abs. 3 ENA. Die Ausweisung verstoße auch nicht gegen das durch Art. 8 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Zwar stelle die Ausweisung einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK dar. Dieser sei jedoch nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt, denn die Ausweisung sei, wie dargelegt, in § 55 AufenthG gesetzlich vorgesehen, und sie stelle eine Maßnahme dar, die in einer demokratischen Grundordnung unter anderem für die öffentliche Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen notwendig sei. Die gegen die Abschiebungsandrohung gerichtete Klage habe ebenfalls keinen Erfolg.
18 
Am 01.04.2011 hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und diese zugleich begründet. Er berief sich zunächst auf den besonderen Ausweisungsschutz des Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie und darauf, dass nach den vom Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache Tsakouridis aufgestellten Grundsätzen im Falle der Ausweisung die Resozialisierung des Klägers gefährdet wäre. Nach Ergehen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Sache Ziebell macht der Kläger nunmehr geltend, die angegriffene Verfügung sei schon wegen der Verletzung des sog. Vier-Augen-Prinzips des Art. 9 RL 64/221/EWG aufzuheben, das mit Rücksicht auf die Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 weiter anzuwenden sei.
19 
Der Kläger beantragt,
20 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28.03.2011 - 6 K 2480/10 - zu ändern und die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 aufzuheben.
21 
Der Beklagte beantragt,
22 
die Berufung zurückzuweisen.
23 
Er macht sich die Ausführungen im angegriffenen Urteil zu eigen und stellt insbesondere ein subjektives Recht des Klägers auf Resozialisierung infrage. Ein derartiger Rechtsanspruch würde dazu führen, dass nahezu jede Ausweisung eines straffälligen Ausländers ausgeschlossen sei. Im Übrigen seien die Überlegungen des EuGH in der Rechtssache Tsakouridis ungeachtet der nicht möglichen Anwendung der Unionsbürgerrichtlinie nicht übertragbar, weil türkische Staatsangehörige, die eine Rechtsposition nach dem ARB 1/80 inne hätten, keine Freizügigkeit innerhalb der Union genössen. Das sog. Vier-Augen-Prinzip gelte entgegen der Auffassung des Klägers nicht mehr weiter. Denn zum einen wäre die Fortgeltung mit Art. 59 ZP unvereinbar. Ungeachtet dessen sei dieses auch nicht durch die Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 aufrechterhalten, weil diese sich nur an die Mitgliedstaaten wende.
24 
Der Senat hat eine Stellungnahme der JVA Heilbronn über die Entwicklungen des Klägers im Vollzug eingeholt. Insoweit wird auf das Schreiben der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 verwiesen.
25 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
26 
Dem Senat lagen die Ausländerakten, die Akten des Regierungspräsidiums sowie die Gefangenenpersonalakten vor.

