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Das Gericht konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
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Die Klage ist zulässig. Die Kammer geht davon aus, dass die Entscheidung über die Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO gegenüber dem Asylbewerber Regelungswirkung entfaltet und ein entsprechender Anspruch isoliert im Wege der Verpflichtungsklage verfolgt werden kann. Nicht erforderlich ist demgegenüber, dass das Gericht sogleich „durchentscheidet“, also auch über die materiellen Rechtspositionen des Klägers befindet, d.h. insbesondere über einen etwaigen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling. Dies vernachlässigte die berechtigten Interessen des Asylbewerbers, da im Falle eines wirksamen, weil zugestellten Bescheides nach § 27a AsylVfG – ein entsprechender Entwurf befindet sich in der Behördenakte – eine Anfechtungsklage statthaft ist, um den „Weg für die Durchführung eines Asylverfahrens vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit voller inhaltlicher Sachprüfung des klägerischen Asylbegehrens“ zu eröffnen (VG Frankfurt, Urteil vom 08.07.2009, 7 K 4376/07.F.A(3), m.w.N.). Die Beklagte hätte es sonst durch das bloße Zurückhalten ihrer Entscheidung, gegen die Rechtsschutz in der Hauptsache häufig nicht rechtzeitig zu erlangen ist – im vom VG Frankfurt entschiedenen Fall war der Kläger zwischenzeitlich nach Griechenland abgeschoben worden –, in der Hand, ob der Kläger einen Anspruch allein auf Durchführung eines Asylverfahrens durch das Bundesamt vor Gericht durchsetzen könnte oder nicht.
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Die Klage ist auch im Übrigen zulässig. Mit Schriftsatz vom 05.06.2009 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers gegenüber der Beklagten dessen Anhörung und damit die Durchführung eines Asylverfahrens angemahnt. Die Drei-Monats-Frist des § 75 VwGO ist daher im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts abgelaufen.
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Schließlich fehlt dem Kläger nicht das erforderliche Rechtsschutzinteresse. Ein Antrag nach § 123 VwGO, der im allgemeinen nur summarisch geprüft wird, beseitigt nicht das Rechtsschutzinteresse für eine gerichtliche Hauptsacheentscheidung. Auch zielte der Eilantrag lediglich auf die Verhinderung aufenthaltsbeendender Maßnahmen, jedoch nicht auf die Ausübung des Selbsteintrittsrechts oder gar die Zuerkennung materieller Schutzpositionen.
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Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts.
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Nach der Dublin II VO ist Griechenland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, da der Kläger dessen Landgrenze illegal überschritten hat. Nach Art. 5 Abs. 1 Dublin II VO vorrangig zu prüfende Kriterien sind nicht erfüllt. Insbesondere stellt die dem Kläger erteilte Aufenthaltsgestattung keinen Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 lit. j) Dublin II VO dar. Das Aufnahmeersuchen an Griechenland wurde innerhalb von drei Monaten nach Einreichung des Asylantrags gestellt (Art. 17 Abs. 1 Dublin II VO). Innerhalb der Zwei-Monats-Frist des Art. 18 Abs. 1 Dublin II VO erging keine Antwort Griechenlands, so dass es nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II VO zuständig wurde. Die Überstellungsfrist des Art. 19 Abs. 4 Dublin II VO ist noch nicht abgelaufen.
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Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II VO kann abweichend von Absatz 1 – wonach der Antrag von dem nach Kapitel III der Verordnung zuständigen Mitgliedstaat geprüft wird – „jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist“. Dadurch wird er „zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen“ (Satz 2).
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Die Vorschrift richtet sich ihrem Wortlaut nach an die Mitgliedstaaten, wobei nach Auffassung der Kommission politische, humanitäre oder praktische Erwägungen zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts führen können (Schröder, Die EU-Verordnung zur Bestimmung des zuständigen Asylstaats, ZAR 2003, S. 126 [128 und 131]). Humanitäre Erwägungen sind dabei nach Auffassung der Kammer auch und insbesondere solche, die auf die Folgen einer Rückführung für den Asylbewerber abstellen. Jedenfalls soweit (gewichtige) derartige Umstände vorgetragen werden oder der Beklagten bekannt sind, besteht ein Anspruch des Asylbewerbers auf deren Berücksichtigung (weitergehend Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar, Stand Oktober 2009, § 27a AsylVfG Rn. 134 m.w.N.; Hruschka, Humanitäre Lösungen in Dublin-Verfahren, Asylmagazin 2009, S. 5 [9 f.]).
