Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Urteil, 18. Aug. 2011 - 21/10

bei uns veröffentlicht am18.08.2011

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Die Entscheidung ergeht kostenfrei. Auslagen werden nicht erstattet.

Gründe

A.

1

Die fünf beschwerdeführenden Landkreise wenden sich gegen die mit dem Gesetz zur Schaffung zukunftsfähiger Strukturen der Landkreise und kreisfreien Städte des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Kreisstrukturgesetz) vom 12. Juli 2010 (GVOBl. M-V S. 366) beschlossene Kreisstrukturreform. Nach diesem Gesetz werden mit Ablauf des 03. September 2011 die bisherigen zwölf Landkreise aufgelöst. Aus ihnen werden mit Wirkung zum 04. September 2011 sechs neue Kreise gebildet, in die von den sechs kreisfreien Städten die Hansestädte Greifswald, Stralsund, Wismar und die Stadt Neubrandenburg eingegliedert werden, während die Hansestadt Rostock und die Landeshauptstadt Schwerin kreisfrei bleiben.

I.

2

1. Die Historie der Verwaltungsstrukturen auf Kreisebene seit der Neubildung des Landes Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 1990 stellt sich wie folgt dar:

3

Nach der Wiedervereinigung 1990 blieb es zunächst bei den Kreisstrukturen der Deutschen Demokratischen Republik, nämlich den 31 Land- und sechs Stadtkreisen. Das Gesetz zur Neuordnung der Landkreise und kreisfreien Städte des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Landkreisneuordnungsgesetz) vom 01. Juli 1993 (GVOBl. M-V S. 631), in Kraft getreten 1994, reduzierte die Zahl der Landkreise auf zwölf; die sechs kreisfreien Städte blieben ohne Änderung ihres Gebietsbestandes erhalten. Die Reform orientierte sich an einer Regeleinwohnerzahl von mindestens 100.000; obwohl grundsätzlich nur Oberzentren ab 100.000 Einwohnern kreisfrei bleiben sollten (vgl. LT-Drs. 1/2681), behielten diesen Status auch die kreisfreien Städte mit weniger Einwohnern.

4

Mit dem Gesetz zur Modernisierung der Verwaltung des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Verwaltungsmodernisierungsgesetz) vom 23. Mai 2006 (GVOBl. M-V S. 194) sollte die Anzahl der Landkreise von zwölf auf fünf verringert werden, in welche alle sechs kreisfreien Städte eingegliedert werden sollten. Diese neuen Landkreise hätten Flächenausdehnungen zwischen 3.182 und 6.997 km2 und zum Stand 30. Juni 2004 Einwohnerzahlen zwischen 244.092 und 498.372 aufgewiesen.

5

Mit Urteil vom 26. Juli 2007 (- LVerfG 9/06 bis 17/06 -, LVerfGE 18, 342) erklärte das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern die Vorschriften des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes über die Kreisgebietsreform für mit Art. 72 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern - LV - unvereinbar. Maßgeblich hierfür war, dass das Gericht die Bildung von fünf Großkreisen derartigen Zuschnitts unter dem Blickwinkel der bürgerschaftlich-demokratisch geprägten Selbstverwaltung für problematisch erachtete und der Gesetzgeber keine schonenderen Alternativen in seine Abwägung einbezogen hatte.

6

2. Die Landesregierung nahm unmittelbar danach die Vorarbeiten für eine neue Reform auf und unterrichtete im November 2007 den Landtag über "Ziele, Leitbild und Leitlinien" für eine Kreisgebietsreform (LT-Drs. 5/1059). Der Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung" zum Leitbild der Landesregierung vom 27. März 2008 empfahl einzelne Änderungen und die Ergänzung um die Entschließung „Gesamtrahmen für die umfassende Verwaltungsmodernisierung in Mecklenburg-Vorpommern" (LT-Drs. 5/1380 neu). Mit Beschluss vom 24. April 2008 machte sich der Landtag das Leitbild der Landesregierung mit den von der Enquete-Kommission vorgeschlagenen Änderungen und Ergänzungen als „Ziele, Leitbild und Leitlinien des Landtages für eine Kreisgebietsreform" zu eigen (entsprechend LT-Drs. 5/1409).