Entscheidungsgründe

 
27 
Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 zu Recht abgewiesen, denn der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
I.
28 
Die mit Bescheid vom 25.06.2010 verfügte Ausweisung leidet nicht deshalb an einem unheilbaren Verfahrensfehler, weil das nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vom 25.02.1964 (ABl. 56 vom 04.04.1964, S. 850) vorgesehene „Vier-Augen-Prinzip“ nicht beachtet wurde. Wie sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Rechtssache C-371/08 - hinreichend ersehen lässt, entfaltet diese zum 30.04.2006 aufgehobene Bestimmung keine Wirkungen mehr für den verfahrensrechtlichen Ausweisungsschutz assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger (1.). Auch aus geltenden unionsrechtlichen Verfahrensgarantien folgt nicht die Notwendigkeit, ein Vorverfahren durchzuführen (2.). Die Stillhalteklauseln gebieten keine andere Betrachtung (3.). Die Erforderlichkeit eines Vorverfahrens ergibt sich schließlich nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens (4.).
29 
1. Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG war bei einer ausländerrechtlichen Entscheidung über die Ausweisung ein weiteres Verwaltungsverfahren durchzuführen, sofern nicht ausnahmsweise ein dringender Fall vorlag und sofern nicht im gerichtlichen Verfahren eine Zweckmäßigkeitsprüfung vorgesehen war. Diese für Angehörige der Mitgliedstaaten (vgl. zum personellen Anwendungsbereich Art. 1 dieser Richtlinie) geltende Regelung erstreckte der Europäische Gerichtshof auf die Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger (Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 65 ff.). Fehlte es an der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens, so war die Ausweisung unheilbar rechtswidrig (BVerwG, Urteil vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - Rn. 12 ff., BVerwGE 124, 217, vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - Rn. 14 ff., BVerwGE 124, 243 und vom 09.08.2007 - 1 C 47.06 - Rn. 23 ff., BVerwGE 129, 162).
30 
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die im Rahmen der Art. 48, 49 und 50 EGV (später Art. 39, 40, 41 EG und nunmehr Art. 45 ff. AEUV) geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer zu übertragen sind, die die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen. Dies beruht auf den Erwägungen, dass in Art. 12 des Assoziierungsabkommens die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des „Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft“ leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen, dass Art. 36 ZP die Fristen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (nunmehr und im Folgenden: Union) und der Türkei festlegt, dass der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln vorsieht und dass der Beschluss 1/80 bezweckt, im sozialen Bereich die Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu verbessern (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 04.10.2007- Rs. C-349/06 Rn. 29, vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 61 ff., vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 42 ff. und vom 10.02.2000 - Rs. C-340/97 Rn. 42 f.). In der Rechtssache „Dörr und Ünal“ (Rn. 65 ff.) heißt es, es sei nach diesen Erwägungen geboten, die in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG niedergelegten Grundsätze als auf türkische Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragbar anzusehen, und weiter:
31 
„….Um effektiv zu sein, müssen die individuellen Rechte von den türkischen Arbeitnehmern vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können. Damit die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes gewährleistet ist, ist es unabdingbar, diesen Arbeitnehmern die Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden, und es muss ihnen somit ermöglicht werden, sich auf die in den Artikeln 8 und 9 der Richtlinie 64/221 vorgesehenen Garantien zu berufen. Diese Garantien sind nämlich, wie der Generalanwalt …ausführt, untrennbar mit den Rechten verbunden, auf die sie sich beziehen.“
32 
In der Entscheidung „Ziebell“ knüpft der Gerichtshof an die Ausführungen im Urteil „Dörr und Ünal“ an und legt dar (Rn. 58), dass
33 
„…die Grundsätze, die im Rahmen der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrags gelten, so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden, die Rechte aufgrund der Assoziation EWG-Türkei besitzen. Wie der Gerichtshof entschieden hat, muss eine solche Analogie nicht nur für die genannten Artikel des Vertrags gelten, sondern auch für die auf der Grundlage dieser Artikel erlassenen sekundärrechtlichen Vorschriften, mit denen die Artikel durchgeführt und konkretisiert werden sollen (vgl. zur Richtlinie 64/221 u.a. Urteil Dörr und Ünal)“.
34 
Durch den Terminus „Analogie“, der etwa auch in der französischen und englischen Fassung des Urteils verwendet wird, ist klargestellt, dass die Inhalte des - für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten - maßgeblichen Sekundärrechts nicht deshalb auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige angewandt werden, weil diese allgemeine Rechtsgrundsätze sind, die ggfs. auch losgelöst von der Wirksamkeit der jeweiligen Regelung noch Geltung beanspruchen können, sondern dass es sich um eine entsprechende Übertragung geltenden Rechts handelt. Eine Vorschrift kann jedoch nur solange analog angewandt werden, wie sie selbst Gültigkeit beansprucht. Mit der Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.04.2006 durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG entfällt deshalb - wie der Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ darlegt - die Grundlage für ihre entsprechende Anwendung.
35 
Dass aufgrund dieser Aufhebung nicht mehr „traditionell auf die in der Richtlinie 64/221/EWG festgeschriebenen Grundsätze abgestellt“ werden kann (Rn. 76) und der Richtlinie insgesamt, d.h. in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht, keine Bedeutung mehr zukommt, ist nach den Ausführungen im Urteil „Ziebell“ (insb. Rn. 77 ff.) und dem ihm zugrunde liegenden Sachverhalt hinreichend geklärt. Dem Europäischen Gerichtshof war aufgrund des Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.07.2008 und der beigefügten Akten bekannt, dass auf die dort streitgegenständliche Ausweisungsverfügung vom 06.03.2007 das „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr angewandt, vielmehr gegen die Ausweisungsentscheidung direkt Klage erhoben worden ist. Das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.08.2009 (1 C 25.08 - AuAS 2009, 267) führt sogar ausdrücklich aus, dass - sollte der in Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG für Unionsbürger geregelte Ausweisungsschutz nicht auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen sein - sich die Frage stellt, ob Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG gleichwohl weiterhin anzuwenden ist oder stattdessen die Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden, die das „Vier-Augen-Prinzip“ abgelöst haben (BVerwG, a.a.O., Rn. 26). Hätte der Gerichtshof dem im Verfahren „Ziebell“ nicht eingehaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ - und sei es auch mit Blick auf besondere oder allgemeine unionsrechtliche Verfahrensgarantien, die Standstillklauseln oder das Assoziationsabkommen an sich - noch irgendeine rechtliche Relevanz zu Gunsten des Klägers beigemessen, so hätte es nahegelegen, unabhängig von der konkreten Vorlagefrage hierzu Ausführungen zu machen. Die Tatsache, dass der Gerichtshof die Aufhebung der Richtlinie insgesamt besonders hervorhebt, und der Umstand, dass er den Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige mit einer Rechtsposition nach dem ARB 1/80 zudem ausdrücklich auf einen anderen unionsrechtlichen Bezugsrahmen im geltenden Recht stützt, belegen, dass die Richtlinie 64/221/EWG nach Auffassung des Gerichtshofs in Gänze nicht mehr zur Konkretisierung des formellen und materiellen Ausweisungsschutzes des Klägers herangezogen werden kann. Hätte der Gerichtshof den Inhalten der Richtlinie 64/221/EWG noch irgendeine Bedeutung beigemessen, so hätte es sich im Übrigen auch aufgedrängt, für das materielle Ausweisungsrecht - etwa in Anknüpfung an die Rechtssachen „Cetinkaya“ (Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 - Rn. 44 ff.) oder „Polat“ (Urteil vom 04.10.2007 -Rs. C-349/06 - Rn. 30 ff.) - den dort erwähnten Art. 3 der Richtlinie 64/221/ EWG ausdrücklich weiterhin fruchtbar zu machen. Diesen Weg hat der Gerichthof in der Rechtssache „Ziebell“ jedoch ebenfalls nicht beschritten. An dieser Sicht vermag – entgegen der Auffassung des Klägers – auch der Umstand nichts zu ändern, dass für die Anwendung des am 21.06.1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits geschlossenen Abkommen über die Freizügigkeit (ABl. 2002 L 114, S. 6) die Richtlinie 64/221/EWG nach wie vor vorübergehend Bedeutung hat (vgl. Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I).
36 
2. Es ist nicht entscheidungserheblich, ob sich die Verfahrensgarantien für einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, der sich gegen seine Ausweisung wendet, nunmehr ebenfalls aus der Richtlinie 2003/109/EG (Art. 10, Art. 12 Abs. 4), aus Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG oder aus den auch im Unionsrecht allgemeinen anerkannten Grundsätzen eines effektiven Rechtsschutzes ergeben. Denn die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens ist in keinem dieser Fälle geboten.
37 
a) Art 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG sieht vor, dass einem langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem betroffenen Mitgliedstaat der Rechtsweg gegen seine Ausweisung offen steht. Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie normiert, dass der langfristig Aufenthaltsberechtigte Rechtsbehelfe u.a. gegen den Entzug seiner Rechtsstellung einlegen kann. Welche Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, bestimmt sich jedoch allein nach dem nationalen Recht. Ein Vorverfahren als einzuräumender Rechtsbehelf ist nach der Richtlinie nicht vorgeschrieben.
38 
b) Auch soweit man für die einem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen einzuräumenden Verfahrensgarantien Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG heranziehen wollte, folgt hieraus nichts anderes. Die Erwägungen zu den Besonderheiten der Unionsbürgerschaft haben den Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ im Anschluss an die Ausführungen des Generalanwalts bewogen, den Schutz der Unionsbürger vor Ausweisung, wie in Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehen, nicht im Rahmen der Anwendung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 auf die Garantien gegen die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger zu übertragen (vgl. im Einzelnen Rn. 60 ff. und Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.04.2011 - Rs. C-371/08 - Rn. 42 ff.). Selbst wenn man der Auffassung wäre, die Spezifika der Unionsbürgerschaft (vgl. zu deren Begriff und Inhalt auch Bergmann , Handlexikon der Europäischen Union, 4. Aufl. 2012, Stichwort „Unionsbürgerschaft“) stünden lediglich der Anwendung des materiellen Ausweisungsrechts der Richtlinie 2004/38/EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige entgegen und nicht der Übertragung der im gleichen Kapitel enthaltenen Verfahrensgarantien nach Art. 30 f., leidet die Ausweisungsverfügung nicht an einem Verfahrensfehler. Der Gerichtshof hat sich im Urteil „Ziebell“ nicht dazu geäußert, ob diese Bestimmungen insoweit analogiefähig sind bzw. ihnen jedenfalls allgemein geltende Grundsätze zu entnehmen sind (vgl. auch Art. 15 der Richtlinie 2004/38/EG), die in Anknüpfung allein an die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Notwendigkeit deren verfahrensrechtlichen Schutzes ihre Berechtigung haben, oder ob auch diesen ein spezifisch unionsbürgerbezogener Inhalt zukommt. Für letzteres könnte etwa Art. 31 Abs. 3 S. 2 dieser Richtlinie angeführt werden, wonach das Rechtsbehelfsverfahren gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 nicht unverhältnismäßig ist; auch die Bezugnahme in Art. 31 Abs. 2, letzter Spiegelstrich auf Art. 28 Abs. 3 könnte dafür sprechen. Dies bedarf jedoch keiner Entscheidung, denn die Verfahrensgarantien nach Art. 30 f. der Richtlinie 2004/38/EG schreiben die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens bei der Ausweisung von Unionsbürgern nicht vor (diese Frage lediglich ansprechend BVerfG, Kammerbeschluss vom 24.10.2011 - 2 BvR 1969/09 - juris Rn. 40), so dass der Kläger selbst bei ihrer Anwendbarkeit kein für ihn günstigeres Ergebnis herleiten könnte.
39 
Nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG müssen die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. Aus dieser Bestimmung folgt aber nicht die Verpflichtung des Mitgliedstaates, außer dem gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Ausweisungsverfügung (zusätzlich) ein behördliches Rechtsbehelfsverfahren vorzuhalten und in diesem auch die Überprüfung der Zweckmäßigkeit einer Ausweisung zu ermöglichen. Wie sich schon aus dem Wortlaut ergibt („..und gegebenenfalls bei einer Behörde…“), trägt diese Bestimmung lediglich dem - heterogenen - System des Rechtsschutzes der Mitgliedstaaten Rechnung und lässt deren Berechtigung unberührt, ein Rechtsbehelfsverfahren auch noch bei einer Behörde zu eröffnen. Ein solches ist jedoch in Baden-Württemberg nicht mehr vorgesehen. Erlässt das Regierungspräsidium den Verwaltungsakt - wie dies für die Ausweisung eines in Strafhaft befindlichen Ausländers zutrifft (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AAZuVO) -, so ist hiergegen unabhängig von dem zugrundeliegenden Rechtsgebiet im Anwendungsbereich des seit 22.10.2008 geltenden § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO (GBl. 2008, 343) i.V.m. § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO das Vorverfahren nicht statthaft. Aufgrund vergleichbarer, wenn auch regelungstechnisch teilweise von einem anderen Ansatz ausgehender Landesgesetze entspricht es einer bundesweit anzutreffenden Rechtspraxis, ein Widerspruchsverfahren vor Erhebung einer Klage nicht mehr vorzuschreiben (vgl. z.B. auch Art. 15 Abs. 2 BayAGVwGO, § 16a HessAGVwGO, § 8a NdsAGVwGO). Dass die Unionsbürgerrichtlinie nicht dazu zwingt, ein dem gerichtlichen Rechtsschutz vorgeschaltetes Widerspruchsverfahren zu schaffen, folgt im Übrigen eindeutig aus ihrer Entstehungsgeschichte.
40 
Der Vorschlag der Kommission für die Unionsbürgerrichtlinie (KOM 2001/0257/endgültig, ABl. C 270 E vom 25.09.2001, S. 150) sah ursprünglich vor, dass u.a. bei der Ausweisung der Betreffende bei den Behörden oder den Gerichten des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen kann; ist der behördliche Weg vorgesehen, entscheidet die Behörde außer bei Dringlichkeit erst nach Stellungnahme der zuständigen Stelle des Aufnahmemitgliedstaates, vor dem es dem Betreffenden möglich sein muss, auf seinen Antrag hin seine Verteidigung vorzubringen. Diese Stelle darf nicht die Behörde sein, die befugt ist, die Ausweisungsentscheidung zu treffen (vgl. im Einzelnen den - hier verkürzt wiedergegebenen - Wortlaut des Entwurfs zu Art. 29 Abs. 1 und 2). In der Begründung des Vorschlags zu Art. 29 heißt es ausdrücklich:
41 
„Ein lückenloser Rechtsschutz schließt nicht aus, dass ein Mitgliedstaat vorsieht, dass ein Rechtsbehelf bei einer Behörde eingelegt werden kann. In diesem Fall müssen die in Art. 9 der Richtlinie 63/221/EWG genannten Objektivitätsgarantien gegeben sein, insbesondere die vorherige Stellungnahme einer anderen Behörde, als die, die die Einreiseverweigerung oder die Ausweisung verfügen soll, sowie Garantie in Bezug auf die Rechte der Verteidigung.“
42 
In dem Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 6/2004 vom 05.12.2003 (ABl. C 54 E vom 02.03.2004, S. 12) hat Art. 31 Abs. 1 bereits - mit Zustimmung der Kommission - die Fassung, wie sie in der Unionsbürgerrichtlinie vom 29.04.2004 enthalten ist (a.a.O., S. 26). Schon in dem geänderten Vorschlag der Kommission vom 15.04.2003 (KOM(2003) 199 endgültig) erhielt der Entwurf zu Art. 29 Abs. 1 die Fassung, dass „….der Betroffene bei den Gerichten und gegebenenfalls bei den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen“ kann. Durch diese Abänderung sollte klargestellt werden,
43 
„dass der Rechtsbehelf stets bei einem Gericht eingelegt werden muss und ein Rechtsbehelf bei einer Behörde nur dann ebenfalls zulässig ist, wenn der Aufnahmemitgliedstaats dies vorsieht (zum Beispiel bevor ein Rechtsbehelf bei einem Gericht eingelegt werden kann).“
44 
Diese Begründung der Kommission im geänderten Vorschlag vom 15.04.2003 (a.a.O., S. 10) zu Art. 29 Abs. 1 hat sich der „Gemeinsame Standpunkt“ vom 05.12.2003 zu Eigen gemacht (a.a.O., S 27) und ferner Art. 29 Abs. 2 des Kommissionsentwurfs mit dem dort enthaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ komplett gestrichen. Dieser ist mit Blick auf die von den Mitgliedstaaten stets vorzusehende Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts und der dort zu gewährenden Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung und der Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung über die Ausweisung beruht, für überflüssig erachtet worden (vgl. die Begründung des Rates, a.a.O., S. 29, 32).
45 
Das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene „Vier-Augen-Prinzip“, das defizitäre gerichtliche Kontrollmechanismen und eine in den Mitgliedstaaten zum Teil vorherrschende geringe Kontrolldichte der gerichtlichen Entscheidungen kompensieren sollte, wurde somit in Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG durch eine Verbesserung des gerichtlichen Rechtsschutzes ersetzt (vgl. zur bewussten Abkehr von den in Art. 8 f der Richtlinie 64/221/ EWG vorgesehenen Verfahrensregelungen auch Erwägungsgrund 22 der Richtlinie 2004/38/EG). Der in Deutschland dem Kläger zur Verfügung stehende gerichtliche Rechtsschutz erfüllt die Vorgaben des Art. 31 der Richtlinie.
46 
Es bleibt daher der Verfahrensautonomie des Mitgliedstaats überlassen, ob er bei einer Ausweisung eines Unionsbürgers zusätzlich zum gerichtlichen Rechtsschutz noch ein Widerspruchsverfahren vorsieht. Dass die in Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG enthaltene Formulierung „..und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen zu können“ bei diesem Verständnis nur noch eine unionsrechtliche Selbstverständlichkeit wiedergibt, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift.
47 
c) Auch die allgemeine unionsrechtliche Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs fordert nicht die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens. Selbst wenn man entgegen den Ausführungen oben unter 1.) der Auffassung wäre, der Gerichtshof habe sich im Urteil „Ziebell“ hierzu nicht der Sache nach geäußert, ist dies eindeutig.
48 
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshof hat ein türkischer Arbeitnehmer, der die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzt, einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, um diese Rechte wirksam geltend machen zu können (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn.67). Es entspricht einem allgemein anerkannten unionsrechtlichen Grundsatz, der sich aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten ergibt und der in Art. 6 und 13 EMRK verankert ist, dass bei einem Eingriff in die Rechte des Betroffenen (hier: Eingriff in die Freizügigkeit des Arbeitnehmers) durch eine Behörde des Mitgliedstaats der Betroffene das Recht hat, seine Rechte vor Gericht geltend zu machen; den Mitgliedstaaten obliegt es, eine effektive richterliche Kontrolle der Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des innerstaatlichen Rechts sicherzustellen, das der Verwirklichung der eingeräumten Rechte dient (vgl. schon EuGH, Urteil vom 03.12.1992 - Rs. C-97/91 Rn.14, vom 15.10.1987 - Rs. C-222/86 Rn. 12 ff. und vom 15.05.1986 - Rs. C-222/84 Rn. 17 ff.). Zum Effektivitätsgrundsatz gehört, dass die gerichtliche Kontrolle die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung umfasst (EuGH, Urteil vom 15.10.1987 - Rs. C-222/84 Rn.15). Auch dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (EuGH, Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-279/09 Rn. 28, vom 15.04.2008 - Rs. C-268/06 Rn. 46, vom 13.03.2007 - Rs. C-432/05 Rn. 43 und vom 16.12.1976 - 33/76 Rn.5). Ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, ist unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Ablaufs und der Besonderheiten dieses Verfahrens zu prüfen (EuGH, Urteil vom 21.12.2002 - Rs. C-473/00 Rn. 37 und vom 14.12.1995 - Rs. C-312/93 Rn.14).
49 
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze ist es nicht geboten, ein behördliches Vorverfahren mit einer diesem immanenten Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitskontrolle einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorzuschalten, das die Vorgaben des effektiven Rechtschutzes in jeder Hinsicht erfüllt. Auch Art. 19 Abs. 4 GG fordert dies übrigens gerade nicht (vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 24.04.1985 - 2 BvF 2/83 u.a. - juris Rn. 105 m.w.N.). Ein Anspruch des Einzelnen auf ein „Maximum“ an Verfahrensrechten und den unveränderten Fortbestand einer einmal eingeräumten verfahrensrechtlichen Möglichkeit besteht nicht - zumal wenn diese wie das „Vier-Augen-Prinzip“ aus einer bestimmten historischen Situation als Kompensation für eine früher weit verbreitete zu geringe gerichtliche Kontrolldichte erfolgte.
50 
d) Aus dem in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes und dem „Recht auf gute Verwaltung“ nach Art. 41 GRCh (vgl. zu den dort eingeräumten Rechten Jarass, GRCh-Kommentar, 2010, Art. 41 Rn. 21 ff.) ergibt sich für den Kläger ebenfalls kein Recht auf Durchführung eines Vorverfahrens.
51 
3. Ein Widerspruchsverfahren ist ferner nicht mit Blick auf die assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln nach Art. 7 ARB 2/76, Art. 13 ARB 1/80 oder Art. 41 Abs. 1 ZP einzuräumen. Selbst wenn man die Ansicht nicht teilen würde, schon aus dem Urteil „Ziebell“ ergebe sich hinreichend deutlich, der Gerichtshof halte das Fehlen eines Vorverfahrens auch unter dem Aspekt der Stillhalteklauseln nicht für problematisch, lässt sich feststellen, dass dessen Abschaffung keinen Verstoß gegen die Stillhalteklauseln darstellt.
52 
a) Der Kläger kann sich als im Bundesgebiet geborener Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers auf Art. 13 ARB 1/80 berufen. Nach dieser am 01.12.1980 in Kraft getretenen Regelung dürfen die Mitgliedstaaten für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß ist, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Diese Stillhalteklausel, die unmittelbar wirkt (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62, vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 58 f. und vom 20.09.1990 - Rs. C-192/89 Rn. 26), verbietet allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in dem entsprechenden Mitgliedstaat galten (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62), wobei den Mitgliedstaaten auch untersagt ist, nach dem Stichtag eingeführte günstigere Regelungen wieder zurückzunehmen, selbst wenn der nunmehr geltende Zustand nicht strenger ist als der am Stichtag geltende (siehe zu dieser „zeitlichen Meistbegünstigungsklausel“ EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 49 ff ). Die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 verfolgt das Ziel, günstigere Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu schaffen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 und vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 72 ff.). Normadressat ist ausschließlich der einzelne Mitgliedstaat mit Blick auf dessen nationales Recht, nicht die Europäische Union als Vertragspartner des Assoziationsabkommens EWG/Türkei. Deren Befugnisse werden durch diese Stillhalteklausel nicht beschränkt. Vom Wortlaut her schützt das Unterlassungsgebot der Standstillklausel zwar ausschließlich den unveränderten Zugang zum Arbeitsmarkt, es entfaltet gleichwohl mittelbare aufenthaltsrechtliche Wirkungen, soweit ausländerrechtliche Maßnahmen zur Beeinträchtigung des Arbeitsmarktzugangs führen, die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels erschwert wird (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62 ff. und vom 29.04.2010 - Rs. C-92/09 Rn. 44 ff.) oder der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen im Bundesgebiet beendet werden soll (vgl. auch Renner, 9. Aufl., 2011, § 4 Rn. 197). Bei der Bestimmung, wann eine Maßnahme eine „neue Beschränkung“ darstellt, orientiert sich der Gerichtshof gleichermaßen an den mit Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 ZP verfolgten Zielen und erstreckt die Tragweite der Stillhalteverpflichtung auf sämtliche neuen Hindernisse für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die eine Verschärfung der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Bedingungen darstellen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 ff.), wobei eine solche materieller und/oder verfahrensrechtlicher Art sein kann (EuGH, Urteil vom 21.07.2011 - Rs. C-186/10 Rn. 22, vom 29.04.2010 - Rs. C-92/07 Rn. 49, vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 64 und vom 20.09.2007 - Rs. C-16/05 Rn. 69). Nach diesen Grundsätzen stellt die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens keine „neue Beschränkung“ dar.
53 
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens von Art. 13 ARB 1/80 war nach dem damals geltenden § 68 VwGO und dem baden-württembergischen Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 22.03.1960 (GBl. 1960, 94) in der Fassung des Gesetzes vom 12.12.1979 (GBl. 1979, 549) auch bei der Ausweisung eines türkischen Staatsangehöriger ein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Die in der vorliegenden Fallkonstellation nunmehr vorgesehene Zuständigkeit einer Mittelbehörde für den Erlass der Ausweisungsverfügung (§ 6 Nr. 1 AAZuVO) und das gesetzlich deswegen angeordnete Entfallen des Vorverfahrens (§ 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO BW vom 14.10.2008; vgl. auch die Vorgängervorschrift § 6a AGVwGO BW vom 01.07.1999) ist keine Änderung, die geeignet wäre, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erschweren oder die einem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten materiellen Rechte zu beeinträchtigen. Unabhängig davon, ob das Widerspruchsverfahrens nur als Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens angesehen wird (vgl. hierzu Bader, u.a. VwGO, 5. Aufl. 2011, Vor §§ 68 ff. Rn. 49), oder ob es auch als Teil des Prozessrechts begriffen wird (i.S.e. Doppelcharakters Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, Vorb § 68 Rn. 14), ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dessen Wegfall zu einer merklichen Verschlechterung der Rechtsposition türkischer Staatsangehöriger führt. Eine rechtliche Beeinträchtigung des Betroffenen durch die Abschaffung des Vorverfahrens wird im Übrigen auch nicht in anderen rechtlichen Konstellationen außerhalb des Aufenthaltsrechts angenommen.
54 
Grund für den letztlich allein rechtspolitisch gewählten Weg eines weitgehenden Ausschluss des Vorverfahrens in Baden-Württemberg war die Erkenntnis gewesen, dass entsprechend einer evaluierten Verwaltungspraxis jedenfalls in den Fällen, in denen das Regierungspräsidium die Ausgangsentscheidung getroffen hat, die Sach- und Rechtslage vor der ersten Verwaltungsentscheidung so umfassend geprüft wird, dass sich während des Vorverfahrens regelmäßig keine neuen Aspekte ergeben. Der Wegfall des Widerspruchsverfahrens in den Fällen der Ausgangszuständigkeit der Mittelbehörden dient nicht nur deren Entlastung, sondern vor allem auch der Verfahrensbeschleunigung (vgl. näher die Begründung zum entsprechenden Gesetzentwurf der Landesregierung, LT Drs. 12/3862 vom 16.03.1999 sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ständigen Ausschusses vom 22.04.1999, LT Drs. 12/3976). Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens kann daher allenfalls als ambivalent begriffen werden. Die Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens kommt in besonderem Maße dem Interesse des von einer Ausweisung betroffenen Ausländers entgegen, eine möglichst rasche gerichtliche Klärung zu erhalten. Zwar können etwa Mängel in der Ausweisungsentscheidung leichter behoben werden, wenn die Verwaltung „einen zweiten Blick“ hierauf wirft. Der Ausländer wird jedoch nicht belastet, wenn diese Möglichkeit nicht mehr besteht. Vielmehr verbessert dies unter Umständen sogar seine Erfolgschancen bei Gericht. Als Kläger kann er auch all das bei Gericht geltend machen, was er in einem Widerspruchsverfahren vortragen könnte; das Verwaltungsgericht unterzieht die Ausweisung einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle, die insbesondere auch eine volle Überprüfung ihrer Verhältnismäßigkeit einschließt. Lediglich die Zweckmäßigkeit einer Entscheidung kann durch das Verwaltungsgericht nicht geprüft werden, was aber bei einer Gesamtbetrachtung der Wirkungen der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nicht negativ ins Gewicht fällt. Im Übrigen kam es nach den Angaben des Vertreters des Beklagten zu Zeiten des noch bestehenden Widerspruchsverfahrens jedenfalls auf dem Gebiet des Ausländer- bzw. Aufenthaltsrechts praktisch nicht vor, dass allein aus Zweckmäßigkeitserwägungen von einer Ausweisung Abstand genommen wurde - gerade in den Fällen der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger und den hohen Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 spielte dieser Gesichtspunkt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine Rolle, da er insoweit ausschließlich Rechtsvoraussetzungen und Rechtsgrenzen formuliert. Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass das Unionsrecht wie auch das Assoziationsrecht für Beschränkungen der Freizügigkeit nicht zwingend eine Ermessensentscheidung verlange. Der unionsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordere (nur) eine offene Güter- und Interessenabwägung, die das deutsche System von Ist- und Regelausweisung aber nicht zulasse. Nicht erforderlich sei eine behördliche Wahl zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten, ein Handlungsermessen der Ausländerbehörde. Die Ausweisung unterliege hinsichtlich der qualifizierten Gefahrenschwelle und des Verhältnismäßigkeitsprinzips voller gerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Lediglich deshalb, weil das nationale Recht neben der Ist- und Regelausweisung nur die Ermessensausweisung kennt, ist im Rahmen dieses Instrumentariums dann, wenn die Eingriffsschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht ist, gleichwohl eine Ermessensentscheidung zu treffen. National-rechtlich ist die Frage einer Überprüfung der Zweckmäßigkeit in einem weiteren Behördenverfahren gleichfalls weder in § 10 AuslG 1965 noch in den späteren Änderungen im Ausweisungsrecht vorgegeben.
55 
Abgesehen davon bedeutet die Stillhalteverpflichtung auch nicht, dass jede Facette des Verwaltungsverfahrens- und -prozessrechts einer Änderung entzogen wäre. Die Mitgliedstaaten verfügen aufgrund ihrer Verfahrensautonomie über einen Gestaltungsspielraum, der allerdings durch den Grundsatz der Effektivität und der Äquivalenz begrenzt wird (EuGH, Urteil vom 18.10.2011 -Rs. C-128/09 - Rn. 52). Lässt eine Änderung des Verfahrens aber - wie hier - die Effektivität des Rechtsschutzes mit Blick auf die dem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten Rechte unverändert, so liegt keine „neue Beschränkung“ vor, zumal wenn man gebührend in Rechnung stellt, dass im Widerspruchsverfahren auch formelle wie materielle Fehler der Ausgangsbehörde zu Lasten des Betroffenen behoben werden können (Bader, VwGO, a.a.O., § 68 Rn. 4, 7, 10; § 79 Rn. 2 ff.).
56 
b) Geht man davon aus, dass der Kläger seine Eigenschaft als Arbeitnehmer nicht verloren hat und hält daher auch den am 20.12.1976 in Kraft getretenen Art. 7 ARB 2/76 für anwendbar, so gilt nichts anderes (vgl. zur Anwendbarkeit von Art. 7 ARB 2/76 neben Art. 13 ARB 1/80 EuGH, Urteil vom 20.09.1990 -Rs. C-192/89 Rn. 18 ff.). Nach dieser Bestimmung dürfen die Mitgliedstaaten der Union und die Türkei für Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Mit Art. 7 ARB 2/76 wird gegenüber Art. 13 ARB 1/80 insoweit nur der zeitliche Bezugspunkt für neue Beschränkungen verändert, ohne dass diese jedoch inhaltlich anders zu bestimmen wären.
57 
c) Ein Verstoß gegen die seit 01.01.1973 geltende Stillhalteklausel nach 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12.09.1963 zur Gründung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation - ZP - scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger zu keinem Zeitpunkt selbstständig erwerbstätig war.
58 
4. Eine Fortgeltung des „Vier-Augen-Prinzips“ nach der Richtlinie 64/221/ EWG folgt auch nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens.
59 
Die Europäische Kommission hat in ihrer Stellungnahme vom 15.12.2006 (JURM(2006)12099) in der Rechtssache „Polat“ (C-349/06) die Auffassung vertreten, bei der Auslegung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen des Assoziationsabkommens oder darauf gestützter Rechtsakte wie Art. 14 ARB 1/80 sei davon auszugehen, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklichen wollten, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (nunmehr Union) seinerzeit verwirklicht worden sei. Hieraus folge, dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürgerrichtlinie auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund dessen erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben könne. Der Inhalt völkerrechtlicher Verträge könne sich nämlich nicht automatisch durch eine spätere Änderung der Rechtslage eines Vertragspartners ändern. Das Wesen des Völkerrechts bestehe gerade darin, dass sich die souveränen Vertragsparteien nur selbst verpflichten können, heteronome Normsetzung komme in diesem Zusammenhang nicht in Betracht. Eine solche heteronome Normsetzung läge aber vor, wenn sich die Änderung der internen Rechtslage der Gemeinschaft unmittelbar auf die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger, die durch völkerrechtlichen Regelungen festgelegt sei, auswirken könnte (vgl. im Einzelnen die Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 Rn. 57 ff., beziehbar unter www.migrationsrecht.net). Diese Ausführungen sind nahezu wortgleich auch in der Stellungnahme enthalten, die die Kommission am 02.12.2008 in der Rechtssache „Ziebell“ abgegeben hat (JURM(08)12077 - Rn. 32 ff.)
60 
Diese Auffassung beruht jedoch allein auf einer eigenen Interpretation des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ vom 02.06.2005 (Rs. C-136/03 - Rn.61 bis 64) durch die Kommission (vgl. insoweit Rn. 57 der Stellungnahme im Verfahren C-349/06 und Rn. 33 der Äußerung in der Rechtssache C-371/08: „Die Kommission versteht diese Rechtsprechung wie folgt:“). Der Gerichtshof hat diese Interpretation allerdings weder im Urteil „Polat“ noch in späteren Entscheidungen aufgegriffen. Aus dem Urteil in der Rechtssache „Ziebell“ und dem dort eingeschlagenen Lösungsweg (siehe hierzu oben 1.) ergibt sich sogar mit aller Deutlichkeit, dass der Gerichtshof, der für sich die Kompetenz zur Auslegung des Assoziationsrechts in Anspruch nimmt, diese Auffassung nicht teilt. Die Ausführungen in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 14.04.2011 im Verfahren „Ziebell“ (vgl. insb. Rn. 57) lassen ebenfalls ersehen, dass auch von dieser Seite dem dogmatischen Ansatz der Kommission insoweit keine Bedeutung beigemessen wird. Die von der Kommission befürwortete Auslegung des Urteils in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ überzeugt den Senat auch deshalb nicht, weil die Ansicht der Kommission zu dem Ergebnis führen könnte, dass in dieser Regelungsmaterie unter Umständen notwendig werdende Änderungen des Unionsrechts zum Nachteil von Unionsbürgern überhaupt nicht mehr oder nur noch um den Preis einer Diskriminierung möglich wären.
61 
Im Übrigen heißt es in der Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 ebenso wie in derjenigen vom 02.12.2008, dass „in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklicht werden sollte, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft seinerzeit verwirklicht worden sei.“ Dieses Schutzniveau für die türkischen Staatsangehörigen wird jedoch durch die Abschaffung des „Vier-Augen-Prinzips“ bei gleichzeitig verbessertem Rechtsschutz gewahrt.
62 
Nach alledem liegt im Fall des Klägers durch die Nichtbeachtung des „Vier-Augen-Prinzips“ kein unheilbarer Verfahrensfehler vor.
II.
63 
Da der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann gem. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sein Aufenthalt nur beendet werden, wenn dieses aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
64 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 73).
65 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2010 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs C-371/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil in der Sache Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
66 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
67 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 80).
68 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken, angeordnet werden (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010, Bozkurt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
71 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
72 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs C-467/02 Rn. 47).
73 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr wird mit dieser Formel mit anderen Worten nur der in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelte Grundsatz zum Ausdruck gebracht, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs C-55/94, Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs 36/75 ), wobei insoweit eine besonders sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
74 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
75 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
76 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartige weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in der dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291).
77 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risiko gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts des vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
78 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
79 
2. Ausgehend hiervon erweist sich die angegriffene Ausweisungsverfügung als ermessensfehlerfrei (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
80 
Aufgrund der langjährigen kriminellen Karriere, nach dem im letzten Strafverfahren erstellten Gutachten Dr. W... vom 11.11.2009 sowie der vom Senat eingeholten Stellungnahme der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 (Frau G...), in der im Einzelnen dargestellt wird, dass der Kläger kaum Interesse an der Aufarbeitung seiner Vergangenheit an den Tag gelegt hat, besteht für den Senat kein Zweifel, das vom Kläger nach wie vor eine erhebliche konkrete Gefahr der Begehung weiterer erheblicher und schwerer Straftaten ausgeht, wodurch das für eine Ausweisung erforderliche Grundinteresse der Gesellschaft unmittelbar berührt ist. Es ist namentlich nach der Stellungnahme der JVA Heilbronn nichts dafür ersichtlich, dass sich beim Kläger etwas Grundsätzliches gebessert haben könnte. Es fehlt hiernach jeder greifbare und glaubhafte, geschweige denn Erfolg versprechende Ansatz dafür, dass der Kläger bereit sein könnte, sich seiner kriminellen Vergangenheit zu stellen und hieran aktiv zu arbeiten. Im Gegenteil: Aus der Stellungnahme wird hinreichend deutlich, dass der Kläger - von guten Arbeitsleistungen abgesehen -sich einer Aufarbeitung der grundlegenden Problematik konsequent verweigert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die vom Beklagten angesprochene und verneinte Frage, ob ihm eine Resozialisierung im dem Land, in dem er geboren und überwiegend aufgewachsen ist, um deren Erfolg willen ermöglicht werden muss, nicht. Der Senat ist sich mit dem Regierungspräsidium Stuttgart der Tatsache bewusst, dass der Kläger, der nie wirklich längere Zeit in der Türkei gelebt hat, mit ganz erheblichen Problemen im Falle der Rückkehr konfrontiert sein wird. Andererseits geht der Senat davon aus, dass er mit Rücksicht auf seinen mehrjährigen Aufenthalt in der Türkei im Kindesalter über die nötige Sprachkompetenz verfügt, um in der Türkei eine neue Basis für sein Leben finden zu können. Angesichts des von ihm ausgehenden erheblichen Gefährdungspotential für bedeutende Rechtsgüter erweist sich auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er - nicht zuletzt bedingt durch seine häufige Straffälligkeit - zu keinem Zeitpunkt über eine gesicherte und gewachsene eigenständige wirtschaftliche Grundlage verfügt hat, die Ausweisung als verhältnismäßig: Sie stellt namentlich keinen unzulässigen Eingriff in sein durch Art. 8 EMRK geschützte Privatleben dar. Der Umstand, dass im Bundesgebiet noch nahe Angehörige des immerhin bereits knapp 26 Jahre alten Klägers leben, gebietet keine andere Sicht der Dinge.
81 
Auch die Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hat keine neuen Aspekte ergeben. Vielmehr wurde die Stellungnahme vom 23.01.2012 bestätigt. Insbesondere konnte der Kläger keine plausible Erklärung dafür geben, weshalb er die verschiedenen Angebote im Strafvollzug zur Aufarbeitung seiner Taten nicht wahrgenommen hatte.
III.
82 
Die Ausweisung ist auch nicht etwa deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil sie unbefristet erfolgt ist. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348/2008, S. 98 ff. – Rückführungsrichtlinie, im Folgenden RFRL), deren Art. 11 Abs. 1 grundsätzlich die Befristung des mit einer Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots anordnet. Denn eine Ausweisung ist schon keine Rückkehrentscheidung im Sinne dieser Richtlinie.
83 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 - juris) in diesem Zusammenhang u.a. ausgeführt:
84 
„Diese Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 24.12.2010 abgelaufen war, soll mit dem zum 26.11.2011 in Kraft getreten „Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex“ vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 RFRL findet sie auf solche Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten; sie regelt die Vorgehensweise zu deren Rückführung. Art. 3 Nr. 2 RFRL definiert den illegalen Aufenthalt wie folgt: „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet diese Mitgliedstaats“ (vgl. auch den 5. Erwägungsgrund).
85 
Der Umstand, dass eine Ausweisung gegebenenfalls erst das Aufenthaltsrecht des Ausländers zum Erlöschen bringt (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) und damit dessen „illegalen Aufenthalt“ begründet (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), macht diese nicht zu einer Rückführungsentscheidung. Daran ändert nichts, dass nach der deutschen Rechtslage häufig die Abschiebungsandrohung mit der die Illegalität des Aufenthalts herbeiführenden Verfügung verbunden ist (vgl. hierzu den ausdrücklichen Vorbehalt in Art. 6 Abs. 6 RFRL). Art. 3 Nr. 4 RFRL umschreibt die Rückkehrentscheidung als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.“ Nach der Struktur des deutschen Aufenthaltsrechts stellt die Ausweisung hiernach aber keine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 RFRL dar (so schon Urteile des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 20.10.2011 - 11 S 1929/11 - juris ; Gutmann, InfAuslR 2011, 13; Westphal/Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 24, November 2011 unter www.westphal-stoppa.de; a.A. Hörich, ZAR 2011, 281, 283 f.; Fritzsch, ZAR 2011, 297, 302 f.; Stiegeler, Asylmagazin 2011, 62, 63 ff.; vorl. Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2010 zur einstweiligen Umsetzung der Richtlinie - Az.: M I 3 - 215 734/25, S. 3; vgl. auch Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2011 - 24 K 5524/10 - juris). Dass die Ausweisung selbst nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, macht auch folgende Überlegung deutlich: Die Richtlinie ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll – gewissermaßen als Kehrseite des Einreiseverbots – durch dessen grundsätzliche Befristung unübersehbar den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. RFRL bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie. Ob gegebenenfalls nach der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats eine Ausweisung auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist insoweit unerheblich (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU - [El Dridi] InfAuslR 2011, 320, Rn. 50).
86 
Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt nicht dem Betroffenen die Ausreisepflicht auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung – sofern nicht ausnahmsweise auf eine solche verzichtet werden darf (vgl. z.B. § 58a AufenthG); in diesem Fall wäre die Abschiebungsanordnung als Rückkehrentscheidung zu qualifizieren. Die Abschiebungsandrohung enthält auch die nach Art 7 RFRL in einer Rückkehrentscheidung zu setzende Frist für eine freiwillige Ausreise (vgl. § 59 Abs. 1 a.F. sowie § 59 Abs. 1 AufenthG n.F.).
87 
Die Ausweisung ist nicht etwa deshalb als „Rückkehrentscheidung“ anzusehen, weil sie nach nationalem Recht als solche ausgestaltet wäre. Wie ausgeführt, verbindet allerdings nach der bisherigen, wie auch nach der aktuellen Rechtslage das nationale Recht in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der Ausweisung ausdrücklich ein Einreiseverbot, das in Satz 2 zusätzlich um das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels erweitert wird. Zwar bestimmt Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL ausdrücklich, dass auch in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen kann. Das nationale Recht kann danach vorsehen, dass selbst dann, wenn kein Fall des Absatzes Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL vorliegt (d.h. keine Fristsetzung in der Abschiebungsandrohung oder tatsächliche Abschiebung), in Folge einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot verhängt werden kann. Es muss sich jedoch immer noch um eine Rückkehrentscheidung handeln. Das ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, an die Ausweisung ein Einreiseverbot zu knüpfen, überschreitet die begrifflichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Daran ändert der Umstand nichts, dass der nationale Gesetzgeber der (irrigen) Auffassung war, mit der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG spezifisch und ausschließlich für die Ausweisung von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch zu machen (vgl. ausdrücklich BTDrucks 17/5470, S. 39). Diese „Opt-Out-Klausel“ beträfe etwa den Abschiebungsfall des § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG; insoweit wurde aber in Bezug auf die Folgen einer Abschiebung gerade hiervon kein Gebrauch gemacht. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung darstellt, steht die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, nach wie vor an die Ausweisung selbst ein zunächst unbefristetes Einreiseverbot zu knüpfen, nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu noch im Folgenden).“
88 
Ergänzend und vertiefend ist noch auszuführen: Gegen die Annahme, die Ausweisung sei keine Rückkehrentscheidung, kann auch nicht die Legaldefinition des „illegalen Aufenthalts“ in Art. 3 Nr. 2 RFRL eingewandt werden. Zwar erweckt der pauschale und undifferenzierte Verweis auf Art. 5 SDK auf den ersten Blick den Eindruck, es könnten auch Fälle gemeint sein, in denen materielle Einreise- bzw. Aufenthaltsvoraussetzungen nicht (mehr) erfüllt sind und somit auch in einem solchen Fall ein illegaler Aufenthalt vorläge. Dagegen sprechen aber bereits das in Art. 6 Abs. 6 RFRL vorausgesetzte Verständnis des „legalen Aufenthalts“ und der dort vorgenommenen ausdrücklichen Abgrenzung zur „Rückkehrentscheidung“. Entscheidend für ein Verständnis im Sinne eines allein formell zu verstehenden illegalen Aufenthalts spricht die Begründung des Kommissionsentwurfs (vgl. KOM/2005/ 0391endg vom 1.9.2005). Hiernach ist der Befund eindeutig. Unter I 3 Ziffer 12 wird ausdrücklich ausgeführt, dass Regelungsgegenstand der Richtlinie nicht die Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung/Sicherheit sei. Unter I 4 wird zu „Kapitel II“ weiter dargelegt, die Vorschriften der Richtlinie seien auf jede Art von illegalem Aufenthalt anwendbar (z.B. Ablauf eines Visums, Ablauf eines Aufenthaltstitels, Widerruf oder Rücknahme eines Aufenthaltstitels, endgültige Ablehnung eines Asylantrags, Aberkennung des Flüchtlingsstatus, illegale Einreise). Nicht Gegenstand seien die Gründe und Verfahren für die Beendigung eines rechtmäßigen Aufenthalts. Für dieses Verständnis spricht auch die in Anspruch genommene Rechtsgrundlage des Art. 63 Abs. 3 lit. b) EG. Im Übrigen entspricht der im Gesetzgebungsverfahren neu eingefügte Verweis auf Art. 5 SDK sachlich dem früheren Verweis auf Art. 5 SDÜ, der auch materielle Regelungen enthielt. Demzufolge stellen auch Widerruf, Rücknahme oder nachträgliche Befristung keine Rückkehrentscheidung dar.
89 
Ausgehend hiervon war der Beklagte unionsrechtlich nicht gehalten, von vornherein von Amts wegen eine Befristung der Ausweisung auszusprechen.
90 
Eine Befristung war auch nicht aus sonstigen Gründen der Verhältnismäßigkeit auszusprechen, namentlich um dem Kläger eine Rückkehrperspektive zu eröffnen. Zum einen bestünde eine solche im Falle des ledigen Klägers nach Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ohnehin nicht. Zum anderen besteht gegenwärtig keine tatsächlich ausreichend gesicherte Grundlage für eine solche Entscheidung, da eine sachgerechte Prognose, dass überhaupt und ggf. wann der Ausweisungsanlass entfallen sein wird, nicht angestellt werden kann. Es wäre unauflöslich widersprüchlich, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das Vorliegen der (hohen) Ausweisungsvoraussetzungen anzunehmen und gleichzeitig eine sachgerechte Prognose anstellen zu wollen, dass diese mit hinreichender Sicherheit bereits zu einem bestimmten Zeitpunkt entfallen sein werden. Daher hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung auch fehlerfrei vorsorglich eine Befristung abgelehnt. Wenn die Bestimmung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG für den Fall einer auf einer strafgerichtlichen Verurteilung beruhenden Ausweisung eine Überschreitung der Fünfjahresfrist zulässt, ohne dass dieses von bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen abhängig gemacht wird, so ist dem die Option immanent, ausnahmsweise von der Setzung einer Frist abzusehen, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine Frist sachgerecht und willkürfrei überhaupt nicht bestimmt werden kann. Zur Klarstellung weist der Senat ausdrücklich darauf hin, dass diese nationale Vorgabe, da es sich bei der Ausweisung schon keine Rückkehrentscheidung handelt, keine Umsetzung des Unionsrechts darstellt, weshalb insoweit auch keine Entscheidung von Amts wegen getroffen werden muss (anders für eine allein generalpräventiv begründete Ausweisung nunmehr BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11).
91 
Wollte man entgegen der hier vertretenen Auffassung die Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie qualifizieren, so hätte der nationale Gesetzgeber hier von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht und die formellen wie materiellen Befristungsvorgaben des Art. 11 Abs. 2 RFRL ohne Verstoß gegen Unionsrecht nicht in nationales Recht umgesetzt. Die Tatsache, dass er gleichwohl das nationale Recht insoweit gegenüber der früheren Rechtslage modifiziert und auch dem Grundsatz nach bei strafgerichtlichen Verurteilungen eine Fünfjahresfrist vorgegeben hätte, die im Einzelfall überschritten werden darf, stellt kein unzulässiges teilweises Gebrauchmachen von der Opt-Out-Klausel dar, sondern nur die Wahrnehmung eines eigenständigen nationalen Gestaltungsspielraums (a.A. wohl OVGNW, Urteil vom 13.12.2011 - 12 B 19.11 - juris).
92 
Abgesehen davon könnte, wenn wie hier eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL vorliegt – nicht anders als im nationalen Recht – im Ausnahmefall die Bestimmung einer Frist vorläufig unterbleiben, sofern, wie bereits oben ausgeführt, eine solche gegenwärtig nicht bestimmt werden kann. Der Beklagte hätte daher, wie dargelegt, zu Recht von einer Bestimmung abgesehen, wenn man die vom Senat nicht geteilten Auffassung verträte, dass hier Art. 11 Abs. 2 RFRL uneingeschränkt anzuwenden wäre.
IV.
93 
Die vom Beklagten verfügte Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 und 5 AufenthG. Bereits aus deren Begründung ergibt sich hinreichend deutlich, dass sie nur für den Fall des Eintritts der Unanfechtbarkeit Geltung beanspruchen soll. Im Übrigen hat der Beklagte dies in der mündlichen Verhandlung nochmals ausdrücklich klargestellt.
94 
Im Zusammenhang mit dem Erlass der Abschiebungsandrohung war auch im Hinblick auf unionsrechtliche Vorgaben keine Entscheidung über die Befristung eines mit einer späteren Abschiebung einhergehenden Einreiseverbots zu treffen.
95 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11) hierzu ausgeführt:
96 
„Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass demgegenüber unter dem Aspekt des Einreiseverbots die Abschiebungsandrohung sowie die Abschiebungsanordnung einer abweichenden und differenzierten Betrachtung bedürfen. Nach Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL gehen „Rückkehrentscheidungen“ mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Gemäß Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL kann in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen. Nach Art. 11 Abs. 2 RFRL wird die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Art. 3 Nr. 6 RFRL definiert das Einreiseverbot als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Daraus folgt, dass spätestens mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eines „illegal aufhältigen“ Ausländers von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RFRL) über das Einreiseverbot und dessen Dauer zu treffen ist (vgl. auch den 14. Erwägungsgrund). Mit diesen unionsrechtlichen Vorgaben ist es bereits nicht zu vereinbaren, wenn § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an die Abschiebung selbst unmittelbar kraft Gesetzes ein Einreiseverbot knüpft. Es ist demnach unerlässlich, dass die zuständige Behörde entweder in der Rückkehrentscheidung (also etwa der Abschiebungsandrohung) oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang hiermit für den unter Umständen noch nicht feststehenden Fall einer späteren Vollstreckung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL) von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung trifft. Spätestens jedoch mit der Anordnung der Abschiebung, ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht (vgl. GK-AufenthG, § 58 AufenthG Rn. 52 ff.), oder aber wiederum in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit muss diese Entscheidung über ein Einreiseverbot und dessen Befristung getroffen werden, wobei nach Art. 11 Abs. 2 RFRL eine Befristung des Einreiseverbots die Regel ist und ein unbefristetes Verbot allenfalls ausnahmsweise erfolgen kann. Diesen Vorgaben genügt § 11 Sätze 1, 3 und 4 AufenthG nicht (a.A. Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - a.a.O.). Mit der aktuellen Regelung, wonach erst später und nur auf Antrag eine Befristung vorzunehmen ist, würde das von der Richtlinie intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „auf den Kopf gestellt“ und das unbefristete Einreiseverbot zunächst zum gesetzlichen Regelfall ausgestaltet. Dies lässt sich auch nicht mit einer dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich eingeräumten Verfahrensautonomie rechtfertigen (so aber Thym und Kluth in der Anhörung des Innenausschusses am 27.6.2011, Drs 17(A)282 F, S. 3 bzw. 17(4)282 A, S. 2). Denn der Rekurs auf eine dem Grundsatz nach richtigerweise anzuerkennende Verfahrensautonomie wäre hier unauflösbar widersprüchlich, weil mit der Konzeption der Richtlinie unvereinbar. Der Vorbehalt zugunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie reicht nur soweit, als Unionsrecht keine abweichenden bindenden Vorgaben enthält, was hier gerade der Fall ist. Diese Konzeption dient im Übrigen nicht nur den öffentlichen Interessen der Mitgliedstaaten und der Union (vgl. 14. Erwägungsgrund), sondern soll, wie bereits erwähnt, auch den Betroffenen sofort eine Rückkehrperspektive für die Zukunft eröffnen (oder ausnahmsweise auch deutlich machen, dass eine solche jedenfalls derzeit nicht besteht). Die Entscheidung der Behörde hat daher nach der Konzeption des Art. 11 RFRL auch von Amts wegen zu erfolgen. Dieses bereits von Anfang an festzusetzende Einreiseverbot unterliegt dann weitergehend nach Art. 11 Abs. 3 RFRL der Überprüfung und Korrektur. Demzufolge hat die Ausländerbehörde entgegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eine Entscheidung darüber zu treffen, wie lange das Einreiseverbot gelten soll.
97 
Zur Klarstellung seiner Ausführungen im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 – juris Rn. 83) weist der Senat auch darauf hin, dass die oben (vgl. III.) dargestellte Einschränkung hinsichtlich strafgerichtlicher Verurteilungen auch in Bezug auf die nach einer Ausweisung ergehende Rückkehrentscheidung und das mit ihr einhergehende Einreiseverbot selbst gilt, weil die Bundesrepublik Deutschland nach dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 1 Sätze 3 und 4 AufenthG nicht nur hinsichtlich der Folgewirkungen der Ausweisung, sondern auch hinsichtlich derer einer späteren Abschiebung insoweit von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht hat, die allgemein alle Fälle einer aufgrund bzw. infolge einer strafgerichtlichen Entscheidung eintretenden Rückehrpflicht betrifft.
98 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
99 
Die Revision wird zugelassen, weil die unter III. und IV. aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
100 
Beschluss vom 10. Februar 2012
101 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
102 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