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Der Kläger hat keine Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts geltend gemacht, die allein ihn betreffen. Solche sind auch nicht ersichtlich. Die Kammer geht jedoch aufgrund der ihr vorliegenden und ins Verfahren eingeführten bzw. der Beklagten bekannten Erkenntnismittel davon aus, dass der Kläger im Falle einer Abschiebung nach Griechenland nicht in der Lage wäre, ein Asylverfahren unter Wahrung allgemeiner Mindeststandards zu durchlaufen.
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Diese Einschätzung stützt sich insbesondere auf den Bericht des schweizerischen Bundesamtes für Migration „Focus Griechenland – Asylsystem“ vom 23.09.2009. Danach werden sogenannte Dublin-Rückkehrer zwar gegenüber anderen Asylbewerbern besser behandelt, als sie direkten Zugang zum Asylverfahren hätten und ihnen eine Rosa Karte ausgestellt werde. Zugleich aber würden die Anhörungen am Flughafen Athen oft nicht sachgerecht durchgeführt, da meist unqualifizierte Sprachmittler statt ausgebildete Dolmetscher eingesetzt würden, die Anhörungen nur drei bis vier Minuten dauerten und es keine Rückübersetzungen gebe. Häufiger fänden überhaupt keine Anhörungen statt, stattdessen müssten die Rückkehrenden in einem Formular auf fünf Zeilen in ihrer eigenen Sprache beschreiben, warum sie nach Griechenland gekommen seien. Dublin-Rückkehrer würden zudem bei der Unterkunftssuche nicht bevorzugt behandelt, blieben deshalb obdachlos und wären gar nicht in der Lage, eine Adresse zu registrieren (S. 10, 15). Ohne Registrierung eines Wohnsitzes droht jedoch die öffentliche Zustellung einer (zumeist ablehnenden) Entscheidung, von der in der Regel nicht innerhalb der Rechtsbehelfsfristen Kenntnis erlangt wird (Pro Asyl, Zur aktuellen Situation von Asylsuchenden in Griechenland, Stellungnahme vom 19.02.2009, S. 28).
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Das Risiko der Obdachlosigkeit wird von der Kammer als äußerst groß eingestuft, da nur rund 900 Aufnahmeplätze für jährlich rund 25.000 Asylbewerber bereitstünden (S. 7) und zudem im Sommer 2009 ein Flüchtlingslager abgerissen worden sei (S. 10). Wenn daher die Möglichkeit, bei Bedarf Unterkunft zu beanspruchen, im Ergebnis leerläuft, dürfte dies auch für die Möglichkeit gelten, Verpflegung und medizinische Versorgung zu beanspruchen. Insoweit heißt es in dem Bericht, dass die Deckung der materiellen Grundbedürfnisse für Asylsuchende in Griechenland nicht gewährleistet sei, die vorgesehenen Tagegelder bisher noch nicht ausbezahlt würden und der Zugang zum Gesundheitssystem nicht immer möglich sei. Personen, die nicht in den Aufnahmeeinrichtungen lebten, bekämen weder finanzielle Unterstützung noch Essen, Kleider oder andere Hilfe vom griechischen Staat. Die Kammer hält diese Ausführungen für glaubwürdig und überzeugend. Sie stammen von einer staatlichen Behörde, die selbst für die Durchführung von Asylverfahren zuständig ist, und entsprechen weiteren Erkenntnismitteln. Auch das Auswärtige Amt teilte dem VG Stuttgart mit Schreiben vom 14.07.2009 mit, dass Griechenland den Asylantragstellern nur in seltenen Fällen eine Unterkunft zuweise. Auch sei der jederzeitige Zugang zum Dienstgebäude der Ausländerbehörde nicht als gesichert anzusehen, da für 1.000 bis 2.000 Wartende nur 400 Plätze zur Verfügung stünden, von denen allerdings nach Auskunft des Behördenleiters 250 Plätze für prioritäre Fälle wie z.B. Dublin-Rückkehrer reserviert seien. Auch der Menschenrechtskommissar des Europarates kritisiert in seinem Bericht vom 04.02.2009 u.a. die mangelhafte Unterbringungssituation. Insbesondere aufgrund der beiden erstgenannten Stellungnahmen von Institutionen, die nicht im Verdacht stehen, primär die Interessen von Flüchtlingen im Blick zu haben, bedarf es keiner Auseinandersetzung mit dem Dienstreisebericht der Beklagten vom letzten Dezember und der daran von Nichtregierungsorganisationen geübten Kritik (vgl. Pro Asyl, Stellungnahme vom 19.02.2009).
