Arbeitsgericht Kiel Urteil, 30. Juni 2006 - 1 Ga 11 b/06

ECLI:ECLI:DE:ARBGKIE:2006:0630.1GA11B06.0A
bei uns veröffentlicht am30.06.2006

Tenor

1. Die Anträge werden abgewiesen.

2. Die Verfügungsklägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Der Berufungswert wird auf 250.000,-- EUR festgesetzt.

Der Gebührenwert wird auf 416.000,-- EUR festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten im Rahmen einer einstweiligen Verfügung über die Unterlassung von Streikmaßnahmen seitens des Verfügungsbeklagten bzw. dessen Mitglieder gegenüber der Verfügungsklägerin sowie die Androhung von Ordnungsgeld.

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Der Verfügungsbeklagte ist der Landesverband in Schleswig-Holstein des bundesweit organisierten Marburger Bundes. Dieser ist die berufspolitische und gewerkschaftliche Vertretung der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte und Interessenvertretung der Medizinstudenten in Deutschland. Er bezweckt die Wahrung der beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Belange seiner Mitglieder unter Zugrundelegung der ärztlichen Berufsauffassung. Er verfügt über mehr als 105.000 Mitglieder. Mehr als 65 % der in öffentlichen Krankenhäusern beschäftigten Ärztinnen und Ärzte gehören dem Marburger Bund an. Der Bundesverband koordiniert die Arbeit der Landesverbände, u. a. auch die des Verfügungsbeklagten und betreibt bundesweit Informations-, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Tarifpolitik. Ihm obliegt insbesondere, die Arbeitsbedingungen der angestellten Ärzte durch Tarifverträge und sonstige Vereinbarungen mit Arbeitgebern und Arbeitgeberverbänden zu regeln.

3

Die Verfügungsklägerin ist Mitglied im Kommunalen Arbeitgeberverband Schleswig-Holstein. Dieser Verband ist seinerseits Mitglied der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA). Die VKA ist der Dachverband der Kommunalen Arbeitgeberverbände Deutschlands, der für diese die Tarifverträge für den kommunalen öffentlichen Dienst auf Bundesebene als Tarifvertragspartei auf Arbeitgeberseite abschließt.

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Bis 1976 hat der Marburger Bund die Tarifverträge im öffentlichen Dienst nicht selbst unterzeichnet, sondern schloss Anschlusstarifverträge ab, so den Anschlusstarifvertrag vom 30.03.1961 sowie den Anschlusstarifvertrag vom 10.09.1975. Die Änderungstarifverträge zum BAT sowie die den BAT ergänzenden Tarifverträge hat der Marburger Bund ebenfalls nicht unterzeichnet, sondern entsprechende Anschlusstarifverträge abgeschlossen. Der Anschlusstarifvertrag vom 10.09.1975 lautet auszugsweise wie folgt:

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„…

§ 1

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Die Tarifvertragsparteien schließen einen Tarifvertrag gleichen Inhalts ab, wie er zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Tarifgemeinschaft deutscher Länder und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände einerseits sowie der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr und der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft andererseits als

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a) Einunddreißigster Tarifvertrag zur Änderung und Ergänzung des Bundes-Angestelltentarifvertrages am 18. Oktober 1973,

8

b) Zweiunddreißigster Tarifvertrag zur Änderung und Ergänzung des Bundes-Angestelltentarifvertrages am 16. März 1974

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jeweils vereinbart worden ist und wie sie diesem Tarifvertrag als Anlagen beigefügt sind.

§ 2

10

Dieser Tarifvertrag kann mit einer Frist von einer Woche zum Monatsschluss gekündigt werden. Er tritt ferner außer Kraft, wenn die als Anlagen beigefügten Tarifverträge außer Kraft treten. In beiden Fällen wird die Nachwirkung des Tarifvertrages gemäß § 4 Abs. 5 des Tarifvertragsgesetzes ausgeschlossen. …“

11

Seit dem 29.11.1976 hat der Marburger Bund als „Tarifgemeinschaft für Angestellte im öffentlichen Dienst“ zusammen mit der DAG und der Gemeinschaft von Gewerkschaften und Verbänden des öffentlichen Dienstes (GGVöD) die Änderungstarifverträge und ergänzenden Tarifverträge zum BAT als Teilnehmer der Tarifgemeinschaft für Angestellte im öffentlichen Dienst unterzeichnet. Anfang der 90er Jahre wurde die Tarifgemeinschaft für Angestellte im öffentlichen Dienst beendet.

12

Mit Datum vom 11.11.1994 schloss der Marburger Bund mit der DAG eine „Vereinbarung über eine tarifliche Zusammenarbeit“. Diese lautet auszugsweise wie folgt:

13

„Die DAG und der Marburger Bund werden ihre im Rahmen des seit dem 20. März 1950 bestehenden Freundschaftsvertrages mehr als 40 Jahre praktizierte tarif- und betriebspolitische Zusammenarbeit weiter fortsetzen und vertiefen, nachdem die DAG und der Marburger Bund die Beendigung der Tarifgemeinschaft für Angestellte gemeinsam der GGVöD gegenüber erklärt haben und die DAG mit der ÖTV eine Verhandlungsgemeinschaft hinsichtlich der Tarifverhandlungen mit dem Bund, der TDL und der VKA verabredet haben.

14

- Entsprechend der seit Jahren geübten Praxis vereinbaren DAG und Marburger Bund im Geiste des Freundschaftsvertrages eine enge Abstimmung in allen tarifpolitischen Fragen, die für beide Organisationen gemeinsam von Belang sind.

15

- Die jeweiligen Bundestarifkommissionen von DAG und Marburger Bund werden künftig auch gemeinsam tagen und - sofern erforderlich - gemeinsame Beschlüsse fassen.

16

- Bei der Besetzung der Verhandlungskommissionen bleibt es bei der in der Vergangenheit geübten Praxis. Daneben bleibt es selbstverständliches Recht des Marburger Bundes, an allen Tarifkommissionssitzungen und Tarifverhandlungen teilzunehmen.

17

- In Fragen, die im wesentlichen den Organisationsbereich des Marburger Bundes betreffen, wird die DAG nach wie vor die Position des Marburger Bundes zu ihrer eigenen machen. Dies spiegelt sich ebenfalls in der Besetzung der entsprechenden Kommissionen wider.

§ 1

18

Die DAG wird bis auf Widerruf bevollmächtigt, mit dem Bund, der Tarifgemeinschaft deutscher Länder und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände auf dem Tarifsektor Rechtsgeschäfte und Rechtshandlungen für den Marburger Bund vorzunehmen.

§ 2

19

Die Vorstände von DAG und Marburger Bund stimmen sich bei notwendigen Arbeitskämpfen sowohl über die Art und Umfang als auch den Beginn und die Beendigung ab.

§ 3

20

DAG und Marburger Bund haften für ihr Handeln im Rahmen dieser Vereinbarung jeweils für ihren eigenen Zuständigkeitsbereich.

§ 4

21

Die tarifvertragliche Zusammenarbeit kann durch schriftliche Erklärung mit einer Frist von 6 Wochen zum Quartalsende beendet werden.

22

Bei laufenden Tarifverhandlungen wird die Einstellung der Zusammenarbeit erst nach Abschluss der Verhandlungen wirksam.

§ 5

23

Diese Vereinbarung tritt am 11. November 1994 in Kraft.“

24

Anlage zur vorgenannten Vereinbarung war folgende Vollmacht:

25

„Der

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Marburger Bund

27

- Bundesvorstand -

pp.

28

bevollmächtigt die

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Deutsche Angestellten-Gewerkschaft

30

Bundesvorstand -

pp.

31

bis auf Widerruf ihre Interessen in Tariffragen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, der Tarifgemeinschaft deutscher Länder und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände wahrzunehmen und die in diesem Zusammenhang erforderlichen Rechtsgeschäfte und Rechtshandlungen vorzunehmen.

32

Die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft ist insbesondere bevollmächtigt, mit bindender Wirkung für den Marburger Bund Tarifforderungen zu erheben, Tarifverhandlungen zu führen, Tarifverträge abzuschließen und solche zu kündigen.

33

Eine Erklärung der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft über das Scheitern der Verhandlungen ist auch für den Marburger Bund bindend.

34

Diese Vollmacht gilt auch für im Rahmen von Tarifaktionen evtl. notwendigen Schlichtungsverfahren, jedoch nicht für Rechtsstreitigkeiten.