27 
Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 zu Recht abgewiesen, denn der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
I.
28 
Die mit Bescheid vom 25.06.2010 verfügte Ausweisung leidet nicht deshalb an einem unheilbaren Verfahrensfehler, weil das nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vom 25.02.1964 (ABl. 56 vom 04.04.1964, S. 850) vorgesehene „Vier-Augen-Prinzip“ nicht beachtet wurde. Wie sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Rechtssache C-371/08 - hinreichend ersehen lässt, entfaltet diese zum 30.04.2006 aufgehobene Bestimmung keine Wirkungen mehr für den verfahrensrechtlichen Ausweisungsschutz assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger (1.). Auch aus geltenden unionsrechtlichen Verfahrensgarantien folgt nicht die Notwendigkeit, ein Vorverfahren durchzuführen (2.). Die Stillhalteklauseln gebieten keine andere Betrachtung (3.). Die Erforderlichkeit eines Vorverfahrens ergibt sich schließlich nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens (4.).
29 
1. Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG war bei einer ausländerrechtlichen Entscheidung über die Ausweisung ein weiteres Verwaltungsverfahren durchzuführen, sofern nicht ausnahmsweise ein dringender Fall vorlag und sofern nicht im gerichtlichen Verfahren eine Zweckmäßigkeitsprüfung vorgesehen war. Diese für Angehörige der Mitgliedstaaten (vgl. zum personellen Anwendungsbereich Art. 1 dieser Richtlinie) geltende Regelung erstreckte der Europäische Gerichtshof auf die Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger (Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 65 ff.). Fehlte es an der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens, so war die Ausweisung unheilbar rechtswidrig (BVerwG, Urteil vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - Rn. 12 ff., BVerwGE 124, 217, vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - Rn. 14 ff., BVerwGE 124, 243 und vom 09.08.2007 - 1 C 47.06 - Rn. 23 ff., BVerwGE 129, 162).
30 
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die im Rahmen der Art. 48, 49 und 50 EGV (später Art. 39, 40, 41 EG und nunmehr Art. 45 ff. AEUV) geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer zu übertragen sind, die die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen. Dies beruht auf den Erwägungen, dass in Art. 12 des Assoziierungsabkommens die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des „Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft“ leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen, dass Art. 36 ZP die Fristen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (nunmehr und im Folgenden: Union) und der Türkei festlegt, dass der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln vorsieht und dass der Beschluss 1/80 bezweckt, im sozialen Bereich die Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu verbessern (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 04.10.2007- Rs. C-349/06 Rn. 29, vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 61 ff., vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 42 ff. und vom 10.02.2000 - Rs. C-340/97 Rn. 42 f.). In der Rechtssache „Dörr und Ünal“ (Rn. 65 ff.) heißt es, es sei nach diesen Erwägungen geboten, die in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG niedergelegten Grundsätze als auf türkische Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragbar anzusehen, und weiter:
31 
„….Um effektiv zu sein, müssen die individuellen Rechte von den türkischen Arbeitnehmern vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können. Damit die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes gewährleistet ist, ist es unabdingbar, diesen Arbeitnehmern die Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden, und es muss ihnen somit ermöglicht werden, sich auf die in den Artikeln 8 und 9 der Richtlinie 64/221 vorgesehenen Garantien zu berufen. Diese Garantien sind nämlich, wie der Generalanwalt …ausführt, untrennbar mit den Rechten verbunden, auf die sie sich beziehen.“
32 
In der Entscheidung „Ziebell“ knüpft der Gerichtshof an die Ausführungen im Urteil „Dörr und Ünal“ an und legt dar (Rn. 58), dass
33 
„…die Grundsätze, die im Rahmen der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrags gelten, so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden, die Rechte aufgrund der Assoziation EWG-Türkei besitzen. Wie der Gerichtshof entschieden hat, muss eine solche Analogie nicht nur für die genannten Artikel des Vertrags gelten, sondern auch für die auf der Grundlage dieser Artikel erlassenen sekundärrechtlichen Vorschriften, mit denen die Artikel durchgeführt und konkretisiert werden sollen (vgl. zur Richtlinie 64/221 u.a. Urteil Dörr und Ünal)“.
34 
Durch den Terminus „Analogie“, der etwa auch in der französischen und englischen Fassung des Urteils verwendet wird, ist klargestellt, dass die Inhalte des - für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten - maßgeblichen Sekundärrechts nicht deshalb auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige angewandt werden, weil diese allgemeine Rechtsgrundsätze sind, die ggfs. auch losgelöst von der Wirksamkeit der jeweiligen Regelung noch Geltung beanspruchen können, sondern dass es sich um eine entsprechende Übertragung geltenden Rechts handelt. Eine Vorschrift kann jedoch nur solange analog angewandt werden, wie sie selbst Gültigkeit beansprucht. Mit der Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.04.2006 durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG entfällt deshalb - wie der Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ darlegt - die Grundlage für ihre entsprechende Anwendung.
35 
Dass aufgrund dieser Aufhebung nicht mehr „traditionell auf die in der Richtlinie 64/221/EWG festgeschriebenen Grundsätze abgestellt“ werden kann (Rn. 76) und der Richtlinie insgesamt, d.h. in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht, keine Bedeutung mehr zukommt, ist nach den Ausführungen im Urteil „Ziebell“ (insb. Rn. 77 ff.) und dem ihm zugrunde liegenden Sachverhalt hinreichend geklärt. Dem Europäischen Gerichtshof war aufgrund des Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.07.2008 und der beigefügten Akten bekannt, dass auf die dort streitgegenständliche Ausweisungsverfügung vom 06.03.2007 das „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr angewandt, vielmehr gegen die Ausweisungsentscheidung direkt Klage erhoben worden ist. Das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.08.2009 (1 C 25.08 - AuAS 2009, 267) führt sogar ausdrücklich aus, dass - sollte der in Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG für Unionsbürger geregelte Ausweisungsschutz nicht auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen sein - sich die Frage stellt, ob Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG gleichwohl weiterhin anzuwenden ist oder stattdessen die Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden, die das „Vier-Augen-Prinzip“ abgelöst haben (BVerwG, a.a.O., Rn. 26). Hätte der Gerichtshof dem im Verfahren „Ziebell“ nicht eingehaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ - und sei es auch mit Blick auf besondere oder allgemeine unionsrechtliche Verfahrensgarantien, die Standstillklauseln oder das Assoziationsabkommen an sich - noch irgendeine rechtliche Relevanz zu Gunsten des Klägers beigemessen, so hätte es nahegelegen, unabhängig von der konkreten Vorlagefrage hierzu Ausführungen zu machen. Die Tatsache, dass der Gerichtshof die Aufhebung der Richtlinie insgesamt besonders hervorhebt, und der Umstand, dass er den Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige mit einer Rechtsposition nach dem ARB 1/80 zudem ausdrücklich auf einen anderen unionsrechtlichen Bezugsrahmen im geltenden Recht stützt, belegen, dass die Richtlinie 64/221/EWG nach Auffassung des Gerichtshofs in Gänze nicht mehr zur Konkretisierung des formellen und materiellen Ausweisungsschutzes des Klägers herangezogen werden kann. Hätte der Gerichtshof den Inhalten der Richtlinie 64/221/EWG noch irgendeine Bedeutung beigemessen, so hätte es sich im Übrigen auch aufgedrängt, für das materielle Ausweisungsrecht - etwa in Anknüpfung an die Rechtssachen „Cetinkaya“ (Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 - Rn. 44 ff.) oder „Polat“ (Urteil vom 04.10.2007 -Rs. C-349/06 - Rn. 30 ff.) - den dort erwähnten Art. 3 der Richtlinie 64/221/ EWG ausdrücklich weiterhin fruchtbar zu machen. Diesen Weg hat der Gerichthof in der Rechtssache „Ziebell“ jedoch ebenfalls nicht beschritten. An dieser Sicht vermag – entgegen der Auffassung des Klägers – auch der Umstand nichts zu ändern, dass für die Anwendung des am 21.06.1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits geschlossenen Abkommen über die Freizügigkeit (ABl. 2002 L 114, S. 6) die Richtlinie 64/221/EWG nach wie vor vorübergehend Bedeutung hat (vgl. Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I).
36 
2. Es ist nicht entscheidungserheblich, ob sich die Verfahrensgarantien für einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, der sich gegen seine Ausweisung wendet, nunmehr ebenfalls aus der Richtlinie 2003/109/EG (Art. 10, Art. 12 Abs. 4), aus Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG oder aus den auch im Unionsrecht allgemeinen anerkannten Grundsätzen eines effektiven Rechtsschutzes ergeben. Denn die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens ist in keinem dieser Fälle geboten.
37 
a) Art 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG sieht vor, dass einem langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem betroffenen Mitgliedstaat der Rechtsweg gegen seine Ausweisung offen steht. Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie normiert, dass der langfristig Aufenthaltsberechtigte Rechtsbehelfe u.a. gegen den Entzug seiner Rechtsstellung einlegen kann. Welche Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, bestimmt sich jedoch allein nach dem nationalen Recht. Ein Vorverfahren als einzuräumender Rechtsbehelf ist nach der Richtlinie nicht vorgeschrieben.
38 
b) Auch soweit man für die einem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen einzuräumenden Verfahrensgarantien Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG heranziehen wollte, folgt hieraus nichts anderes. Die Erwägungen zu den Besonderheiten der Unionsbürgerschaft haben den Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ im Anschluss an die Ausführungen des Generalanwalts bewogen, den Schutz der Unionsbürger vor Ausweisung, wie in Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehen, nicht im Rahmen der Anwendung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 auf die Garantien gegen die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger zu übertragen (vgl. im Einzelnen Rn. 60 ff. und Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.04.2011 - Rs. C-371/08 - Rn. 42 ff.). Selbst wenn man der Auffassung wäre, die Spezifika der Unionsbürgerschaft (vgl. zu deren Begriff und Inhalt auch Bergmann , Handlexikon der Europäischen Union, 4. Aufl. 2012, Stichwort „Unionsbürgerschaft“) stünden lediglich der Anwendung des materiellen Ausweisungsrechts der Richtlinie 2004/38/EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige entgegen und nicht der Übertragung der im gleichen Kapitel enthaltenen Verfahrensgarantien nach Art. 30 f., leidet die Ausweisungsverfügung nicht an einem Verfahrensfehler. Der Gerichtshof hat sich im Urteil „Ziebell“ nicht dazu geäußert, ob diese Bestimmungen insoweit analogiefähig sind bzw. ihnen jedenfalls allgemein geltende Grundsätze zu entnehmen sind (vgl. auch Art. 15 der Richtlinie 2004/38/EG), die in Anknüpfung allein an die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Notwendigkeit deren verfahrensrechtlichen Schutzes ihre Berechtigung haben, oder ob auch diesen ein spezifisch unionsbürgerbezogener Inhalt zukommt. Für letzteres könnte etwa Art. 31 Abs. 3 S. 2 dieser Richtlinie angeführt werden, wonach das Rechtsbehelfsverfahren gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 nicht unverhältnismäßig ist; auch die Bezugnahme in Art. 31 Abs. 2, letzter Spiegelstrich auf Art. 28 Abs. 3 könnte dafür sprechen. Dies bedarf jedoch keiner Entscheidung, denn die Verfahrensgarantien nach Art. 30 f. der Richtlinie 2004/38/EG schreiben die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens bei der Ausweisung von Unionsbürgern nicht vor (diese Frage lediglich ansprechend BVerfG, Kammerbeschluss vom 24.10.2011 - 2 BvR 1969/09 - juris Rn. 40), so dass der Kläger selbst bei ihrer Anwendbarkeit kein für ihn günstigeres Ergebnis herleiten könnte.
39 
Nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG müssen die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. Aus dieser Bestimmung folgt aber nicht die Verpflichtung des Mitgliedstaates, außer dem gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Ausweisungsverfügung (zusätzlich) ein behördliches Rechtsbehelfsverfahren vorzuhalten und in diesem auch die Überprüfung der Zweckmäßigkeit einer Ausweisung zu ermöglichen. Wie sich schon aus dem Wortlaut ergibt („..und gegebenenfalls bei einer Behörde…“), trägt diese Bestimmung lediglich dem - heterogenen - System des Rechtsschutzes der Mitgliedstaaten Rechnung und lässt deren Berechtigung unberührt, ein Rechtsbehelfsverfahren auch noch bei einer Behörde zu eröffnen. Ein solches ist jedoch in Baden-Württemberg nicht mehr vorgesehen. Erlässt das Regierungspräsidium den Verwaltungsakt - wie dies für die Ausweisung eines in Strafhaft befindlichen Ausländers zutrifft (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AAZuVO) -, so ist hiergegen unabhängig von dem zugrundeliegenden Rechtsgebiet im Anwendungsbereich des seit 22.10.2008 geltenden § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO (GBl. 2008, 343) i.V.m. § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO das Vorverfahren nicht statthaft. Aufgrund vergleichbarer, wenn auch regelungstechnisch teilweise von einem anderen Ansatz ausgehender Landesgesetze entspricht es einer bundesweit anzutreffenden Rechtspraxis, ein Widerspruchsverfahren vor Erhebung einer Klage nicht mehr vorzuschreiben (vgl. z.B. auch Art. 15 Abs. 2 BayAGVwGO, § 16a HessAGVwGO, § 8a NdsAGVwGO). Dass die Unionsbürgerrichtlinie nicht dazu zwingt, ein dem gerichtlichen Rechtsschutz vorgeschaltetes Widerspruchsverfahren zu schaffen, folgt im Übrigen eindeutig aus ihrer Entstehungsgeschichte.
40 
Der Vorschlag der Kommission für die Unionsbürgerrichtlinie (KOM 2001/0257/endgültig, ABl. C 270 E vom 25.09.2001, S. 150) sah ursprünglich vor, dass u.a. bei der Ausweisung der Betreffende bei den Behörden oder den Gerichten des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen kann; ist der behördliche Weg vorgesehen, entscheidet die Behörde außer bei Dringlichkeit erst nach Stellungnahme der zuständigen Stelle des Aufnahmemitgliedstaates, vor dem es dem Betreffenden möglich sein muss, auf seinen Antrag hin seine Verteidigung vorzubringen. Diese Stelle darf nicht die Behörde sein, die befugt ist, die Ausweisungsentscheidung zu treffen (vgl. im Einzelnen den - hier verkürzt wiedergegebenen - Wortlaut des Entwurfs zu Art. 29 Abs. 1 und 2). In der Begründung des Vorschlags zu Art. 29 heißt es ausdrücklich:
41 
„Ein lückenloser Rechtsschutz schließt nicht aus, dass ein Mitgliedstaat vorsieht, dass ein Rechtsbehelf bei einer Behörde eingelegt werden kann. In diesem Fall müssen die in Art. 9 der Richtlinie 63/221/EWG genannten Objektivitätsgarantien gegeben sein, insbesondere die vorherige Stellungnahme einer anderen Behörde, als die, die die Einreiseverweigerung oder die Ausweisung verfügen soll, sowie Garantie in Bezug auf die Rechte der Verteidigung.“
42 
In dem Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 6/2004 vom 05.12.2003 (ABl. C 54 E vom 02.03.2004, S. 12) hat Art. 31 Abs. 1 bereits - mit Zustimmung der Kommission - die Fassung, wie sie in der Unionsbürgerrichtlinie vom 29.04.2004 enthalten ist (a.a.O., S. 26). Schon in dem geänderten Vorschlag der Kommission vom 15.04.2003 (KOM(2003) 199 endgültig) erhielt der Entwurf zu Art. 29 Abs. 1 die Fassung, dass „….der Betroffene bei den Gerichten und gegebenenfalls bei den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen“ kann. Durch diese Abänderung sollte klargestellt werden,
43 
„dass der Rechtsbehelf stets bei einem Gericht eingelegt werden muss und ein Rechtsbehelf bei einer Behörde nur dann ebenfalls zulässig ist, wenn der Aufnahmemitgliedstaats dies vorsieht (zum Beispiel bevor ein Rechtsbehelf bei einem Gericht eingelegt werden kann).“
44 
Diese Begründung der Kommission im geänderten Vorschlag vom 15.04.2003 (a.a.O., S. 10) zu Art. 29 Abs. 1 hat sich der „Gemeinsame Standpunkt“ vom 05.12.2003 zu Eigen gemacht (a.a.O., S 27) und ferner Art. 29 Abs. 2 des Kommissionsentwurfs mit dem dort enthaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ komplett gestrichen. Dieser ist mit Blick auf die von den Mitgliedstaaten stets vorzusehende Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts und der dort zu gewährenden Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung und der Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung über die Ausweisung beruht, für überflüssig erachtet worden (vgl. die Begründung des Rates, a.a.O., S. 29, 32).
45 
Das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene „Vier-Augen-Prinzip“, das defizitäre gerichtliche Kontrollmechanismen und eine in den Mitgliedstaaten zum Teil vorherrschende geringe Kontrolldichte der gerichtlichen Entscheidungen kompensieren sollte, wurde somit in Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG durch eine Verbesserung des gerichtlichen Rechtsschutzes ersetzt (vgl. zur bewussten Abkehr von den in Art. 8 f der Richtlinie 64/221/ EWG vorgesehenen Verfahrensregelungen auch Erwägungsgrund 22 der Richtlinie 2004/38/EG). Der in Deutschland dem Kläger zur Verfügung stehende gerichtliche Rechtsschutz erfüllt die Vorgaben des Art. 31 der Richtlinie.
46 
Es bleibt daher der Verfahrensautonomie des Mitgliedstaats überlassen, ob er bei einer Ausweisung eines Unionsbürgers zusätzlich zum gerichtlichen Rechtsschutz noch ein Widerspruchsverfahren vorsieht. Dass die in Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG enthaltene Formulierung „..und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen zu können“ bei diesem Verständnis nur noch eine unionsrechtliche Selbstverständlichkeit wiedergibt, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift.
47 
c) Auch die allgemeine unionsrechtliche Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs fordert nicht die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens. Selbst wenn man entgegen den Ausführungen oben unter 1.) der Auffassung wäre, der Gerichtshof habe sich im Urteil „Ziebell“ hierzu nicht der Sache nach geäußert, ist dies eindeutig.
48 
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshof hat ein türkischer Arbeitnehmer, der die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzt, einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, um diese Rechte wirksam geltend machen zu können (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn.67). Es entspricht einem allgemein anerkannten unionsrechtlichen Grundsatz, der sich aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten ergibt und der in Art. 6 und 13 EMRK verankert ist, dass bei einem Eingriff in die Rechte des Betroffenen (hier: Eingriff in die Freizügigkeit des Arbeitnehmers) durch eine Behörde des Mitgliedstaats der Betroffene das Recht hat, seine Rechte vor Gericht geltend zu machen; den Mitgliedstaaten obliegt es, eine effektive richterliche Kontrolle der Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des innerstaatlichen Rechts sicherzustellen, das der Verwirklichung der eingeräumten Rechte dient (vgl. schon EuGH, Urteil vom 03.12.1992 - Rs. C-97/91 Rn.14, vom 15.10.1987 - Rs. C-222/86 Rn. 12 ff. und vom 15.05.1986 - Rs. C-222/84 Rn. 17 ff.). Zum Effektivitätsgrundsatz gehört, dass die gerichtliche Kontrolle die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung umfasst (EuGH, Urteil vom 15.10.1987 - Rs. C-222/84 Rn.15). Auch dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (EuGH, Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-279/09 Rn. 28, vom 15.04.2008 - Rs. C-268/06 Rn. 46, vom 13.03.2007 - Rs. C-432/05 Rn. 43 und vom 16.12.1976 - 33/76 Rn.5). Ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, ist unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Ablaufs und der Besonderheiten dieses Verfahrens zu prüfen (EuGH, Urteil vom 21.12.2002 - Rs. C-473/00 Rn. 37 und vom 14.12.1995 - Rs. C-312/93 Rn.14).
49 
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze ist es nicht geboten, ein behördliches Vorverfahren mit einer diesem immanenten Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitskontrolle einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorzuschalten, das die Vorgaben des effektiven Rechtschutzes in jeder Hinsicht erfüllt. Auch Art. 19 Abs. 4 GG fordert dies übrigens gerade nicht (vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 24.04.1985 - 2 BvF 2/83 u.a. - juris Rn. 105 m.w.N.). Ein Anspruch des Einzelnen auf ein „Maximum“ an Verfahrensrechten und den unveränderten Fortbestand einer einmal eingeräumten verfahrensrechtlichen Möglichkeit besteht nicht - zumal wenn diese wie das „Vier-Augen-Prinzip“ aus einer bestimmten historischen Situation als Kompensation für eine früher weit verbreitete zu geringe gerichtliche Kontrolldichte erfolgte.
50 
d) Aus dem in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes und dem „Recht auf gute Verwaltung“ nach Art. 41 GRCh (vgl. zu den dort eingeräumten Rechten Jarass, GRCh-Kommentar, 2010, Art. 41 Rn. 21 ff.) ergibt sich für den Kläger ebenfalls kein Recht auf Durchführung eines Vorverfahrens.
51 
3. Ein Widerspruchsverfahren ist ferner nicht mit Blick auf die assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln nach Art. 7 ARB 2/76, Art. 13 ARB 1/80 oder Art. 41 Abs. 1 ZP einzuräumen. Selbst wenn man die Ansicht nicht teilen würde, schon aus dem Urteil „Ziebell“ ergebe sich hinreichend deutlich, der Gerichtshof halte das Fehlen eines Vorverfahrens auch unter dem Aspekt der Stillhalteklauseln nicht für problematisch, lässt sich feststellen, dass dessen Abschaffung keinen Verstoß gegen die Stillhalteklauseln darstellt.
52 
a) Der Kläger kann sich als im Bundesgebiet geborener Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers auf Art. 13 ARB 1/80 berufen. Nach dieser am 01.12.1980 in Kraft getretenen Regelung dürfen die Mitgliedstaaten für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß ist, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Diese Stillhalteklausel, die unmittelbar wirkt (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62, vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 58 f. und vom 20.09.1990 - Rs. C-192/89 Rn. 26), verbietet allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in dem entsprechenden Mitgliedstaat galten (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62), wobei den Mitgliedstaaten auch untersagt ist, nach dem Stichtag eingeführte günstigere Regelungen wieder zurückzunehmen, selbst wenn der nunmehr geltende Zustand nicht strenger ist als der am Stichtag geltende (siehe zu dieser „zeitlichen Meistbegünstigungsklausel“ EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 49 ff ). Die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 verfolgt das Ziel, günstigere Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu schaffen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 und vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 72 ff.). Normadressat ist ausschließlich der einzelne Mitgliedstaat mit Blick auf dessen nationales Recht, nicht die Europäische Union als Vertragspartner des Assoziationsabkommens EWG/Türkei. Deren Befugnisse werden durch diese Stillhalteklausel nicht beschränkt. Vom Wortlaut her schützt das Unterlassungsgebot der Standstillklausel zwar ausschließlich den unveränderten Zugang zum Arbeitsmarkt, es entfaltet gleichwohl mittelbare aufenthaltsrechtliche Wirkungen, soweit ausländerrechtliche Maßnahmen zur Beeinträchtigung des Arbeitsmarktzugangs führen, die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels erschwert wird (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62 ff. und vom 29.04.2010 - Rs. C-92/09 Rn. 44 ff.) oder der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen im Bundesgebiet beendet werden soll (vgl. auch Renner, 9. Aufl., 2011, § 4 Rn. 197). Bei der Bestimmung, wann eine Maßnahme eine „neue Beschränkung“ darstellt, orientiert sich der Gerichtshof gleichermaßen an den mit Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 ZP verfolgten Zielen und erstreckt die Tragweite der Stillhalteverpflichtung auf sämtliche neuen Hindernisse für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die eine Verschärfung der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Bedingungen darstellen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 ff.), wobei eine solche materieller und/oder verfahrensrechtlicher Art sein kann (EuGH, Urteil vom 21.07.2011 - Rs. C-186/10 Rn. 22, vom 29.04.2010 - Rs. C-92/07 Rn. 49, vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 64 und vom 20.09.2007 - Rs. C-16/05 Rn. 69). Nach diesen Grundsätzen stellt die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens keine „neue Beschränkung“ dar.
53 
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens von Art. 13 ARB 1/80 war nach dem damals geltenden § 68 VwGO und dem baden-württembergischen Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 22.03.1960 (GBl. 1960, 94) in der Fassung des Gesetzes vom 12.12.1979 (GBl. 1979, 549) auch bei der Ausweisung eines türkischen Staatsangehöriger ein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Die in der vorliegenden Fallkonstellation nunmehr vorgesehene Zuständigkeit einer Mittelbehörde für den Erlass der Ausweisungsverfügung (§ 6 Nr. 1 AAZuVO) und das gesetzlich deswegen angeordnete Entfallen des Vorverfahrens (§ 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO BW vom 14.10.2008; vgl. auch die Vorgängervorschrift § 6a AGVwGO BW vom 01.07.1999) ist keine Änderung, die geeignet wäre, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erschweren oder die einem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten materiellen Rechte zu beeinträchtigen. Unabhängig davon, ob das Widerspruchsverfahrens nur als Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens angesehen wird (vgl. hierzu Bader, u.a. VwGO, 5. Aufl. 2011, Vor §§ 68 ff. Rn. 49), oder ob es auch als Teil des Prozessrechts begriffen wird (i.S.e. Doppelcharakters Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, Vorb § 68 Rn. 14), ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dessen Wegfall zu einer merklichen Verschlechterung der Rechtsposition türkischer Staatsangehöriger führt. Eine rechtliche Beeinträchtigung des Betroffenen durch die Abschaffung des Vorverfahrens wird im Übrigen auch nicht in anderen rechtlichen Konstellationen außerhalb des Aufenthaltsrechts angenommen.
54 
Grund für den letztlich allein rechtspolitisch gewählten Weg eines weitgehenden Ausschluss des Vorverfahrens in Baden-Württemberg war die Erkenntnis gewesen, dass entsprechend einer evaluierten Verwaltungspraxis jedenfalls in den Fällen, in denen das Regierungspräsidium die Ausgangsentscheidung getroffen hat, die Sach- und Rechtslage vor der ersten Verwaltungsentscheidung so umfassend geprüft wird, dass sich während des Vorverfahrens regelmäßig keine neuen Aspekte ergeben. Der Wegfall des Widerspruchsverfahrens in den Fällen der Ausgangszuständigkeit der Mittelbehörden dient nicht nur deren Entlastung, sondern vor allem auch der Verfahrensbeschleunigung (vgl. näher die Begründung zum entsprechenden Gesetzentwurf der Landesregierung, LT Drs. 12/3862 vom 16.03.1999 sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ständigen Ausschusses vom 22.04.1999, LT Drs. 12/3976). Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens kann daher allenfalls als ambivalent begriffen werden. Die Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens kommt in besonderem Maße dem Interesse des von einer Ausweisung betroffenen Ausländers entgegen, eine möglichst rasche gerichtliche Klärung zu erhalten. Zwar können etwa Mängel in der Ausweisungsentscheidung leichter behoben werden, wenn die Verwaltung „einen zweiten Blick“ hierauf wirft. Der Ausländer wird jedoch nicht belastet, wenn diese Möglichkeit nicht mehr besteht. Vielmehr verbessert dies unter Umständen sogar seine Erfolgschancen bei Gericht. Als Kläger kann er auch all das bei Gericht geltend machen, was er in einem Widerspruchsverfahren vortragen könnte; das Verwaltungsgericht unterzieht die Ausweisung einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle, die insbesondere auch eine volle Überprüfung ihrer Verhältnismäßigkeit einschließt. Lediglich die Zweckmäßigkeit einer Entscheidung kann durch das Verwaltungsgericht nicht geprüft werden, was aber bei einer Gesamtbetrachtung der Wirkungen der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nicht negativ ins Gewicht fällt. Im Übrigen kam es nach den Angaben des Vertreters des Beklagten zu Zeiten des noch bestehenden Widerspruchsverfahrens jedenfalls auf dem Gebiet des Ausländer- bzw. Aufenthaltsrechts praktisch nicht vor, dass allein aus Zweckmäßigkeitserwägungen von einer Ausweisung Abstand genommen wurde - gerade in den Fällen der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger und den hohen Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 spielte dieser Gesichtspunkt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine Rolle, da er insoweit ausschließlich Rechtsvoraussetzungen und Rechtsgrenzen formuliert. Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass das Unionsrecht wie auch das Assoziationsrecht für Beschränkungen der Freizügigkeit nicht zwingend eine Ermessensentscheidung verlange. Der unionsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordere (nur) eine offene Güter- und Interessenabwägung, die das deutsche System von Ist- und Regelausweisung aber nicht zulasse. Nicht erforderlich sei eine behördliche Wahl zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten, ein Handlungsermessen der Ausländerbehörde. Die Ausweisung unterliege hinsichtlich der qualifizierten Gefahrenschwelle und des Verhältnismäßigkeitsprinzips voller gerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Lediglich deshalb, weil das nationale Recht neben der Ist- und Regelausweisung nur die Ermessensausweisung kennt, ist im Rahmen dieses Instrumentariums dann, wenn die Eingriffsschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht ist, gleichwohl eine Ermessensentscheidung zu treffen. National-rechtlich ist die Frage einer Überprüfung der Zweckmäßigkeit in einem weiteren Behördenverfahren gleichfalls weder in § 10 AuslG 1965 noch in den späteren Änderungen im Ausweisungsrecht vorgegeben.
55 
Abgesehen davon bedeutet die Stillhalteverpflichtung auch nicht, dass jede Facette des Verwaltungsverfahrens- und -prozessrechts einer Änderung entzogen wäre. Die Mitgliedstaaten verfügen aufgrund ihrer Verfahrensautonomie über einen Gestaltungsspielraum, der allerdings durch den Grundsatz der Effektivität und der Äquivalenz begrenzt wird (EuGH, Urteil vom 18.10.2011 -Rs. C-128/09 - Rn. 52). Lässt eine Änderung des Verfahrens aber - wie hier - die Effektivität des Rechtsschutzes mit Blick auf die dem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten Rechte unverändert, so liegt keine „neue Beschränkung“ vor, zumal wenn man gebührend in Rechnung stellt, dass im Widerspruchsverfahren auch formelle wie materielle Fehler der Ausgangsbehörde zu Lasten des Betroffenen behoben werden können (Bader, VwGO, a.a.O., § 68 Rn. 4, 7, 10; § 79 Rn. 2 ff.).
56 
b) Geht man davon aus, dass der Kläger seine Eigenschaft als Arbeitnehmer nicht verloren hat und hält daher auch den am 20.12.1976 in Kraft getretenen Art. 7 ARB 2/76 für anwendbar, so gilt nichts anderes (vgl. zur Anwendbarkeit von Art. 7 ARB 2/76 neben Art. 13 ARB 1/80 EuGH, Urteil vom 20.09.1990 -Rs. C-192/89 Rn. 18 ff.). Nach dieser Bestimmung dürfen die Mitgliedstaaten der Union und die Türkei für Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Mit Art. 7 ARB 2/76 wird gegenüber Art. 13 ARB 1/80 insoweit nur der zeitliche Bezugspunkt für neue Beschränkungen verändert, ohne dass diese jedoch inhaltlich anders zu bestimmen wären.
57 
c) Ein Verstoß gegen die seit 01.01.1973 geltende Stillhalteklausel nach 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12.09.1963 zur Gründung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation - ZP - scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger zu keinem Zeitpunkt selbstständig erwerbstätig war.
58 
4. Eine Fortgeltung des „Vier-Augen-Prinzips“ nach der Richtlinie 64/221/ EWG folgt auch nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens.
59 
Die Europäische Kommission hat in ihrer Stellungnahme vom 15.12.2006 (JURM(2006)12099) in der Rechtssache „Polat“ (C-349/06) die Auffassung vertreten, bei der Auslegung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen des Assoziationsabkommens oder darauf gestützter Rechtsakte wie Art. 14 ARB 1/80 sei davon auszugehen, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklichen wollten, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (nunmehr Union) seinerzeit verwirklicht worden sei. Hieraus folge, dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürgerrichtlinie auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund dessen erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben könne. Der Inhalt völkerrechtlicher Verträge könne sich nämlich nicht automatisch durch eine spätere Änderung der Rechtslage eines Vertragspartners ändern. Das Wesen des Völkerrechts bestehe gerade darin, dass sich die souveränen Vertragsparteien nur selbst verpflichten können, heteronome Normsetzung komme in diesem Zusammenhang nicht in Betracht. Eine solche heteronome Normsetzung läge aber vor, wenn sich die Änderung der internen Rechtslage der Gemeinschaft unmittelbar auf die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger, die durch völkerrechtlichen Regelungen festgelegt sei, auswirken könnte (vgl. im Einzelnen die Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 Rn. 57 ff., beziehbar unter www.migrationsrecht.net). Diese Ausführungen sind nahezu wortgleich auch in der Stellungnahme enthalten, die die Kommission am 02.12.2008 in der Rechtssache „Ziebell“ abgegeben hat (JURM(08)12077 - Rn. 32 ff.)
60 
Diese Auffassung beruht jedoch allein auf einer eigenen Interpretation des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ vom 02.06.2005 (Rs. C-136/03 - Rn.61 bis 64) durch die Kommission (vgl. insoweit Rn. 57 der Stellungnahme im Verfahren C-349/06 und Rn. 33 der Äußerung in der Rechtssache C-371/08: „Die Kommission versteht diese Rechtsprechung wie folgt:“). Der Gerichtshof hat diese Interpretation allerdings weder im Urteil „Polat“ noch in späteren Entscheidungen aufgegriffen. Aus dem Urteil in der Rechtssache „Ziebell“ und dem dort eingeschlagenen Lösungsweg (siehe hierzu oben 1.) ergibt sich sogar mit aller Deutlichkeit, dass der Gerichtshof, der für sich die Kompetenz zur Auslegung des Assoziationsrechts in Anspruch nimmt, diese Auffassung nicht teilt. Die Ausführungen in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 14.04.2011 im Verfahren „Ziebell“ (vgl. insb. Rn. 57) lassen ebenfalls ersehen, dass auch von dieser Seite dem dogmatischen Ansatz der Kommission insoweit keine Bedeutung beigemessen wird. Die von der Kommission befürwortete Auslegung des Urteils in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ überzeugt den Senat auch deshalb nicht, weil die Ansicht der Kommission zu dem Ergebnis führen könnte, dass in dieser Regelungsmaterie unter Umständen notwendig werdende Änderungen des Unionsrechts zum Nachteil von Unionsbürgern überhaupt nicht mehr oder nur noch um den Preis einer Diskriminierung möglich wären.
61 
Im Übrigen heißt es in der Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 ebenso wie in derjenigen vom 02.12.2008, dass „in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklicht werden sollte, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft seinerzeit verwirklicht worden sei.“ Dieses Schutzniveau für die türkischen Staatsangehörigen wird jedoch durch die Abschaffung des „Vier-Augen-Prinzips“ bei gleichzeitig verbessertem Rechtsschutz gewahrt.
62 
Nach alledem liegt im Fall des Klägers durch die Nichtbeachtung des „Vier-Augen-Prinzips“ kein unheilbarer Verfahrensfehler vor.
II.
63 
Da der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann gem. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sein Aufenthalt nur beendet werden, wenn dieses aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
64 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 73).
65 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2010 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs C-371/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil in der Sache Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
66 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
67 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 80).
68 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken, angeordnet werden (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010, Bozkurt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
71 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
72 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs C-467/02 Rn. 47).
73 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr wird mit dieser Formel mit anderen Worten nur der in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelte Grundsatz zum Ausdruck gebracht, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs C-55/94, Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs 36/75 ), wobei insoweit eine besonders sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
74 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
75 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
76 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartige weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in der dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291).
77 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risiko gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts des vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
78 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
79 
2. Ausgehend hiervon erweist sich die angegriffene Ausweisungsverfügung als ermessensfehlerfrei (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
80 
Aufgrund der langjährigen kriminellen Karriere, nach dem im letzten Strafverfahren erstellten Gutachten Dr. W... vom 11.11.2009 sowie der vom Senat eingeholten Stellungnahme der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 (Frau G...), in der im Einzelnen dargestellt wird, dass der Kläger kaum Interesse an der Aufarbeitung seiner Vergangenheit an den Tag gelegt hat, besteht für den Senat kein Zweifel, das vom Kläger nach wie vor eine erhebliche konkrete Gefahr der Begehung weiterer erheblicher und schwerer Straftaten ausgeht, wodurch das für eine Ausweisung erforderliche Grundinteresse der Gesellschaft unmittelbar berührt ist. Es ist namentlich nach der Stellungnahme der JVA Heilbronn nichts dafür ersichtlich, dass sich beim Kläger etwas Grundsätzliches gebessert haben könnte. Es fehlt hiernach jeder greifbare und glaubhafte, geschweige denn Erfolg versprechende Ansatz dafür, dass der Kläger bereit sein könnte, sich seiner kriminellen Vergangenheit zu stellen und hieran aktiv zu arbeiten. Im Gegenteil: Aus der Stellungnahme wird hinreichend deutlich, dass der Kläger - von guten Arbeitsleistungen abgesehen -sich einer Aufarbeitung der grundlegenden Problematik konsequent verweigert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die vom Beklagten angesprochene und verneinte Frage, ob ihm eine Resozialisierung im dem Land, in dem er geboren und überwiegend aufgewachsen ist, um deren Erfolg willen ermöglicht werden muss, nicht. Der Senat ist sich mit dem Regierungspräsidium Stuttgart der Tatsache bewusst, dass der Kläger, der nie wirklich längere Zeit in der Türkei gelebt hat, mit ganz erheblichen Problemen im Falle der Rückkehr konfrontiert sein wird. Andererseits geht der Senat davon aus, dass er mit Rücksicht auf seinen mehrjährigen Aufenthalt in der Türkei im Kindesalter über die nötige Sprachkompetenz verfügt, um in der Türkei eine neue Basis für sein Leben finden zu können. Angesichts des von ihm ausgehenden erheblichen Gefährdungspotential für bedeutende Rechtsgüter erweist sich auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er - nicht zuletzt bedingt durch seine häufige Straffälligkeit - zu keinem Zeitpunkt über eine gesicherte und gewachsene eigenständige wirtschaftliche Grundlage verfügt hat, die Ausweisung als verhältnismäßig: Sie stellt namentlich keinen unzulässigen Eingriff in sein durch Art. 8 EMRK geschützte Privatleben dar. Der Umstand, dass im Bundesgebiet noch nahe Angehörige des immerhin bereits knapp 26 Jahre alten Klägers leben, gebietet keine andere Sicht der Dinge.
81 
Auch die Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hat keine neuen Aspekte ergeben. Vielmehr wurde die Stellungnahme vom 23.01.2012 bestätigt. Insbesondere konnte der Kläger keine plausible Erklärung dafür geben, weshalb er die verschiedenen Angebote im Strafvollzug zur Aufarbeitung seiner Taten nicht wahrgenommen hatte.
III.
82 
Die Ausweisung ist auch nicht etwa deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil sie unbefristet erfolgt ist. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348/2008, S. 98 ff. – Rückführungsrichtlinie, im Folgenden RFRL), deren Art. 11 Abs. 1 grundsätzlich die Befristung des mit einer Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots anordnet. Denn eine Ausweisung ist schon keine Rückkehrentscheidung im Sinne dieser Richtlinie.
83 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 - juris) in diesem Zusammenhang u.a. ausgeführt:
84 
„Diese Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 24.12.2010 abgelaufen war, soll mit dem zum 26.11.2011 in Kraft getreten „Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex“ vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 RFRL findet sie auf solche Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten; sie regelt die Vorgehensweise zu deren Rückführung. Art. 3 Nr. 2 RFRL definiert den illegalen Aufenthalt wie folgt: „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet diese Mitgliedstaats“ (vgl. auch den 5. Erwägungsgrund).
85 
Der Umstand, dass eine Ausweisung gegebenenfalls erst das Aufenthaltsrecht des Ausländers zum Erlöschen bringt (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) und damit dessen „illegalen Aufenthalt“ begründet (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), macht diese nicht zu einer Rückführungsentscheidung. Daran ändert nichts, dass nach der deutschen Rechtslage häufig die Abschiebungsandrohung mit der die Illegalität des Aufenthalts herbeiführenden Verfügung verbunden ist (vgl. hierzu den ausdrücklichen Vorbehalt in Art. 6 Abs. 6 RFRL). Art. 3 Nr. 4 RFRL umschreibt die Rückkehrentscheidung als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.“ Nach der Struktur des deutschen Aufenthaltsrechts stellt die Ausweisung hiernach aber keine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 RFRL dar (so schon Urteile des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 20.10.2011 - 11 S 1929/11 - juris ; Gutmann, InfAuslR 2011, 13; Westphal/Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 24, November 2011 unter www.westphal-stoppa.de; a.A. Hörich, ZAR 2011, 281, 283 f.; Fritzsch, ZAR 2011, 297, 302 f.; Stiegeler, Asylmagazin 2011, 62, 63 ff.; vorl. Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2010 zur einstweiligen Umsetzung der Richtlinie - Az.: M I 3 - 215 734/25, S. 3; vgl. auch Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2011 - 24 K 5524/10 - juris). Dass die Ausweisung selbst nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, macht auch folgende Überlegung deutlich: Die Richtlinie ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll – gewissermaßen als Kehrseite des Einreiseverbots – durch dessen grundsätzliche Befristung unübersehbar den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. RFRL bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie. Ob gegebenenfalls nach der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats eine Ausweisung auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist insoweit unerheblich (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU - [El Dridi] InfAuslR 2011, 320, Rn. 50).
86 
Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt nicht dem Betroffenen die Ausreisepflicht auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung – sofern nicht ausnahmsweise auf eine solche verzichtet werden darf (vgl. z.B. § 58a AufenthG); in diesem Fall wäre die Abschiebungsanordnung als Rückkehrentscheidung zu qualifizieren. Die Abschiebungsandrohung enthält auch die nach Art 7 RFRL in einer Rückkehrentscheidung zu setzende Frist für eine freiwillige Ausreise (vgl. § 59 Abs. 1 a.F. sowie § 59 Abs. 1 AufenthG n.F.).
87 
Die Ausweisung ist nicht etwa deshalb als „Rückkehrentscheidung“ anzusehen, weil sie nach nationalem Recht als solche ausgestaltet wäre. Wie ausgeführt, verbindet allerdings nach der bisherigen, wie auch nach der aktuellen Rechtslage das nationale Recht in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der Ausweisung ausdrücklich ein Einreiseverbot, das in Satz 2 zusätzlich um das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels erweitert wird. Zwar bestimmt Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL ausdrücklich, dass auch in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen kann. Das nationale Recht kann danach vorsehen, dass selbst dann, wenn kein Fall des Absatzes Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL vorliegt (d.h. keine Fristsetzung in der Abschiebungsandrohung oder tatsächliche Abschiebung), in Folge einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot verhängt werden kann. Es muss sich jedoch immer noch um eine Rückkehrentscheidung handeln. Das ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, an die Ausweisung ein Einreiseverbot zu knüpfen, überschreitet die begrifflichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Daran ändert der Umstand nichts, dass der nationale Gesetzgeber der (irrigen) Auffassung war, mit der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG spezifisch und ausschließlich für die Ausweisung von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch zu machen (vgl. ausdrücklich BTDrucks 17/5470, S. 39). Diese „Opt-Out-Klausel“ beträfe etwa den Abschiebungsfall des § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG; insoweit wurde aber in Bezug auf die Folgen einer Abschiebung gerade hiervon kein Gebrauch gemacht. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung darstellt, steht die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, nach wie vor an die Ausweisung selbst ein zunächst unbefristetes Einreiseverbot zu knüpfen, nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu noch im Folgenden).“
88 
Ergänzend und vertiefend ist noch auszuführen: Gegen die Annahme, die Ausweisung sei keine Rückkehrentscheidung, kann auch nicht die Legaldefinition des „illegalen Aufenthalts“ in Art. 3 Nr. 2 RFRL eingewandt werden. Zwar erweckt der pauschale und undifferenzierte Verweis auf Art. 5 SDK auf den ersten Blick den Eindruck, es könnten auch Fälle gemeint sein, in denen materielle Einreise- bzw. Aufenthaltsvoraussetzungen nicht (mehr) erfüllt sind und somit auch in einem solchen Fall ein illegaler Aufenthalt vorläge. Dagegen sprechen aber bereits das in Art. 6 Abs. 6 RFRL vorausgesetzte Verständnis des „legalen Aufenthalts“ und der dort vorgenommenen ausdrücklichen Abgrenzung zur „Rückkehrentscheidung“. Entscheidend für ein Verständnis im Sinne eines allein formell zu verstehenden illegalen Aufenthalts spricht die Begründung des Kommissionsentwurfs (vgl. KOM/2005/ 0391endg vom 1.9.2005). Hiernach ist der Befund eindeutig. Unter I 3 Ziffer 12 wird ausdrücklich ausgeführt, dass Regelungsgegenstand der Richtlinie nicht die Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung/Sicherheit sei. Unter I 4 wird zu „Kapitel II“ weiter dargelegt, die Vorschriften der Richtlinie seien auf jede Art von illegalem Aufenthalt anwendbar (z.B. Ablauf eines Visums, Ablauf eines Aufenthaltstitels, Widerruf oder Rücknahme eines Aufenthaltstitels, endgültige Ablehnung eines Asylantrags, Aberkennung des Flüchtlingsstatus, illegale Einreise). Nicht Gegenstand seien die Gründe und Verfahren für die Beendigung eines rechtmäßigen Aufenthalts. Für dieses Verständnis spricht auch die in Anspruch genommene Rechtsgrundlage des Art. 63 Abs. 3 lit. b) EG. Im Übrigen entspricht der im Gesetzgebungsverfahren neu eingefügte Verweis auf Art. 5 SDK sachlich dem früheren Verweis auf Art. 5 SDÜ, der auch materielle Regelungen enthielt. Demzufolge stellen auch Widerruf, Rücknahme oder nachträgliche Befristung keine Rückkehrentscheidung dar.
89 
Ausgehend hiervon war der Beklagte unionsrechtlich nicht gehalten, von vornherein von Amts wegen eine Befristung der Ausweisung auszusprechen.
90 
Eine Befristung war auch nicht aus sonstigen Gründen der Verhältnismäßigkeit auszusprechen, namentlich um dem Kläger eine Rückkehrperspektive zu eröffnen. Zum einen bestünde eine solche im Falle des ledigen Klägers nach Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ohnehin nicht. Zum anderen besteht gegenwärtig keine tatsächlich ausreichend gesicherte Grundlage für eine solche Entscheidung, da eine sachgerechte Prognose, dass überhaupt und ggf. wann der Ausweisungsanlass entfallen sein wird, nicht angestellt werden kann. Es wäre unauflöslich widersprüchlich, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das Vorliegen der (hohen) Ausweisungsvoraussetzungen anzunehmen und gleichzeitig eine sachgerechte Prognose anstellen zu wollen, dass diese mit hinreichender Sicherheit bereits zu einem bestimmten Zeitpunkt entfallen sein werden. Daher hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung auch fehlerfrei vorsorglich eine Befristung abgelehnt. Wenn die Bestimmung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG für den Fall einer auf einer strafgerichtlichen Verurteilung beruhenden Ausweisung eine Überschreitung der Fünfjahresfrist zulässt, ohne dass dieses von bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen abhängig gemacht wird, so ist dem die Option immanent, ausnahmsweise von der Setzung einer Frist abzusehen, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine Frist sachgerecht und willkürfrei überhaupt nicht bestimmt werden kann. Zur Klarstellung weist der Senat ausdrücklich darauf hin, dass diese nationale Vorgabe, da es sich bei der Ausweisung schon keine Rückkehrentscheidung handelt, keine Umsetzung des Unionsrechts darstellt, weshalb insoweit auch keine Entscheidung von Amts wegen getroffen werden muss (anders für eine allein generalpräventiv begründete Ausweisung nunmehr BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11).
91 
Wollte man entgegen der hier vertretenen Auffassung die Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie qualifizieren, so hätte der nationale Gesetzgeber hier von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht und die formellen wie materiellen Befristungsvorgaben des Art. 11 Abs. 2 RFRL ohne Verstoß gegen Unionsrecht nicht in nationales Recht umgesetzt. Die Tatsache, dass er gleichwohl das nationale Recht insoweit gegenüber der früheren Rechtslage modifiziert und auch dem Grundsatz nach bei strafgerichtlichen Verurteilungen eine Fünfjahresfrist vorgegeben hätte, die im Einzelfall überschritten werden darf, stellt kein unzulässiges teilweises Gebrauchmachen von der Opt-Out-Klausel dar, sondern nur die Wahrnehmung eines eigenständigen nationalen Gestaltungsspielraums (a.A. wohl OVGNW, Urteil vom 13.12.2011 - 12 B 19.11 - juris).
92 
Abgesehen davon könnte, wenn wie hier eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL vorliegt – nicht anders als im nationalen Recht – im Ausnahmefall die Bestimmung einer Frist vorläufig unterbleiben, sofern, wie bereits oben ausgeführt, eine solche gegenwärtig nicht bestimmt werden kann. Der Beklagte hätte daher, wie dargelegt, zu Recht von einer Bestimmung abgesehen, wenn man die vom Senat nicht geteilten Auffassung verträte, dass hier Art. 11 Abs. 2 RFRL uneingeschränkt anzuwenden wäre.
IV.
93 
Die vom Beklagten verfügte Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 und 5 AufenthG. Bereits aus deren Begründung ergibt sich hinreichend deutlich, dass sie nur für den Fall des Eintritts der Unanfechtbarkeit Geltung beanspruchen soll. Im Übrigen hat der Beklagte dies in der mündlichen Verhandlung nochmals ausdrücklich klargestellt.
94 
Im Zusammenhang mit dem Erlass der Abschiebungsandrohung war auch im Hinblick auf unionsrechtliche Vorgaben keine Entscheidung über die Befristung eines mit einer späteren Abschiebung einhergehenden Einreiseverbots zu treffen.
95 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11) hierzu ausgeführt:
96 
„Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass demgegenüber unter dem Aspekt des Einreiseverbots die Abschiebungsandrohung sowie die Abschiebungsanordnung einer abweichenden und differenzierten Betrachtung bedürfen. Nach Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL gehen „Rückkehrentscheidungen“ mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Gemäß Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL kann in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen. Nach Art. 11 Abs. 2 RFRL wird die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Art. 3 Nr. 6 RFRL definiert das Einreiseverbot als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Daraus folgt, dass spätestens mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eines „illegal aufhältigen“ Ausländers von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RFRL) über das Einreiseverbot und dessen Dauer zu treffen ist (vgl. auch den 14. Erwägungsgrund). Mit diesen unionsrechtlichen Vorgaben ist es bereits nicht zu vereinbaren, wenn § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an die Abschiebung selbst unmittelbar kraft Gesetzes ein Einreiseverbot knüpft. Es ist demnach unerlässlich, dass die zuständige Behörde entweder in der Rückkehrentscheidung (also etwa der Abschiebungsandrohung) oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang hiermit für den unter Umständen noch nicht feststehenden Fall einer späteren Vollstreckung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL) von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung trifft. Spätestens jedoch mit der Anordnung der Abschiebung, ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht (vgl. GK-AufenthG, § 58 AufenthG Rn. 52 ff.), oder aber wiederum in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit muss diese Entscheidung über ein Einreiseverbot und dessen Befristung getroffen werden, wobei nach Art. 11 Abs. 2 RFRL eine Befristung des Einreiseverbots die Regel ist und ein unbefristetes Verbot allenfalls ausnahmsweise erfolgen kann. Diesen Vorgaben genügt § 11 Sätze 1, 3 und 4 AufenthG nicht (a.A. Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - a.a.O.). Mit der aktuellen Regelung, wonach erst später und nur auf Antrag eine Befristung vorzunehmen ist, würde das von der Richtlinie intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „auf den Kopf gestellt“ und das unbefristete Einreiseverbot zunächst zum gesetzlichen Regelfall ausgestaltet. Dies lässt sich auch nicht mit einer dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich eingeräumten Verfahrensautonomie rechtfertigen (so aber Thym und Kluth in der Anhörung des Innenausschusses am 27.6.2011, Drs 17(A)282 F, S. 3 bzw. 17(4)282 A, S. 2). Denn der Rekurs auf eine dem Grundsatz nach richtigerweise anzuerkennende Verfahrensautonomie wäre hier unauflösbar widersprüchlich, weil mit der Konzeption der Richtlinie unvereinbar. Der Vorbehalt zugunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie reicht nur soweit, als Unionsrecht keine abweichenden bindenden Vorgaben enthält, was hier gerade der Fall ist. Diese Konzeption dient im Übrigen nicht nur den öffentlichen Interessen der Mitgliedstaaten und der Union (vgl. 14. Erwägungsgrund), sondern soll, wie bereits erwähnt, auch den Betroffenen sofort eine Rückkehrperspektive für die Zukunft eröffnen (oder ausnahmsweise auch deutlich machen, dass eine solche jedenfalls derzeit nicht besteht). Die Entscheidung der Behörde hat daher nach der Konzeption des Art. 11 RFRL auch von Amts wegen zu erfolgen. Dieses bereits von Anfang an festzusetzende Einreiseverbot unterliegt dann weitergehend nach Art. 11 Abs. 3 RFRL der Überprüfung und Korrektur. Demzufolge hat die Ausländerbehörde entgegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eine Entscheidung darüber zu treffen, wie lange das Einreiseverbot gelten soll.
97 
Zur Klarstellung seiner Ausführungen im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 – juris Rn. 83) weist der Senat auch darauf hin, dass die oben (vgl. III.) dargestellte Einschränkung hinsichtlich strafgerichtlicher Verurteilungen auch in Bezug auf die nach einer Ausweisung ergehende Rückkehrentscheidung und das mit ihr einhergehende Einreiseverbot selbst gilt, weil die Bundesrepublik Deutschland nach dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 1 Sätze 3 und 4 AufenthG nicht nur hinsichtlich der Folgewirkungen der Ausweisung, sondern auch hinsichtlich derer einer späteren Abschiebung insoweit von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht hat, die allgemein alle Fälle einer aufgrund bzw. infolge einer strafgerichtlichen Entscheidung eintretenden Rückehrpflicht betrifft.
98 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
99 
Die Revision wird zugelassen, weil die unter III. und IV. aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
100 
Beschluss vom 10. Februar 2012
101 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
102 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