7

Danach sei die Kreisgebietsreform Teil des Gesamtrahmens für eine umfassende Verwaltungsmodernisierung, die auch eine Funktionalreform sowie die Weiterentwicklung der Gemeinde- und Ämterstrukturen beinhalte. Der Reformbedarf ergebe sich aus dem abzusehenden demographischen Wandel sowie der erforderlichen Konsolidierung des Landeshaushaltes und der kommunalen Haushalte. Die gesetzlichen Regelungen über die Funktionalreform und über die Kreisgebietsreform sollten zusammen erarbeitet werden und zeitgleich in Kraft treten. Mit der Kreisgebietsreform sollten Strukturen geschaffen werden, mit denen im Hinblick auf die prognostizierte Bevölkerungsentwicklung die Verwaltungen auf Dauer wirtschaftlich betrieben werden könnten und die über einen räumlichen Zuschnitt verfügten, der die Ausübung eines ehrenamtlichen Mandats auch weiterhin ermögliche.

8

In den für die Umsetzung des Leitbildes aufgestellten Leitlinien wird zur Flächenausdehnung der zukünftigen Landkreise u.a. ausgeführt, dass sie die Zielgröße von 4.000 km2 in der Regel nicht überschreiten sollten, um die Überschaubarkeit und die Kenntnis der regionalen Belange zu gewährleisten. Bei diesen Festlegungen handele es sich letztlich weniger um rechnerisch-empirisch ermittelte Größen, sondern im Kern um wertende gesetzgeberische Entscheidungen.

9

Zur Einwohnerzahl heißt es, Untersuchungen hätten gezeigt, dass in den Landkreisen die Verwaltungskosten je Einwohner mit zunehmender Einwohnerzahl sänken. Deswegen und im Hinblick darauf, dass Mecklenburg-Vorpommern das am dünnsten besiedelte Flächenland der Bundesrepublik sei, würden als untere Zielgröße für die Landkreise 175.000 Einwohner festgelegt, bezogen auf Prognosen für das Jahr 2020.

10

Abweichungen von den Zielgrößen müssten in jedem Einzelfall zwar die regionalen und örtlichen Gegebenheiten berücksichtigen, jedoch den Anforderungen an die Leistungsfähigkeit eines Landkreises gerecht werden.

11

Die betroffenen Landkreise sollten aufgelöst und zu neuen Kreisen zusammengeschlossen werden, um ein gleichberechtigtes Zusammenwachsen zu gewährleisten; kein Landkreis solle in einen bisherigen Kreis aufgenommen werden. Soweit die allgemeinen Ziele es zuließen, sollten die von der Neugliederung betroffenen Gebietskörperschaften möglichst vollständig in der neuen Struktur aufgehen. Die aufgeführten Kriterien seien mit ihrer jeweiligen Bedeutung und unter Berücksichtigung der Unterschiede im Land in jedem Einzelfall, insbesondere hinsichtlich der Bevölkerungsdichte und der Siedlungsstrukturen, in die Abwägung über eine tragfähige Neuordnung der Kreisstruktur zusammenzuführen, wobei die Kreisstruktur im Ergebnis aber doch eine gewisse Homogenität in den Grundstrukturen aufweisen müsse.

12

3. Im April 2008 gab der Innenminister den Landkreisen, den kreisfreien Städten, den amtsangehörigen und den amtsfreien Gemeinden sowie den Ämtern Gelegenheit, bis zum 27. Juni 2008 Vorschläge zur Umsetzung einer leitbildgerechten Reform zu unterbreiten. Nachrichtlich informierte er den Städte- und Gemeindetag und den Landkreistag Mecklenburg-Vorpommern entsprechend. Am 24. Juni 2008 stellte er der Öffentlichkeit 13 verschiedene Modelle einer Kreisstrukturreform mit unterschiedlichen Gebietszuschnitten vor und gab den kommunalen Körperschaften und Verbänden Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Modelle bewegten sich in einem Bereich zwischen sechs Landkreisen und einer kreisfreien Stadt (6+1) sowie acht Landkreisen und zwei kreisfreien Städten (8+2).

13

4. Das Innenministerium führte im Februar/März 2009 eine Anhörung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Schaffung zukunftsfähiger Strukturen der Landkreise und kreisfreien Städte des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Kreisstrukturgesetz) durch. Alle Landkreise, kreisfreien Städte sowie die 34 amtsfreien Gemeinden, 79 Ämter und 807 amtsangehörigen Gemeinden erhielten ebenso wie 138 Verbände und Körperschaften Gelegenheit zur Stellungnahme. Am 8. Juli 2009 leitete die Landesregierung dem Landtag dann einen Gesetzentwurf zu (LT-Drs. 5/2683).