35

Die Durchführung von Arbeitskämpfen verbleibt in der Zuständigkeit des Marburger Bundes.“

36

Die Vereinbarung wurde nach Gründung von ver.di für die DAG fortgeführt. Die Tarifverträge wurden seit diesem Zeitpunkt von der DAG bzw. von ver.di für den im Rubrum auftauchenden Marburger Bund unterzeichnet.

37

Mit Datum vom 09.01.2003 kam es zu einer Prozessvereinbarung für die Tarifverhandlungen zur Neugestaltung des Tarifrechts des öffentlichen Dienstes (TVöD) zwischen der VKA und ver.di u. a. in Stellvertretung für den Marburger Bund.

38

Mit Datum 09.02.2005 unterzeichnete ver.di, zugleich handelnd für den Marburger Bund, eine tarifliche Einigung, in der sich die Parteien zum Abschluss des TVöD unter Berücksichtigung verschiedener bereits festgelegter Eckpunkte verpflichten. Diese Einigung ist von den Unterzeichnern lediglich mit einer Paraphe, nicht aber mit einer Unterschrift versehen worden.

39

Auf der Grundlage vorgenannter Einigung wurden weitere Tarifverhandlungen geführt. An diesen war der Marburger Bund auf der Seite von ver.di beteiligt.

40

Mit Schreiben vom 10.09.2005 an ver.di widerrief der Marburger Bund mit sofortiger Wirkung die erteilte Vollmacht und forderte die VKA zu Tarifverhandlungen über einen arztspezifischen Tarifvertrag auf.

41

Am 13.09.2005 unterzeichneten die VKA, der Bund und ver.di - ausdrücklich nicht mehr für den Marburger Bund handelnd - den TVöD sowie den TVÜ-VKA.

42

Die VKA hat ihren Mitgliedern empfohlen auch die Mitglieder des Marburger Bundes in den TVöD überzuleiten, da nach Auffassung der VKA der TVöD den BAT unter dem Gesichtspunkt der Tarifeinheit im Betrieb verdränge.

43

Die große Tarifkommission des Marburger Bundes hat am 25.11.2005 beschlossen, für den 13.12.2005 bundesweit zum Streik aufzurufen.

44

Mit Beschluss vom 12.12.2005 (2 Ta 457/05) hat das LAG Köln einen Streik an den Kliniken der Stadt Köln gGmbH untersagt. Der Marburger Bund hat darauf seinen Streikaufruf für den 13.12.2005 bundesweit zurückgezogen.

45

Mit Schreiben vom 21.12.2005 hat der Antragsgegner gegenüber der VKA die Kündigung des BAT/BAT-O sowie ihn ändernder und ergänzender Tarifverträge erklärt. Das Schreiben lautet auszugsweise wie folgt:

46

„Kündigung des BAT

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Sehr geehrter Herr Dr. B…,

48

sehr geehrter Herr H…,

49

die Große Tarifkommission des Marburger Bundes, Bundesverband, hat am 17. Dezember 2005 beschlossen, den Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) und den Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts - manteltarifliche Vorschriften - (BAT-O) in der jeweils geltenden Fassung gegenüber der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände e. V. zum 31. Dezember 2005 sowie zu den ansonsten maßgeblichen frühestmöglichen Fristen zu kündigen. Ebenfalls gekündigt werden die den BAT und den BAT-O ändernden und ergänzenden Tarifverträge in der jeweils geltenden Fassung zum jeweils frühestmöglichen Zeitpunkt.

50

Hiermit kündigen wir in Umsetzung dieses Beschlusses gegenüber der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände den Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) und den Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts - Manteltarifliche Vorschriften - (BAT-O) sowie die sie ändernden und ergänzenden Tarifverträge in der jeweils geltenden Fassung zu den jeweiligen Kündigungsfristen und zwar wie folgt: …“

51

Das Kündigungsschreiben enthält dann auf den nächsten drei Seiten im Einzelnen bezeichnete Tarifverträge. Die Anschlusstarifverträge vom 30.03.1961 sowie vom 10.09.1975 sind ebenso wenig erwähnt wie der ATV.

52

Seit dem 27.02.2006 fanden Tarifgespräche zwischen der VKA und dem Marburger Bund statt. Dabei wurde eine Vereinbarung über die Aufnahme von Tarifverhandlungen bei gleichzeitiger Friedenspflicht vereinbart. Diese lautet auszugsweise wie folgt:

53

„… Bis zu einer förmlichen Erklärung des Scheiterns der Tarifverhandlungen durch einen der Vertragspartner besteht Friedenspflicht. …“

54

Der Marburger Bund übersandte der VKA mit E-Mail vom 28.03.2006 einen Forderungskatalog über drei Seiten. Auf der letzten Seite heißt es unter Punkt 7.:

55

„Zusatzversorgung fakultativ, bei Befreiung weiterer Zuschuss zur Ärzteversorgung.“

56

Mit Schreiben vom 20.06.2006 hat der Marburger Bund gegenüber der VKA das Scheitern der Verhandlungen erklärt.

57

Die Große Tarifkommission des Marburger Bundes beschloss, die bei den kommunalen Arbeitgebern eingestellten Mitglieder zur Urabstimmung über Arbeitskampfmaßnahmen aufzurufen.

58

Am 24.06.2006 haben sich die Mitglieder des Marburger Bundes an den kommunalen Krankenhäusern mit einer Mehrheit von 97,1 % für Streiks ausgesprochen.

59

Mit einem Schreiben hat der verfügungsbeklagte Landesverband die Ärztinnen und Ärzte an den kommunalen Krankenhäusern im Bereich der VKA zu einem Streik aufgerufen. Das Schreiben lautet auszugsweise wie folgt:

60

„… Die erste Streikphase an den Kommunalen Krankenhäusern in Schleswig-Holstein beginnt am

61

26.06.2006 und endet am Freitag, den 30.06.2006.

62

Der Landesverband Schleswig-Holstein legt in Abstimmung mit den Ärztinnen und Ärzten vor Ort fest, welche Kommunalen Krankenhäuser in welchem Zeitraum bestreikt werden bzw. wo keine Arbeitskampfmaßnahmen durchgeführt werden.

63

Den Geschäftsführern der Kommunalen Krankenhäuser wurde der Abschluss von Notdienst-Vereinbarungen für die Dauer der Arbeitskampfmaßnahmen angeboten.

64

Unsere Forderung

65

- einen eigenständigen arztspezifischen Tarifvertrag,

66

- eine deutliche Erhöhung der Vergütung,

67

- eine eigene Entgeltordnung, die die spezifischen Tätigkeiten und Funktionen von Ärzten berücksichtigt,

68

- vernünftige Arbeitszeitregelungen unter Berücksichtigung der europäischen Vorgaben und des Arbeitszeitgesetzes,

69

- engere Befristungsregelungen, die Kurzbefristungen einschränken. …“

70

Mit Schreiben vom 22.06.2006 an die Verfügungsklägerin hat der Verfügungsbeklagte diese hinsichtlich beabsichtigter Streikmaßnahmen informiert und die Vereinbarung über die Notfallversorgung angeboten.

71

Unter dem 26.06.2006 kam es zu einer Notdienstvereinbarung zwischen den Parteien.

72

Im Zeitraum 27.06.2006 bis 30.06.2006 wurde die Verfügungsklägerin durch die Mitglieder des Verfügungsbeklagten unter Einhaltung der Notdienstvereinbarung bestreikt.

73

Der Marburger Bund Bundesverband hat bundesweit zu einem unbefristeten Streik aufgerufen. In der Verhandlung hat der Verfügungsbeklagte ausgeführt, dass bei der Verfügungsklägerin zwar keine konkreten Streikmaßnahmen nach dem 30.06.2006 geplant seien, schloss aber weitere Streikmaßnahmen nicht aus.

74

Die Verfügungsklägerin beschäftigt insgesamt rund 1.250 Mitarbeiter, davon 165 Ärzte. Hiervon haben sich 116 Ärzte als Mitglieder des Verfügungsbeklagten zu erkennen gegeben.

75

Die Verfügungsklägerin beziffert den Schaden durch den Streik auf 83.000,-- EUR pro Streiktag.