Tatbestand

1

Der im Jahr 1981 in Deutschland geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine unbefristete Ausweisung.

2

Der Vater des Klägers war 1973 in das Bundesgebiet eingereist und hier als Arbeitnehmer tätig. Er ist mittlerweile verstorben. Der Kläger hat vier ältere Brüder, die alle in Deutschland leben. Auch seine pflegebedürftige Mutter lebt hier. Der Kläger wuchs bei seinen Eltern auf und war seit Oktober 1997 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. 1998 schloss er die Hauptschule und 2001 eine Lehre als Verpackungsmittelmechaniker ab.

3

Am 8. April 2004 ordnete das Amtsgericht S. gegen den Kläger Untersuchungshaft an, weil er dringend verdächtig war, als Mitglied einer Bande mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben. Der Aufenthalt des Klägers war zum damaligen Zeitpunkt unbekannt. Tatsächlich war er in die Niederlande geflohen. Dort hielt er sich 14 Monate auf, bis er am 2. Juni 2005 verhaftet und am 12. August 2005 an die Bundesrepublik Deutschland überstellt wurde.

4

Mit Urteil des Landgerichts S. vom 24. November 2005 wurde der Kläger wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 12 tatmehrheitlichen Fällen sowie unerlaubten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 16 tatmehrheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren verurteilt. Der Verfall eines Wertersatzes in Höhe von 857 300 € wurde angeordnet. Der Verurteilung lag ein Handeltreiben mit etwas mehr als 200 kg Marihuana sowie 500 g Kokain zugrunde. Tatsächlich war jedoch unter führender Beteiligung des Klägers nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs von Januar 2002 bis zu seiner Verhaftung im Juni 2005 mit insgesamt 2 Tonnen Marihuana, mindestens 5 kg Kokain und mit Ecstasy-Tabletten gehandelt worden (UA S. 33), davon 1,5 Tonnen Marihuana vor seiner Flucht in die Niederlande (UA S. 20) und 500 kg nach der Flucht. Das war der Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung nicht bekannt.

5

Der Beklagte wies den Kläger mit Bescheid vom 4. Oktober 2006 aus, ohne die Wirkungen der Ausweisung zu befristen, und drohte ihm für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Zur Begründung der Ausweisung stützte sich der Beklagte darauf, dass der Kläger trotz der von ihm erworbenen assoziationsrechtlichen Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 und Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 im Ermessenswege ausgewiesen werden könne, weil die Voraussetzungen des Art. 14 ARB 1/80 erfüllt seien. Mit den Drogenstraftaten habe der Kläger ein persönliches Verhalten an den Tag gelegt, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle. Zudem liege eine konkrete Wiederholungsgefahr vor. Der Kläger sei wegen zahlreicher Einzeltaten verurteilt worden, die sich über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr erstreckt hätten. Auch wenn er seit seiner Geburt in Deutschland lebe, sei er doch nicht ohne Bindungen in die Türkei. Das Interesse der Gesellschaft an der Verhinderung weiterer Straftaten sei aber höher zu bewerten als das Interesse des Klägers am Zusammenleben mit seinen Eltern und seinen Brüdern. Die Ausweisung wurde ohne Beteiligung einer weiteren Verwaltungsbehörde erlassen.

6

Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 12. März 2008 ab. Während des Berufungsverfahrens ordnete die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 26. Oktober 2010 die Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe an und setzte eine Bewährungszeit von drei Jahren fest. Die bedingte Entlassung erfolgte etwa ein halbes Jahr vor der Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe. Zur Begründung der Entscheidung stützte sich die Strafvollstreckungskammer im Wesentlichen auf ein kriminalprognostisches Gutachten und eine eigene Anhörung des Klägers.

7

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof ist der Kläger eingehend zu den Tathintergründen und seinem Verhalten nach der Tat befragt worden. Weiter wurde Kriminalhauptkommissar K., der die Ermittlungen gegen den Kläger und die Drogenbande geleitet hatte, als Zeuge vernommen. Schließlich wurde die Gutachterin aus dem Strafvollstreckungsverfahren zur Erläuterung ihres Gutachtens angehört.

8

Der Beklagte hat im Termin zur mündlichen Verhandlung die Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid vom 4. Oktober 2006 aufgehoben. Der Rechtsstreit wurde insoweit übereinstimmend für erledigt erklärt.

9

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 15. April 2011 die Berufung hinsichtlich der Ausweisung zurückgewiesen: Der Kläger habe nur bis zum April 2004 ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 ARB 1/80 besessen. Er sei als Sohn eines in der Vergangenheit dem deutschen Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers geboren, was nach fünf Jahren zum Erwerb einer Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 geführt habe. Mit dem Abschluss seiner Lehre habe er auch eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 erworben. Diese Rechte habe er aber durch seine Flucht aus dem Bundesgebiet vor der ihm drohenden Strafverfolgung verloren, weil er sich auf unabsehbare Zeit außerhalb Deutschlands habe aufhalten wollen. Insbesondere die Beschaffung eines fremden türkischen Reisepasses und die Fortsetzung der Betäubungsmittelkriminalität von den Niederlanden aus verdeutlichten, dass er sich nicht nur vorübergehend auf ein Leben in einem anderen Land eingestellt gehabt habe.

10

Damit sei § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG Rechtsgrundlage für die Ausweisung. Besonderen Ausweisungsschutz genieße der Kläger nicht, weil seine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach § 44 Abs. 1 AuslG 1990 erloschen sei, als er mit seiner Flucht in die Niederlande aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund ausgereist sei. Die spezialpräventive Ausweisung des Klägers erweise sich aufgrund der von ihm nach wie vor ausgehenden Wiederholungsgefahr auch nach Art. 8 EMRK als verhältnismäßig. Der Kläger habe als junger Erwachsener bis zu seiner Festnahme Straftaten verübt, die ihn als Intensivtäter auf dem Gebiet der Rauschgiftkriminalität auswiesen. Er habe ohne durchgreifende Skrupel die Sucht anderer als Mittel für seine persönliche Bereicherung eingesetzt. Auch aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger sei der Senat davon überzeugt, dass vom Kläger nach wie vor die in den Taten angelegte Wiederholungsgefahr ausgehe. Dem kriminalprognostischen Gutachten werde keine entscheidungserhebliche Bedeutung zugemessen, weil es auf unzutreffenden tatsächlichen Annahmen beruhe und in zentralen Punkten nicht schlüssig sei. Diese Mängel hätten nicht ausgeräumt werden können. Die Gutachterin habe u.a. nicht in den Blick genommen, dass der Kläger mehr als 800 000 € Schulden habe.

11

Die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung noch vor Ablauf des Zweidritteltermins führe nicht dazu, dass die Frage der Wiederholungsgefahr günstiger zu sehen sei. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer sei auf das mangelhafte Gutachten gestützt. Auch sei der Senat aufgrund des gewonnenen Eindrucks vom Kläger überzeugt, dass dieser keine nachhaltige Persönlichkeitswandlung und Verhaltensänderung durchlaufen habe. Die beanstandungsfreie Führung und Weiterbildung des Klägers im Vollzug lasse nicht auf einen dauerhaften Wandel schließen. Gleiches gelte dafür, dass er in seiner bisherigen kurzen Bewährungszeit nicht negativ aufgefallen sei. Die Lebensumstände unterschieden sich nach der Haftentlassung nicht grundlegend von denen, die vor dem Einstieg in die Kriminalität vorgelegen hätten; die immense Schuldenbelastung sei sogar ein zusätzlicher negativer Faktor. Die Ausweisung sei auch unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verhältnismäßig.

12

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision begehrt der Kläger weiterhin die Aufhebung der Ausweisung. Hilfsweise erstrebt er ihre sofortige Befristung. Er rügt, er habe seine Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 mit der Flucht in die Niederlande entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs nicht verloren. Insoweit komme es nicht auf den subjektiven Willen an, sondern auf das objektive Geschehen. Ein Auslandsaufenthalt von etwas mehr als einem Jahr genüge nicht, um die Rechtsposition zum Erlöschen zu bringen. Einer zwingenden Ausweisung stehe weiter entgegen, dass der Kläger im Februar 2011 eine kosovarische Staatsangehörige nach islamischem Ritus geheiratet habe und mit ihr und ihren Kindern nunmehr in familiärer Gemeinschaft zusammenlebe. Die Ausweisung sei darüber hinaus verfahrensfehlerhaft ergangen, weil das Gebot zur Einschaltung einer unabhängigen Stelle im einstufigen Verwaltungsverfahren aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG verletzt worden sei. Im Übrigen müsse berücksichtigt werden, dass der Kläger nach Abschluss des Berufungsverfahrens seine Lebensgefährtin standesamtlich geheiratet habe. Diese sei im November 2012 eingebürgert worden. Die Eheleute seien seit dem 5. Januar 2012 auch Eltern einer deutschen Tochter. Diese neuen Tatsachen seien im Revisionsverfahren jedenfalls insoweit zu berücksichtigen, als sie sich aus Urkunden ergäben.

13

Der Beklagte tritt der Revision entgegen. Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren beteiligt und hält die Revision für unbegründet.

Entscheidungsgründe

14

Die zulässige Revision des Klägers hat nur in geringem Umfang Erfolg. Das Berufungsgericht hat jedenfalls im Ergebnis zu Recht die Ausweisung als rechtmäßig angesehen (1.). Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG i.d.F. des während des Revisionsverfahrens in Kraft getretenen Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 ist der Beklagte jedoch zu verpflichten, die in Satz 1 und 2 der Vorschrift genannten Wirkungen der Ausweisung auf die Dauer von neun Jahren zu befristen (2.).

15

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung und des Befristungsbegehrens ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts, hier also des Berufungsgerichts am 15. April 2011 (Urteil vom 15. November 2007 - BVerwG 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20 Rn. 12). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind allerdings zu beachten, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (Urteil vom 11. Januar 2011 - BVerwG 1 C 1.10 - BVerwGE 138, 371 Rn. 10 = Buchholz 451.902 Europ. Ausl. u. Asylrecht Nr. 47 m.w.N.). Maßgeblich sind deshalb die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union vom 1. Juni 2012 (BGBl I S. 1224). Damit sind insbesondere auch die Änderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) - im Folgenden: Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 - zu beachten.

16

1. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig. Dabei kann offenbleiben, ob der Kläger in dem für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung maßgeblichen Zeitpunkt eine Rechtsstellung nach Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 (ANBA 1981, 4 = InfAuslR 1982, 33) - ARB 1/80 - besaß oder ob - wovon das Berufungsgericht ausgeht - diese Rechtsstellung erloschen ist und sich die Ausweisung daher allein nach nationalem Aufenthaltsrecht beurteilt. Für den Fall des Erlöschens des assoziationsrechtlich begründeten Aufenthaltsrechts ist das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass die verfügte Ausweisung den Voraussetzungen des § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Aber selbst wenn die Ausweisung an den Maßstäben des ARB 1/80 zu messen ist, erweist sie sich als rechtmäßig.

17

1.1 Der Kläger hat eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 erworben. Er ist in Deutschland als Sohn eines nach Deutschland gezogenen türkischen Arbeitnehmers geboren und aufgewachsen. Damit erfüllt er - ungeachtet des Umstands, dass er nicht zu seinem Vater nachgezogen ist - die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 (vgl. Urteil vom 6. Oktober 2005 - BVerwG 1 C 5.04 - BVerwGE 124, 243 <246> = Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 45). Er hat im Bundesgebiet zudem eine Berufsausbildung abgeschlossen, so dass er auch nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 privilegiert ist.

18

Geht man davon aus, dass der Kläger seine Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 nicht verloren hat, bestimmt sich die Rechtmäßigkeit der gegen ihn verfügten Ausweisung nach § 55 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besitzt der Kläger nicht, da sein nationaler Aufenthaltstitel infolge der Ausreise in die Niederlande im April 2004 erloschen ist (vgl. § 44 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1990). Gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 kann der Kläger nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt und die Maßnahme für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - Rs. C-371/08, Ziebell - NVwZ 2012, 422 Rn. 86). Das ist hier der Fall.

19

1.2 Die Gefahren, die vom gewerbsmäßigen illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, sind schwerwiegend und berühren ein Grundinteresse der Gesellschaft. Die betroffenen Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit der Bürger nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen hohen Rang ein. Der Gerichtshof der Europäischen Union sieht in der Rauschgiftsucht ein "großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit" (vgl. EuGH, Urteil vom 23. November 2010 - Rs. C-145/09, Tsakouridis - NVwZ 2011, 221 Rn. 47). Er verweist auf die "verheerenden Folgen" gerade des bandenmäßigen Handels mit Betäubungsmitteln für die Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität der Unionsbürger sowie der legalen Wirtschaftstätigkeit, der Stabilität und der Sicherheit der Mitgliedstaaten (a.a.O. Rn. 46). Die Mitgliedstaaten dürfen daher die Verwendung von Betäubungsmitteln als eine Gefahr für die Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen gegen Ausländer rechtfertigt, die gegen Vorschriften über Betäubungsmittel verstoßen (a.a.O. Rn. 54). Im Übrigen zählt der illegale Drogenhandel zu den Straftaten, die in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV als Bereiche besonders schwerer Kriminalität genannt werden. Diese können als schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses angesehen werden und die Ausweisung von Personen rechtfertigen, die entsprechende Straftaten begangen haben (vgl. EuGH, Urteil vom 22. Mai 2012 - Rs. C-348/09, P.I. - NVwZ 2012, 1095 Rn. 28). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht den Handel mit Betäubungsmitteln, selbst wenn er nicht bandenmäßig begangen wird, als schwerwiegende Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Interessen an (vgl. Urteile vom 3. November 2011 - Nr. 28770/05, Arvelo Aponte/Niederlande - Rn. 58 und vom 12. Januar 2010 - Nr. 47486/06, Khan/Vereinigtes Königreich - InfAuslR 2010, 369 Rn. 40 m.w.N.).

20

Nach diesen Maßstäben stellt das persönliche Verhalten des Klägers eine schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft im Sinne des Art. 14 ARB 1/80 dar. Er hat aus reinem Gewinnstreben bandenmäßig mit Betäubungsmitteln gehandelt, und zwar in führender Position innerhalb der Bande. Der illegale Handel erfolgte über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren und bezog sich auf eine sehr große Menge Marihuana (2 Tonnen) sowie eine erhebliche Menge Kokain (mindestens 5 kg). Der Kläger hat den Drogenhandel auch nach Aufdeckung seines strafbaren Verhaltens vom Ausland aus fortgesetzt.

21

1.3 Das Berufungsgericht hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise für den Kläger die Gefahr der Wiederholung seines strafbaren Verhaltens im Bereich der Drogenkriminalität bejaht. Es hat die Tatumstände, die Persönlichkeitsstruktur des Klägers, bei dem die gebotene Einsicht, Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Geschehenen fehlen, seine hohe Schuldenbelastung, aber auch seine beanstandungsfreie Führung im Strafvollzug sowie in der anschließenden Bewährungszeit und die vom Kläger im Vollzug genutzte Möglichkeit zur Weiterbildung umfassend gewürdigt. Nach der Überzeugung des Gerichts lässt sich eine erhebliche Wiederholungsgefahr vor allem aus dem Ausmaß der vom Kläger begangenen Taten und der diesen zugrunde liegenden Motivation ableiten. Das Berufungsgericht kam nach ausführlicher Anhörung des Klägers in der mehrstündigen mündlichen Verhandlung zu dem Ergebnis, dass der Kläger in den Jahren nach Beendigung seiner Taten keinen grundlegenden Persönlichkeitswandel vollzogen hat, der verlässlich den Schluss auf ein zukünftig straffreies Leben zulässt.

22

Dabei hat sich das Gericht eingehend mit dem kriminalprognostischen Gutachten vom September 2010 auseinandergesetzt, das zur Aussetzung der Restfreiheitsstrafe durch die Strafvollstreckungskammer führte. Darin ist die Gutachterin zu dem Ergebnis gekommen, dass die durch die Taten zutage tretende Gefährlichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr fortbesteht. Das Berufungsgericht ist dem Gutachten nicht gefolgt, weil es nach seiner Auffassung in wesentlichen Punkten auf unzutreffenden tatsächlichen Annahmen beruht, in zentralen Punkten nicht schlüssig ist und die Mängel auch nicht durch die Erklärungen der Gutachterin in der mündlichen Verhandlung ausgeräumt werden konnten. So hat sich die Gutachterin als Beleg dafür, dass der Kläger nunmehr andere Ziele im Leben verfolge, auf seine enge Beziehung zu einer türkischstämmigen Frau bezogen, mit der er sich verloben wolle. Tatsächlich hatte er zum Zeitpunkt der Begutachtung schon Kontakt zu seiner heutigen Ehefrau aufgenommen, was er der Gutachterin verschwiegen hatte. Ferner hatte der Kläger gegenüber der Gutachterin angegeben, zu seinen früheren Freunden keinen Kontakt mehr zu haben. Tatsächlich war aber sein langjähriger Freund M., der ebenfalls der Drogenbande angehörte, Trauzeuge bei der Heirat nach islamischem Ritus mit seiner heutigen Ehefrau, und zwar wenige Monate nach der Begutachtung. Ferner ist die Gutachterin davon ausgegangen, dass der Kläger mit Marihuana im Kilogrammbereich gehandelt habe, während sich das Volumen des Handels mit diesem Betäubungsmittel auf 2 Tonnen bezog und dazu noch der Handel mit mindestens 5 kg Kokain und mit Ecstasy-Tabletten kam. Schließlich hatte die Gutachterin die hohe verbliebene Schuldenbelastung des Klägers von mehr als 800 000 € nicht berücksichtigt. Die Einschätzung, dass die Inhaftierung beim Kläger offenkundig zu einem Gesinnungswandel geführt habe, hatte die Gutachterin nach einer lediglich eineinhalbstündigen Exploration gewonnen, während das Berufungsgericht aufgrund seiner mehrstündigen Verhandlung, in der auch der Kläger eingehend angehört und befragt wurde, zu dem gegenteiligen Ergebnis kam.

23

Das Berufungsgericht war bei seiner Gefahrenprognose nicht an die Einschätzung der Strafvollstreckungskammer bei deren Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gebunden. Zwar sind die Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der Prognose ein wesentliches Indiz dar. Eine Bindungswirkung geht von den strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidungen jedoch nicht aus. Die sich nach Unionsrecht bestimmende Prognose, ob der Ausländer eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt, bestimmt sich nämlich nicht nach strafrechtlichen Gesichtspunkten, auch nicht nach dem Gedanken der Resozialisierung. Vielmehr haben die zuständigen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose über die Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. Urteile vom 28. Januar 1997 - BVerwG 1 C 17.94 - Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 10 = NVwZ 1997, 1119<1120> und vom 16. November 2000 - BVerwG 9 C 6.00 - BVerwGE 112, 185 <193> = Buchholz 402.240 § 51 AuslG Nr. 40; Discher, in: GK-AufenthG, Stand: Juni 2009, vor §§ 53 ff. Rn. 1241 ff.). Dabei haben sie auch sonstige, den Strafgerichten möglicherweise nicht bekannte oder von ihnen nicht beachtete Umstände des Einzelfalles heranzuziehen. Sie können deshalb sowohl aufgrund einer anderen Tatsachengrundlage als auch aufgrund einer anderen Würdigung zu einer abweichenden Prognoseentscheidung gelangen. Im vorliegenden Fall erscheint ein Abweichen des Berufungsgerichts von der positiven Sozialprognose der Strafvollstreckungskammer schon deshalb nachvollziehbar, weil die strafrichterliche Entscheidung auf einem als mangelhaft bewerteten kriminalprognostischen Gutachten beruhte und sich das Berufungsgericht zudem auf neuere Erkenntnisse aus der Zeit nach Haftentlassung (z.B. erneuter Kontakt zu einem Mitglied der früheren Drogenbande) und insbesondere auf eine aktuelle ausführliche Befragung des Klägers, der Gutachterin und des ermittelnden Polizeibeamten stützen konnte. Damit ergibt sich aus den Feststellungen des Berufungsgerichts, dass das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von Art. 14 ARB 1/80 darstellt. Dem steht nicht entgegen, dass das Berufungsgericht seine Gefahrenprognose im Rahmen der Prüfung von § 53 AufenthG getroffen hat. Denn die getroffenen Feststellungen und deren tatrichterliche Würdigung ermöglichen dem Revisionsgericht die rechtliche Beurteilung, dass die Gefahrenschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 überschritten ist.

24

1.4 Die Ausweisung des Klägers erweist sich auch unter Würdigung seiner schützenswerten Belange als unerlässlich, um das oben näher beschriebene Grundinteresse der Gesellschaft zu wahren (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 86). Das Berufungsgericht hat die schützenswerten Belange des Klägers, die sich auf sein Privat- und Familienleben beziehen, unter Zugrundelegung der in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten Kriterien umfassend gewürdigt (vgl. Urteile vom 2. August 2001 - Nr. 54273/00, Boultif/Schweiz - InfAuslR 2001, 476 und vom 18. Oktober 2006 - Nr. 46410/99, Üner/Niederlande - NVwZ 2007, 1279). Es hat in den Blick genommen, dass der Kläger in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, die deutsche Sprache beherrscht und seine gesamte Erziehung und Sozialisation in Deutschland erfahren hat. Das Gericht hat auch die familiären Bindungen des Klägers an seine in Deutschland lebende Mutter und seine Geschwister sowie deren Familien berücksichtigt. Die zunächst erfolgreiche Integration in den deutschen Arbeitsmarkt hat der Kläger allerdings von sich aus gelöst, indem er sich nur noch im illegalen Drogenhandel betätigte. Zugleich hat das Berufungsgericht die in der Haftzeit begonnene und zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bereits weit fortgeschrittene berufliche Weiterbildung des Klägers zum Mediengestalter positiv gewürdigt. In die Verhältnismäßigkeitsprüfung hat das Gericht auch die Tatsache einbezogen, dass der Kläger nunmehr in einer Lebensgemeinschaft mit Frau D. und deren minderjährigen Kindern lebt, die Eheschließung mit Frau D. anstrebt und mit ihr einen Kinderwunsch verwirklichen möchte. Die Ausweisung des Klägers ist aber auch unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls aufgrund der besonderen Schwere des Ausweisungsanlasses und der nach wie vor von ihm ausgehenden Gefahr sowie der Zumutbarkeit der Verweisung auf ein Leben in der Türkei verhältnismäßig; sie ist im Hinblick auf die Vorgaben des Unionsrechts und der EMRK nicht zu beanstanden.