14

a) Dessen Art. 1 beinhaltete das Gesetz zur Neuordnung der Landkreise und kreisfreien Städte des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Landkreisneuordnungsgesetz - LNOG M-V), das in § 1 Abs. 1 die Auflösung der bisherigen Landkreise und in § 2 Abs. 1 die Bildung von sechs neuen Landkreisen, teilweise unter Eingliederung bisher kreisfreier Städte, anordnete. Nach § 2 Abs. 2 LNOG M-V sollten die künftigen Kreissitze durch Bürgerentscheid festgelegt werden. Der Zuschnitt der neuen Landkreise war in den §§ 3 bis 8 LNOG M-V wie folgt geregelt:

15

§ 3 Landkreis Nordwestmecklenburg
(1) Es wird ein Landkreis mit der vorläufigen Bezeichnung Nordwestmecklenburg gebildet.
(2) Ihm gehören folgende Gemeinden an:
1. die Gemeinden des bisherigen Landkreises Nordwestmecklenburg,
2. die bisher kreisfreie Stadt Wismar.

16

§ 4 Landkreis Mittleres Mecklenburg
(1) Es wird ein Landkreis mit der vorläufigen Bezeichnung Mittleres Mecklenburg gebildet.
(2) Ihm gehören folgende Gemeinden an:
1. die Gemeinden des bisherigen Landkreises Bad Doberan,
2. die Gemeinden des bisherigen Landkreises Güstrow.

17

§ 5 Landkreis Nordvorpommern
(1) Es wird ein Landkreis mit der vorläufigen Bezeichnung Nordvorpommern gebildet.
(2) Ihm gehören folgende Gemeinden an:
1. die Gemeinden des bisherigen Landkreises Nordvorpommern,
2. die Gemeinden des bisherigen Landkreises Rügen,
3. die bisher kreisfreie Stadt Stralsund.

18

§ 6 Landkreis Südvorpommern
(1) Es wird ein Landkreis mit der vorläufigen Bezeichnung Südvorpommern gebildet.
(2) Ihm gehören folgende Gemeinden an:
1. die Gemeinden des bisherigen Landkreises Ostvorpommern,
2. die Gemeinden des bisherigen Landkreises Uecker-Randow,
3. die zum bisherigen Landkreis Demmin gehörenden Mitgliedsgemeinden der Ämter Demmin-Land, Jarmen-Tutow und Peenetal/Loitz sowie die zum bisherigen Landkreis Demmin gehörende Hansestadt Demmin,
4. die bisher kreisfreie Stadt Greifswald.

19

§ 7 Landkreis Mecklenburgische Seenplatte
(1) Es wird ein Landkreis mit der vorläufigen Bezeichnung Mecklenburgische Seenplatte gebildet.
(2) Ihm gehören folgende Gemeinden an:
1. die Gemeinden des bisherigen Landkreises Mecklenburg-Strelitz,
2. die Gemeinden des bisherigen Landkreises Müritz,
3. die zum bisherigen Landkreis Demmin gehörenden Mitgliedsgemeinden der Ämter Malchin am Kummerower See, Stavenhagen und Treptower Tollensewinkel sowie die zum bisherigen Landkreis Demmin gehörende Stadt Dargun,
4. die bisher kreisfreie Stadt Neubrandenburg.

20

§ 8 Landkreis Südwestmecklenburg
(1) Es wird ein Landkreis mit der vorläufigen Bezeichnung Südwestmecklenburg gebildet.
(2) Ihm gehören folgende Gemeinden an:
1. die Gemeinden des bisherigen Landkreises Ludwigslust,
2. die Gemeinden des bisherigen Landkreises Parchim.

21

Der Gesetzentwurf ging für diese neuen Kreise von folgenden Flächenausdehnungen und prognostiziert auf den 31. Dezember 2020 - von folgenden Einwohnerzahlen aus:

22

Nordwestmecklenburg

       

2.118 km2

       

158.375 Einwohner

Mittleres Mecklenburg

3.421 km2

198.446 Einwohner

Nordvorpommern

3.190 km2

214.408 Einwohner

Südvorpommern

4.369 km2

250.051 Einwohner

 Mecklenburgische Seenplatte

 5.028 km2

 221.387 Einwohner

Südwestmecklenburg

4.751 km2

201.901 Einwohner

23

Weiter sah der Gesetzentwurf in seinem Art. 1 u.a. folgende Regelungen vor:

24

Nach § 9 LNOG M-V sollten einzelne Gemeinden bis zum 31. Dezember 2010 beim Innenministerium beantragen können, einem anderen der nach §§ 3 bis 8 LNOG M-V zu bildenden Landkreise zugeordnet zu werden.