76

Die Verfügungsklägerin ist der Auffassung, dass der Streik rechtswidrig sei und deshalb im Rahmen einer einstweiligen Verfügung zu untersagen sei. Dabei stellt sie klar, dass sich die Untersagung lediglich auf den Bereich ihres Krankenhauses beziehe. Der beabsichtigte Streik sei rechtswidrig, weil der Verfügungsbeklagte über den Marburger Bund Bundesverband der Friedenspflicht unterliege. Maßgeblich sei für den Verfügungsbeklagten nach wie vor der Anschlusstarifvertrag vom 10.09.1975. Dieser sei ausdrücklich nicht gekündigt worden. Im Übrigen sei der BAT nicht außer Kraft getreten. Der TVöD ersetze ihn lediglich partiell. Die Kündigung vom 21.12.2005 sei auch nicht dahingehend auszulegen, dass gleichzeitig auch der Anschlusstarifvertrag vom 10.09.1975 gekündigt worden sei. Die ausführliche Aufzählung der Tarifverträge durch den Marburger Bund sei abschließend zu verstehen. Ferner könne der Marburger Bund den BAT nicht kündigen, da er nicht Tarifpartner sei. Der BAT sei 1973 nicht vom Marburger Bund unterzeichnet worden. Ferner könne die Kündigung überhaupt nur durch die Tarifgemeinschaft mit ver.di gekündigt werden. Zwar habe der Marburger Bund gegenüber ver.di seine Vollmacht widerrufen. Die Tarifgemeinschaft habe aber nur mit der Frist gemäß § 4 der Vereinbarung vom 11.11.1994 gekündigt werden können, also frühestens zum 31.12.2005. Insofern habe der Marburger Bund eine Kündigung nur zusammen mit ver.di aussprechen können, was nicht erfolgt sei. Insofern gelte für den Marburger Bund zum einen der Anschlusstarifvertrag aus dem Jahr 1975 oder aber auch der BAT weiter und führe zu einer Friedenspflicht des Verfügungsbeklagten. Diese Friedenspflicht ergebe sich auch aus der Vereinbarung vom 09.02.2005. Diese sei ausdrücklich auch für den Marburger Bund abgeschlossen worden. Die Rechtswidrigkeit ergebe sich im Übrigen auch bereits dann, wenn nur ein Teilziel wegen Verstoßes gegen die Friedenspflicht rechtswidrig sei. Dies sei der Fall: Der Forderungskatalog des Marburger Bundes enthalte auch die Forderung nach einer freiwilligen Altersvorsorge. Hier sei der einschlägige Tarifvertrag (ATV) überhaupt nicht gekündigt worden. Eine Kündigung sei ohnehin erst zum 31.12.2007 möglich. Der Streik sei ferner rechtswidrig, da er geführt werde mit dem Ziel, den angeblichen Tarifbruch (Anwendung des TVöD auf die Mitglieder des Verfügungsbeklagten) zu unterbinden. Dabei handele es sich um eine nicht durch Streik zu klärende Rechtsfrage. Der Streik sei auch deshalb rechtswidrig, weil er unverhältnismäßig sei. Selbst wenn es zu einem Tarifabschluss mit dem Marburger Bund komme, sei der TVöD unter dem Gesichtspunkt der Tarifeinheit, die nach Auffassung des BAG auch bei einer Tarifpluralität zur Anwendung komme, nicht zu berücksichtigen. Der TVöD sei der speziellere Tarifvertrag, da er einheitlich eine viel größere Anzahl von Mitarbeitern des Krankenhauses betreffe als der vom Marburger Bund angestrebte Ärztetarifvertrag. Insofern sei es unverhältnismäßig, bei einem Tarifvertrag, der keine konkrete Anwendung finden könne, in den Ausstand zu treten. Der Streik sei ferner rechtswidrig wegen der Gefährdung des Gemeinwohles. Hierbei seien nicht nur die Grundrechte der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, sondern auch die Grundrechte der Bevölkerung auf eine ordnungsgemäße Gesundheitsvorsorge. Der Streik beeinträchtige die Tätigkeit der Verfügungsklägerin auf dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge. Trotz der Notdienstvereinbarung könne die Gesundheitsvorsorge nicht im normalen Umfange aufrechterhalten bleiben. Insofern sei es den angestellten Ärzten generell untersagt, ihre tariflichen Ziele durch einen Streik durchzusetzen. In der mündlichen Verhandlung führte die Verfügungsklägerin noch den Gesichtspunkt der Bestandsgefährdung durch den Streik an. Die Einnahmeseite der Verfügungsklägerin sei durch genaue Vorgaben der Krankenversicherungen begrenzt. Die streikbedingten Einnahmeausfälle könnten nicht anderweitig erwirtschaftet werden. Der Etat sei so eng, dass ein Streik zur Bestandsgefährdung führen könne. Im Rahmen der Interessenabwägung zur Begründung des Verfügungsgrundes wiegten die unumkehrbaren Nachteile der Verfügungsklägerin durch den aus deren Sicht rechtswidrigen Streik schwerer als die Interessen des Marburger Bundes. Hier seien keine besonderen Interessen zu erkennen. Der Androhungsantrag sei aus den Gründen des Hauptantrages begründet.

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Die Verfügungsklägerin hat zunächst auch Anträge auf Widerruf des konkreten Streikaufrufes für den Zeitraum 26. bis 30.06.2006 sowie eine entsprechende Androhung von Zwangsgeld angekündigt. Nach Erörterung im Kammertermin sind diese beiden Anträge wegen Erledigung aus zeitlichen Gründen nicht mehr gestellt worden.

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Die Verfügungsklägerin beantragt,

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1. dem Verfügungsbeklagten zu untersagen, seine Mitglieder und sonstige Arbeitnehmer der Verfügungsklägerin zu Streiks, Warnstreiks und sonstigen Arbeitsniederlegungen aufzurufen, um den Abschluss eines arztspezifischen Tarifvertrages für die als Ärzte beschäftigten Arbeitnehmer der Verfügungsklägerin durchzusetzen,

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2. dem Verfügungsbeklagten für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die Unterlassungspflichten gemäß Ziffer 1. ein Ordnungsgeld in Höhe von 250.000,-- EUR anzudrohen.

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Der Verfügungsbeklagte beantragt,

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die Anträge zurückzuweisen.