25

Entgegen der Auffassung des Klägers kann die Tatsache, dass der Kläger im Verlauf des Revisionsverfahrens standesamtlich geheiratet hat, seine Ehefrau und deren Kinder deutsche Staatsangehörige geworden sind und der Kläger Vater eines eigenen Kindes mit deutscher Staatsangehörigkeit geworden ist, der Entscheidung des Senats nicht zugrunde gelegt werden. Das Bundesverwaltungsgericht ist - abgesehen von Fällen begründeter Verfahrensrügen - entsprechend seiner vornehmlich auf die Rechtsprüfung beschränkten Aufgabenstellung nach § 137 Abs. 2 VwGO an die vom Berufungsgericht in der angefochtenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden. Diese das Rechtsmittel der Revision kennzeichnende Beschränkung führt dazu, dass das Revisionsgericht - im Gegensatz zum Berufungsgericht (§ 128 VwGO) - neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel nicht berücksichtigt. Die in § 137 Abs. 2 VwGO enthaltene revisionsrechtliche Sperre für die Berücksichtigung neuer tatsächlicher Umstände wird nicht dadurch überwunden, dass Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen das Vorliegen einer gegenwärtigen, d.h. aktuellen Gefahr verlangt (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 80, 82 und insbesondere Rn. 84). Damit wird der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sachlage angesprochen, der infolge der der Verwaltungsgerichtsordnung zu entnehmenden Trennung zwischen Tatsacheninstanzen und Revisionsinstanz nur für Entscheidungen der Tatsachengerichte maßgeblich ist. Denn nur ihnen obliegt gemäß § 86 Abs. 1 §§ 108 und 128 VwGO die Erforschung des Sachverhalts und die Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen im Wege freier richterlicher Beweiswürdigung. Diese Trennung der Funktionen von Tatsachen- und Revisionsinstanz wird durch das Unionsrecht nicht modifiziert, da es nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich Aufgabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten ist, das gerichtliche Verfahrensrecht auch insoweit zu regeln, als es den Schutz von aus dem Unionsrecht erwachsenden individuellen Rechten gewährleisten soll (vgl. hierzu im Einzelnen: Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - zur Aufnahme in die Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen - Rn. 19). Die Eröffnung der auf eine reine Rechtskontrolle beschränkten dritten Instanz widerspricht auch nicht dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf aus Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) und Art. 13 EMRK. Denn der dort niedergelegte Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtschutzes eröffnet dem Einzelnen den Zugang zu einem Gericht und nicht zu mehreren Gerichtsinstanzen (EuGH, Urteil vom 28. Juli 2011 - Rs. C-69/10, Samba Diouf - NVwZ 2011, 1380 Rn. 69; EGMR, Urteil vom 17. Januar 1970 - Nr. 2689/65, Delcourt - EGMR-E 1, 100 Rn. 25). Er verlangt nicht, dass ein nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats eröffnetes Rechtsmittel wie die Revision eine Überprüfung der Tatsachen auf aktuellem Sachstand ermöglicht. Vielmehr hängt die Anwendung der Garantie eines effektiven Rechtsschutzes von den ersichtlichen Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens - hier des Revisionsverfahrens - ab (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Januar 1970 a.a.O. Rn. 26). Soweit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bei der Überprüfung von Ausweisungsentscheidungen Tatsachen berücksichtigt, die nach der abschließenden nationalen Entscheidung eingetreten sind, ergibt sich daraus keine entsprechende Verpflichtung für die nationalen Gerichte in einem Revisionsverfahren (vgl. Urteil vom 13. Oktober 2011 - Nr. 41548/06, Trabelsi/Deutschland - EUGRZ 2012, 11 Rn. 60 f.). Nach nationalem Recht verbleibt die Möglichkeit, nach der Berufungsentscheidung eingetretene Umstände zugunsten des Ausländers zu berücksichtigen, indem dieser eine Verkürzung der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 Satz 3 - 5 AufenthG beantragt (dazu unter 2.).

26

1.5 Besitzt der Kläger ein assoziationsrechtlich begründetes Aufenthaltsrecht, darf er nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Bei deren gerichtlicher Überprüfung ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen (EuGH, Urteil vom Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 84; so bereits BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 - BVerwGE 121, 315 <320 f.>). Die Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde über den Erlass einer Ausweisung erfordert eine sachgerechte Abwägung der öffentlichen Interessen an der Ausreise mit den privaten Interessen an einem weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet. Zugunsten des Ausländers sind die Dauer seines rechtmäßigen Aufenthalts und seine schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet zu berücksichtigen. Außerdem sind die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, in die Abwägung einzustellen (§ 55 Abs. 3 AufenthG). Die von Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange auf Achtung des Privat- und Familienlebens sind dabei entsprechend ihrem Gewicht und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der Gesamtabwägung zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere bei im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen Ausländern, zumal wenn sie über keine Bindungen an das Land ihrer Staatsangehörigkeit verfügen (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 20).

27

Mit Blick auf diese Vorgaben ist die Ermessensausübung des Beklagten im Ausweisungsbescheid vom 4. Oktober 2006 nicht zu beanstanden. Der Beklagte geht von einem aus dem Assoziationsrecht abgeleiteten Aufenthaltsrecht des Klägers nach Art. 7 ARB 1/80 aus und misst die Rechtmäßigkeit der Ausweisung am Maßstab des Art. 14 ARB 1/80. Er erkennt die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung und beachtet deren gesetzliche Grenzen. In die Ermessensentscheidung sind alle relevanten Gesichtspunkte eingestellt worden. Die erfolgte Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Abwehr der vom Kläger ausgehenden konkreten Gefahr für die hochrangigen Rechtsgüter Leben und Gesundheit im Fall der Fortsetzung des illegalen Drogenhandels gegen das Interesse des Klägers an einem Verbleib in Deutschland ist rechtlich nicht zu beanstanden. Bei der Begründung des öffentlichen Interesses stützt sich der Beklagte ausschließlich auf Gefahren, die vom Kläger selbst ausgehen und nicht auf generalpräventive Gründe. Ausführungen, die der Beklagte schriftsätzlich im Berufungsverfahren zu Fragen der Generalprävention gemacht hat, sind nicht Bestandteil der behördlichen Ermessensentscheidung geworden. Denn für eine Ergänzung von Ermessensentscheidungen gelten nach der Rechtsprechung des Senats strenge Maßstäbe an Form und Handhabung, damit der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird (vgl. Urteil vom 13. Dezember 2011 - BVerwG 1 C 14.10 - BVerwGE 141, 253 Rn. 18). Diese sind hier nicht erfüllt. Denn der Beklagte hat in seinen Schriftsätzen vom 12. Januar 2011, 16. März 2011 und 7. April 2011 jedenfalls nicht hinreichend deutlich getrennt zwischen neuen Begründungselementen, die den Inhalt seiner Entscheidung betreffen, und Ausführungen, mit denen er lediglich als Prozesspartei seine Entscheidung verteidigt. Etwaige Zweifel und Unklarheiten über Inhalt und Umfang nachträglicher Ergänzungen gehen aber zulasten der Behörde (vgl. Urteil vom 13. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 18). Die behördliche Entscheidung verstößt auch nicht gegen das Gebot der Aktualität der Ermessenserwägungen. Denn der Beklagte hat ausweislich seines Schriftsatzes vom 7. April 2011 die neue Entwicklung in den persönlichen Verhältnissen des Klägers erkannt und gewürdigt, insbesondere seine Haftentlassung, seine Heirat von Frau D. nach islamischem Ritus und die Betreuungsbedürftigkeit seiner Mutter. Er hat dies aber nicht zum Anlass für eine Ergänzung seiner Ermessensentscheidung genommen. Das ist rechtlich nicht zu beanstanden, da die Änderungen in dem vorliegenden Fall (noch) kein solches Gewicht hatten, dass sie angesichts der Größe der vom Kläger weiterhin ausgehenden Gefahr einen Anlass für eine Ermessensergänzung gaben. Anders hätte sich die Lage dargestellt, wenn der Kläger im April 2011 bereits mit einer Deutschen verheiratet gewesen und mit ihr ein deutsches Kind gehabt hätte, wie das heute der Fall ist. Dann hätte die Änderung der persönlichen Verhältnisse des Klägers eine Qualität erreicht, die eine Ergänzung der Ermessensentscheidung erfordert hätte, ohne dass deshalb von einer Ausweisung hätte abgesehen werden müssen.

28

1.6 Die weiteren Rügen der Revision sind unbegründet; insbesondere ist das Ausweisungsverfahren fehlerfrei durchgeführt worden. Zwar war das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene "Vier-Augen-Prinzip" auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige zu übertragen (Urteil vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217 <221 f.> im Anschluss an EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005 - Rs. C-136/03, Dörr und Ünal - Slg. 2005, I-4759 = NVwZ 2006, 72). In dem hier vorliegenden Fall hat der Beklagte den angefochtenen Bescheid aber am 4. Oktober 2006 und damit erst nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG zum 30. April 2006 (Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG) erlassen. Zu diesem Zeitpunkt galt Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr.

29

Es kann offenbleiben, ob sich für assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige die unionsrechtlichen Anforderungen an den Rechtsschutz gegen Ausweisungsentscheidungen nunmehr nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG (betreffend langfristig Aufenthaltsberechtigte) oder nach Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG (betreffend Unionsbürger) bestimmen. Denn in keiner dieser Vorschriften ist die Beteiligung einer unabhängigen Stelle im Ausweisungsverfahren zur Prüfung der Zweckmäßigkeit der Maßnahme vorgeschrieben. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seinem Urteil vom 8. Dezember 2011 für die Auslegung von Art. 14 ARB 1/80 als neuen unionsrechtlichen Bezugsrahmen Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG herangezogen (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 74 und 78 f.). Nach Absatz 4 dieser Vorschrift steht langfristig Aufenthaltsberechtigten zur Überprüfung einer Ausweisung der Rechtsweg offen. Noch nicht ausdrücklich entschieden wurde, ob die maßgebliche Vorschrift der Richtlinie 2004/38/EG für den Rechtsschutz gegen Ausweisungsentscheidungen (Art. 31) auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige entsprechend angewendet werden kann. Selbst wenn das geboten wäre, ergäbe sich daraus nicht die Verpflichtung zur Beteiligung einer unabhängigen Stelle, denn Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG sieht eine solche Beteiligung nicht vor. Vielmehr bestimmt Art. 31 Abs. 1, dass gegen Ausweisungsentscheidungen ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann. Im Rechtsbehelfsverfahren sind gemäß Art. 31 Abs. 3 die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen. Das Rechtsbehelfsverfahren gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf den in Art. 28 geregelten Schutz vor Ausweisung nicht unverhältnismäßig ist (Art. 31 Abs. 3 Satz 2). Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG kompensiert den Wegfall der Beteiligung einer unabhängigen Stelle im Verwaltungsverfahren, wie sie noch in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vorgeschrieben war, durch einen erhöhten Rechtsschutz im gerichtlichen Verfahren. Die angefochtene Entscheidung unterliegt nunmehr nicht nur einer Rechtskontrolle, sondern das Gericht hat auch die der Entscheidung zugrunde liegenden Tatsachen zu überprüfen.

30

Nicht gefolgt werden kann der Auffassung, Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG sehe weiter die Beteiligung einer unabhängigen Stelle vor, was sich zum einen daraus ergebe, dass der Rechtsbehelf nach Art. 31 Abs. 1 "gegebenenfalls" auch bei einer Behörde eingelegt werden könne und sich die Überprüfung im Rechtsbehelfsverfahren gemäß Art. 31 Abs. 3 nicht nur auf Tatsachen, sondern auch auf "Umstände" zu beziehen habe. Denn der Verweis in Art. 31 Abs. 1 auf die Möglichkeit, einen Rechtsbehelf gegebenenfalls bei einer Behörde einzulegen (englische Fassung: "where appropriate"), bezieht sich erkennbar auf die Fälle, in denen das nationale Recht das so vorsieht, etwa wenn der gerichtlichen Überprüfung noch ein behördliches Widerspruchsverfahren vorgeschaltet ist. Eine unionsrechtliche Verpflichtung zur Beteiligung einer zweiten Stelle im Verwaltungsverfahren ergibt sich daraus jedoch nicht. Entsprechendes gilt für die in Art. 31 Abs. 3 vorgeschriebene Überprüfung der Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung beruht. Aus dem Begriff der "Umstände" (englische Fassung: "circumstances") lässt sich eine Zweckmäßigkeitsprüfung - wie sie in Deutschland einer Behörde vorbehalten wäre - nicht ableiten. Die Formulierung ist vielmehr im Zusammenhang mit Art. 31 Abs. 3 Satz 2 zu sehen, der die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Entscheidung im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 vorschreibt. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind alle "Umstände" zu berücksichtigen, die Art. 28 bezeichnet.

31

Bereits in seinem Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - hat der Senat ausgeführt (juris Rn. 23), dass assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige nach der Rechtsprechung des EuGH keine bessere verfahrensrechtliche Rechtsstellung beanspruchen können als Unionsbürger. Für Unionsbürger wurde die behördliche Kontrolle von Ausweisungsentscheidungen nach dem "Vier-Augen-Prinzip", wie sie Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vorsah, abgeschafft. Dann steht aber auch den Inhabern eines aus dem ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechts kein solcher erweiterter behördlicher Rechtsschutz mehr zu.

32

Demgegenüber beruft sich der Kläger auf die Stillhalteklauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl 1972 II S. 385) - ZP. Gemäß Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Gemäß Art. 41 Abs. 1 ZP werden die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen. Aus diesen Stand-Still-Klauseln ergibt sich nach Auffassung des Klägers, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG bei der Ausweisung assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger weiterhin anzuwenden sei. Dem folgt der Senat nicht.

33

Wie bereits im Urteil vom 10. Juli 2012 ausgeführt (a.a.O. Rn. 25), spricht gegen die Auffassung des Klägers bereits die Tatsache, dass Art. 13 ARB 1/80 seinem Wortlaut nach nur die Mitgliedstaaten, nicht aber die Europäische Union verpflichtet. Art. 41 Abs. 1 ZP betrifft sachlich nur Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs, nicht aber die der Arbeitnehmerfreizügigkeit zuzurechnende aufenthaltsrechtliche Stellung aus Art. 7 ARB 1/80. Des Weiteren erscheint fraglich, ob die auf den Zugang zum Arbeits- bzw. Binnenmarkt zugeschnittenen Stand-Still-Klauseln überhaupt Verfahrensregelungen bei der Aufenthaltsbeendigung erfassen (vgl. Urteil vom 30. April 2009 - BVerwG 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 Rn. 20 zu den gesetzlichen Erlöschenstatbeständen für Aufenthaltstitel) und ob die Aufhebung des "Vier-Augen-Prinzips" mit Blick auf die gerichtliche Überprüfbarkeit nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG oder Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG eine Verschlechterung der Rechtsposition darstellt. Das kann aber dahinstehen, da die weitere Anwendung des Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige selbst bei Annahme einer rechtserheblichen Verschlechterung gegen Art. 59 ZP verstoßen würde. Nach dieser Vorschrift darf der Türkei in den von diesem Protokoll erfassten Bereichen keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander aufgrund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft einräumen. Das wäre aber bei weiterer Anwendung des "Vier-Augen-Prinzips" im Vergleich zu den Verfahrensrechten von Unionsbürgern aus Art. 31 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/38/EG - wie oben dargelegt - der Fall.

34

Ohne Erfolg rügt der Kläger einen nationalen Verstoß gegen die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 durch das Entfallen des Widerspruchsverfahrens für Ausweisungsentscheidungen in Baden-Württemberg seit 1. Juli 1999. Zum einen stellte die Durchführung des Widerspruchsverfahrens nach §§ 68 ff. VwGO keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Ausweisung dar, sondern - anders als Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG - lediglich eine Prozessvoraussetzung für die Erhebung einer Anfechtungsklage vor dem Verwaltungsgericht. Zum anderen betrifft der Wegfall des Widerspruchsverfahrens türkische Assoziationsberechtigte und Unionsbürger in gleicher Weise. Nach der Rechtsprechung des EuGH steht der Erlass oder Wegfall von Regelungen, die - wie hier - in gleicher Weise auf türkische Staatsangehörige und auf Gemeinschaftsangehörige Anwendung finden, nicht im Widerspruch zu den Stillhalteklauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 ZP (vgl. Urteile vom 19. Februar 2009 - Rs. C-228/06, Soysal u.a. - InfAuslR 2009, 135 Rn. 61 zu Art. 41 ZP und vom 17. September 2009 - Rs. C-242/06, Sahin - Rn. 67 zu Art. 13 ARB 1/80). Demzufolge kann die generelle Abschaffung des Widerspruchsverfahrens in Baden-Württemberg nicht gegen Art. 13 ARB 1/80 verstoßen, da sie auch in Fällen der Verlustfeststellung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt von Unionsbürgern (§ 6 FreizügG/EU) gilt. Im Übrigen wäre die Aufrechterhaltung des Widerspruchsverfahrens nur für türkische Staatsangehörige nicht mit dem Besserstellungsverbot des Art. 59 ZP vereinbar.

35

2. Auf den Hilfsantrag des Klägers, mit dem dieser die Befristung der Wirkungen der Ausweisung mit sofortiger Wirkung begehrt, ist die Beklagte zu verpflichten, die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung auf die Dauer von neun Jahren zu befristen. Im Übrigen ist der Antrag unbegründet.

36

2.1 Der erst in der Revisionsinstanz gestellte Hilfsantrag ist zulässig. Das Verbot der Klageänderung im Revisionsverfahren in § 142 VwGO steht dem nicht entgegen. Während des Revisionsverfahrens ist § 11 AufenthG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 in der Weise geändert worden, dass der Kläger nunmehr einen Anspruch auf gleichzeitige Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung hat (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 28). Dieser Änderung des materiellen Rechts trägt der gestellte Hilfsantrag Rechnung.

37

2.2 Der Hilfsantrag ist nur in geringem Umfang begründet. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG n.F. darf ein Ausländer, der ausgewiesen worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird nach Satz 2 der Vorschrift auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Satz 3 der Vorschrift ordnet an, dass diese kraft Gesetzes eintretenden Wirkungen auf Antrag befristet werden. Die Frist ist gemäß Satz 4 unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Bei Bemessung der Länge der Frist wird berücksichtigt, ob der Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausgereist ist (Satz 5). Die Frist beginnt nach Satz 6 mit der Ausreise. Nach Satz 7 erfolgt keine Befristung, wenn ein Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder aufgrund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG aus dem Bundesgebiet abgeschoben wurde.

38

2.2.1 Seit Inkrafttreten des § 11 AufenthG in der Neufassung des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 haben Ausländer grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass die Ausländerbehörde mit einer Ausweisung zugleich das daran geknüpfte gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die Titelerteilungssperre befristet. Das hat der Senat mit Urteil vom 10. Juli 2012 entschieden (a.a.O. Rn. 30 ff.). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest; zur Begründung wird auf das vorgenannte Urteil verwiesen. Fehlt die notwendige Befristung der Wirkungen der Ausweisung, hat das aber auch nach Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 nicht zur Folge, dass die - als solche rechtmäßige - Ausweisung aufzuheben ist. Vielmehr kann der Ausländer zugleich mit Anfechtung der Ausweisung seinen Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gerichtlich durchsetzen (Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 39 f.). Damit wird dem sich aus dem materiellen Recht ergebenden Anspruch des Betroffenen auf gleichzeitige Entscheidung über die Ausweisung und die Befristung ihrer Wirkungen Rechnung getragen und die Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung im Ergebnis gewährleistet. Prozessual wird dieses Ergebnis dadurch sichergestellt, dass in der Anfechtung der Ausweisung zugleich - als minus - für den Fall der Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung ein (Hilfs-)Antrag auf Verpflichtung der Ausländerbehörde zu einer angemessenen Befristung ihrer Wirkungen gesehen wird, sofern eine solche nicht bereits von der Ausländerbehörde verfügt worden ist. Daher ist im Fall der gerichtlichen Bestätigung der Ausweisung auf den Hilfsantrag zugleich eine Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung zu treffen.

39

2.2.2 Der Senat hält im vorliegenden Fall - bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts und auf der Grundlage von dessen tatsächlichen Feststellungen - eine Frist von neun Jahren für angemessen.

40

Die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (zu der zuletzt genannten Voraussetzung vgl. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG). Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Zunächst bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Selbst wenn die Voraussetzungen für ein Überschreiten der zeitlichen Grenze von fünf Jahren gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG vorliegen, geht der Senat davon aus, dass in der Regel ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont darstellt, für den eine Prognose realistischerweise noch gestellt werden kann. Weiter in die Zukunft lässt sich die Persönlichkeitsentwicklung - insbesondere jüngerer Menschen - kaum abschätzen, ohne spekulativ zu werden. Leitet sich diese regelmäßige Höchstdauer für die Befristung von zehn Jahren aus dem Umstand ab, dass mit zunehmender Zeit die Fähigkeit zur Vorhersage zukünftiger persönlicher Entwicklungen abnimmt, bedeutet ihr Ablauf nicht, dass bei einem Fortbestehen des Ausweisungsgrundes oder der Verwirklichung neuer Ausweisungsgründe eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden müsste (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG).

41

Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK, messen lassen und ist daher gegebenenfalls in einem zweiten Schritt zu relativieren. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie gegebenenfalls seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 42 m.w.N.). Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Die Abwägung ist nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles im Zeitpunkt der Behördenentscheidung vorzunehmen bzw. von den Verwaltungsgerichten zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des Gerichts vollumfänglich zu überprüfen oder bei fehlender behördlicher Befristungsentscheidung - wie hier - durch eine eigene Abwägung als Grundlage des Verpflichtungsausspruchs zu ersetzen.

42

Die in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG genannte Höchstfrist von fünf Jahren ist im vorliegenden Fall ohne Bedeutung, da von dem Kläger - im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts - eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht; das ergibt sich aus den Ausführungen zu den Ausweisungsvoraussetzungen. Bei der Bemessung der Frist hatte der Senat in einem ersten Schritt zu berücksichtigen, dass beim Kläger die Gefahr der Wiederholung schwerwiegender Drogenstraftaten besteht. Trotz seiner erfolgreichen Fortbildungsanstrengungen im Strafvollzug und in den Folgemonaten sowie erster Ansätze für eine erfolgreiche Integrationsprognose wäre wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der vom Berufungsgericht festgestellten hohen Wiederholungsgefahr unter Berücksichtigung der fortbestehenden Verbindungen des Klägers zu einzelnen Mitgliedern seiner früheren Drogenbande sowie seines Alters eine Befristung für einen Zeitraum von zehn Jahren erforderlich, um dem hohen Gefahrenpotential in seiner Person Rechnung zu tragen. Diese Frist hat der Senat um ein Jahr reduziert und damit den persönlichen Bindungen des Klägers an Deutschland als Land, in dem er geboren und aufgewachsen ist und in dem seine Familie lebt, Rechnung zu tragen. Zu den vom Senat berücksichtigten Bindungen zählen auch die an Frau D. und deren minderjährige Kinder, wobei die Lebensgemeinschaft allerdings zum maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung erst wenige Monate bestand und in Kenntnis der ergangenen Ausweisungsverfügung eingegangen worden war.

43

Der Senat hat bereits in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Verkürzung der Frist stellen kann. Bei der Bescheidung dieses Antrags sind von der Beklagten dann die Änderungen in den persönlichen Verhältnissen des Klägers zu berücksichtigen, die seit dem Berufungsurteil vom April 2011 eingetreten sind, insbesondere seine standesamtliche Eheschließung mit Frau D., die mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit hat, sowie die Geburt einer gemeinsamen Tochter, die ebenfalls deutsche Staatsbürgerin ist. Weiter wird die Beklagte im Fall eines Verkürzungsantrags des Klägers zu prüfen haben, ob auch solche neuen Tatsachen vorliegen, aus denen sich eine Verminderung der Wiederholungsgefahr ableiten lässt.

44

3. Die Frage, ob die Ausweisung und die Befristung ihrer Wirkungen an den Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie zu messen sind, kann im vorliegenden Fall offenbleiben (vgl. dazu Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 45). Denn selbst wenn man die intertemporale Geltung und die sachliche Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie auf die (Wirkungen der) Ausweisung unterstellt, verhilft das der Revision im vorliegenden Fall nicht in weitergehendem Umfang zum Erfolg. Da der Kläger mit seinem Hilfsantrag die gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. gebotene Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung zusammen mit deren gerichtlicher Prüfung durchsetzen kann, wird den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie im Ergebnis Genüge getan. In dem hier vorliegenden Fall konnte die Dauer des Einreiseverbots auch die Regelfrist von fünf Jahren überschreiten, da der Kläger eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG darstellt.

Tatbestand

1

Der im Jahr 1974 in Deutschland geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine Ausweisung.

2

Der Kläger wuchs bei seinen Eltern im Bundesgebiet auf. Er besuchte zunächst eine Förderschule und im Anschluss daran das Berufsgrundschuljahr, das er ohne Abschluss beendete. Eine Berufsausbildung absolvierte er nicht. Er arbeitete jeweils nur für kurze Zeiträume, war überwiegend arbeitslos. Ihm wurden mehrere befristete Aufenthaltserlaubnisse erteilt, zuletzt bis zum 20. Oktober 1999. Sein Verlängerungsantrag vom 12. Oktober 1999 wurde nicht mehr beschieden.

3

Der unverheiratete und kinderlose Kläger ist drogenabhängig. Er konsumierte nach eigenen Angaben seit seinem dreizehnten Lebensjahr zunächst Haschisch und seit seinem sechzehnten Lebensjahr Heroin. Seit mehr als 20 Jahren ist er immer wieder straffällig geworden, überwiegend wegen Drogen- und Eigentumsdelikten. Er verbrachte viele Jahre in Strafhaft und begann mehrfach Drogentherapien, allerdings ohne Erfolg. Im Juni 2007 wurde er zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt, u.a. wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, wofür eine Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren und einem Monat verhängt wurde.

4

Die Beklagte wies den Kläger mit Bescheid vom 16. September 2008 aus und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Über die Ausweisung des Klägers sei nach Ermessen zu entscheiden, weil er als Kind türkischer Arbeitnehmer ein aus dem Assoziationsratsbeschluss ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht besitze. Zudem genieße er aufgrund seiner Geburt in Deutschland besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG. Sein in den begangenen Straftaten zum Ausdruck gekommenes Verhalten stelle eine hinreichend schwere Gefährdung dar. Er sei in der Vergangenheit mehrfach straffällig geworden und habe sich dabei weder durch strafrechtliche Verurteilungen noch durch ausländerbehördliche Ermahnungen und Hinweise auf die Konsequenzen erneuten strafbaren Verhaltens von der Verübung weiterer Taten abhalten lassen. Zudem habe er in den letzten Jahren keine ernsthaften Bemühungen unternommen, um von seinem Drogenkonsum loszukommen.

5

Das Verwaltungsgericht hat die gegen den Ausweisungsbescheid gerichtete Klage abgewiesen, das Oberverwaltungsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung mit Urteil vom 22. März 2012 zurückgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hält die Ausweisung auch ohne Durchführung eines Widerspruchsverfahrens für formell rechtmäßig, weil trotz der Rechtsstellung des Klägers nach Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 die Richtlinie 64/221/EWG auf ihn nicht mehr anwendbar sei. Wegen der fortbestehenden Gefahr der Betäubungsmittelkriminalität des Klägers sei die Ausweisung auch materiell rechtmäßig nach § 55 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Der Kläger habe neben dem Besitz sog. harter Drogen auch mit Heroin gehandelt, um seinen eigenen Drogenbedarf zu finanzieren. Von ihm gehe die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten aus. Er habe seit nunmehr über 22 Jahren immer wieder Straftaten begangen und sich davon durch Ermahnungen, Verurteilungen, Strafhaft und Anhörungen zur drohenden Ausweisung nicht abhalten lassen. Die Ermessensentscheidung der Beklagten sei auch unter Berücksichtigung der Tatsache nicht zu beanstanden, dass der Kläger sein ganzes Leben in Deutschland verbracht habe und hier seine Mutter und seine erwachsenen Geschwister lebten. Die Ausweisung sei trotz Fehlens einer Befristung mit Art. 11 der Richtlinie 2008/115/EG vereinbar.

6

Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger weiterhin die Aufhebung der Ausweisung. Hilfsweise erstrebt er die Befristung ihrer Wirkungen auf maximal vier Jahre. Er begründet dies im Wesentlichen damit, die Ausweisung sei formell rechtswidrig, weil kein Widerspruchsverfahren durchgeführt worden sei. Das verstoße gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG. Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 8. Dezember 2011 in der Sache Ziebell stehe dem nicht entgegen, denn es beziehe sich nur auf die materiellen Voraussetzungen der Ausweisung. Der Wegfall des Widerspruchsverfahrens verstoße zudem gegen die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80. Die Fortgeltung der Verfahrensgarantien für türkische Staatsangehörige, die eine geschützte Rechtsstellung nach dem Assoziationsrecht besitzen, verstoße nicht gegen das Besserstellungsverbot des Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziationsabkommen vom 12. September 1963, denn freizügigkeitsberechtigte EU-Staatsangehörige hätten einen höheren materiellen Ausweisungsschutz. Das angefochtene Urteil verletze Bundesrecht auch deshalb, weil es eine unbefristete Ausweisung bestätige. Das verstoße gegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG und gegen Art. 11 der Richtlinie 2008/115/EG. Der deutsche Gesetzgeber habe nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Ausländer, die aufgrund einer strafgerichtlichen Verurteilung ausgewiesen werden, grundsätzlich von der in der Richtlinie vorgegebenen Höchstfrist von fünf Jahren für die zu verhängende Einreisesperre auszunehmen.

7

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Im Verlauf des Revisionsverfahrens hat sie mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2012 die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung auf einen Zeitraum von sieben Jahren, beginnend mit der Ausreise oder Abschiebung des Klägers, befristet. Der Kläger ist dem entgegengetreten und hält allenfalls eine Befristung von maximal vier Jahren für zulässig.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat ohne Verletzung revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) die Ausweisung (1.) und die Abschiebungsandrohung (3.) als rechtmäßig angesehen. Der Kläger hat auch keinen Anspruch darauf, die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung auf einen Zeitraum von weniger als sieben Jahren zu befristen (2.).

9

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung, der noch nicht vollzogenen Abschiebungsandrohung und der vom Kläger hilfsweise begehrten Befristung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Berufungsgerichts (stRspr, vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277 Rn. 12 m.w.N.). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind allerdings zu beachten, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O.). Maßgeblich sind deshalb die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften vom 21. Januar 2013 (BGBl I S. 86). Hierdurch hat sich die Rechtslage hinsichtlich der hier maßgeblichen Bestimmungen aber nicht geändert.

10

1. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 55 Abs. 1, § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80.

11

1.1 Der Kläger besitzt eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80. Er ist nach den Feststellungen der Vorinstanzen im Bundesgebiet bei seinen Eltern aufgewachsen, sein Vater war mindestens von 1969 bis 1990 türkischer Arbeitnehmer. Demzufolge kann der Kläger gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt und die Maßnahme für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - Rs. C-371/08, Ziebell - NVwZ 2012, 422). Das ist hier der Fall. Damit liegen auch schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG vor.

12

1.2 Der Kläger begeht seit vielen Jahren regelmäßig Drogenstraftaten, die ihre Ursache in seiner Drogenabhängigkeit haben. Dazu zählen nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts neben Straftaten des unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln auch solche des unerlaubten Handeltreibens mit Heroin (in zwei Fällen) und der unerlaubten Abgabe von Heroin (in einem Fall). Die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, sind schwerwiegend und berühren ein Grundinteresse der Gesellschaft. Die betroffenen Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit der Bürger nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen hohen Rang ein. Der Gerichtshof der Europäischen Union sieht in der Rauschgiftsucht ein "großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit" (vgl. EuGH, Urteil vom 23. November 2010 - Rs. C-145/09, Tsakouridis - NVwZ 2011, 221 Rn. 47). Die Mitgliedstaaten dürfen daher die unerlaubte Verwendung von Betäubungsmitteln als eine Gefahr für die Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung gegen Ausländer rechtfertigt, die gegen Vorschriften über Betäubungsmittel verstoßen. Dabei zählt der illegale Drogenhandel zu den Straftaten, die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV als Bereiche besonders schwerer Kriminalität genannt werden. Diese können als schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses angesehen werden und die Ausweisung von Personen rechtfertigen, die entsprechende Straftaten begangen haben (vgl. EuGH, Urteil vom 22. Mai 2012 - Rs. C-348/09, P.I. - NVwZ 2012, 1095 Rn. 28). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht den Handel mit Betäubungsmitteln als schwerwiegende Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Interessen an (vgl. Urteile vom 3. November 2011 - Nr. 28770/05, Arvelo Aponte/Niederlande - Rn. 58 und vom 12. Januar 2010 - Nr. 47486/06, Khan/Vereinigtes Königreich - InfAuslR 2010, 369 Rn. 40 m.w.N.).

13

Nach diesen Maßstäben stellt das persönliche Verhalten des Klägers eine schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft im Sinne des Art. 14 ARB 1/80 dar. Die meisten der von ihm begangenen Drogenstraftaten beschränken sich zwar auf den unerlaubten Erwerb und Besitz von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum. Der Kläger hat sich aber auch am unerlaubten Handel und der unerlaubten Abgabe von Betäubungsmitteln an Dritte beteiligt, wobei es sich bei der gehandelten bzw. abgegebenen Droge überwiegend um das besonders gefährliche Heroin handelte.