25

Nach § 12 Abs. 1 Satz 2 LNOG M-V sollten hinsichtlich der Auseinandersetzung zwischen Landkreisen und eingekreisten Städten die für die künftige Aufgabenerfüllung erforderlichen Vermögensgegenstände gegen einen angemessenen Wertausgleich von den bisher kreisfreien Städten auf die neuen Landkreise übertragen werden.

26

§ 26 Abs. 2 und § 27 Abs. 2 i.V.m. § 28 LNOG M-V sahen zum Personalübergang der Beamten, Arbeitnehmer und Auszubildenden auch für den Fall der Aufteilung des Gebietes eines aufgelösten Landkreises auf mehrere neue Kreise vor, dass die Beschäftigten in den Dienst des zum Rechtsnachfolger des aufgelösten Kreises bestimmten Landkreises kraft Gesetzes eintreten. Dieser Kreis hatte mit dem weiteren von der Gebietsaufteilung betroffenen neuen Landkreis bis zum Ablauf des 30. Juni 2012 in einem Personalüberleitungsvertrag Regelungen zur anteiligen Überleitung der Beschäftigten zu treffen. Komme ein solcher Personalüberleitungsvertrag nicht fristgemäß zu Stande, werde er durch Verfügung des Innenministeriums ersetzt.

27

Art. 2 des Gesetzentwurfs wies unter Änderung der Kommunalverfassung - KV M-V - der Stadt Neubrandenburg sowie den Hansestädten Greifswald, Stralsund und Wismar den - neu geschaffenen - Status als so genannte große kreisangehörige Stadt zu und damit neben ihren Aufgaben als amtsfreie Gemeinden in ihrem Gebiet die Erfüllung der Aufgaben, die ihnen durch oder aufgrund eines Gesetzes zugewiesen werden.

28

Art. 3 des Gesetzentwurfs änderte das Kommunalwahlgesetz - KWG M-V - und legte die Anzahl der Kreistagsmitglieder in Landkreisen mit bis zu 175.000 Einwohnern auf 61 und in solchen mit mehr als 175.000 Einwohnern auf 69 fest; ihre Zahl sollte sich in mehr als 4.000 km2 großen Landkreisen jeweils um acht erhöhen.

29

Art. 6 des Gesetzentwurfs führte u.a. im Rahmen des Finanzausgleichs die so genannte differenzierte Kreisumlage ein.

30

Die Verordnung über die Entschädigung der in den Gemeinden, Landkreisen, Ämtern und Zweckverbänden ehrenamtlich Tätigen (Entschädigungsverordnung) sollte aufgehoben werden (Art. 9 des Entwurfs).

31

Art. 12 des Gesetzentwurfs regelte das Inkrafttreten in differenzierter Weise.

32

b) Nach dem Gesetzentwurf sollte die kreiskommunale Ebene durch die Schaffung von Verwaltungsstrukturen, die auch langfristig mit den voraussichtlich verfügbaren Mitteln finanzierbar und mit denen öffentliche Dienstleistungen für die Bürger sowie die Wirtschaft effizient zu erbringen seien, auf die Anforderungen der Zukunft ausgerichtet werden. Zugleich müsse auch in Zukunft die kommunale Selbstverwaltung so ausgestaltet sein, dass ein Engagement für die Bürger attraktiv bleibe und diese ihr kommunalpolitisches Ehrenamt auch weiterhin in zumutbarer Weise praktisch ausüben könnten.

33

Die allgemeine Begründung (S. 45 bis 116) stellte unter Hinweis auf den Rückgang der Wirtschaftsleistung und die Veränderung der Bevölkerungsstruktur durch den demographischen Wandel mit seinen Auswirkungen auf die Finanzierbarkeit des öffentlichen Sektors, das strukturelle Defizit des Landeshaushaltes und das Erfordernis der Anpassung der Haushaltsstruktur des Landes bis zum Jahre 2020 an diejenige westlicher Flächenländer unter strikter Begrenzung der laufenden Ausgaben ausführlich den Reformbedarf dar.