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Der Verfügungsbeklagte hält die ursprünglich angekündigten Anträge auf Widerruf und Androhung von Zwangsgeld ebenfalls für durch Zeitablauf erledigt, in der Sache aber auch für unbegründet. Der Antrag auf Unterlassung von Streikaufrufen sei unzulässig, soweit er über das Krankenhaus der Verfügungsklägerin hinausgehe und im Übrigen unbegründet. Eine Friedenspflicht bestehe nicht. Der Marburger Bund sei seit dem 42. Änderungstarifvertrag vom 16.03.1977 originäre Tarifvertragspartei zunächst als Mitglied der Tarifgemeinschaft für Angestellte im öffentlichen Dienst und seit dem 71. Änderungstarifvertrag vom 12.06.1995 vertreten durch die DAG, später durch ver.di. Die Auffassung der Verfügungsklägerin ernst genommen, würde dazu führen, dass die Tarifbindung des Marburger Bundes auf einem Anschlusstarifvertrag sowie auf 36 Änderungstarifverträgen sowie 12 Ergänzungstarifverträgen beruhe. Dieses Ergebnis widerspreche dem von Verfügungsklägerseite immer wieder herangezogenen Grundsatz der Tarifeinheit und sei andererseits in der Vergangenheit ersichtlich so nicht praktiziert worden. Der Marburger Bund sei als originäre Tarifvertragspartei behandelt worden und im Rubrum der Tarifverträge aufgenommen. Der Anschlusstarifvertrag aus dem Jahr 1975 sei durch die Änderungsverträge abgelöst worden. Einer besonderen Kündigung habe es nicht bedurft. Weiter müsse man zumindest das Schreiben vom 21.12.2005 dahingehend auslegen, dass hiermit sämtliche in Zusammenhang mit dem BAT stehende Tarifverträge gekündigt worden seien. Die Kündigung sei Reaktion auf die Entscheidung des LAG Köln gewesen und habe auch für die Verfügungsklägerin und die VKA ersichtlich dem Zwecke gedient, die Friedenspflicht zu beseitigen. Als originäre Tarifvertragspartei sei der Marburger Bund auch zur Kündigung berechtigt gewesen. Die Kündigung sei auch wirksam, weil zwischen dem Marburger Bund und ver.di keine Tarifgemeinschaft vorgelegen habe. Die Vereinbarung vom 11.11.1994 sei als reine Vollmachtserteilung auszulegen. Der Marburger Bund sei weder mit der DAG noch mit ver.di in Form einer Tarifgemeinschaft als einheitliche Tarifpartei aufgetreten. Es sei strikt zu trennen zwischen der tarifvertraglichen Zusammenarbeit einerseits und den Kündigungsregelungen hierzu gemäß § 4 der Vereinbarung und dem Widerruf der Bevollmächtigung gemäß § 1 andererseits. Entsprechend dieses Verständnisses sei der Vereinbarung auch noch die Vollmacht beigefügt. Es handele sich lediglich um eine zivilrechtliche Vertretungsregelung und nicht um eine Außengesellschaft. Dies sei auch das Verständnis von ver.di gewesen, die den TVöD nicht für den Marburger Bund in Vertretung unterzeichnet habe und im Übrigen die tarifliche Zusammenarbeit mit Schreiben vom 17.12.2005 zum 31.03.2006 gekündigt habe. Im Übrigen hätten schuldrechtliche Verpflichtungen der Parteien, bestimmte tarifvertragliche Rechte nur gemeinsam auszuüben, keine Wirkung gegenüber Dritten. Insbesondere handele es sich bei dem BAT und den anderen Tarifverträgen nicht um einen Einheitstarifvertrag dahingehend, dass dieser von der einen oder anderen Seite nur einheitlich gekündigt werden könne. Dies zeigte schon die Kündigung des BAT durch die Tarifgemeinschaft der Länder. Die Vereinbarung vom 09.02.2005 binde den Marburger Bund nicht, es handele sich nicht um einen Tarifvertrag. Dieser bedürfe der Schriftform. Die Vereinbarung sei aber gerade nicht unterschrieben, sondern nur paraphiert. Sie könne keine Friedenspflicht des Marburger Bundes begründen. Im Übrigen habe die Vereinbarung auch tatsächlich die Tarifvertragsparteien nicht davon abgehalten, im TVöD von der Eckpunkteregelung abweichende Regelungen zu treffen. Der Streik sei auch nicht deshalb rechtswidrig, weil der Marburger Bund etwa lediglich Erfüllungsansprüche durchsetzen wolle. Die Durchsetzung seiner tarifpolitischen Zielvorstellung sei das allein maßgeblich mit den Streikmaßnahmen verfolgte Ziel. Der Streik sei auch nicht deshalb unzulässig, weil ein etwaiger abzuschließender Tarifvertrag unter dem Gesichtspunkt der Tarifeinheit keine Anwendung finden könne. Zum einen sei der Gesichtspunkt der Tarifeinheit - wenn überhaupt - nicht auf das Klinikum als Ganzes anzuwenden, sondern getrennt für das Verwaltungs- und Pflegepersonal einerseits und für die im ärztlichen Dienst Beschäftigten andererseits. Der Grundsatz der Tarifeinheit, die Rechtsprechung des BAG gebe auch nichts für die Auflösung solcher Tarifpluralitäten her, die sich auf die Konkurrenz zweier in ihrem fachlichen Anwendungsbereich konkurrenter Tarifverträge bezögen, welche von verschiedenen Gewerkschaften abgeschlossen seien. Insofern sei ein abzuschließender Tarifvertrag durch den Marburger Bund der speziellere. Nach der Rechtsprechung des BAG sei auch ein Spartentarif zulässig. Aus dem Grundsatz der Tarifeinheit lasse sich ohnehin nur in beschränktem Umfang eine Aussage über die Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen entnehmen. Schließlich sei der Begriff der „Tarifeinheit im Betrieb“ in der Rechtsprechung des BAG zumindest in der Auflösung begriffen. Weiter sei ein Streik nicht unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung des Gemeinwohles unverhältnismäßig. Es sei eine umfangreiche Notdienstvereinbarung für den streikbedingten Zeitraum abgeschlossen worden. Daneben seien für jede einzelne Abteilung Notdienstpläne aufgestellt worden. Durch diese Maßnahmen sei sichergestellt, dass die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Patienten weitestgehend unbeeinträchtigt blieben. Ein generelles Streikverbot im Gesundheitswesen existiere nicht. Der Streik sei auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Bestandsgefährdung unzulässig. Einem Streik sei immanent, dass er beim Arbeitgeber zu wirtschaftlichen Beeinträchtigungen führe. Schließlich sei ein Verfügungsgrund nicht gegeben, da die Verfügungsklägerin nicht nachgewiesen habe, dass die angekündigten und eingeleiteten Arbeitskampfmaßnahmen rechtswidrig seien. Ein rechtmäßiger Arbeitskampf könne einen Anspruch auf dessen Unterlassung nicht begründen. Die Höhe der geltend gemachten Tarifforderungen sei kein zulässiger Gegenstand der Verhältnismäßigkeitsprüfung.

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Im Übrigen wird hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes auf die Schriftsätze, Unterlagen und das Protokoll verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zur Untersagung von Streikaufrufen ist zulässig (A.), aber unbegründet hinsichtlich des Hauptantrages (B.) und des Androhungsantrages (C.).

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A. Der Antrag ist jedenfalls nach näherer Darlegung des Verständnisses im Kammertermin hinreichend bestimmt. Es geht allein um die Unterlassung von Streikaufrufen bezüglich bei der Verfügungsklägerin beschäftigter Mitglieder des Verfügungsbeklagten. Aus dem Antrag wird weiterhin deutlich, dass nicht generell sämtliche Streikmaßnahmen untersagt werden sollen, sondern nur solche, die in Zusammenhang mit den aktuellen Tarifforderungen des Marburger Bundes auf Abschluss eines arztspezifischen Tarifvertrages stehen.

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Der Verfügungsbeklagte ist auch die richtige Partei. Nach der Aufteilung zwischen dem Bundesverband des Marburger Bundes und des Verfügungsbeklagten als Landesverband ist der Bundesverband für den generellen Aufruf zur Durchführung des Streiks zuständig. Die konkrete Durchführung des Streiks einschließlich der Auswahl der bestreikten Krankenhäuser liegt in der Hand des beklagten Landesverbandes. Da die Verfügungsklägerin im vorliegenden Fall konkrete Streikmaßnahmen in ihrem Bereich verhindern will, ist der beklagte Landesverband als für die konkrete Umsetzung Zuständiger der zutreffende Beklagte.

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Die Untersagung von Streikaufrufen kann im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens durchgesetzt werden (vgl. LAG Schl.-Holst., Urteil vom 10.12.1996, 6 Sa 577/96; Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 22.07.2004, 9 Sa Ga 593/04; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22.06.2004, 11 Sa 2096/03, jeweils zitiert nach Juris).

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B. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung auf Untersagung eines Streikaufrufes ist unbegründet. Es fehlt bereits am Verfügungsanspruch.

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Eine Streikmaßnahme - einschließlich eines Aufrufes dazu - kann im einstweiligen Verfügungsverfahren kann im einstweiligen Verfügungsverfahren nur dann untersagt werden, wenn sie eindeutig rechtswidrig ist und dies glaubhaft gemacht ist. Die beantragte Untersagungsverfügung muss zum Schutz des Rechts am eingerichteten ausgeübten Gewerbebetrieb (§ 8231 I BGB) und zur Abwendung drohender wesentlicher Nachteile geboten und erforderlich sein. Zur Prüfung, ob eine auf Unterlassung eines Arbeitskampfes gerichtete einstweilige Verfügung i. S. des § 940 ZPO zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, hat eine Interessenabwägung stattzufinden, in die sämtliche in Betracht kommenden materiell-rechtlichen und vollstreckungsrechtlichen Erwägungen sowie die wirtschaftlichen Auswirkungen für beide Parteien einzubeziehen sind (vgl. LAG Köln, 2 Ta 457/05, NZA 62, 2006; LAG Hessen, wie vor).

91

Grundsätzlich kommt auch in der Konstellation dieses Rechtsstreites ein Unterlassungsanspruch in Betracht. Zwar ist die Arbeitskampfmaßnahme, zu der der Verfügungsbeklagte aufgerufen hat, bereits erledigt durch Zeitablauf. Es ist allerdings durch den Marburger Bund Bundesverband zu einem unbefristeten Streik aufgerufen worden. Der Verfügungsbeklagte konnte und wollte nicht ausschließen, dass es auch für die Verfügungsklägerin zu einem weiteren Streikaufruf kommen wird. Insofern ist die notwendige Wiederholungsgefahr gegeben.