14

1.3 Das Berufungsgericht hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise für den Kläger die Gefahr der Wiederholung seines strafbaren Verhaltens sowohl im Bereich der Beschaffungskriminalität als auch im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität bejaht. Seine Prognose hat das Berufungsgericht aus dem Fehlen einer grundlegenden Verhaltensänderung des Klägers abgeleitet, insbesondere aus dem Fehlen nachhaltiger Bemühungen, sich durch geeignete Therapiemaßnahmen aus der Betäubungsmittelabhängigkeit zu lösen. Die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten der beschriebenen Art stellt - wie ausgeführt - eine schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung dar. Von den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Senat - nachdem der Kläger keine Verfahrensrügen erhoben hat - gemäß § 137 Abs. 2 VwGO auszugehen.

15

1.4 Die Ausweisung des Klägers erweist sich auch unter Würdigung seiner schützenswerten Belange als unerlässlich, um das oben näher beschriebene Grundinteresse der Gesellschaft zu wahren (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 86). Das Berufungsgericht hat die schützenswerten Belange des Klägers, die sich auf sein Privat- und Familienleben beziehen, unter Zugrundelegung der in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten Kriterien umfassend gewürdigt. Es hat in den Blick genommen, dass der Kläger in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, die deutsche Sprache beherrscht und seine gesamte Erziehung und Sozialisation in Deutschland erfahren hat. Das Gericht hat auch die familiären Bindungen des Klägers an seine in Deutschland lebende Mutter und seine erwachsenen Geschwister berücksichtigt. Bei der Bewertung der Integration des Klägers in Deutschland war für das Berufungsgericht von Bedeutung, dass er hier keinen Schulabschluss erzielte, keine Berufsausbildung absolviert hat und einer Berufstätigkeit allenfalls kurzzeitig nachgegangen ist. Für die Möglichkeit eines Lebens in der Türkei spielte für das Gericht eine Rolle, dass der Kläger nach den getroffenen Feststellungen über türkische Sprachkenntnisse verfügt und mit den Gepflogenheiten in der Türkei vertraut ist, was sich auch darin zeige, dass er in der Vergangenheit versucht habe, eine türkischsprachige Therapieeinrichtung zu finden, in der auf seine Suchtproblematik unter Berücksichtigung seiner kulturellen Herkunft eingegangen werden könne. Zudem lebten in der Türkei ihm bekannte Personen, die ihm jedenfalls in der ersten Zeit der Eingewöhnung zur Seite stehen könnten. Die unter Abwägung der öffentlichen und privaten Belange getroffene Wertung des Berufungsgerichts, dass dem Kläger eine Ausreise in die Türkei zuzumuten sei, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

16

1.5 Die Ermessensausübung der Beklagten im Ausweisungsbescheid vom 16. September 2008 lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Die Beklagte geht von einem aus dem Assoziationsrecht abgeleiteten Aufenthaltsrecht des Klägers nach Art. 7 ARB 1/80 aus und misst die Rechtmäßigkeit der Ausweisung am Maßstab des Art. 14 ARB 1/80. Sie erkennt die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung und beachtet deren gesetzliche Grenzen. Die erfolgte Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Abwehr der vom Kläger ausgehenden konkreten Gefahr für die hochrangigen Rechtsgüter Leben und Gesundheit im Fall der Fortsetzung des illegalen Drogenhandels gegen das Interesse des Klägers an einem Verbleib in Deutschland ist rechtlich nicht zu beanstanden. Bei der Begründung des öffentlichen Interesses stützt sich die Beklagte ausschließlich auf Gefahren, die vom Kläger selbst ausgehen und nicht auf generalpräventive Gründe.

17

1.6 Entgegen der Auffassung der Revision ist auch das Ausweisungsverfahren fehlerfrei durchgeführt worden.

18

Zwar war das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene "Vier-Augen-Prinzip" auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige zu übertragen. In dem hier vorliegenden Fall hat die Beklagte den angefochtenen Bescheid aber am 16. September 2008 und damit erst nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG zum 30. April 2006 (Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG) erlassen. Zu diesem Zeitpunkt galt Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr.

19

Es kann offenbleiben, ob sich für assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige die unionsrechtlichen Anforderungen an den Rechtsschutz gegen Ausweisungsentscheidungen nunmehr nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG (betreffend langfristig Aufenthaltsberechtigte) oder nach Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG (betreffend Unionsbürger) bestimmen. Denn in keiner dieser Vorschriften ist die Beteiligung einer unabhängigen Stelle im Ausweisungsverfahren zur Prüfung der Zweckmäßigkeit der Maßnahme vorgeschrieben. Das hat der Senat in dem mit den Parteien in der mündlichen Verhandlung erörterten Urteil vom 13. Dezember 2012 (BVerwG 1 C 20.11 - NVwZ 2013, 733 Rn. 29 f.) näher dargelegt; darauf wird Bezug genommen.

20

Im Übrigen trifft die vom Kläger in der Revisionsbegründung vertretene Auffassung nicht zu, eine verfahrensmäßige Besserstellung von assoziationsrechtlich begünstigten türkischen Staatsangehörigen verstoße nicht gegen das Besserstellungsverbot des Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl 1972 II S. 385) - ZP, weil freizügigkeitsberechtigte EU-Staatsangehörige gegenüber den assoziationsrechtlich Begünstigten einen höheren materiellen Ausweisungsschutz besäßen. Denn soweit Unionsbürger nach der Richtlinie 2004/38/EG gegenüber Berechtigten nach dem Assoziationsrecht EWG-Türkei einen erhöhten materiellen Ausweisungsschutz genießen, beruht dieser nicht auf dem wirtschaftlich begründeten Freizügigkeitsrecht von Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten, sondern auf der besonderen Rechtsstellung der Unionsbürger, mit der die assoziationsrechtlich begünstigten türkischen Staatsangehörigen keine Gleichstellung verlangen können (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - Rs. C-371/08, Ziebell - NVwZ 2013, 422 Rn. 68 - 74). Dem stehen auch die durch das Assoziationsrecht getroffenen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Union zum Stillstandsgebot nicht entgegen. Jedenfalls in dem Umfang, in dem sich die Vertragsparteien EWG und Türkei in Art. 59 ZP völkerrechtlich zur Beachtung des Besserstellungsverbots verpflichtet haben, durfte die Union den Wegfall einer Regelung zum außergerichtlichen Rechtsschutz, der für die Angehörigen ihrer Mitgliedstaaten geschaffen worden war, auch mit Wirkung für die Berechtigten nach dem ARB 1/80 entfallen lassen (so schon Beschluss vom 15. April 2013 - BVerwG 1 B 22.12 - Rn. 14). Einer von der Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angeregten Klärung durch ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH bedarf es insoweit nicht, da die Rechtslage aufgrund der bereits ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig ist ("acte clair").

21

Auch aus den Stillhalteklauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 ZP ergibt sich nicht, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG bei der Ausweisung assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger weiterhin anzuwenden ist. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats (Urteile vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277 Rn. 22 ff.; vom 13. Dezember 2012 a.a.O. Rn. 33 und vom 15. Januar 2013 - BVerwG 1 C 10.12 - NVwZ-RR 2013, 435 Rn. 23 f.) und wurde ebenfalls bereits in seinem Urteil vom 13. Dezember 2012 (a.a.O. Rn. 33) näher dargelegt; auf diese Ausführungen wird Bezug genommen.

22

Der Rechtsauffassung der Kommission in ihrer Stellungnahme vom 15. Dezember 2006 in der Rechtssache Polat (Rs. C-349/06), auf die sich die Prozessbevollmächtigte des Klägers bezogen hat, wonach die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürgerrichtlinie auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und die auf seiner Grundlage erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss habe, ist der EuGH nicht gefolgt. Vielmehr hat er für Regelungen zum Ausweisungsschutz, bei denen die für Unionsbürger geltenden Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG im Hinblick auf ihren Gegenstand und Zweck nicht auf Berechtigte nach dem Assoziationsrecht EWG - Türkei übertragbar sind, Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG als neuen unionsrechtlichen Bezugsrahmen bestimmt, nicht aber die außer Kraft getretenen Bestimmungen der Richtlinie 64/221/EWG zugunsten der assoziationsrechtlich Begünstigten für weiterhin anwendbar angesehen (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 74 - 79).

23

Ohne Erfolg rügt der Kläger einen Verstoß gegen die Stillhalteklauseln durch den Wegfall des nationalen Widerspruchsverfahrens gegen Ausweisungsentscheidungen in Nordrhein-Westfalen seit 1. November 2007. Zum einen stellte die Durchführung des Widerspruchsverfahrens nach §§ 68 ff. VwGO keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Ausweisung dar, sondern - anders als Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG - lediglich eine Prozessvoraussetzung für die Erhebung einer Anfechtungsklage vor dem Verwaltungsgericht. Zum anderen betrifft der Wegfall des Widerspruchsverfahrens türkische Assoziationsberechtigte und Unionsbürger in gleicher Weise. Nach der Rechtsprechung des EuGH steht der Erlass oder Wegfall von Regelungen, die - wie hier - in gleicher Weise auf türkische Staatsangehörige und auf Gemeinschaftsangehörige Anwendung finden, nicht im Widerspruch zu den Stillhalteklauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 ZP. Auch dies hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 13. Dezember 2012 (a.a.O. Rn. 34) - dort bezogen auf den Wegfall des Widerspruchsverfahrens in Baden-Württemberg - im Einzelnen dargelegt; auf diese Ausführungen wird Bezug genommen.

24

1.7 Der Rechtmäßigkeit der Ausweisung steht auch nicht entgegen, dass die Beklagte die gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG nicht bereits bei Erlass der Ausweisungsverfügung befristet hat. Seit Inkrafttreten des § 11 AufenthG in der Neufassung durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) - Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 - haben Ausländer zwar grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass die Ausländerbehörde mit einer Ausweisung zugleich das daran geknüpfte gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die Titelerteilungssperre befristet (Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 30). Fehlt die notwendige Befristung der Ausweisung, hat das aber auch nach Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 nicht zur Folge, dass die - als solche - rechtmäßige Ausweisung aufzuheben ist. Vielmehr ist in der Anfechtung der Ausweisung zugleich - als Minus - für den Fall der Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung ein (Hilfs-)Antrag auf Verpflichtung der Ausländerbehörde zu einer angemessenen Befristung ihrer Wirkungen zu sehen (Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 39).

25

1.8 Schließlich verstößt die Ausweisung nicht gegen die Richtlinie 2008/115/EG - Rückführungsrichtlinie. Dabei kann dahinstehen, ob sie an den Bestimmungen dieser Richtlinie zu messen ist. Denn selbst wenn man die intertemporale Geltung und die sachliche Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie auf die Ausweisung bejaht, verhilft das der Anfechtungsklage gegen die Ausweisung nicht zum Erfolg. Da der Kläger mittels seines Hilfsantrags die gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. gebotene Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung zusammen mit deren gerichtlicher Prüfung durchsetzen kann, wird den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie im Ergebnis Genüge getan (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 45).

26

2. Der Hilfsantrag des Klägers, mit dem dieser die Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf die Dauer von maximal vier Jahren begehrt, ist zulässig, aber nicht begründet.

27

2.1 Der erst in der Revisionsinstanz gestellte Hilfsantrag ist zulässig. Nach der neueren Rechtsprechung des Senats kann ein Kläger seit Inkrafttreten des § 11 AufenthG in der Neufassung des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 auch noch in der Revisionsinstanz einen Hilfsantrag auf Befristung der Wirkungen der von ihm angefochtenen Ausweisungsentscheidung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG stellen (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 28). Er verfolgt damit nur den bereits in seinem Anfechtungsbegehren gegen die Ausweisung für den Fall der Abweisung enthaltenen Hilfsantrag weiter, den das Berufungsgericht hier der Sache nach abgewiesen hat. Erachtet das Gericht die Ausweisung für rechtmäßig, hat es auf den Hilfsantrag des Betroffenen hin die Befristungsentscheidung der Ausländerbehörde im Rahmen des durch die Antragstellung begrenzten Streitgegenstandes vollumfänglich zu überprüfen. Hat eine Ausländerbehörde eine zu lange Frist festgesetzt oder fehlt eine behördliche Befristungsentscheidung, hat das Gericht über die konkrete Dauer einer angemessenen Frist selbst zu befinden und die Ausländerbehörde zu einer entsprechenden Befristung der Ausweisung zu verpflichten (Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277 Rn. 40).

28

2.2 Der Hilfsantrag ist aber unbegründet.

29

Nachdem die Beklagte während des Revisionsverfahrens eine Befristung für die Dauer von sieben Jahren, beginnend mit der Ausreise oder Abschiebung des Klägers ausgesprochen hat, war vom Senat nur noch zu entscheiden, ob der Kläger - bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz - einen Anspruch auf Festsetzung einer kürzeren Frist von maximal vier Jahren hat. Dies ist nicht der Fall.

30

Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, der ausgewiesen worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird nach Satz 2 der Vorschrift auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Satz 3 der Vorschrift ordnet an, dass diese kraft Gesetzes eintretenden Wirkungen auf Antrag befristet werden. Die Frist ist gemäß Satz 4 unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Bei Bemessung der Länge der Frist wird berücksichtigt, ob der Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausgereist ist (Satz 5). Die Frist beginnt nach Satz 6 mit der Ausreise. Nach Satz 7 erfolgt keine Befristung, wenn ein Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder aufgrund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG aus dem Bundesgebiet abgeschoben wurde.

31

Unter Zugrundelegung der Maßstäbe des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ergibt sich im vorliegenden Fall kein Anspruch auf Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots auf weniger als die von der Ausländerbehörde zwischenzeitlich festgesetzten sieben Jahre. Die allein unter präventiven Gesichtspunkten zu bestimmende Frist darf hier fünf Jahre schon deshalb überschreiten, weil von dem Kläger eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Denn nach den Feststellungen des Berufungsgerichts besteht in der Person des Klägers weiterhin die Gefahr der Begehung von Straftaten im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität - einschließlich des Handels mit Heroin - und damit eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung.

32

Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Dabei bedarf es der prognostischen Einschätzung, wie lange das Verhalten des Klägers, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Der Senat geht davon aus, dass in der Regel ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont darstellt, für den eine Prognose realistischerweise noch gestellt werden kann. Weiter in die Zukunft lässt sich die Persönlichkeitsentwicklung kaum abschätzen, ohne spekulativ zu werden (vgl. Urteil vom 13. Dezember 2012 - BVerwG 1 C 20.11 - NVwZ 2013, 733 Rn. 40). Im vorliegenden Fall geht es vorrangig um die Abwehr von Gefahren für das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung durch den Handel mit Heroin durch den Kläger. Dabei handelt es sich um hochrangige Rechtsgüter. Der Kläger ist drogenabhängig und hat zur Beschaffung von Betäubungsmitteln über die Dauer von mehr als 20 Jahren regelmäßig Straftaten begangen. Dazu gehörten neben Eigentumsdelikten mehrere Straftaten wegen Erwerbs, Besitzes, Abgabe und Handels mit Betäubungsmitteln, vornehmlich mit Heroin. Im Juni 2007 wurde er wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (Heroin und Kokain) zu einer Einzelstrafe von zwei Jahren und einem Monat verurteilt, was verdeutlicht, dass es sich nicht um Bagatellkriminalität handelte. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts besteht beim Kläger eine erhöhte Rückfallgefahr. Denn er ist seit vielen Jahren heroinabhängig, mehrere Therapieversuche blieben ohne Erfolg und er verfügt über keine Berufsausbildung, um sich eine Existenzgrundlage außerhalb der Kriminalität aufzubauen. In seinem Fall ist ein Ende der von ihm ausgehenden Gefahren für Leben und Gesundheit der Bevölkerung infolge des Handels mit Drogen nicht absehbar. Die von der Beklagten zwischenzeitlich festgesetzte Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots von sieben Jahren ist unter Berücksichtigung der gefährdeten Rechtsgüter und der hohen Rückfallgefahr nicht überhöht.

33

Allerdings muss sich die nach der Gefahr für die öffentliche Ordnung ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK, messen lassen. Sie ist daher gegebenenfalls in einem zweiten Schritt zu relativieren. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie gegebenenfalls seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 42 m.w.N.). Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Im vorliegenden Fall ist der Kläger zwar in Deutschland geboren und hat hier nahezu sein ganzes Leben verbracht. Familiäre Bindungen hat er allerdings - anders als in dem vom Senat mit Urteil vom 13. Dezember 2012 entschiedenen Fall eines nach islamischem Ritus verheirateten Klägers, dessen Frau ein Kind von ihm erwartete (a.a.O. Rn. 42) - nur an seine Mutter und seine erwachsenen Geschwister. Zudem hat der Kläger sein Leben im Wesentlichen in Strafhaft, in verschiedenen Wohn- und Therapieeinrichtungen und in der Drogenszene verbracht, sodass das Maß seiner Integration in das legale gesellschaftliche Leben in Deutschland gering ist. Die Festsetzung einer Sperrfrist von weniger als sieben Jahren kommt unter Zugrundelegung der vom Senat entwickelten Kriterien daher nicht in Betracht.

34

Der Senat weist darauf hin, dass der Kläger jederzeit einen Antrag auf Verkürzung der von der Beklagten festgesetzten Frist nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG stellen kann, wenn sich die für die Festsetzung maßgeblichen Tatsachen nachträglich ändern sollten, etwa weil sich seine Rückfallgefahr infolge einer erfolgreichen Drogentherapie deutlich vermindert hat.

35

3. Die Abschiebungsandrohung in der in der Berufungsverhandlung abgeänderten Fassung ist rechtmäßig. Der Kläger ist ausreisepflichtig (§ 50 Abs. 1 AufenthG), da infolge der Ausweisung seine aufgrund des rechtzeitig gestellten Verlängerungsantrags gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG als fortbestehend geltende Aufenthaltserlaubnis erloschen ist (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die von der Beklagten für den Fall der Haftentlassung getroffene Festsetzung der Ausreisefrist von einem Monat legt der Senat in Übereinstimmung mit § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zugunsten des Klägers dahingehend aus, dass ihm eine Frist von 30 Tagen für die freiwillige Ausreise zur Verfügung steht.

Tenor

I.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III.

Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Der am 12. Mai 1986 im Bundesgebiet geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er war ab Dezember 1997 im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis, ab Juni 2002 einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bzw. einer Niederlassungserlaubnis.

Der Kläger hat im Bundesgebiet die Hauptschule besucht, jedoch keine Berufsausbildung durchlaufen. Erwerbstätig war er jeweils nur für kurze Zeit.

Der Kläger lebte zumeist mit seiner im Bundesgebiet lebenden Familie (Vater, zwei Schwestern und ein Bruder) zusammen. In der Türkei hat er entfernte Verwandte. Er ist der türkischen Sprache mächtig.

Bereits im Alter von 15 Jahren hat der Kläger seine ersten Straftaten begangen (Diebstahlsdelikte). Gewalttaten (Körperverletzungsdelikte, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Bedrohung) kamen dazu. Nach mehreren Verurteilungen, u. a. zu Bewährungsstrafen, wurde der Kläger mit Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 11. September 2006 erstmals zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren vier Monaten verurteilt. Neben anderen Delikten (Sachbeschädigung, Diebstahl, Beleidigung, Bedrohung) hat er im Dezember 2005 eine vorsätzliche Körperverletzung begangen, bei der er dem Opfer mehrere Faustschläge ins Gesicht und einen Kopfstoß versetzte, wobei das Opfer erhebliche Verletzungen erlitt. Im Urteil werden dem Kläger schädliche Neigungen und Erziehungsdefizite bestätigt.

Am 18. April 2007 wurde der Kläger wegen eines am 15. April 2007 begangenen Körperverletzungsdelikts in Untersuchungshaft genommen.

Am 29. Mai 2007 verurteilte ihn das Amtsgericht Augsburg wegen gefährlicher Körperverletzung, Bedrohung und Beleidigung unter Einbeziehung der Verurteilung vom 11. September 2006 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren zehn Monaten. Ihm wurde zur Last gelegt, am 25. Juli 2006 zusammen mit einem anderen sein Opfer zusammengeschlagen zu haben, wobei dieses eine Nasenbeinfraktur, Prellungen, Hämatome und Bisswunden erlitt. Zudem hat er den Stiefvater des Opfers beleidigt und ihm gegenüber Drohungen gegen das Opfer ausgesprochen. Im Urteil wurde bei der Strafzumessung erneut davon ausgegangen, dass beim Kläger massive schädliche Neigungen vorliegen, zudem eine ausgeprägte Aggressivität und Gewaltbereitschaft. Er sei unbelehrbar, brutal und benötige eine Therapie.

Ab dem 30. Januar 2008 wurde der Kläger gemäß § 64 StGB in das Bezirkskrankenhaus P. verbracht, um dort eine Drogen- und Alkoholtherapie zu absolvieren.

Das Amtsgericht Augsburg verurteilte ihn nochmals am 21. Januar 2008 zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren und Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wegen gefährlicher Körperverletzung. Dem Urteil lag zugrunde, dass der Kläger am 15. April 2007 angetrunken seinem Opfer ohne Grund mit der Faust in den Rücken geschlagen und mit Kopf und Knien gegen den Kopf des Opfers gestoßen ist. Dieser erlitt eine Stirnhöhlenvorderwandfraktur und musste operiert werden. Im Rahmen der Strafzumessung ging das Amtsgericht vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB aus und führte aus, dass der Kläger stark aggressiv sei, erheblich alkoholabhängig und bestätigte einen Abusus von Cannabinoiden. Es stellte ihm eine sehr ungünstige Prognose aus.

Mit Bescheid vom 18. Dezember 2008 wies die Ausländerbehörde den Kläger aus dem Bundesgebiet aus, drohte seine Abschiebung aus der Haft an und erließ hilfsweise eine Abschiebungsandrohung. Im Rahmen der Begründung des Bescheids wurde berücksichtigt, dass der Kläger als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger lediglich im Ermessenswege ausgewiesen werden dürfe. Zudem seien nur spezialpräventive Erwägungen zulässig. Eine Ausweisung sei nur möglich, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Ausländers außer der Störung der öffentlichen Ordnung auch eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Dies alles sei beim Kläger gegeben. Auch unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK erweise sich die Ausweisung als verhältnismäßig.

Mit seiner Klage vom 19. Januar 2009 machte der Kläger im Wesentlichen geltend, er habe in der Haft und im Bezirkskrankenhaus positive Fortschritte gemacht. Er betreibe eine Ausbildung, nehme weder Drogen noch Alkohol zu sich und durchlaufe erfolgreich eine Therapie. Positive Stellungnahmen des Bezirkskrankenhauses vom Januar und September 2009 bestätigten dies.

Am 26. Oktober 2009 teilte das Bezirkskrankenhaus mit, dass beim Kläger ein Rückfall eingetreten sei. Er habe die Droge Speed genommen, nachdem er seine Arbeitsstelle verloren habe. Der Vorschlag der Klinik, die weitere Unterbringung zur Bewährung auszusetzen, werde zurückgezogen, da der Kläger unter schwierigen Lebensbedingungen keine stabile Abstinenz gegenüber illegalen Drogen aufrechterhalten könne.

Mit Beschluss vom 10. November 2009 setzte das Verwaltungsgericht das Verfahren im Hinblick auf die damals noch nicht geklärte Anwendbarkeit der Unionsbürgerrichtlinie auf türkische Staatsangehörige aus.

Im Januar 2010 durfte der Kläger wieder einen Arbeitsplatz außerhalb des Bezirkskrankenhauses annehmen. Am 1. Mai 2010 wurden die mit Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 21. Januar 2008 angeordnete Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sowie der Rest der Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt und Führungsaufsicht für drei Jahre angeordnet.

Ab seiner Entlassung war der Kläger zunächst vier Monate drogen- und alkoholfrei. Er schloss sich dann aber einer Rockergruppe an und konsumierte wieder Drogen. Vor seiner erneuten Inhaftierung im Juli 2011 nahm er zuletzt täglich eine Flasche Schnaps oder Wodka zu sich und ebenfalls täglich ein bis drei Gramm Kokain. Am 12. Mai 2011 hat der Kläger zusammen mit einem Mittäter eine Spielhalle überfallen, wobei er eine Angestellte mit einer Schreckschusswaffe bedrohte und die Aushändigung der Tageseinnahmen verlangte. Er erbeutete 1.130 Euro. 800 Euro davon behielt er für sich. Er verwendete das Geld zum Kauf von Drogen und gab den Rest in Nachtclubs aus. Wegen dieser Tat verurteilte ihn das Landgericht Augsburg mit Urteil vom 16. Mai 2012, das auf § 257c StPO beruhte, wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe und ordnete die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach eineinhalb Jahren Haft an. Nach dieser Verurteilung wurde auch der Bewährungsbeschluss des Amtsgerichts Neumarkt/Oberpfalz vom 1. Mai 2010 widerrufen.

Mit Bescheid vom 8. Februar 2013 befristete die Ausländerbehörde die Wirkung der Ausweisungsverfügung vom 18. Dezember 2008 auf die Dauer von fünf Jahren ab dem Zeitpunkt der Ausreise des Klägers. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht über das wieder aufgenommene Ausweisungsverfahren wurde der Befristungsbescheid in die Klage einbezogen. Mit Urteil vom 6. März 2013 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Hiergegen richtet sich der Zulassungsantrag des Klägers vom 16. April 2013.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Behördenunterlagen Bezug genommen.

II.

Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 3 VwGO nicht vorliegen. Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen im Zulassungsantrag rechtfertigt keine Zulassung der Berufung (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).

1. Die Berufung ist nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Diesen Zulassungsgrund hat der Kläger nämlich bereits nicht den Anforderungen von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt.

Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung ist nur dann den Anforderungen von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt, wenn der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert, ausführt, warum diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, erläutert, weshalb sie klärungsbedürftig ist, und darlegt, warum ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. BayVGH, B.v. 8.10.2014 - 10 ZB 12.2742 - juris Rn. 42). Diesen Anforderungen genügen die Ausführungen des Klägers in der Zulassungsbegründung jedoch nicht.

Der Kläger ist der Auffassung, dass die Rechtssache deshalb grundsätzliche Bedeutung habe, weil für türkische assoziationsberechtigte Staatsangehörige aufgrund der Einführung der allgemeinen Zulassungsberufung Verschlechterungen ihrer rechtlichen Situation eingetreten seien, nach Art. 13 ARB 1/80 die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen aber keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen dürften. Die Benachteiligung der türkischen Staatsangehörigen liege darin, dass im Berufungsverfahren, das früher ohne vorherige Zulassung statthaft war, grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich sei und deshalb entgegen dem jetzt erforderlichen (vorherigen) Zulassungsverfahren noch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung für den betroffenen Ausländer günstige Tatsachen vorgetragen werden konnten.

Dieses Vorbringen führt nicht zur Zulassung der Berufung. Der Kläger weist zwar zutreffend darauf hin, dass bei Durchführung eines Berufungsverfahrens hinsichtlich der Sach- und Rechtslage im Ausweisungsverfahren auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der Entscheidung des Berufungsgerichts abzustellen ist (st. Rspr. des BVerwG; vgl. U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - Rn. 12 m. w. N.) und deshalb während des Berufungsverfahrens noch eintretende - sowohl günstige als auch ungünstige - neue Umstände zu berücksichtigen sind. Anders als im Berufungsverfahren sind demgegenüber im Zulassungsverfahren die Zulassungsgründe innerhalb einer bestimmten Frist darzulegen. Später eintretende neue Zulassungsgründe können demgemäß grundsätzlich keine Berücksichtigung mehr finden, auch wenn sie für den jeweiligen Kläger günstig sind (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).

Dies allein besagt aber noch nicht, dass die vom Kläger aufgeworfene Frage für den konkreten Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, wie dies zur Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache erforderlich gewesen wäre. Der Kläger legt insbesondere nicht dar, wieso er in seinem konkreten Einzelfall besser gestellt wäre, wenn statt des Zulassungsverfahrens von vornherein die Berufung gegen das angefochtene Urteil möglich gewesen wäre. Denn bis zum jetzigen Zeitpunkt der Entscheidung über den Zulassungsantrag, zu dem womöglich auch bereits über eine Berufung entschieden worden wäre, hat der Kläger nichts vorgetragen, was bei der Überprüfung der Ausweisungsentscheidung des Beklagten in entscheidungserheblicher Weise noch zu seinen Gunsten einzustellen gewesen wäre. Er zeigt deshalb nicht in der gebotenen Weise auf, dass die Beurteilung der Sach- und Rechtslage zu unterschiedlichen Beurteilungszeitpunkten, beim Berufungsverfahren zum jetzigen Zeitpunkt und beim Zulassungsverfahren mit Ablauf der Zulassungsbegründungsfrist, in seinem konkreten Ausweisungsfall zu einem unterschiedlichen Ergebnis geführt hätte, er insbesondere durch die Entscheidung im Zulassungsverfahren schlechter gestellt wäre als in einem Berufungsverfahren.

Im Übrigen käme der Rechtssache auch dann keine grundsätzliche Bedeutung bei, wenn der Kläger eine konkrete Schlechterstellung durch die Einführung des Zulassungsverfahrens gegenüber dem früher von vornherein zulässigen Berufungsverfahren konkret dargelegt hätte. Denn die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80, wonach die Mitgliedstaaten keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen dürfen, wäre zwar auf den Kläger, der eine aufenthaltsrechtliche Stellung aus Art. 7 ARB 1/80 besaß, anzuwenden. Jedoch erscheint bereits fraglich, ob die auf den Zugang zum Arbeits- bzw. Binnenmarkt zugeschnittene Stand-Still-Klausel überhaupt Verfahrensregelungen bei der Aufenthaltsbeendigung erfasst (vgl. BVerwG, B.v. 15.4.2013 - 1 B 22/12 - juris Rn. 13). Zudem stellt die Durchführung des Zulassungsverfahrens nach §§ 124 ff. VwGO keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Ausweisung dar, sondern lediglich eine spezielle Prozessvoraussetzung für die Einlegung der Berufung. Dies ergibt sich aus § 124 Abs. 1 VwGO, wonach den Beteiligten gegen Urteile die Berufung zusteht, wenn sie vom Verwaltungsgericht oder vom Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

Schließlich betrifft der Wegfall des Berufungsverfahrens ohne vorherige Zulassung der Berufung nicht nur türkische Assoziationsberechtigte, sondern auch Unionsbürger in gleicher Weise. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs steht der Erlass oder Wegfall von Regelungen, die - wie hier - in gleicher Weise auf türkische Staatsangehörige und auf Gemeinschaftsangehörige Anwendung finden, nicht im Widerspruch zur Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 - 1 C 20/11 - juris Rn. 34; U.v. 14.5.2013 - 1 C 13/12 - juris Rn. 23). Im Übrigen wäre die Aufrechterhaltung des generellen Berufungsverfahrens ohne vorherige Zulassung nur für türkische Staatsangehörige nicht mit dem Besserstellungsverbot des Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl 1972 II S. 385) - ZP - vereinbar, denn nach dieser Vorschrift darf der Türkei in den von diesem Protokoll erfassten Bereichen keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, wie sie die Mitgliedstaaten untereinander aufgrund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft einräumen. Da das Zulassungsverfahren auch auf Unionsbürger in den Fällen, in denen es um den Verlust ihres Rechts auf Einreise und Aufenthalt geht, Anwendung findet, kann für türkische Staatsangehörige in deren Ausweisungsverfahren nichts anderes gelten. Daran ändert auch die vom Kläger im Zulassungsverfahren zitierte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Z. (U.v. 8.12.2011 - Rs. C-371/08 - NVwZ 2012, 422) nichts. Denn auch wenn nach dieser Entscheidung für Unionsbürger und türkische Staatsangehörige ein unterschiedlicher Maßstab hinsichtlich der Ausweisung gilt, betrifft sie nur den materiell-rechtlichen Bezugsrahmen für die Aufenthaltsbeendigung für die jeweilige Gruppe von Ausländern. Das Urteil in Sachen Z. verlangt aber nicht einen im Hinblick auf das statthafte Rechtsmittel unterschiedlichen Beurteilungszeitpunkt für Unionsbürger und türkische Assoziationsberechtigte.

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass das Verschlechterungsverbot des Art. 13 ARB 1/80 wohl nicht dazu führen würde, die Vorschriften über die Zulassung der Berufung auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige überhaupt nicht anzuwenden und für diese in ausländerrechtlichen Streitigkeiten ausschließlich ein Berufungsverfahren durchzuführen. Denn hinsichtlich des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage, den der Kläger allein thematisiert, wäre auch denkbar, diesen Zeitpunkt hinsichtlich der während des Zulassungsverfahrens noch eintretenden neuen Umstände bis zur Entscheidung im Zulassungsverfahren hinauszuschieben. Dies wird aber weder geltend gemacht noch sind - wie bereits oben ausgeführt - bis zu einem womöglich bis zur Entscheidung des Senats verlagerten Zeitpunkt Gründe vorgetragen worden, die im Fall des Klägers zu einer anderen Beurteilung führen könnten als zum Zeitpunkt des Ablaufs der Zulassungsbegründungsfrist.

2. Der Senat hat auch keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils bestehen dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11). Dies ist jedoch nicht der Fall.