34

Sodann wurde auf die zahlreichen Probleme und deren Ursachen hinsichtlich der dauerhaften Sicherung des Finanzierungsbedarfs der Kommunen eingegangen; es ergebe sich aus der Verschuldung der Kommunalhaushalte und den erheblichen Defiziten ein Konsolidierungsbedarf, wobei die Möglichkeiten des Landes zur Unterstützung der Kommunen ausgeschöpft seien.

35

Dem Gesetzgeber obliege eine Vorsorgeverantwortung, die ihn berechtige, eine Kreisstrukturreform durchzuführen. Er habe Fehlentwicklungen möglichst frühzeitig zu korrigieren, schwerwiegenden Mängeln und Schäden entgegenzuwirken und das berechtigte Interesse der Bürger an effektiven und finanzierbaren öffentlichen Dienstleistungen zu befriedigen.

36

Insbesondere bezüglich der Flächenausdehnung und der Einwohnerzahl sei die Umsetzung von Leitbild und Leitlinien des Landtages gelungen, und zwar auch im Hinblick auf den grundsätzlichen Zielkonflikt bei der Schaffung von kreislichen Strukturen, die den Anforderungen des kommunalpolitischen Ehrenamtes gerecht würden und zugleich finanzierbar und effektiv seien. Dies bedinge in einem extrem dünn besiedelten Land wie Mecklenburg-Vorpommern im Sinne leistungsfähiger - und damit einwohnerstarker - Strukturen eher große Landkreise, zumal einwohnerstärkere Landkreise in aller Regel geringere Kosten verursachten als einwohnerschwächere.

37

Die Neustrukturierung der kreiskommunalen Ebene verbessere die Leistungsfähigkeit der Landkreise beträchtlich. Nach einer vorübergehenden Anpassungs- und Konsolidierungsphase ließen sich durch Synergie- und Skalierungseffekte Kostenreduzierungen in erheblichem Umfang realisieren. Die Höhe des Einsparvolumens könne im Vorfeld der Strukturreform allerdings nur grob eingeschätzt werden, denn die Landkreise hätten es ganz wesentlich selbst in der Hand, auf welche Weise und in welchem Umfang sie die durch die neuen Kreisstrukturen geschaffenen Einsparpotenziale ausschöpften. Unterschiedliche Schätzungen, Analysen und Gutachten prognostizierten ein jährliches Einsparpotenzial im Personalkostenbereich zwischen 40 und 100 Mio. Euro; der Landesrechnungshof gehe zudem davon aus, dass sich für den gesamten Bereich der Verwaltungs- und Betriebsaufwendungen der Kreisverwaltungen mittelfristig Einsparungen von rund 50 bis 75 Mio. Euro erzielen ließen.

38

Die Flächen der neu gebildeten Landkreise seien - was unter Bezugnahme auf eingeholte Gutachten, denen keine empirischen Belege zu entnehmen seien, dass die Bereitschaft zu einer Kandidatur für den Kreistag mit zunehmender Fläche der Landkreise abnehme, und die derzeitige Arbeitsweise in den Kreistagen näher ausgeführt wird - mit den aus der Verfassung folgenden Anforderungen des kommunalen Ehrenamtes vereinbar. Die in Betracht kommenden Kreissitze ermöglichten es der Kreisbevölkerung und den ehrenamtlichen Tätigen, den Kreissitz innerhalb angemessener Zeit zu erreichen. Die im zeitgleich vorgesehenen Funktionalreformgesetz gewährten erweiterten Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten vergrößerten das Gewicht der Mandatsausübung, deren eventuelle Erschwernisse durch die erheblichen Einsparungen, die den Landkreisen gerade auch neue finanzielle Spielräume eröffneten, kompensiert würden. Auch Kreisgrößen von deutlich über 4.000 km2 seien verfassungsrechtlich zulässig.