92

Der Aufruf zum Streik, um einen arztspezifischen Tarifvertrag durchzusetzen, ist nach dem unstreitigen Sachverhalt nicht rechtswidrig, denn ein solcher Streik wäre rechtmäßig. Ein solcher Streik verstößt weder gegen die Friedenspflicht (I.) noch ist er rechtswidrig wegen teilweise rechtswidrig verfolgter Ziele (II.), noch ist er aus dem Gesichtspunkt der Tarifeinheit unverhältnismäßig (III.), noch ist er unverhältnismäßig wegen angeblicher Gefährdung des Gemeinwohles (IV.). Schließlich ist er auch nicht wegen Bestandsgefährdung der Verfügungsklägerin unzulässig (V.). Die übrigen Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Streik, wie Verhandlungen, förmliche Erklärung des Scheiterns der Verhandlungen, Einleitung der Urabstimmung und notwendiges positives Abstimmungsergebnis liegen vor.

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I. Ein etwaiger Arbeitskampf verstößt nicht gegen die Friedenspflicht. Die gesetzliche, dem Tarifvertrag immanente - relative - Friedenspflicht eines Tarifvertrages verbietet den Tarifvertragsparteien, einen bestehenden Tarifvertrag inhaltlich dadurch in Frage zu stellen, dass sie Änderungen oder Verbesserungen der vertraglich geregelten Gegenstände mit Mitteln des Arbeitskampfes erreichen wollen (LAG Hessen, wie vor unter Bezugnahme auf BAG- und LAG-Rechtsprechung). Für den Marburger Bund und dem beklagten Landesverband besteht keine Friedenspflicht, denn der BAT bzw. der Anschlusstarifvertrag zum BAT vom 10.09.1975 ist vom Marburger Bund wirksam gekündigt. Aus der Kündigungserklärung vom 21.12.2005 ergibt sich aus Sicht des Gerichtes, dass sämtliche relevanten Tarifverträge vom Marburger Bund gekündigt worden sind, gerade zum Zwecke der Beseitigung der Friedenspflicht (1.). Der Marburger Bund war auch berechtigt, eine Kündigung auszusprechen (2.).

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1. Der Marburger Bund hat mit Schreiben vom 21.12.2005 sämtliche relevanten Tarifverträge gekündigt.

95

Dies ergibt sich nach Auslegung des vorgenannten Schreibens. Die Auslegung erfolgt gemäß §§ 133, 157 BGB nach dem objektiven Empfängerhorizont. Der Wortlaut des Schreibens ist nicht eindeutig, denn er benennt die Anschlusstarifverträge des Marburger Bundes nicht ausdrücklich. Die zu kündigenden Tarifverträge werden zunächst summarisch genannt. Die Spiegelstrichaufzählung dient jedenfalls nach dem sprachlichen Verständnis nicht zwingend zum abschließenden Aufzählen der Tarifverträge, sondern eher zur Klärung der Kündigungsfristen. Bei systematischer Auslegung ergibt sich, dass neben BAT und BAT-O alle die sie ändernden und ergänzenden Tarifverträge in der jeweils geltenden Fassung gekündigt werden. Hieraus ist eine Einschränkung, dass bestimmte Tarifverträge bestehen bleiben sollen, nicht ersichtlich. Der Begriff der Ergänzung kann auch dahingehend verstanden werden, dass eine Ergänzung nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in Hinsicht der Anwendung auf zusätzliche Vertragspartner zu verstehen ist. Entscheidend ist die historische Auslegung nach dem Willen der Parteien: Sowohl dem Marburger Bund als auch der VKA war die Entscheidung des LAG Köln bekannt. Das LAG Köln führt in seiner Entscheidung vom 12.12.2005 (2 Ta 457/05, NZA 2006, 62 f) wörtlich aus: „Voraussetzung zur Durchsetzung dieses Zieles durch einen Streik ist jedoch, dass diese Arbeitnehmerschaft zum Streikzeitpunkt nicht einer Friedenspflicht unterliegt. Dies ist dann der Fall, wenn auch seitens des Antragsgegners (Marburger Bund) der BAT gekündigt wurde und der Versuch einer Einigung stattgefunden hat.“ Das LAG Köln stellt klar, dass mangels Kündigung des BAT durch den Marburger Bund dieser der Friedenspflicht unterliegt. Insofern kann der Kündigung vom 21.12.2005 nur die Bedeutung beigemessen werden, dass der Marburger Bund eben diese Friedenspflicht beseitigen wollte. Eine Rückkehr zum Vertragszustand von 1975 ist abwegig. Weder die Verfügungsklägerin noch - soweit bekannt - ein anderes kommunales Krankenhaus behandelt die angestellten Ärzte nunmehr nach dem Anschlusstarifvertrag aus dem Jahre 1975. Sinn und Zweck des Kündigungsschreibens war allein die Beseitigung der Friedenspflicht zur Aufnahme von Verhandlungen und Aktionen zur Durchsetzung eines arztspezifischen Tarifvertrages.

96

Aufgrund dieser aus Sicht des Gerichtes eindeutigen Auslegung kommt es letztendlich nicht auf die Frage an, ob für den Marburger Bund der BAT und die diesen ändernden Tarifverträge Anwendung finden oder der Anwendungstarifvertrag und den diesen ändernden Tarifverträge. Das Gericht neigt allerdings zu der Auffassung, dass der BAT und die nachfolgenden Änderungs- und Ergänzungstarifverträge als ein einheitlicher Tarifvertrag und nicht als ein Flickenteppich verschiedener anwendbare Tarifverträge anzusehen sind. Dies hat das BAG jedenfalls zu der Beendigung der Wirkung gemäß § 3 Abs. 3 TVG dahingehend entschieden, dass eine Beendigung bereits bei inhaltlicher Änderung auch nur einer Tarifvorschrift eintritt (AP Nr. 9 und 11 zu § 3 TVG, Verbandsaustritt). Im Übrigen müsste ansonsten die Frage gestellt werden, was eigentlich überhaupt für die Mitglieder des Marburger Bundes gilt. Aus den Änderungsverträgen zum BAT ab dem Jahre 1977 lässt sich nämlich nicht entnehmen, dass der Anwendungstarifvertrag ergänzt oder geändert worden ist. Eine dynamische Verweisung ist jedenfalls dem Anwendungstarifvertrag nicht zu entnehmen. Dies würde zu der absurden Situation führen, dass die Änderungstarifverträge mangels zu ändernden Vertragsobjektes keine Wirkung entfalten würden und der Anwendungstarifvertrag aus dem Jahre 1975 seit nunmehr über 30 Jahren unverändert fortbestünde.

97

2. Der Marburger Bund war berechtigt, den BAT und die ergänzenden und ändernden Tarifverträge zu kündigen.

98

a) Aus Sicht des Gerichtes (vgl. 1.) ist der Marburger Bund durch die Änderungstarifverträge, abgeschlossen durch den Marburger Bund in Tarifgemeinschaft und später vertreten durch DAG bzw. ver.di, Vertragspartner des BAT (vgl. Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr, Kommentar zum BAT, § 1, Rn. 3). Im Übrigen ergibt sich zumindest nach Auslegung des Kündigungsschreibens, dass auch die Kündigung des Anschlusstarifvertrages zum BAT aus Jahre 1975 gekündigt worden ist. Hier war der Marburger Bund zweifelsfrei Vertragspartner.

99

b) Eine Kündigung seitens des Marburger Bundes scheidet auch nicht etwa deshalb aus, weil der BAT nur einheitlich von der Arbeitnehmerseite gekündigt werden kann. Hierzu finden sich im BAT keine Anhaltspunkte. Die Kündigung des Tarifvertrages durch die Tarifgemeinschaft der Länder deutet darauf hin, dass auch die übrigen Vertragsparteien nicht von einem lediglich einheitlichen Kündigungsrecht von der einen oder anderen Seite ausgehen.

100

c) Der Marburger Bund war auch nicht durch Regelungen einer etwaigen Tarifgemeinschaft an dem Ausspruch der Kündigung gehindert. Unter einer Tarifgemeinschaft versteht man den Zusammenschluss tariffähiger Mitglieder, die selbst Vertragspartner eines Tarifvertrages werden, wenn auch in Verbundenheit mit den anderen Mitgliedern ihrer Gemeinschaft. Die Verbundenheit führt dazu, dass sie als einheitliche Vertragspartei die Vertragsherrschaft nur notwendig gemeinsam ausüben können: Jeder Neuabschluss, jeder Aufhebungs- und Änderungsvertrag, jede Kündigung oder Anfechtung der Tarifgemeinschaft des Tarifvertrages bedarf dann einer einheitlichen Willensbildung der Mitglieder (vgl. Löwisch/Rieble, Tarifvertragsgesetz, 2. Auflage, § 2, Rn. 165 f). Ob eine Tarifgemeinschaft besteht, ergibt sich aus der Auslegung der Vereinbarung zwischen den die mögliche Tarifgemeinschaft bildenden Tarifvertragsparteien, vorliegend also der Vereinbarung zwischen dem Marburger Bund und der DAG bzw. nunmehr ver.di vom 11.11.1994.