2.1. Der Kläger rügt insbesondere, entgegen den Voraussetzungen, die der Europäische Gerichtshof für die Ausweisung eines türkischen assoziationsberechtigten Staatsangehörigen nach Art. 14 ARB 1/80 für erforderlich ansieht, habe das Verwaltungsgericht in seinem Urteil die positiven Ansätze des Klägers vollkommen außer Betracht gelassen und insbesondere die Mitwirkungsbereitschaft des Klägers und in naher Zukunft anstehende Therapien und Trainings nicht hinreichend berücksichtigt.

Demgegenüber ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass das Verhalten des Klägers auch zum Zeitpunkt seiner Entscheidung noch eine hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellte, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Diese Feststellung des Verwaltungsgerichts wird auch mit dem Zulassungsvorbringen nicht ernsthaft in Zweifel gezogen. Die konkrete Gefahr der Wiederholung vergleichbarer Straftaten besteht auch unter Berücksichtigung der im Zulassungsantrag aufgeführten positiven Ansätze des Klägers weiter. Ausgehend von einem differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 16 m. w. N.; BayVGH, U.v. 25.3.2014 -10 BV 13.484 - juris Rn. 27) ist das Erstgericht in rechtlich nicht zu beanstandender Weise zu der Einschätzung gelangt, dass unter Berücksichtigung der Gesamtumstände beim Kläger mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Wiederholung entsprechend schwerer Straftaten, insbesondere im Bereich der Körperverletzungsdelikte, bestehe. Es hat dabei - ebenso wie der Beklagte im Bescheid vom 18. Dezember 2008 - sowohl die Tatumstände, die Persönlichkeitsstruktur des Klägers, dessen Perspektivlosigkeit und die mangelnde therapeutische Aufarbeitung seines Sucht- und Aggressionspotentials als auch sein Verhalten nach der Ausweisung gewürdigt und in seine Entscheidung einbezogen. Aufgrund der zahlreichen erheblichen Körperverletzungsdelikte, die der Kläger seit seinem 16. Lebensjahr begangen hat und deretwegen er zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden ist, bevor er zuletzt vom Landgericht Augsburg mit Urteil vom 16. Februar 2012 wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung (der Kläger hat mit einer Schreckschusswaffe eine Spielhalle überfallen) zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verurteilt worden ist, ist bei ihm von einem erheblichen Aggressionspotential auszugehen, das er bislang nicht überwunden hat. Denn zahlreiche von ihm begangene Delikte hingen mit seiner Alkoholabhängigkeit zusammen, die nach wie vor nicht hinreichend behandelt ist. Zudem blickt der Kläger auf eine langjährige „Drogenkarriere“ zurück. Deshalb bedarf es nach Einschätzung des von der Strafkammer des Landgerichts Augsburg beigezogenen Sachverständigen, dem sich das Verwaltungsgericht angeschlossen hat, sowohl einer Drogen- als auch einer Alkoholtherapie. Im genannten Strafurteil wird überzeugend ausgeführt, dass vom Kläger unbehandelt in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere erhebliche Straftaten zu erwarten seien und deshalb sowohl seine Alkohol- als auch seine Drogensucht zuerst bekämpft werden müssten. Davon ist auch das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats, dass die erfolgreiche Absolvierung dieser Therapien zwingende Voraussetzung für ein denkbares Entfallen der Wiederholungsgefahr ist (vgl. z. B. BayVGH, B.v. 26.11.2013 -10 ZB 13.1873 - juris Rn. 7). Für die danach anzustellende Gefahrenprognose kommt es aber entgegen der Auffassung des Klägers nicht darauf an, ob dieser für eine neue Therapie vorgesehen ist, ob er seine Persönlichkeitsproblematik behandeln lassen und ob er ein Angebot einer Teilnahme an einem Aggressionstraining annehmen wird sowie auch nicht, dass Maßregelvollzug und Therapie für die Zukunft vorgesehen sind. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht darauf verwiesen, dass der bloße Wille zur Durchführung einer künftigen Therapie nicht ausreicht, um vorhandene Handlungs- und Verhaltensmuster dauerhaft zu korrigieren und dass auch ein Wohlverhalten in der Haft, wie der Kläger dies meint, nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen lässt. Dies gilt erst recht beim Kläger, der bereits einmal ab 30. Januar 2008 im Bezirkskrankenhaus P. eine Drogentherapie durchgeführt hat, dort erhebliche Fortschritte gemacht hat und aufgrund mehrerer positiver Stellungnahmen des Bezirkskrankenhauses im Juli 2009 beurlaubt worden ist. Bereits im Oktober 2009 wurde bei ihm ein Rückfall festgestellt und die zunächst vorgeschlagene Entlassung auf Bewährung zurückgezogen. Aber auch nach Fortführung der Therapie und Entlassung zur Bewährung ab Mai 2010 ist es dem Kläger nur vier Monate lang gelungen, drogen- und alkoholfrei zu leben. Vor seiner nächsten Inhaftierung im Juli 2011 hat er ausweislich der Akten täglich eine Flasche Schnaps bzw. Wodka sowie ein bis drei Gramm Kokain konsumiert. Damit zeigen die konkreten Umstände beim Kläger deutlich, dass bei ihm nicht einmal der Abschluss einer Therapie ausreicht, um ihn dauerhaft von seiner Alkohol- und Drogensucht abzuhalten. Damit kommt aber auch dem Umstand, dass er eine Drogentherapie durchführen will und seine Persönlichkeitsproblematik behandeln möchte, sowie seiner angeblichen Mitwirkungsbereitschaft an sonstigen Therapien und Trainings nur eine untergeordnete Bedeutung zu, da der Kläger damit zwar durchaus positive Ansätze zeigt, diese jedoch nach den bisherigen Erfahrungen mit ihm keinerlei Indiz dafür sind, dass tatsächlich seine Suchtprobleme und seine Persönlichkeitsproblematik in Zukunft erfolgreich überwunden werden können.

Aus demselben Grund kommt auch aktuellen positiven Führungsberichten der Justizanstalt keine ausschlaggebende Bedeutung zu, da solche auch früher schon vorlagen, der Kläger aber nach seiner ersten Beurlaubung und nochmals nach der Entlassung aus der Haft immer wieder in sein früheres Suchtverhalten zurückfiel und erneut schwere Straftaten begangen hat. Im Übrigen zeigt auch der Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt K. vom 5. Februar 2013, dass der Kläger sich disziplinarisch nicht ordnungsgemäß verhält. Er musste geahndet werden, weil er Alkohol hergestellt hat. Aus dem Bericht geht hervor, dass beim Kläger nach wie vor eine ernstzunehmende Alkohol- und Drogenproblematik vorliege.

Zur Beurteilung der Gefahrenprognose musste das Verwaltungsgericht auch keine weiteren Stellungnahmen oder Sachverständigengutachten als die bereits vorliegenden einholen. Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu bereits in seinem Beschluss vom 4. Mai 1990 (1 B 82/89 - juris - Rn. 7; st. Rspr..) ausgeführt, dass insbesondere in Fällen wiederholter Straftaten die Prüfung der Frage, ob eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gegenwärtig noch besteht, grundsätzlich nicht die Einholung eines Sachverständigengutachtens erfordere, da sich das Gericht mit einer entsprechenden tatsächlichen Würdigung regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen bewege, die dem Richter allgemein zugänglich seien. Eine Ausnahme komme nur in Betracht, wenn die Prognose die Feststellung oder Bewertung von Umständen voraussetze, für die eine dem Richter nicht zur Verfügung stehende Sachkunde erforderlich sei, wie z. B. bei Vorliegen eines seelischen Leidens. Dass ein solcher Fall beim Kläger vorliege, wird aber weder im Zulassungsantrag behauptet noch ist dies sonst ersichtlich.

2.2. Auch das Vorbringen des Klägers, die Ausweisung sei unter Berücksichtigung des Schutzes seines Privat- und Familienlebens und der Tatsache, dass er sich bereits seit seiner Geburt im Bundesgebiet aufhalte, nicht verhältnismäßig, vermag ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils nicht zu begründen.

Das Verwaltungsgericht - und ebenso der Beklagte im angefochtenen Bescheid - hat im angegriffenen Urteil bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung sämtliche Aspekte berücksichtigt, die nach der Rechtsprechung, insbesondere des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, als Kriterien bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung heranzuziehen sind. Es hat dabei insbesondere auf die Vielzahl von Straftaten abgestellt, bei denen der Kläger ein hohes Gewalt- und Aggressionspotential gezeigt hat, und berücksichtigt, dass er erforderliche Therapien nicht abgeschlossen hat, sondern bereits mehrfach beim Versuch, eine Therapie zu durchlaufen, letztendlich gescheitert ist. Es hat ebenfalls in sein Prüfprogramm eingestellt, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren ist und seine engere Familie hier lebt, aber auch darauf hingewiesen, dass damit eine Ausweisung nicht schlechthin untersagt sei. Schließlich hat es auch die Zumutbarkeit der Rückkehr des Klägers in das Land seiner Staatsangehörigkeit in seine Erwägungen einbezogen. Dass das Verwaltungsgericht unter Berücksichtigung dieser Umstände zum Ergebnis gelangt ist, die Ausweisung des Klägers sei verhältnismäßig, ist nicht zu beanstanden.

Insbesondere erweist sich der Einwand des Klägers im Zulassungsverfahren, eine Ausweisung sei dann unverhältnismäßig, wenn der Ausländer außer seiner Staatsangehörigkeit keine Bindungen mehr zu seinem Herkunftsland seiner Eltern besitzt, als nicht durchgreifend. Denn zum einen sind in die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht ausschließlich die Bindungen zum Herkunftsland einzustellen, sondern alle vom Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil (vgl. dazu dessen Rn. 49) genannten Gesichtspunkte als Kriterien heranzuziehen. Zudem trifft es nicht zu, dass der Kläger keine Bindungen mehr zur Türkei besitzt. So steht unwidersprochen fest, dass der Kläger die türkische Sprache beherrscht und sich nach eigenen Angaben (vgl. Niederschrift des VG Augsburg v. 6.3.2013) etwa alle zwei oder drei Jahre für mehrere Wochen zum Zwecke des Besuchs von Verwandten in der Türkei aufgehalten hat. Damals hat der Kläger auch ausgesagt, die Schwestern seiner Mutter lebten noch in der Türkei. Dass er sich zuletzt im Jahr 2006 in der Türkei aufgehalten hat, beruht offensichtlich auf seinen langjährigen Freiheitsstrafen, die er seit 2007 verbüßen musste. Auch trifft die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Kläger sei fest im türkischen Kulturkreis verwurzelt, bereits deshalb zu, weil er selbst ausgesagt hat, dass innerhalb der Familie immer noch Türkisch gesprochen werde und er in der Türkei noch familiäre Bindungen besitze. Zudem ergibt sich aus den Akten, dass er auch in der Justizvollzugsanstalt im Wesentlichen Kontakt zu türkischen Landsleuten gehalten hat (vgl. z. B. Führungsbericht der JVA K. vom 5.2.2013). Im Übrigen kommt es nicht entscheidungserheblich darauf an, ob der Kläger nach Überzeugung des Erstgerichts noch fest im türkischen Kulturkreis verwurzelt ist, sondern allein darauf, wie weit er Bindungen zum Heimatstaat hat, insbesondere dessen Sprache beherrscht und womöglich eine familiäre Anlaufstelle in der Türkei besitzt.

Insbesondere greift der Einwand des Klägers nicht, dass eine Ausweisung nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch bei langjährigen Verurteilungen zu Haftstrafen ohne Bewährung als unverhältnismäßig i. S. des Art. 8 Abs. 2 EMRK anzusehen sei, wenn der Ausländer seit vielen Jahren im Inland lebe. Die von ihm aufgezählten Entscheidungen können bereits deshalb nicht mit dem Fall des Klägers verglichen werden, weil jenen andere Sachverhalte zugrunde lagen. So war etwa im Fall Mehemi (EGMR, U.v. 26.9.1997 -Nr. 85/1996/704/896, Mehemi/Frankreich - InfAuslR 1997, 430) entscheidungserheblich, dass der dortige Kläger im Gegensatz zum vorliegenden Fall verheiratet und Vater dreier französischer Kinder war. Auch der Kläger im Fall Beldjoudi (EGMR, U.v. 26.3.1992 - Nr. 55/1990/246/317, Beldjoudi - InfAuslR 1993, 86) war mit einer französischen Staatsangehörigen verheiratet und hatte lange Zeit selbst die französische Staatsangehörigkeit besessen und diese lediglich aufgrund dessen, dass seine Eltern keine Beibehaltungserklärung abgegeben hatten, verloren. Zudem hatte er im Wesentlichen (nur) Vermögensdelikte begangen, stammte aus einem französischen Gebiet in Algerien und sprach kein Arabisch. Er lebte 40 Jahre lang in Frankreich. Auch die Rechtssache Moustaquim (EGMR, U.v. 18.2.1991 - Nr. 31/1989/191/291, Moustaquim/Belgien - InfAuslR 1991, 149) unterscheidet sich wesentlich vom Fall des Klägers. Zwar kannte auch der dortige Kläger sein Heimatland nur von Urlaubsreisen, er hat aber die ihm vorgeworfenen Straftaten als Jugendlicher begangen, und zwar alle innerhalb einer kurzen Zeitspanne von nur elf Monaten, und befand sich deswegen nur 16 Monate in Haft. Schließlich ist auch die Rechtssache Lamguindaz (Europäische Kommission für Menschenrechte, Bericht an den Ministerausschuss v. 13.10.1992 - Nr. 16152/92, Lamguindaz/Vereinigtes Königreich - InfAuslR 1995, 133) nicht geeignet, Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers zu wecken, denn der dort Betroffene hat zumeist nur geringfügige Vergehen begangen, die nur leichte Strafen, zum Teil auf Bewährung, nach sich zogen. Auch die Bezugnahme auf einen Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, B.v. 25.10.2000 - 24 CS 00.2611 - juris) führt nicht weiter, denn für die im Eilverfahren getroffene Abwägungsentscheidung war in erster Linie maßgebend, dass der Antragsteller „eher zufällig“ Franzose war, nicht die französische Sprache beherrschte und lediglich zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt war. Eine Entscheidung über die Ausweisung wurde nicht getroffen, sondern lediglich weiterer Aufklärungsbedarf im Hauptsacheverfahren festgestellt. Schließlich ergibt sich aus den vom Kläger zitierten Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Januar 1997 (BVerwG 1 C 17.94 - InfAuslR 1997, 296) und vom 29. September 1998 (BVerwG 1 C 8/96 - InfAuslR 1999, 54) nichts anderes, denn nach diesen Entscheidungen kommt zwar eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Ausländern in Betracht, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung praktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist. Ein solcher Fall liegt hier aber gerade nicht vor. Im Übrigen widerspricht sich der Kläger mit seiner Argumentation im Zulassungsverfahren, wenn er ausführt: „Diese Schwierigkeiten sind bei einem in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Ausländer in aller Regel weit größer als für einen Ausländer der sog. ersten Generation, dem Sprache und die Verhältnisse seines Heimatlandes vertraut sind.“ Gerade diese türkischen Sprachkenntnisse besitzt aber der in Deutschland geborene und aufgewachsene Kläger.

2.3. Der Kläger macht weiter geltend, ihm sei die Trennung von seiner Familie nicht zuzumuten. Die staatliche Pflicht zum Schutz des Familienlebens ergebe sich aus Art. 8 EMRK. Der Familienschutz bestehe auch für Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern.

Auch dieses Vorbringen ist nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils zu begründen. Zwar ist die Argumentation des Klägers, Art. 8 EMRK schütze auch die Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern, vom Ansatz her zutreffend (vgl. EGMR, U.v. 23.6.2008 - Nr. 1638/03, Maslov II - InfAuslR 2008, 333), jedoch verkennt er, dass das Recht des Klägers auf Privat- und Familienleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK die Ausweisung nicht von vornherein verhindert, sondern eine Abwägung der besonderen Umstände des Betroffenen und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall erfordert (vgl. EGMR, U.v. 13.10.2011 - Nr. 41548/06, Trabelsi - juris Rn. 53). Diese Abwägung hat das Verwaltungsgericht fehlerfrei vorgenommen.

Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den beiden von ihm genannten Entscheidungen einen anderen Maßstab bei der Auslegung von Art. 8 EMRK angelegt habe und sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichts daher als europarechtswidrig erweise. Denn beiden Entscheidungen (EGMR, U.v. 11.7.2002 - Nr. 56811/00, Amrollahi -InfAuslR 2004, 180 und EGMR, U.v. 18.10.2006 - Nr. 46410/99, Üner/Niederlande -NVwZ 2007, 1279) liegt ein wesentlich anderer Sachverhalt zugrunde als im vorliegenden Fall. In beiden Fällen war der Betroffene nämlich mit einer Staatsangehörigen des Staates, aus dem er ausgewiesen werden sollte, verheiratet, lebte mit dieser zusammen und hatte zudem jeweils zwei Kinder, die die Staatsangehörigkeit der Mutter hatten, aber keinerlei Beziehung zur Staatsangehörigkeit des Betroffenen. Demgegenüber hat der Kläger keine eigene Familie. Er ist weder verheiratet noch hat er Kinder. Das Verwaltungsgericht ist dennoch wegen seiner engen Beziehungen zu seinen Eltern und seinen Geschwistern, die im Bundesgebiet leben, von einem besonders geschützten Familien- und Privatleben ausgegangen (vgl. Rn. 51 des angegriffenen Urteils). Es hat dann aber zutreffend ausgeführt, weshalb diese Bindungen nicht zu einer Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung führen. Insbesondere ist dem erwachsenen, mittlerweile 28 Jahre alten Kläger, der nicht mehr auf die Fürsorge seiner Eltern angewiesen ist und auch sonst nicht auf den Beistand seiner Familie, die Rückkehr in sein Heimatland zumutbar. An diesem Abwägungsergebnis ändert auch die Behauptung des Klägers nichts, er habe keinen bzw. keinen engen Kontakt zu seinen in der Türkei lebenden entfernteren Verwandten und er sei auch nicht im türkischen Kulturkreis verwurzelt. Insoweit weist das Verwaltungsgericht zu Recht darauf hin, dass der Kläger zwar als sog. faktischer Inländer zu betrachten ist, seine Integration in die Verhältnisse des Bundesgebiets aber nicht so gewichtig ist, dass dies unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls der angefochtenen Ausweisungsentscheidung entgegenstehen könnte. Diese Einschätzung teilt auch der Senat.

3. Eine Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen besonderer rechtlicher Schwierigkeiten kommt bereits deshalb nicht in Betracht, weil solche Schwierigkeiten nicht den Anforderungen von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt wurden. Der Kläger hat sich vielmehr darauf beschränkt, das Vorliegen besonderer rechtlicher Schwierigkeiten zu behaupten und pauschal auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu verweisen. Im Übrigen kann insoweit auf die Ausführungen zu 1. verwiesen werden. Die Frage, ob in Fällen von Ausweisungen türkischer Staatsangehöriger ohne ein vorgeschaltetes Zulassungsverfahren unmittelbar ein Berufungsverfahren durchzuführen ist, lässt sich anhand der Rechtsprechung, insbesondere auch des Bundesverwaltungsgerichts, ohne größere Schwierigkeiten beantworten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Das Oberverwaltungsgericht prüft den Streitfall innerhalb des Berufungsantrags im gleichen Umfang wie das Verwaltungsgericht. Es berücksichtigt auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.

(1) Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

(2) Ein in der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisantrag kann nur durch einen Gerichtsbeschluß, der zu begründen ist, abgelehnt werden.

(3) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt, ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.

(4) Die Beteiligten sollen zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Schriftsätze einreichen. Hierzu kann sie der Vorsitzende unter Fristsetzung auffordern. Die Schriftsätze sind den Beteiligten von Amts wegen zu übermitteln.

(5) Den Schriftsätzen sind die Urkunden oder elektronischen Dokumente, auf die Bezug genommen wird, in Abschrift ganz oder im Auszug beizufügen. Sind die Urkunden dem Gegner bereits bekannt oder sehr umfangreich, so genügt die genaue Bezeichnung mit dem Anerbieten, Einsicht bei Gericht zu gewähren.

Tatbestand

1

Der im Jahr 1981 in Deutschland geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine unbefristete Ausweisung.

2

Der Vater des Klägers war 1973 in das Bundesgebiet eingereist und hier als Arbeitnehmer tätig. Er ist mittlerweile verstorben. Der Kläger hat vier ältere Brüder, die alle in Deutschland leben. Auch seine pflegebedürftige Mutter lebt hier. Der Kläger wuchs bei seinen Eltern auf und war seit Oktober 1997 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. 1998 schloss er die Hauptschule und 2001 eine Lehre als Verpackungsmittelmechaniker ab.

3

Am 8. April 2004 ordnete das Amtsgericht S. gegen den Kläger Untersuchungshaft an, weil er dringend verdächtig war, als Mitglied einer Bande mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben. Der Aufenthalt des Klägers war zum damaligen Zeitpunkt unbekannt. Tatsächlich war er in die Niederlande geflohen. Dort hielt er sich 14 Monate auf, bis er am 2. Juni 2005 verhaftet und am 12. August 2005 an die Bundesrepublik Deutschland überstellt wurde.

4

Mit Urteil des Landgerichts S. vom 24. November 2005 wurde der Kläger wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 12 tatmehrheitlichen Fällen sowie unerlaubten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 16 tatmehrheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren verurteilt. Der Verfall eines Wertersatzes in Höhe von 857 300 € wurde angeordnet. Der Verurteilung lag ein Handeltreiben mit etwas mehr als 200 kg Marihuana sowie 500 g Kokain zugrunde. Tatsächlich war jedoch unter führender Beteiligung des Klägers nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs von Januar 2002 bis zu seiner Verhaftung im Juni 2005 mit insgesamt 2 Tonnen Marihuana, mindestens 5 kg Kokain und mit Ecstasy-Tabletten gehandelt worden (UA S. 33), davon 1,5 Tonnen Marihuana vor seiner Flucht in die Niederlande (UA S. 20) und 500 kg nach der Flucht. Das war der Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung nicht bekannt.

5

Der Beklagte wies den Kläger mit Bescheid vom 4. Oktober 2006 aus, ohne die Wirkungen der Ausweisung zu befristen, und drohte ihm für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Zur Begründung der Ausweisung stützte sich der Beklagte darauf, dass der Kläger trotz der von ihm erworbenen assoziationsrechtlichen Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 und Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 im Ermessenswege ausgewiesen werden könne, weil die Voraussetzungen des Art. 14 ARB 1/80 erfüllt seien. Mit den Drogenstraftaten habe der Kläger ein persönliches Verhalten an den Tag gelegt, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle. Zudem liege eine konkrete Wiederholungsgefahr vor. Der Kläger sei wegen zahlreicher Einzeltaten verurteilt worden, die sich über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr erstreckt hätten. Auch wenn er seit seiner Geburt in Deutschland lebe, sei er doch nicht ohne Bindungen in die Türkei. Das Interesse der Gesellschaft an der Verhinderung weiterer Straftaten sei aber höher zu bewerten als das Interesse des Klägers am Zusammenleben mit seinen Eltern und seinen Brüdern. Die Ausweisung wurde ohne Beteiligung einer weiteren Verwaltungsbehörde erlassen.

6

Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 12. März 2008 ab. Während des Berufungsverfahrens ordnete die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 26. Oktober 2010 die Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe an und setzte eine Bewährungszeit von drei Jahren fest. Die bedingte Entlassung erfolgte etwa ein halbes Jahr vor der Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe. Zur Begründung der Entscheidung stützte sich die Strafvollstreckungskammer im Wesentlichen auf ein kriminalprognostisches Gutachten und eine eigene Anhörung des Klägers.

7

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof ist der Kläger eingehend zu den Tathintergründen und seinem Verhalten nach der Tat befragt worden. Weiter wurde Kriminalhauptkommissar K., der die Ermittlungen gegen den Kläger und die Drogenbande geleitet hatte, als Zeuge vernommen. Schließlich wurde die Gutachterin aus dem Strafvollstreckungsverfahren zur Erläuterung ihres Gutachtens angehört.

8

Der Beklagte hat im Termin zur mündlichen Verhandlung die Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid vom 4. Oktober 2006 aufgehoben. Der Rechtsstreit wurde insoweit übereinstimmend für erledigt erklärt.

9

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 15. April 2011 die Berufung hinsichtlich der Ausweisung zurückgewiesen: Der Kläger habe nur bis zum April 2004 ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 ARB 1/80 besessen. Er sei als Sohn eines in der Vergangenheit dem deutschen Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers geboren, was nach fünf Jahren zum Erwerb einer Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 geführt habe. Mit dem Abschluss seiner Lehre habe er auch eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 erworben. Diese Rechte habe er aber durch seine Flucht aus dem Bundesgebiet vor der ihm drohenden Strafverfolgung verloren, weil er sich auf unabsehbare Zeit außerhalb Deutschlands habe aufhalten wollen. Insbesondere die Beschaffung eines fremden türkischen Reisepasses und die Fortsetzung der Betäubungsmittelkriminalität von den Niederlanden aus verdeutlichten, dass er sich nicht nur vorübergehend auf ein Leben in einem anderen Land eingestellt gehabt habe.

10

Damit sei § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG Rechtsgrundlage für die Ausweisung. Besonderen Ausweisungsschutz genieße der Kläger nicht, weil seine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach § 44 Abs. 1 AuslG 1990 erloschen sei, als er mit seiner Flucht in die Niederlande aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund ausgereist sei. Die spezialpräventive Ausweisung des Klägers erweise sich aufgrund der von ihm nach wie vor ausgehenden Wiederholungsgefahr auch nach Art. 8 EMRK als verhältnismäßig. Der Kläger habe als junger Erwachsener bis zu seiner Festnahme Straftaten verübt, die ihn als Intensivtäter auf dem Gebiet der Rauschgiftkriminalität auswiesen. Er habe ohne durchgreifende Skrupel die Sucht anderer als Mittel für seine persönliche Bereicherung eingesetzt. Auch aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger sei der Senat davon überzeugt, dass vom Kläger nach wie vor die in den Taten angelegte Wiederholungsgefahr ausgehe. Dem kriminalprognostischen Gutachten werde keine entscheidungserhebliche Bedeutung zugemessen, weil es auf unzutreffenden tatsächlichen Annahmen beruhe und in zentralen Punkten nicht schlüssig sei. Diese Mängel hätten nicht ausgeräumt werden können. Die Gutachterin habe u.a. nicht in den Blick genommen, dass der Kläger mehr als 800 000 € Schulden habe.

11

Die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung noch vor Ablauf des Zweidritteltermins führe nicht dazu, dass die Frage der Wiederholungsgefahr günstiger zu sehen sei. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer sei auf das mangelhafte Gutachten gestützt. Auch sei der Senat aufgrund des gewonnenen Eindrucks vom Kläger überzeugt, dass dieser keine nachhaltige Persönlichkeitswandlung und Verhaltensänderung durchlaufen habe. Die beanstandungsfreie Führung und Weiterbildung des Klägers im Vollzug lasse nicht auf einen dauerhaften Wandel schließen. Gleiches gelte dafür, dass er in seiner bisherigen kurzen Bewährungszeit nicht negativ aufgefallen sei. Die Lebensumstände unterschieden sich nach der Haftentlassung nicht grundlegend von denen, die vor dem Einstieg in die Kriminalität vorgelegen hätten; die immense Schuldenbelastung sei sogar ein zusätzlicher negativer Faktor. Die Ausweisung sei auch unter Zugrundelegung der Maßstäbe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verhältnismäßig.

12

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision begehrt der Kläger weiterhin die Aufhebung der Ausweisung. Hilfsweise erstrebt er ihre sofortige Befristung. Er rügt, er habe seine Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 mit der Flucht in die Niederlande entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs nicht verloren. Insoweit komme es nicht auf den subjektiven Willen an, sondern auf das objektive Geschehen. Ein Auslandsaufenthalt von etwas mehr als einem Jahr genüge nicht, um die Rechtsposition zum Erlöschen zu bringen. Einer zwingenden Ausweisung stehe weiter entgegen, dass der Kläger im Februar 2011 eine kosovarische Staatsangehörige nach islamischem Ritus geheiratet habe und mit ihr und ihren Kindern nunmehr in familiärer Gemeinschaft zusammenlebe. Die Ausweisung sei darüber hinaus verfahrensfehlerhaft ergangen, weil das Gebot zur Einschaltung einer unabhängigen Stelle im einstufigen Verwaltungsverfahren aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG verletzt worden sei. Im Übrigen müsse berücksichtigt werden, dass der Kläger nach Abschluss des Berufungsverfahrens seine Lebensgefährtin standesamtlich geheiratet habe. Diese sei im November 2012 eingebürgert worden. Die Eheleute seien seit dem 5. Januar 2012 auch Eltern einer deutschen Tochter. Diese neuen Tatsachen seien im Revisionsverfahren jedenfalls insoweit zu berücksichtigen, als sie sich aus Urkunden ergäben.

13

Der Beklagte tritt der Revision entgegen. Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren beteiligt und hält die Revision für unbegründet.

Entscheidungsgründe

14

Die zulässige Revision des Klägers hat nur in geringem Umfang Erfolg. Das Berufungsgericht hat jedenfalls im Ergebnis zu Recht die Ausweisung als rechtmäßig angesehen (1.). Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG i.d.F. des während des Revisionsverfahrens in Kraft getretenen Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 ist der Beklagte jedoch zu verpflichten, die in Satz 1 und 2 der Vorschrift genannten Wirkungen der Ausweisung auf die Dauer von neun Jahren zu befristen (2.).

15

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung und des Befristungsbegehrens ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts, hier also des Berufungsgerichts am 15. April 2011 (Urteil vom 15. November 2007 - BVerwG 1 C 45.06 - BVerwGE 130, 20 Rn. 12). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind allerdings zu beachten, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (Urteil vom 11. Januar 2011 - BVerwG 1 C 1.10 - BVerwGE 138, 371 Rn. 10 = Buchholz 451.902 Europ. Ausl. u. Asylrecht Nr. 47 m.w.N.). Maßgeblich sind deshalb die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union vom 1. Juni 2012 (BGBl I S. 1224). Damit sind insbesondere auch die Änderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) - im Folgenden: Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 - zu beachten.

16

1. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig. Dabei kann offenbleiben, ob der Kläger in dem für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung maßgeblichen Zeitpunkt eine Rechtsstellung nach Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 (ANBA 1981, 4 = InfAuslR 1982, 33) - ARB 1/80 - besaß oder ob - wovon das Berufungsgericht ausgeht - diese Rechtsstellung erloschen ist und sich die Ausweisung daher allein nach nationalem Aufenthaltsrecht beurteilt. Für den Fall des Erlöschens des assoziationsrechtlich begründeten Aufenthaltsrechts ist das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass die verfügte Ausweisung den Voraussetzungen des § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Aber selbst wenn die Ausweisung an den Maßstäben des ARB 1/80 zu messen ist, erweist sie sich als rechtmäßig.

17

1.1 Der Kläger hat eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 erworben. Er ist in Deutschland als Sohn eines nach Deutschland gezogenen türkischen Arbeitnehmers geboren und aufgewachsen. Damit erfüllt er - ungeachtet des Umstands, dass er nicht zu seinem Vater nachgezogen ist - die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 (vgl. Urteil vom 6. Oktober 2005 - BVerwG 1 C 5.04 - BVerwGE 124, 243 <246> = Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 45). Er hat im Bundesgebiet zudem eine Berufsausbildung abgeschlossen, so dass er auch nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 privilegiert ist.

18

Geht man davon aus, dass der Kläger seine Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 nicht verloren hat, bestimmt sich die Rechtmäßigkeit der gegen ihn verfügten Ausweisung nach § 55 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besitzt der Kläger nicht, da sein nationaler Aufenthaltstitel infolge der Ausreise in die Niederlande im April 2004 erloschen ist (vgl. § 44 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1990). Gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 kann der Kläger nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt und die Maßnahme für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - Rs. C-371/08, Ziebell - NVwZ 2012, 422 Rn. 86). Das ist hier der Fall.

19

1.2 Die Gefahren, die vom gewerbsmäßigen illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, sind schwerwiegend und berühren ein Grundinteresse der Gesellschaft. Die betroffenen Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit der Bürger nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen hohen Rang ein. Der Gerichtshof der Europäischen Union sieht in der Rauschgiftsucht ein "großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit" (vgl. EuGH, Urteil vom 23. November 2010 - Rs. C-145/09, Tsakouridis - NVwZ 2011, 221 Rn. 47). Er verweist auf die "verheerenden Folgen" gerade des bandenmäßigen Handels mit Betäubungsmitteln für die Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität der Unionsbürger sowie der legalen Wirtschaftstätigkeit, der Stabilität und der Sicherheit der Mitgliedstaaten (a.a.O. Rn. 46). Die Mitgliedstaaten dürfen daher die Verwendung von Betäubungsmitteln als eine Gefahr für die Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen gegen Ausländer rechtfertigt, die gegen Vorschriften über Betäubungsmittel verstoßen (a.a.O. Rn. 54). Im Übrigen zählt der illegale Drogenhandel zu den Straftaten, die in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV als Bereiche besonders schwerer Kriminalität genannt werden. Diese können als schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses angesehen werden und die Ausweisung von Personen rechtfertigen, die entsprechende Straftaten begangen haben (vgl. EuGH, Urteil vom 22. Mai 2012 - Rs. C-348/09, P.I. - NVwZ 2012, 1095 Rn. 28). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht den Handel mit Betäubungsmitteln, selbst wenn er nicht bandenmäßig begangen wird, als schwerwiegende Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Interessen an (vgl. Urteile vom 3. November 2011 - Nr. 28770/05, Arvelo Aponte/Niederlande - Rn. 58 und vom 12. Januar 2010 - Nr. 47486/06, Khan/Vereinigtes Königreich - InfAuslR 2010, 369 Rn. 40 m.w.N.).