39

In der Abwägung mit denkbaren Alternativen sei die Beibehaltung der bisherigen Kreisstrukturen auf Dauer nicht geeignet, den Fortbestand einer kraftvollen Selbstverwaltung sicherzustellen, was auch für jeden möglichen Kreiszuschnitt mit mehr als sieben Landkreisen gelte. Insbesondere das so genannte Verbandsmodell führe zu einem erheblichen Personalmehrbedarf sowie neuen Doppelzuständigkeiten mit im einzelnen unklaren Zuständigkeitsabgrenzungen; dies sei nicht nur ineffizient, sondern schwäche durch entstehende Kontroll- und Demokratiedefizite auch das Ehrenamt. Eine die Ziele des Leitbildes am ehesten berücksichtigende Struktur mit sieben Landkreisen würde sich von dem vorgeschlagenen Modell mit sechs Landkreisen vor allem im Bereich der Seenplatte unterscheiden und führe dort zu dem für die Abwägung entscheidenden Nachteil, dass gerade in einer dünn besiedelten und strukturschwachen Region Landkreise geschaffen würden, die mit ihren Einwohnerzahlen deutlich unterhalb der Vorgabe des Leitbildes des Landtages lägen. Letztlich komme auch das Modell eines Stadtkreises nicht in Betracht.

40

Das dem Gesetzentwurf zugrunde liegende 6+2-Modell sei unter den Gesichtspunkten einer Sicherung der Wirtschaftlichkeit und des Ehrenamtes sowie der Sicherstellung größtmöglicher Akzeptanz unter den Kommunen das einzig geeignete. Jedes andere Kreismodell einschließlich des bestehenden sei unter mindestens einem der genannten Aspekte schlechter zu bewerten gewesen.

41

In der Einzelbegründung (S. 116 bis 203) wird zu § 3 LNOG M-V (Landkreis Nordwestmecklenburg) ausgeführt, die mit der recht geringen Unterschreitung der Zieleinwohnerzahl einhergehenden Einbußen bei der Leistungsfähigkeit des Landkreises seien nicht so gravierend, als dass sie nicht durch die im Landesvergleich positive wirtschaftliche Situation dieser Region kompensiert werden könnten. Auch die im Landesvergleich mit Abstand höchste Bevölkerungsdichte beeinflusse die Leistungsfähigkeit des vorgesehenen Landkreises günstig.

42

Die Überschreitung des Flächenrichtwertes im Falle der Landkreise Mecklenburgische Seenplatte und Südwestmecklenburg (§§ 7 und 8 LNOG M-V) erscheine hinnehmbar, weil es im Zuge der Erarbeitung des Gesetzentwurfs keine Anhaltspunkte dafür gegeben habe, dass die Belastung für das Ehrenamt bei Kreisgrößen über 4.000 km2 sprunghaft ansteigen würde und damit ein Ausmaß erreichen könnte, das mit ehrenamtlicher Mandatsausübung nicht mehr vereinbar wäre. Mit der Flächenüberschreitung beim Landkreis Mecklenburgische Seenplatte werde Zuordnungswünschen einzelner Ämter Rechnung getragen, denen als Belange des öffentlichen Wohls ein höheres Gewicht beigemessen worden sei als der Einhaltung der Grenze von 4.000 km2. Ein sehr großer Anteil des Landkreisgebiets bestehe zudem aus Wasser- und Waldflächen, die zwar zu gewissen Erschwernissen in der Erreichbarkeit der möglichen Kreissitze führten, aber insbesondere für die ehrenamtliche Verwaltung des Landkreises - jedenfalls im Vergleich zu besiedelten Flächen - kaum relevant seien; zudem verfüge der vorgesehene Landkreis mit einer fast identischen Nord-Süd- und Ost-West-Ausdehnung über eine nahezu idealtypische Form und es gebe keine größeren Ein- bzw. Ausbuchtungen des Kreisgebietes oder Insellagen.

43

Die Änderung des Kommunalwahlgesetzes in Art. 3 des Gesetzentwurfs stelle sich sowohl hinsichtlich der Höhe der Repräsentationsquoten als auch bezüglich ihrer Spannweite im bundesweiten Vergleich als äußerst bürger- und ehrenamtsfreundlich dar.

44

Mit den vorgesehenen Änderungen des Finanzausgleichsgesetzes in Art. 6 des Gesetzentwurfs werde den unbedingt notwendigen Folgeanpassungen, die durch die Einkreisung der Städte Greifswald, Neubrandenburg, Stralsund und Wismar sowie deren neuen Status als große kreisangehörige Städte bedingt seien, Rechnung getragen. Die differenzierte Kreisumlage ermögliche eine lastengerechte Heranziehung der kreisangehörigen Gemeinden zur Finanzierung des Kreishaushalts entsprechend der Aufgabenverteilung.