101

Nach dem Wortlaut wird in § 1 dem Marburger Bund der Widerruf der Vollmacht angeräumt. § 4 spricht dagegen nur von der Beendigung der Zusammenarbeit. Aus der Systematik ergibt sich, dass der Vollmachtsgabe eine besondere Bedeutung eingeräumt wurde. Ansonsten macht die Anlage zur Vereinbarung (Vollmachterteilung) keinen Sinn. Sowohl die Vereinbarung selbst, als auch die Vollmacht erwähnt ausdrücklich den Widerruf. Dies wäre überflüssig, wenn die Regelung zur Beendigung der Zusammenarbeit allgemein und damit auch für das Verfahren zur Beendigung der Vollmacht Anwendung finden würde. Im Übrigen dürfte den Vertragsparteien die Differenzierung zwischen Beendigung und Widerruf durchaus klar gewesen sein. Bei historischer Auslegung nach dem Willen der Parteien muss berücksichtigt werden, dass zuvor eine Tarifgemeinschaft bestand, die beendet wurde. Insofern ist die Auswahl des Konstruktes über eine Vollmacht als Abkehr von der Tarifgemeinschaft zu verstehen. Aus der Vollmacht wird im Übrigen deutlich, dass sie sich auf sämtliche Willenserklärungen in Zusammenhang mit Verträgen bezieht, also nicht nur auf den Abschluss, sondern auch auf die Kündigung von Tarifverträgen. Aus der Historie ergibt sich im Übrigen, dass sowohl der Marburger Bund als auch ver.di die Vereinbarung genauso verstanden haben: ver.di hat den Widerruf mit sofortiger Wirkung umgesetzt, indem ver.di den TVöD für den Marburger Bund nicht unterzeichnet hat. Ferner hat ver.di dann mit der Frist des § 4 die tarifliche Zusammenarbeit gekündigt. Auch bei Auslegung nach dem Sinn und Zweck ist nicht erkennbar, dass sich die DAG und der Marburger Bund in eine Tarifgemeinschaft, also in eine Verkuppelung der Erklärungsmacht begeben wollte. Nehme man dies an, stellt sich die konkrete Frage, ob ver.di ohne den Marburger Bund den TVöD überhaupt hätte unterzeichnen können.

102

3. Die Friedenspflicht ergibt sich für den Marburger Bund auch nicht aus der Vereinbarung vom 09.02.2005. Diese wurde seitens ver.di auch für den Marburger Bund paraphiert. Die Friedenspflicht ist Auswirkung des schuldrechtlichen Teiles eines Tarifvertrages. Ein Tarifvertrag bedarf gemäß § 1 Abs. 2 TVG der Schriftform. Aus der Systematik zwischen Abs. 1, der ausdrücklich die schuldrechtliche und die normative Seite erwähnt, ergibt sich, dass sich das Formerfordernis auf beide Aspekte bezieht. Wird ein Tarifvertrag nicht schriftlich abgeschlossen, so ist der gemäß § 125 BGB nichtig. Eine Ausnahme wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben kommt nicht in Betracht (BAG, AP Nr. 12 zu § 4 TVG Geltungsbereich). Daher kann aus der lediglich paraphierten Vereinbarung vom 09.02.2005 keine Friedenspflicht abgeleitet werden. Den Unterzeichnern musste angesichts deren Erfahrung und Sachkenntnis klar sein, dass sie keinen Tarifvertrag mit bloßer Paraphierung abschließen. Insofern ist davon auszugehen, dass sie entsprechende Rechtswirkungen nicht wollten, um sich nicht abschließend zu binden.

103

II. Der Streik ist auch nicht etwa deshalb rechtswidrig, weil der Marburger Bund mit dem beabsichtigten Streik zumindest teilweise rechtswidrige Ziele zu erreichen trachtet. Zutreffend ist, dass der ATZ bzw. der ATZ-K - wenn überhaupt - erst zum 31.12.2007 gekündigt worden ist und somit die Friedenspflicht diesbezüglich zur Zeit fortbesteht. Aus dem von Klägerseite selbst vorgelegten Streikaufruf des Verfügungsbeklagten lässt sich allerdings das Streikziel „Revision der betrieblichen Altersversorgung“ nicht entnehmen. Soweit die Verfügungsklägerin auf den Forderungskatalog vom 28.03.2006 abstellt, unterscheidet sie nicht hinreichend zwischen Forderungen der Gewerkschaft und deren Arbeitskampfzielen. Sowohl Arbeitgeber als auch Gewerkschaftsseite ist es unbenommen, während der Friedenspflicht bereits Forderungen zu formulieren. Diese dürfen jedoch nicht mit den Mitteln von Arbeitskämpfen durchgesetzt werden.

104

Soweit die Verfügungsklägerin meint, Ziel des Streiks sei die Bekämpfung des angeblichen Tarifbruches der VKA (konkret: Überführung der Mitglieder des Marburger Bundes in den TVöD), so ergibt sich dies ebenfalls nicht aus den im Streikaufruf genannten Arbeitskampfzielen. Im Übrigen hat der Marburger Bund ein klärendes Verfahren beim Arbeitsgericht Köln zur Frage der Berechtigung der Überleitung eingeleitet.

105

III. Der Streik - zu dem die Verfügungsbeklagte möglicherweise aufrufen wird - ist auch nicht etwa deshalb rechtswidrig, weil er aus dem Gesichtspunkt der Tarifeinheit unverhältnismäßig ist.

106

Unter „Tarifeinheit“ versteht man zunächst lediglich ein Prinzip zur Klärung der Frage, welcher Tarifvertrag Anwendung findet, wenn für ein Vertragsverhältnis kollektivrechtlich zwei Tarifverträge gelten. In diesen Fällen soll nach dem Grundsatz der Tarifeinheit zur Vermeidung gleichzeitiger Anwendung konkurrierender Tarifverträge nach dem Grundsatz der Spezialität dem sachnäheren Tarifvertrag der Vorzug gegeben werden (vgl. BAG, AP Nr. 4 zu § 4 TVG, Tarifkonkurrenz). Das BAG wendet diesen Grundsatz auch dann an, wenn lediglich ein Tarifvertrag kollektivrechtlich gilt und der weitere nur den Arbeitgeber kollektivrechtlich bindet (sogenannte „Tarifpluralität“). Zur Begründung wird auf die übergeordneten Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit abgestellt. Weiter argumentiert das BAG mit den praktischen Problemen (so auch jüngst Meyer in Der Betrieb 2006, 1271). Das BAG hat bislang, jedenfalls nach Kenntnis des Gerichtes, den Grundsatz der Tarifeinheit lediglich in Zusammenhang mit der Frage „welcher Tarifvertrag findet Anwendung“ angewandt. Insbesondere hat es die Übertragung dieser Konstruktion zur Definition des Gewerkschaftsbegriffes abgelehnt (vgl. BAG, Beschluss vom 14.12.2004, 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697 f). Hauptargument dabei ist, dass der Grundsatz der Tarifeinheit gerade zur Konkurrenz verschiedener Tarifverträge entwickelt worden sind. Dies setzt voraus, dass eine Spartengewerkschaft grundsätzlich zulässig sein muss, um entsprechende Tarifverträge überhaupt erst einmal abzuschließen.