20

Nach diesen Maßstäben stellt das persönliche Verhalten des Klägers eine schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft im Sinne des Art. 14 ARB 1/80 dar. Er hat aus reinem Gewinnstreben bandenmäßig mit Betäubungsmitteln gehandelt, und zwar in führender Position innerhalb der Bande. Der illegale Handel erfolgte über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren und bezog sich auf eine sehr große Menge Marihuana (2 Tonnen) sowie eine erhebliche Menge Kokain (mindestens 5 kg). Der Kläger hat den Drogenhandel auch nach Aufdeckung seines strafbaren Verhaltens vom Ausland aus fortgesetzt.

21

1.3 Das Berufungsgericht hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise für den Kläger die Gefahr der Wiederholung seines strafbaren Verhaltens im Bereich der Drogenkriminalität bejaht. Es hat die Tatumstände, die Persönlichkeitsstruktur des Klägers, bei dem die gebotene Einsicht, Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Geschehenen fehlen, seine hohe Schuldenbelastung, aber auch seine beanstandungsfreie Führung im Strafvollzug sowie in der anschließenden Bewährungszeit und die vom Kläger im Vollzug genutzte Möglichkeit zur Weiterbildung umfassend gewürdigt. Nach der Überzeugung des Gerichts lässt sich eine erhebliche Wiederholungsgefahr vor allem aus dem Ausmaß der vom Kläger begangenen Taten und der diesen zugrunde liegenden Motivation ableiten. Das Berufungsgericht kam nach ausführlicher Anhörung des Klägers in der mehrstündigen mündlichen Verhandlung zu dem Ergebnis, dass der Kläger in den Jahren nach Beendigung seiner Taten keinen grundlegenden Persönlichkeitswandel vollzogen hat, der verlässlich den Schluss auf ein zukünftig straffreies Leben zulässt.

22

Dabei hat sich das Gericht eingehend mit dem kriminalprognostischen Gutachten vom September 2010 auseinandergesetzt, das zur Aussetzung der Restfreiheitsstrafe durch die Strafvollstreckungskammer führte. Darin ist die Gutachterin zu dem Ergebnis gekommen, dass die durch die Taten zutage tretende Gefährlichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr fortbesteht. Das Berufungsgericht ist dem Gutachten nicht gefolgt, weil es nach seiner Auffassung in wesentlichen Punkten auf unzutreffenden tatsächlichen Annahmen beruht, in zentralen Punkten nicht schlüssig ist und die Mängel auch nicht durch die Erklärungen der Gutachterin in der mündlichen Verhandlung ausgeräumt werden konnten. So hat sich die Gutachterin als Beleg dafür, dass der Kläger nunmehr andere Ziele im Leben verfolge, auf seine enge Beziehung zu einer türkischstämmigen Frau bezogen, mit der er sich verloben wolle. Tatsächlich hatte er zum Zeitpunkt der Begutachtung schon Kontakt zu seiner heutigen Ehefrau aufgenommen, was er der Gutachterin verschwiegen hatte. Ferner hatte der Kläger gegenüber der Gutachterin angegeben, zu seinen früheren Freunden keinen Kontakt mehr zu haben. Tatsächlich war aber sein langjähriger Freund M., der ebenfalls der Drogenbande angehörte, Trauzeuge bei der Heirat nach islamischem Ritus mit seiner heutigen Ehefrau, und zwar wenige Monate nach der Begutachtung. Ferner ist die Gutachterin davon ausgegangen, dass der Kläger mit Marihuana im Kilogrammbereich gehandelt habe, während sich das Volumen des Handels mit diesem Betäubungsmittel auf 2 Tonnen bezog und dazu noch der Handel mit mindestens 5 kg Kokain und mit Ecstasy-Tabletten kam. Schließlich hatte die Gutachterin die hohe verbliebene Schuldenbelastung des Klägers von mehr als 800 000 € nicht berücksichtigt. Die Einschätzung, dass die Inhaftierung beim Kläger offenkundig zu einem Gesinnungswandel geführt habe, hatte die Gutachterin nach einer lediglich eineinhalbstündigen Exploration gewonnen, während das Berufungsgericht aufgrund seiner mehrstündigen Verhandlung, in der auch der Kläger eingehend angehört und befragt wurde, zu dem gegenteiligen Ergebnis kam.

23

Das Berufungsgericht war bei seiner Gefahrenprognose nicht an die Einschätzung der Strafvollstreckungskammer bei deren Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gebunden. Zwar sind die Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der Prognose ein wesentliches Indiz dar. Eine Bindungswirkung geht von den strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidungen jedoch nicht aus. Die sich nach Unionsrecht bestimmende Prognose, ob der Ausländer eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt, bestimmt sich nämlich nicht nach strafrechtlichen Gesichtspunkten, auch nicht nach dem Gedanken der Resozialisierung. Vielmehr haben die zuständigen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose über die Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. Urteile vom 28. Januar 1997 - BVerwG 1 C 17.94 - Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 10 = NVwZ 1997, 1119<1120> und vom 16. November 2000 - BVerwG 9 C 6.00 - BVerwGE 112, 185 <193> = Buchholz 402.240 § 51 AuslG Nr. 40; Discher, in: GK-AufenthG, Stand: Juni 2009, vor §§ 53 ff. Rn. 1241 ff.). Dabei haben sie auch sonstige, den Strafgerichten möglicherweise nicht bekannte oder von ihnen nicht beachtete Umstände des Einzelfalles heranzuziehen. Sie können deshalb sowohl aufgrund einer anderen Tatsachengrundlage als auch aufgrund einer anderen Würdigung zu einer abweichenden Prognoseentscheidung gelangen. Im vorliegenden Fall erscheint ein Abweichen des Berufungsgerichts von der positiven Sozialprognose der Strafvollstreckungskammer schon deshalb nachvollziehbar, weil die strafrichterliche Entscheidung auf einem als mangelhaft bewerteten kriminalprognostischen Gutachten beruhte und sich das Berufungsgericht zudem auf neuere Erkenntnisse aus der Zeit nach Haftentlassung (z.B. erneuter Kontakt zu einem Mitglied der früheren Drogenbande) und insbesondere auf eine aktuelle ausführliche Befragung des Klägers, der Gutachterin und des ermittelnden Polizeibeamten stützen konnte. Damit ergibt sich aus den Feststellungen des Berufungsgerichts, dass das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von Art. 14 ARB 1/80 darstellt. Dem steht nicht entgegen, dass das Berufungsgericht seine Gefahrenprognose im Rahmen der Prüfung von § 53 AufenthG getroffen hat. Denn die getroffenen Feststellungen und deren tatrichterliche Würdigung ermöglichen dem Revisionsgericht die rechtliche Beurteilung, dass die Gefahrenschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 überschritten ist.

24

1.4 Die Ausweisung des Klägers erweist sich auch unter Würdigung seiner schützenswerten Belange als unerlässlich, um das oben näher beschriebene Grundinteresse der Gesellschaft zu wahren (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 86). Das Berufungsgericht hat die schützenswerten Belange des Klägers, die sich auf sein Privat- und Familienleben beziehen, unter Zugrundelegung der in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten Kriterien umfassend gewürdigt (vgl. Urteile vom 2. August 2001 - Nr. 54273/00, Boultif/Schweiz - InfAuslR 2001, 476 und vom 18. Oktober 2006 - Nr. 46410/99, Üner/Niederlande - NVwZ 2007, 1279). Es hat in den Blick genommen, dass der Kläger in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, die deutsche Sprache beherrscht und seine gesamte Erziehung und Sozialisation in Deutschland erfahren hat. Das Gericht hat auch die familiären Bindungen des Klägers an seine in Deutschland lebende Mutter und seine Geschwister sowie deren Familien berücksichtigt. Die zunächst erfolgreiche Integration in den deutschen Arbeitsmarkt hat der Kläger allerdings von sich aus gelöst, indem er sich nur noch im illegalen Drogenhandel betätigte. Zugleich hat das Berufungsgericht die in der Haftzeit begonnene und zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bereits weit fortgeschrittene berufliche Weiterbildung des Klägers zum Mediengestalter positiv gewürdigt. In die Verhältnismäßigkeitsprüfung hat das Gericht auch die Tatsache einbezogen, dass der Kläger nunmehr in einer Lebensgemeinschaft mit Frau D. und deren minderjährigen Kindern lebt, die Eheschließung mit Frau D. anstrebt und mit ihr einen Kinderwunsch verwirklichen möchte. Die Ausweisung des Klägers ist aber auch unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls aufgrund der besonderen Schwere des Ausweisungsanlasses und der nach wie vor von ihm ausgehenden Gefahr sowie der Zumutbarkeit der Verweisung auf ein Leben in der Türkei verhältnismäßig; sie ist im Hinblick auf die Vorgaben des Unionsrechts und der EMRK nicht zu beanstanden.

25

Entgegen der Auffassung des Klägers kann die Tatsache, dass der Kläger im Verlauf des Revisionsverfahrens standesamtlich geheiratet hat, seine Ehefrau und deren Kinder deutsche Staatsangehörige geworden sind und der Kläger Vater eines eigenen Kindes mit deutscher Staatsangehörigkeit geworden ist, der Entscheidung des Senats nicht zugrunde gelegt werden. Das Bundesverwaltungsgericht ist - abgesehen von Fällen begründeter Verfahrensrügen - entsprechend seiner vornehmlich auf die Rechtsprüfung beschränkten Aufgabenstellung nach § 137 Abs. 2 VwGO an die vom Berufungsgericht in der angefochtenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden. Diese das Rechtsmittel der Revision kennzeichnende Beschränkung führt dazu, dass das Revisionsgericht - im Gegensatz zum Berufungsgericht (§ 128 VwGO) - neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel nicht berücksichtigt. Die in § 137 Abs. 2 VwGO enthaltene revisionsrechtliche Sperre für die Berücksichtigung neuer tatsächlicher Umstände wird nicht dadurch überwunden, dass Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen das Vorliegen einer gegenwärtigen, d.h. aktuellen Gefahr verlangt (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 80, 82 und insbesondere Rn. 84). Damit wird der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sachlage angesprochen, der infolge der der Verwaltungsgerichtsordnung zu entnehmenden Trennung zwischen Tatsacheninstanzen und Revisionsinstanz nur für Entscheidungen der Tatsachengerichte maßgeblich ist. Denn nur ihnen obliegt gemäß § 86 Abs. 1 §§ 108 und 128 VwGO die Erforschung des Sachverhalts und die Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen im Wege freier richterlicher Beweiswürdigung. Diese Trennung der Funktionen von Tatsachen- und Revisionsinstanz wird durch das Unionsrecht nicht modifiziert, da es nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich Aufgabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten ist, das gerichtliche Verfahrensrecht auch insoweit zu regeln, als es den Schutz von aus dem Unionsrecht erwachsenden individuellen Rechten gewährleisten soll (vgl. hierzu im Einzelnen: Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - zur Aufnahme in die Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen - Rn. 19). Die Eröffnung der auf eine reine Rechtskontrolle beschränkten dritten Instanz widerspricht auch nicht dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf aus Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) und Art. 13 EMRK. Denn der dort niedergelegte Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtschutzes eröffnet dem Einzelnen den Zugang zu einem Gericht und nicht zu mehreren Gerichtsinstanzen (EuGH, Urteil vom 28. Juli 2011 - Rs. C-69/10, Samba Diouf - NVwZ 2011, 1380 Rn. 69; EGMR, Urteil vom 17. Januar 1970 - Nr. 2689/65, Delcourt - EGMR-E 1, 100 Rn. 25). Er verlangt nicht, dass ein nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats eröffnetes Rechtsmittel wie die Revision eine Überprüfung der Tatsachen auf aktuellem Sachstand ermöglicht. Vielmehr hängt die Anwendung der Garantie eines effektiven Rechtsschutzes von den ersichtlichen Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens - hier des Revisionsverfahrens - ab (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Januar 1970 a.a.O. Rn. 26). Soweit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bei der Überprüfung von Ausweisungsentscheidungen Tatsachen berücksichtigt, die nach der abschließenden nationalen Entscheidung eingetreten sind, ergibt sich daraus keine entsprechende Verpflichtung für die nationalen Gerichte in einem Revisionsverfahren (vgl. Urteil vom 13. Oktober 2011 - Nr. 41548/06, Trabelsi/Deutschland - EUGRZ 2012, 11 Rn. 60 f.). Nach nationalem Recht verbleibt die Möglichkeit, nach der Berufungsentscheidung eingetretene Umstände zugunsten des Ausländers zu berücksichtigen, indem dieser eine Verkürzung der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 Satz 3 - 5 AufenthG beantragt (dazu unter 2.).

26

1.5 Besitzt der Kläger ein assoziationsrechtlich begründetes Aufenthaltsrecht, darf er nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Bei deren gerichtlicher Überprüfung ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen (EuGH, Urteil vom Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 84; so bereits BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 - BVerwGE 121, 315 <320 f.>). Die Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde über den Erlass einer Ausweisung erfordert eine sachgerechte Abwägung der öffentlichen Interessen an der Ausreise mit den privaten Interessen an einem weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet. Zugunsten des Ausländers sind die Dauer seines rechtmäßigen Aufenthalts und seine schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet zu berücksichtigen. Außerdem sind die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, in die Abwägung einzustellen (§ 55 Abs. 3 AufenthG). Die von Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange auf Achtung des Privat- und Familienlebens sind dabei entsprechend ihrem Gewicht und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der Gesamtabwägung zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere bei im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen Ausländern, zumal wenn sie über keine Bindungen an das Land ihrer Staatsangehörigkeit verfügen (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 20).

27

Mit Blick auf diese Vorgaben ist die Ermessensausübung des Beklagten im Ausweisungsbescheid vom 4. Oktober 2006 nicht zu beanstanden. Der Beklagte geht von einem aus dem Assoziationsrecht abgeleiteten Aufenthaltsrecht des Klägers nach Art. 7 ARB 1/80 aus und misst die Rechtmäßigkeit der Ausweisung am Maßstab des Art. 14 ARB 1/80. Er erkennt die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung und beachtet deren gesetzliche Grenzen. In die Ermessensentscheidung sind alle relevanten Gesichtspunkte eingestellt worden. Die erfolgte Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Abwehr der vom Kläger ausgehenden konkreten Gefahr für die hochrangigen Rechtsgüter Leben und Gesundheit im Fall der Fortsetzung des illegalen Drogenhandels gegen das Interesse des Klägers an einem Verbleib in Deutschland ist rechtlich nicht zu beanstanden. Bei der Begründung des öffentlichen Interesses stützt sich der Beklagte ausschließlich auf Gefahren, die vom Kläger selbst ausgehen und nicht auf generalpräventive Gründe. Ausführungen, die der Beklagte schriftsätzlich im Berufungsverfahren zu Fragen der Generalprävention gemacht hat, sind nicht Bestandteil der behördlichen Ermessensentscheidung geworden. Denn für eine Ergänzung von Ermessensentscheidungen gelten nach der Rechtsprechung des Senats strenge Maßstäbe an Form und Handhabung, damit der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird (vgl. Urteil vom 13. Dezember 2011 - BVerwG 1 C 14.10 - BVerwGE 141, 253 Rn. 18). Diese sind hier nicht erfüllt. Denn der Beklagte hat in seinen Schriftsätzen vom 12. Januar 2011, 16. März 2011 und 7. April 2011 jedenfalls nicht hinreichend deutlich getrennt zwischen neuen Begründungselementen, die den Inhalt seiner Entscheidung betreffen, und Ausführungen, mit denen er lediglich als Prozesspartei seine Entscheidung verteidigt. Etwaige Zweifel und Unklarheiten über Inhalt und Umfang nachträglicher Ergänzungen gehen aber zulasten der Behörde (vgl. Urteil vom 13. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 18). Die behördliche Entscheidung verstößt auch nicht gegen das Gebot der Aktualität der Ermessenserwägungen. Denn der Beklagte hat ausweislich seines Schriftsatzes vom 7. April 2011 die neue Entwicklung in den persönlichen Verhältnissen des Klägers erkannt und gewürdigt, insbesondere seine Haftentlassung, seine Heirat von Frau D. nach islamischem Ritus und die Betreuungsbedürftigkeit seiner Mutter. Er hat dies aber nicht zum Anlass für eine Ergänzung seiner Ermessensentscheidung genommen. Das ist rechtlich nicht zu beanstanden, da die Änderungen in dem vorliegenden Fall (noch) kein solches Gewicht hatten, dass sie angesichts der Größe der vom Kläger weiterhin ausgehenden Gefahr einen Anlass für eine Ermessensergänzung gaben. Anders hätte sich die Lage dargestellt, wenn der Kläger im April 2011 bereits mit einer Deutschen verheiratet gewesen und mit ihr ein deutsches Kind gehabt hätte, wie das heute der Fall ist. Dann hätte die Änderung der persönlichen Verhältnisse des Klägers eine Qualität erreicht, die eine Ergänzung der Ermessensentscheidung erfordert hätte, ohne dass deshalb von einer Ausweisung hätte abgesehen werden müssen.

28

1.6 Die weiteren Rügen der Revision sind unbegründet; insbesondere ist das Ausweisungsverfahren fehlerfrei durchgeführt worden. Zwar war das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene "Vier-Augen-Prinzip" auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige zu übertragen (Urteil vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217 <221 f.> im Anschluss an EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005 - Rs. C-136/03, Dörr und Ünal - Slg. 2005, I-4759 = NVwZ 2006, 72). In dem hier vorliegenden Fall hat der Beklagte den angefochtenen Bescheid aber am 4. Oktober 2006 und damit erst nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG zum 30. April 2006 (Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG) erlassen. Zu diesem Zeitpunkt galt Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr.

29

Es kann offenbleiben, ob sich für assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige die unionsrechtlichen Anforderungen an den Rechtsschutz gegen Ausweisungsentscheidungen nunmehr nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG (betreffend langfristig Aufenthaltsberechtigte) oder nach Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG (betreffend Unionsbürger) bestimmen. Denn in keiner dieser Vorschriften ist die Beteiligung einer unabhängigen Stelle im Ausweisungsverfahren zur Prüfung der Zweckmäßigkeit der Maßnahme vorgeschrieben. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seinem Urteil vom 8. Dezember 2011 für die Auslegung von Art. 14 ARB 1/80 als neuen unionsrechtlichen Bezugsrahmen Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG herangezogen (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 a.a.O. Rn. 74 und 78 f.). Nach Absatz 4 dieser Vorschrift steht langfristig Aufenthaltsberechtigten zur Überprüfung einer Ausweisung der Rechtsweg offen. Noch nicht ausdrücklich entschieden wurde, ob die maßgebliche Vorschrift der Richtlinie 2004/38/EG für den Rechtsschutz gegen Ausweisungsentscheidungen (Art. 31) auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige entsprechend angewendet werden kann. Selbst wenn das geboten wäre, ergäbe sich daraus nicht die Verpflichtung zur Beteiligung einer unabhängigen Stelle, denn Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG sieht eine solche Beteiligung nicht vor. Vielmehr bestimmt Art. 31 Abs. 1, dass gegen Ausweisungsentscheidungen ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann. Im Rechtsbehelfsverfahren sind gemäß Art. 31 Abs. 3 die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen. Das Rechtsbehelfsverfahren gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf den in Art. 28 geregelten Schutz vor Ausweisung nicht unverhältnismäßig ist (Art. 31 Abs. 3 Satz 2). Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG kompensiert den Wegfall der Beteiligung einer unabhängigen Stelle im Verwaltungsverfahren, wie sie noch in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vorgeschrieben war, durch einen erhöhten Rechtsschutz im gerichtlichen Verfahren. Die angefochtene Entscheidung unterliegt nunmehr nicht nur einer Rechtskontrolle, sondern das Gericht hat auch die der Entscheidung zugrunde liegenden Tatsachen zu überprüfen.

30

Nicht gefolgt werden kann der Auffassung, Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG sehe weiter die Beteiligung einer unabhängigen Stelle vor, was sich zum einen daraus ergebe, dass der Rechtsbehelf nach Art. 31 Abs. 1 "gegebenenfalls" auch bei einer Behörde eingelegt werden könne und sich die Überprüfung im Rechtsbehelfsverfahren gemäß Art. 31 Abs. 3 nicht nur auf Tatsachen, sondern auch auf "Umstände" zu beziehen habe. Denn der Verweis in Art. 31 Abs. 1 auf die Möglichkeit, einen Rechtsbehelf gegebenenfalls bei einer Behörde einzulegen (englische Fassung: "where appropriate"), bezieht sich erkennbar auf die Fälle, in denen das nationale Recht das so vorsieht, etwa wenn der gerichtlichen Überprüfung noch ein behördliches Widerspruchsverfahren vorgeschaltet ist. Eine unionsrechtliche Verpflichtung zur Beteiligung einer zweiten Stelle im Verwaltungsverfahren ergibt sich daraus jedoch nicht. Entsprechendes gilt für die in Art. 31 Abs. 3 vorgeschriebene Überprüfung der Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung beruht. Aus dem Begriff der "Umstände" (englische Fassung: "circumstances") lässt sich eine Zweckmäßigkeitsprüfung - wie sie in Deutschland einer Behörde vorbehalten wäre - nicht ableiten. Die Formulierung ist vielmehr im Zusammenhang mit Art. 31 Abs. 3 Satz 2 zu sehen, der die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Entscheidung im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 vorschreibt. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind alle "Umstände" zu berücksichtigen, die Art. 28 bezeichnet.

31

Bereits in seinem Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - hat der Senat ausgeführt (juris Rn. 23), dass assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige nach der Rechtsprechung des EuGH keine bessere verfahrensrechtliche Rechtsstellung beanspruchen können als Unionsbürger. Für Unionsbürger wurde die behördliche Kontrolle von Ausweisungsentscheidungen nach dem "Vier-Augen-Prinzip", wie sie Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vorsah, abgeschafft. Dann steht aber auch den Inhabern eines aus dem ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechts kein solcher erweiterter behördlicher Rechtsschutz mehr zu.

32

Demgegenüber beruft sich der Kläger auf die Stillhalteklauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl 1972 II S. 385) - ZP. Gemäß Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Gemäß Art. 41 Abs. 1 ZP werden die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen. Aus diesen Stand-Still-Klauseln ergibt sich nach Auffassung des Klägers, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG bei der Ausweisung assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger weiterhin anzuwenden sei. Dem folgt der Senat nicht.

33

Wie bereits im Urteil vom 10. Juli 2012 ausgeführt (a.a.O. Rn. 25), spricht gegen die Auffassung des Klägers bereits die Tatsache, dass Art. 13 ARB 1/80 seinem Wortlaut nach nur die Mitgliedstaaten, nicht aber die Europäische Union verpflichtet. Art. 41 Abs. 1 ZP betrifft sachlich nur Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs, nicht aber die der Arbeitnehmerfreizügigkeit zuzurechnende aufenthaltsrechtliche Stellung aus Art. 7 ARB 1/80. Des Weiteren erscheint fraglich, ob die auf den Zugang zum Arbeits- bzw. Binnenmarkt zugeschnittenen Stand-Still-Klauseln überhaupt Verfahrensregelungen bei der Aufenthaltsbeendigung erfassen (vgl. Urteil vom 30. April 2009 - BVerwG 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 Rn. 20 zu den gesetzlichen Erlöschenstatbeständen für Aufenthaltstitel) und ob die Aufhebung des "Vier-Augen-Prinzips" mit Blick auf die gerichtliche Überprüfbarkeit nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG oder Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG eine Verschlechterung der Rechtsposition darstellt. Das kann aber dahinstehen, da die weitere Anwendung des Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige selbst bei Annahme einer rechtserheblichen Verschlechterung gegen Art. 59 ZP verstoßen würde. Nach dieser Vorschrift darf der Türkei in den von diesem Protokoll erfassten Bereichen keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander aufgrund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft einräumen. Das wäre aber bei weiterer Anwendung des "Vier-Augen-Prinzips" im Vergleich zu den Verfahrensrechten von Unionsbürgern aus Art. 31 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/38/EG - wie oben dargelegt - der Fall.

34

Ohne Erfolg rügt der Kläger einen nationalen Verstoß gegen die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 durch das Entfallen des Widerspruchsverfahrens für Ausweisungsentscheidungen in Baden-Württemberg seit 1. Juli 1999. Zum einen stellte die Durchführung des Widerspruchsverfahrens nach §§ 68 ff. VwGO keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Ausweisung dar, sondern - anders als Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG - lediglich eine Prozessvoraussetzung für die Erhebung einer Anfechtungsklage vor dem Verwaltungsgericht. Zum anderen betrifft der Wegfall des Widerspruchsverfahrens türkische Assoziationsberechtigte und Unionsbürger in gleicher Weise. Nach der Rechtsprechung des EuGH steht der Erlass oder Wegfall von Regelungen, die - wie hier - in gleicher Weise auf türkische Staatsangehörige und auf Gemeinschaftsangehörige Anwendung finden, nicht im Widerspruch zu den Stillhalteklauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 ZP (vgl. Urteile vom 19. Februar 2009 - Rs. C-228/06, Soysal u.a. - InfAuslR 2009, 135 Rn. 61 zu Art. 41 ZP und vom 17. September 2009 - Rs. C-242/06, Sahin - Rn. 67 zu Art. 13 ARB 1/80). Demzufolge kann die generelle Abschaffung des Widerspruchsverfahrens in Baden-Württemberg nicht gegen Art. 13 ARB 1/80 verstoßen, da sie auch in Fällen der Verlustfeststellung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt von Unionsbürgern (§ 6 FreizügG/EU) gilt. Im Übrigen wäre die Aufrechterhaltung des Widerspruchsverfahrens nur für türkische Staatsangehörige nicht mit dem Besserstellungsverbot des Art. 59 ZP vereinbar.

35

2. Auf den Hilfsantrag des Klägers, mit dem dieser die Befristung der Wirkungen der Ausweisung mit sofortiger Wirkung begehrt, ist die Beklagte zu verpflichten, die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung auf die Dauer von neun Jahren zu befristen. Im Übrigen ist der Antrag unbegründet.

36

2.1 Der erst in der Revisionsinstanz gestellte Hilfsantrag ist zulässig. Das Verbot der Klageänderung im Revisionsverfahren in § 142 VwGO steht dem nicht entgegen. Während des Revisionsverfahrens ist § 11 AufenthG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 in der Weise geändert worden, dass der Kläger nunmehr einen Anspruch auf gleichzeitige Befristung der in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung hat (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 28). Dieser Änderung des materiellen Rechts trägt der gestellte Hilfsantrag Rechnung.

37

2.2 Der Hilfsantrag ist nur in geringem Umfang begründet. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG n.F. darf ein Ausländer, der ausgewiesen worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird nach Satz 2 der Vorschrift auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Satz 3 der Vorschrift ordnet an, dass diese kraft Gesetzes eintretenden Wirkungen auf Antrag befristet werden. Die Frist ist gemäß Satz 4 unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Bei Bemessung der Länge der Frist wird berücksichtigt, ob der Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausgereist ist (Satz 5). Die Frist beginnt nach Satz 6 mit der Ausreise. Nach Satz 7 erfolgt keine Befristung, wenn ein Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder aufgrund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG aus dem Bundesgebiet abgeschoben wurde.

38

2.2.1 Seit Inkrafttreten des § 11 AufenthG in der Neufassung des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 haben Ausländer grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass die Ausländerbehörde mit einer Ausweisung zugleich das daran geknüpfte gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die Titelerteilungssperre befristet. Das hat der Senat mit Urteil vom 10. Juli 2012 entschieden (a.a.O. Rn. 30 ff.). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest; zur Begründung wird auf das vorgenannte Urteil verwiesen. Fehlt die notwendige Befristung der Wirkungen der Ausweisung, hat das aber auch nach Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 nicht zur Folge, dass die - als solche rechtmäßige - Ausweisung aufzuheben ist. Vielmehr kann der Ausländer zugleich mit Anfechtung der Ausweisung seinen Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gerichtlich durchsetzen (Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 39 f.). Damit wird dem sich aus dem materiellen Recht ergebenden Anspruch des Betroffenen auf gleichzeitige Entscheidung über die Ausweisung und die Befristung ihrer Wirkungen Rechnung getragen und die Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung im Ergebnis gewährleistet. Prozessual wird dieses Ergebnis dadurch sichergestellt, dass in der Anfechtung der Ausweisung zugleich - als minus - für den Fall der Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung ein (Hilfs-)Antrag auf Verpflichtung der Ausländerbehörde zu einer angemessenen Befristung ihrer Wirkungen gesehen wird, sofern eine solche nicht bereits von der Ausländerbehörde verfügt worden ist. Daher ist im Fall der gerichtlichen Bestätigung der Ausweisung auf den Hilfsantrag zugleich eine Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung zu treffen.

39

2.2.2 Der Senat hält im vorliegenden Fall - bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts und auf der Grundlage von dessen tatsächlichen Feststellungen - eine Frist von neun Jahren für angemessen.

40

Die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (zu der zuletzt genannten Voraussetzung vgl. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG). Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Zunächst bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Selbst wenn die Voraussetzungen für ein Überschreiten der zeitlichen Grenze von fünf Jahren gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG vorliegen, geht der Senat davon aus, dass in der Regel ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont darstellt, für den eine Prognose realistischerweise noch gestellt werden kann. Weiter in die Zukunft lässt sich die Persönlichkeitsentwicklung - insbesondere jüngerer Menschen - kaum abschätzen, ohne spekulativ zu werden. Leitet sich diese regelmäßige Höchstdauer für die Befristung von zehn Jahren aus dem Umstand ab, dass mit zunehmender Zeit die Fähigkeit zur Vorhersage zukünftiger persönlicher Entwicklungen abnimmt, bedeutet ihr Ablauf nicht, dass bei einem Fortbestehen des Ausweisungsgrundes oder der Verwirklichung neuer Ausweisungsgründe eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden müsste (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG).

41

Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK, messen lassen und ist daher gegebenenfalls in einem zweiten Schritt zu relativieren. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie gegebenenfalls seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 42 m.w.N.). Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Die Abwägung ist nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles im Zeitpunkt der Behördenentscheidung vorzunehmen bzw. von den Verwaltungsgerichten zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des Gerichts vollumfänglich zu überprüfen oder bei fehlender behördlicher Befristungsentscheidung - wie hier - durch eine eigene Abwägung als Grundlage des Verpflichtungsausspruchs zu ersetzen.

42

Die in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG genannte Höchstfrist von fünf Jahren ist im vorliegenden Fall ohne Bedeutung, da von dem Kläger - im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts - eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht; das ergibt sich aus den Ausführungen zu den Ausweisungsvoraussetzungen. Bei der Bemessung der Frist hatte der Senat in einem ersten Schritt zu berücksichtigen, dass beim Kläger die Gefahr der Wiederholung schwerwiegender Drogenstraftaten besteht. Trotz seiner erfolgreichen Fortbildungsanstrengungen im Strafvollzug und in den Folgemonaten sowie erster Ansätze für eine erfolgreiche Integrationsprognose wäre wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der vom Berufungsgericht festgestellten hohen Wiederholungsgefahr unter Berücksichtigung der fortbestehenden Verbindungen des Klägers zu einzelnen Mitgliedern seiner früheren Drogenbande sowie seines Alters eine Befristung für einen Zeitraum von zehn Jahren erforderlich, um dem hohen Gefahrenpotential in seiner Person Rechnung zu tragen. Diese Frist hat der Senat um ein Jahr reduziert und damit den persönlichen Bindungen des Klägers an Deutschland als Land, in dem er geboren und aufgewachsen ist und in dem seine Familie lebt, Rechnung zu tragen. Zu den vom Senat berücksichtigten Bindungen zählen auch die an Frau D. und deren minderjährige Kinder, wobei die Lebensgemeinschaft allerdings zum maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung erst wenige Monate bestand und in Kenntnis der ergangenen Ausweisungsverfügung eingegangen worden war.

43

Der Senat hat bereits in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Verkürzung der Frist stellen kann. Bei der Bescheidung dieses Antrags sind von der Beklagten dann die Änderungen in den persönlichen Verhältnissen des Klägers zu berücksichtigen, die seit dem Berufungsurteil vom April 2011 eingetreten sind, insbesondere seine standesamtliche Eheschließung mit Frau D., die mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit hat, sowie die Geburt einer gemeinsamen Tochter, die ebenfalls deutsche Staatsbürgerin ist. Weiter wird die Beklagte im Fall eines Verkürzungsantrags des Klägers zu prüfen haben, ob auch solche neuen Tatsachen vorliegen, aus denen sich eine Verminderung der Wiederholungsgefahr ableiten lässt.

44

3. Die Frage, ob die Ausweisung und die Befristung ihrer Wirkungen an den Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie zu messen sind, kann im vorliegenden Fall offenbleiben (vgl. dazu Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 45). Denn selbst wenn man die intertemporale Geltung und die sachliche Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie auf die (Wirkungen der) Ausweisung unterstellt, verhilft das der Revision im vorliegenden Fall nicht in weitergehendem Umfang zum Erfolg. Da der Kläger mit seinem Hilfsantrag die gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. gebotene Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung zusammen mit deren gerichtlicher Prüfung durchsetzen kann, wird den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie im Ergebnis Genüge getan. In dem hier vorliegenden Fall konnte die Dauer des Einreiseverbots auch die Regelfrist von fünf Jahren überschreiten, da der Kläger eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG darstellt.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.