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Die Prüfung der Verhältnisse in Griechenland ist trotz Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG und des darin zum Ausdruck kommenden Konzepts der normativen Vergewisserung möglich. Zwar gilt Griechenland kraft Verfassung als sicherer Drittstaat. Nicht von Bedeutung ist dabei, ob und in welchem Maße EU-Richtlinien zur Harmonisierung des Asylrechts von Griechenland rechtlich umgesetzt worden sind und tatsächlich beachtet werden. Art. 16a Abs. 2 GG und die Erklärung Griechenlands zum sicheren Drittstaat wurden vom Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 14.05.1996 (2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93; BVerfGE 94, 49) nicht für verfassungswidrig gehalten, obwohl eine Harmonisierung damals „noch in den Anfängen“ stand (S. 89). Es ist grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Beklagte dieser Einschätzung des verfassungsändernden Gesetzgebers (weiterhin) folgt, obwohl mittlerweile die Harmonisierung des Asylrechts auf Ebene der Europäischen Union vorangeschritten ist.
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Dem Konzept der normativen Vergewisserung sind jedoch Grenzen gesetzt, wie auch das Bundesverfassungsgericht anerkannt hat. Außerhalb dieser Grenzen liegt etwa der Fall, dass „sich die für die Qualifizierung als sicher maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26a Abs. 3 AsylVfG hierauf noch aussteht“. Auch in seiner einstweiligen Anordnung vom 08.09.2009 (2 BvQ 56/09) hält das Bundesverfassungsgericht Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung auch bezogen auf Staaten, die kraft Verfassung sichere Drittstaaten sind, für möglich. Die Missstände in Griechenland haben nach Auffassung der Kammer ein Ausmaß erreicht, das eine Reaktion des Gemeinschaftsgesetzgebers nach sich ziehen muss. Die Europäische Kommission hat daher auch vorgeschlagen, die Dublin II VO dahin zu ändern, dass ein Mitgliedstaat bei einem unerwartet hohen Aufkommen von Asylbewerbern das Dublinsystem vorübergehend aussetzen könne (vgl. Europäische Asylpolitik, Gemeinsame Stellungnahme zum derzeitigen Stand der Harmonisierung des europäischen Flüchtlingsrechts, Amnesty Asyl-Info 2009, S. 17, 26). Auch wurde Griechenland wegen „unhaltbarer Zustände“ in seinen Flüchtlingslagern von den EU-Innenministern kritisiert (NZZ online, Nachricht 21.09.2009, Streit über Flüchtlingspolitik in Europa spitzt sich zu, http://www.nzz.ch/nachrichten/international/ eu_fluechtlinge_1.3625121.html).
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Die Situation ist daher mit der vom BVerfG als Ausnahme umschriebenen vergleichbar, dass eine schlagartige (oder jedenfalls massive) Änderung der Situation eingetreten ist und eine beabsichtigte Änderung der Rechtslage von den zuständigen Organen noch nicht umgesetzt worden ist. Eine Aussetzung der Dublin II VO auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene hätte aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts schon unabhängig von Art. 16a Abs. 5 GG auch zur Folge, dass der Ausschlussgrund des Abs. 2 Satz 1 nicht einschlägig wäre.
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Die Beklagte ist daher aufgrund der Ausnahmesituation verpflichtet, bei ihrer Ermessensentscheidung nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO trotz der normativen Vergewisserung die tatsächlichen Verhältnisse in Griechenland zu berücksichtigen. Aufgrund der weit überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger dort kein Asylverfahren unter Erfüllung der elementaren Lebensbedürfnisse wird durchführen können, ist das Ermessen auch auf Null reduziert, d.h. die Beklagte ist verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht zugunsten des Klägers Gebrauch zu machen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG. Das Gericht macht von der Möglichkeit, das Urteil bezüglich der Kosten für vorläufig vollstreckbar zu erklären, keinen Gebrauch (§ 167 Abs. 2 VwGO).
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