107

Eine Übertragung der Grundsätze zur Ordnung der Arbeitskampfrechte kommt aus Sicht des Gerichtes nicht in Frage (so aber LAG Rheinland-Pfalz, a. a. O., wie hier LAG Hessen a. a. O. und wohl auch LAG Köln a. a. O.). Das Streikrecht ist als Ausfluss der positiven Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt. Art. 9 Abs. 3 GG schützt nicht nur die Freiheit des Einzelnen, sondern die Koalition in ihrem Bestand, in ihrer organisatorischen Ausgestaltung und in ihrer koalitionsspezifischen Betätigung (BVerfG, AP Nr. 117 zu Art. 9 GG, Arbeitskampf). Art. 9 Abs. 3 GG schützt die Koalitionen vor staatlichen Eingriffen in ihre Arbeitskampfmaßnahmen (vgl. BVerfG, wie vor). Ein Eingriff in dieses Grundrecht kann, da es grundsätzlich schrankenlos gewährt ist, nur im Rahmen der praktischen Konkordanz der Grundrechte erfolgen. Dies setzt unabhängig von der Frage, ob ein Eingriff überhaupt ohne gesetzliche Grundlage allein auf Basis von Richterrecht erfolgen kann, voraus, dass das zum Eingriff gewählte Mittel geeignet ist. Dies ist vorliegend aus Sicht des Gerichtes nicht der Fall: Rechtsfolge der Anwendung des Grundsatzes der Tarifeinheit ist, dass der speziellere Tarifvertrag Anwendung findet. Dies bedeutet, bezogen auf Arbeitskampfmaßnahmen, dass die Gewerkschaft streiken darf, deren beabsichtigter Tarifvertrag der speziellere ist. Soweit man den Begriff „speziell“ inhaltlich verstehen würde, würde dies auf eine Evaluierung der Arbeitskampfziele durch ein staatliches Gericht hinauslaufen. Soweit man den Begriff „speziell“ quantitativ versteht, so ist der Bezug völlig unklar. Die Verfügungsklägerin versteht den Begriff bezogen auf das gesamte Krankenhaus. Danach wäre der TVöD der speziellere Tarifvertrag, wenn im Krankenhaus mehr ver.di-Mitglieder beschäftigt wären als Mitglieder des Marburger Bundes. Dies trägt die Verfügungsklägerin übrigens offenbar mangels positiver Kenntnis der ver.di-Mitgliederanzahl nicht einmal vor. Stellt man jedoch auf die Sparte ab, wobei es wiederum Schwierigkeiten gibt, die Sparte zu definieren, so dürfte jedenfalls bezogen auf die Sparte „Arzt“ der Marburger Bund, jedenfalls von den Mitgliederzahlen, stärker vertreten sein. Unabhängig davon ist aber insbesondere offen, ob Ansatzpunkt das jeweilige einzelne Krankenhaus oder der Tarifbezirk oder möglicherweise die ganze Bundesrepublik sein soll. Dies würde dazu führen, dass entweder Streikmaßnahmen je nach Krankenhaus zulässig oder nicht zulässig sind oder wenn Maßstab der Tarifbezirk ist, Arbeitskampfmaßnahmen der einen Seite unzulässig wären, obwohl, bezogen auf das konkrete Krankenhaus, der von dieser Gewerkschaft abgeschlossene Tarifvertrag aus dem Gesichtspunkt der Tarifeinheit dort Anwendung finden würde. Schließlich macht es auch keinen Sinn, den Begriff „speziell“ dahingehend auszulegen, dass der speziellere Tarifvertrag derjenige sie, der für alle Angestellten eines Betriebes gelte, also der allgemeinere sei.

108

Die Anwendung des Grundsatzes der Tarifeinheit im Bereich des Arbeitskampfes, jedenfalls in der weitesten Fassung, würde zu einem generellen Verbot von Spartengewerkschaften führen. Die Probleme für die Arbeitgeberseite mit Spartengewerkschaften liegen auf der Hand (vgl. z. B. Meyer, a. a. O.). Diese Probleme kann man aber nicht dadurch lösen, dass durch Richterrecht eine Zwangssolidarität der Arbeitnehmer zur Entlastung der Arbeitgeber normiert wird.

109

Im Übrigen verweist das Gericht auf die Situation an öffentlichen Theatern: Dort findet der Grundsatz der Tarifeinheit nach Kenntnis des Gerichtes deshalb keine Anwendung, weil zwar eine Vielzahl von Tarifverträgen für unterschiedliche Berufsgruppen abgeschlossen von unterschiedlichen Gewerkschaften existiert, die Abgrenzung allerdings geklärt ist. Die Anwendung vieler Tarifverträge führt jedenfalls in diesem Bereich nicht zum Verlust der Funktionsfähigkeit. Die Berechtigung der beteiligten Spartengewerkschaften (z. B. Deutsche Orchestervereinigung) und Spartenarbeitgeber (Deutscher Bühnenverein), Arbeitskampfmaßnahmen durchzuführen, kann nicht davon abhängen, ob ver.di zukünftig einen Verhandlungsanspruch für den gesamten Bühnenbereich beansprucht.

110

IV. Der anzukündigende Streik ist auch nicht etwa deshalb rechtswidrig, weil er zur Gefährdung des Gemeinwohles führt.

111

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Verfügungsklägerin einen Allgemeinantrag gestellt hat. Hiermit kann nicht geklärt werden, ob etwa eine bestimmte Streikmaßnahme unter Berücksichtigung ganz dezidierter Notfallpläne rechtmäßig ist. Der pauschale Antrag kann also deshalb nur Erfolg haben, wenn Ärzte trotz Notfallplänen grundsätzlich wegen Gefährdung des Gemeinwohles nicht streiken dürften. Dies ist nicht der Fall. Grundsätzlich hat der Staat die Möglichkeit, staatliche Aufgaben durch Beamte oder durch Arbeitnehmer erledigen zu lassen. Damit legt sich der Staat auch fest hinsichtlich seiner rechtlichen Möglichkeiten auf die Staatsdiener, seien es Beamte oder Arbeitnehmer, Einfluss zu nehmen. Der Staat, in diesem Fall die Gebietskörperschaft, hat sich entschlossen, die Gemeinwohlaufgabe mit Arbeitnehmern durch eine juristische Person des Privatrechtes durchführen zu lassen. Insofern hat sich der Staat festgelegt hinsichtlich der Erledigung seiner Aufgabe und muss die entsprechenden Konsequenzen (und das Recht auf positive Koalitionsfreiheit) gegen sich gelten lassen. Insbesondere kann der Staat die Ärzte nicht einerseits als Angestellte ohne die Vorzüge des Beamtenstatus beschäftigen und andererseits von ihnen verlangen, auf ihr Streikrecht zu verzichten.

112

Der Staat und damit im vorliegenden Fall die Verfügungsklägerin hat die Beeinträchtigung der Gesundheitsvorsorge in einem gewissen Rahmen hinzunehmen. Voraussetzung ist lediglich, dass Notfallpläne existieren, die soweit als möglich eine akute Gefährdung von Leib und Leben der Patienten vermeiden. Das von Klägerseite zitierte Arbeitsgericht Saarbrücken (61 Ga 7/06, Beschluss vom 02.05.2006) hat in seinem Beschluss nichts anderes als eine solche Notfallregelung bestimmt.

113

V. Der anzukündigende Streik ist nicht wegen Bestandsgefährdung der Verfügungsklägerin unverhältnismäßig und damit rechtswidrig. Da die Verfügungsklägerin einen Allgemeinantrag gestellt hat, wäre der Antrag nur dann begründet, wenn jede Arbeitskampfmaßnahme den Bestand der Verfügungsklägerin gefährden würde. Dies ist erkennbar nicht der Fall. Grundsätzlich haben Arbeitgeber bei Streiks immer das Risiko wirtschaftlicher Verluste hinzunehmen. Dies ist einem Streik immanent und macht seine Wirkung aus. Grundsätzlich ist daher die wirtschaftliche Lage der einen oder anderen Seite im Rahmen von Tarifauseinandersetzungen kein Mittel zum Verbot eines Arbeitskampfes, sondern dient als Aspekt der Findung der tariflichen Ziele. Kurz gesagt: Die Mitglieder des Verfügungsbeklagten können auch in wirtschaftlich schwierigen Situationen streiken. Das Ergebnis eines möglicherweise zu hohen Tarifabschlusses oder eines zu harten Arbeitskampfes haben sie am Ende selbst zu verantworten.

114

C. Der Antrag auf Androhung eines Ordnungsgeldes ist aus den unter B. genannten Erwägungen ebenfalls unbegründet. Der Antrag folgt als Annex dem Hauptunterlassungsantrag.

115

D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, soweit es um Streitgegenstände geht, die Gegenstand des vorliegenden Urteils sind. Im Übrigen beruht die Entscheidung auf § 91 a ZPO. Im Zeitpunkt der Erledigung waren die Ansprüche auf Widerruf und Zwangsgeld unbegründet, da der Verfügungsbeklagte rechtmäßig zum Streik aufgerufen hat.

116

Die Streitwertentscheidung beruht auf §§ 39 ff GKG. Aus Sicht des Gerichtes handelt es sich bei der Untersagung eines Streiks nicht um bloße Mitwirkungsrechte wie in einem betriebsverfassungsrechtlichen Beschlussverfahren, sondern um eine vermögensrechtliche Streitigkeit. Der Streikaufruf hat für die Verfügungsklägerin unmittelbare Folgen, die gerade nicht nur im immateriellen Bereich angesiedelt sind. Hinsichtlich der Höhe hat sich das Gericht auch von der Höhe des ursprünglichen Antrages zu 3. (Androhung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 250.000,-- EUR) leiten lassen. Nicht extra Streitwert erhöhend ist dagegen als Annex der Androhungsantrag. Der Gegenstandswert für die Gebühren bemisst sich allerdings nicht nur nach den im Kammertermin gestellten Anträgen, sondern nach sämtlichen angekündigten Anträgen. Eine Teilerledigung ist nach den Vorschriften des neuen GKG nicht mehr privilegiert (Ziff. 8211 Anlage 1 zum GKG: „Beendigung des gesamten Verfahrens …“). Der Höhe nach hat sich das Gericht hierbei von der Streikdauer, vier Tage und den angeblichen Einbußen in Höhe von 83.000,-- EUR pro Tag leiten lassen. Angesichts der Teilidentität ist hier nur eine Größenordnung von 50 % in Ansatz gebracht worden. Wegen der Endgültigkeit der Entscheidung im Eilverfahren scheidet ein weiterer Abschlag für das vorliegende Verfahren aus.


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Arbeitsgericht Kiel Urteil, 30. Juni 2006 - 1 Ga 11 b/06 zitiert 18 §§.

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Zivilprozessordnung - ZPO | § 91 Grundsatz und Umfang der Kostenpflicht


(1) Die unterliegende Partei hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, insbesondere die dem Gegner erwachsenen Kosten zu erstatten, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren. Die Kostenerstattung um

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 133 Auslegung einer Willenserklärung


Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 157 Auslegung von Verträgen


Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

Tarifvertragsgesetz - TVG | § 4 Wirkung der Rechtsnormen


(1) Die Rechtsnormen des Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluß oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, gelten unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 9


(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. (2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverstä

Tarifvertragsgesetz - TVG | § 1 Inhalt und Form des Tarifvertrags


(1) Der Tarifvertrag regelt die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien und enthält Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluß und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen könne

Tarifvertragsgesetz - TVG | § 3 Tarifgebundenheit


(1) Tarifgebunden sind die Mitglieder der Tarifvertragsparteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des Tarifvertrags ist. (2) Rechtsnormen des Tarifvertrags über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen gelten für alle Betriebe, der

Gerichtskostengesetz - GKG 2004 | § 39 Grundsatz


(1) In demselben Verfahren und in demselben Rechtszug werden die Werte mehrerer Streitgegenstände zusammengerechnet, soweit nichts anderes bestimmt ist. (2) Der Streitwert beträgt höchstens 30 Millionen Euro, soweit kein niedrigerer Höchstwert be

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 125 Nichtigkeit wegen Formmangels


Ein Rechtsgeschäft, welches der durch Gesetz vorgeschriebenen Form ermangelt, ist nichtig. Der Mangel der durch Rechtsgeschäft bestimmten Form hat im Zweifel gleichfalls Nichtigkeit zur Folge.

Zivilprozessordnung - ZPO | § 940 Einstweilige Verfügung zur Regelung eines einstweiligen Zustandes


Einstweilige Verfügungen sind auch zum Zwecke der Regelung eines einstweiligen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, sofern diese Regelung, insbesondere bei dauernden Rechtsverhältnissen zur Abwendung wesentlicher Nachteile

Referenzen

(1) Die Rechtsnormen des Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluß oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, gelten unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen. Diese Vorschrift gilt entsprechend für Rechtsnormen des Tarifvertrags über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen.

(2) Sind im Tarifvertrag gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien vorgesehen und geregelt (Lohnausgleichskassen, Urlaubskassen usw.), so gelten diese Regelungen auch unmittelbar und zwingend für die Satzung dieser Einrichtung und das Verhältnis der Einrichtung zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

(3) Abweichende Abmachungen sind nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten.

(4) Ein Verzicht auf entstandene tarifliche Rechte ist nur in einem von den Tarifvertragsparteien gebilligten Vergleich zulässig. Die Verwirkung von tariflichen Rechten ist ausgeschlossen. Ausschlußfristen für die Geltendmachung tariflicher Rechte können nur im Tarifvertrag vereinbart werden.

(5) Nach Ablauf des Tarifvertrags gelten seine Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden.

Einstweilige Verfügungen sind auch zum Zwecke der Regelung eines einstweiligen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, sofern diese Regelung, insbesondere bei dauernden Rechtsverhältnissen zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint.

Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.

Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

(1) Tarifgebunden sind die Mitglieder der Tarifvertragsparteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des Tarifvertrags ist.

(2) Rechtsnormen des Tarifvertrags über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen gelten für alle Betriebe, deren Arbeitgeber tarifgebunden ist.

(3) Die Tarifgebundenheit bleibt bestehen, bis der Tarifvertrag endet.

(1) Der Tarifvertrag regelt die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien und enthält Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluß und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können.

(2) Tarifverträge bedürfen der Schriftform.

Ein Rechtsgeschäft, welches der durch Gesetz vorgeschriebenen Form ermangelt, ist nichtig. Der Mangel der durch Rechtsgeschäft bestimmten Form hat im Zweifel gleichfalls Nichtigkeit zur Folge.

(1) Die Rechtsnormen des Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluß oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, gelten unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen. Diese Vorschrift gilt entsprechend für Rechtsnormen des Tarifvertrags über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen.

(2) Sind im Tarifvertrag gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien vorgesehen und geregelt (Lohnausgleichskassen, Urlaubskassen usw.), so gelten diese Regelungen auch unmittelbar und zwingend für die Satzung dieser Einrichtung und das Verhältnis der Einrichtung zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

(3) Abweichende Abmachungen sind nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten.

(4) Ein Verzicht auf entstandene tarifliche Rechte ist nur in einem von den Tarifvertragsparteien gebilligten Vergleich zulässig. Die Verwirkung von tariflichen Rechten ist ausgeschlossen. Ausschlußfristen für die Geltendmachung tariflicher Rechte können nur im Tarifvertrag vereinbart werden.

(5) Nach Ablauf des Tarifvertrags gelten seine Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden.

(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.

(2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.

(3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.

(1) Die unterliegende Partei hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, insbesondere die dem Gegner erwachsenen Kosten zu erstatten, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren. Die Kostenerstattung umfasst auch die Entschädigung des Gegners für die durch notwendige Reisen oder durch die notwendige Wahrnehmung von Terminen entstandene Zeitversäumnis; die für die Entschädigung von Zeugen geltenden Vorschriften sind entsprechend anzuwenden.

(2) Die gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts der obsiegenden Partei sind in allen Prozessen zu erstatten, Reisekosten eines Rechtsanwalts, der nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassen ist und am Ort des Prozessgerichts auch nicht wohnt, jedoch nur insoweit, als die Zuziehung zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig war. Die Kosten mehrerer Rechtsanwälte sind nur insoweit zu erstatten, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen oder als in der Person des Rechtsanwalts ein Wechsel eintreten musste. In eigener Sache sind dem Rechtsanwalt die Gebühren und Auslagen zu erstatten, die er als Gebühren und Auslagen eines bevollmächtigten Rechtsanwalts erstattet verlangen könnte.

(3) Zu den Kosten des Rechtsstreits im Sinne der Absätze 1, 2 gehören auch die Gebühren, die durch ein Güteverfahren vor einer durch die Landesjustizverwaltung eingerichteten oder anerkannten Gütestelle entstanden sind; dies gilt nicht, wenn zwischen der Beendigung des Güteverfahrens und der Klageerhebung mehr als ein Jahr verstrichen ist.

(4) Zu den Kosten des Rechtsstreits im Sinne von Absatz 1 gehören auch Kosten, die die obsiegende Partei der unterlegenen Partei im Verlaufe des Rechtsstreits gezahlt hat.

(5) Wurde in einem Rechtsstreit über einen Anspruch nach Absatz 1 Satz 1 entschieden, so ist die Verjährung des Anspruchs gehemmt, bis die Entscheidung rechtskräftig geworden ist oder der Rechtsstreit auf andere Weise beendet wird.