45

Die Aufhebung der Entschädigungsverordnung (Art. 9 des Entwurfs) stärke die kommunale Selbstverwaltung, weil so die Entschädigungen vor Ort an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden könnten.

46

Dem Gesetzentwurf waren umfangreiche Anlagen beigefügt, so u.a. Übersichten über Untersuchungen zu den Reisezeiten zu alternativen Kreissitzen in den jeweiligen neuen Landkreisen (Anlage 22) bezogen auf verschiedene Zeitkategorien für prozentuale Bevölkerungsanteile (Basis Einwohnerzahlen zum 31. Dezember 2007).

47

5. Der Innenausschuss des Landtages beteiligte im Rahmen einer schriftlichen Anhörung neben den zwölf Kreisen und sechs kreisfreien Städten 35 amtsfreie Gemeinden, 78 Ämter sowie 777 amtsangehörige Städte und Gemeinden sowie 144 Verbände und Organisationen sowie einen Hochschullehrer (vgl. Zwischenbericht in LT-Drs. 5/2987). Im Dezember 2009 und im Mai 2010 hörte er auf der Grundlage eines Fragenkatalogs neben den betroffenen kommunalen Körperschaften auch 147 Sachverständige an.

48

Nach der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Innenausschusses vom 29. Juni 2010 (LT-Drs. 5/3599), der die wesentlichen Aussagen, allgemeinen Einschätzungen und Kritikpunkte aus den schriftlichen und mündlichen Anhörungen darstellt (S. 81 bis 173), sollten u.a. § 6 und § 7 LNOG M-V geändert und die Gemeinden des Amtes Demmin-Land und die Hansestadt Demmin dem Landkreis Mecklenburgische Seenplatte (anstatt dem Landkreis Südvorpommern) zugeordnet werden. Zwar vergrößere sich dadurch die Fläche des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte um 441 km2 auf 5.469 km2, dies sei angesichts des Zuordnungswunsches der Kommunen aber hinzunehmen.

49

Die Beschlussempfehlung spricht sich zudem dafür aus, den Personalübergang auch für die Beschäftigten von aufgeteilten Landkreisen mit dem Tag der Bildung der neuen Landkreise kraft Gesetzes wirksam werden zu lassen (§ 26 Abs. 2, § 27 Abs. 2 und § 28 LNOG M-V). Eine Personalüberleitung mittels Vereinbarung sollte danach nur noch bis zu diesem Zeitpunkt möglich sein. Weiter empfahl der Innenausschuss, die Entschädigungsverordnung (Art. 9) nicht aufzuheben.

50

6. Am 07. Juli 2010 beschloss der Landtag das Kreisstrukturgesetz in der Fassung des Gesetzentwurfs der Landesregierung (LT-Drs. 5/2683) mit den in der Beschlussempfehlung des Innenausschusses (LT-Drs. 5/3599) vorgesehenen Änderungen. Das Gesetz legt nunmehr die Sitze der neuen Landkreise selbst fest, räumt aber den Kreistagen die Möglichkeit ein, spätestens in der zweiten Sitzung einen zum Kreisgebiet gehörenden bisherigen Kreissitz oder eine bisher kreisfreie Stadt als Landkreissitz festzulegen (§ 2 Abs. 1 Satz 2 LNOG).

51

Am selben Tag verabschiedete er auch das Gesetz über die Zuordnung von Aufgaben im Rahmen der Landkreisneuordnung, ebenfalls in der Fassung des entsprechenden Gesetzentwurfs der Landesregierung (LT-Drs. 5/2684) mit den in der Beschlussempfehlung des Innenausschusses (LT-Drs. 5/3600) vorgesehenen Änderungen. Das davon umfasste Gesetz über die Zuordnung von Aufgaben (Aufgabenzuordnungsgesetz - AufgZuordG M-V) sieht im ersten Teil ("Funktionalreform I") den Übergang von Aufgaben aus den Geschäftsbereichen oberster Landesbehörden auf die Landkreise und kreisfreien Städte, vereinzelt auch auf andere Aufgabenträger vor, teilweise in den eigenen, teilweise in den übertragenen Wirkungskreis oder zur Erledigung im Wege einer Organleihe.

52

Das Kreisstrukturgesetz wurde am 28. Juli 2010 verkündet (GVOBl. M-V S. 366), ebenso das Gesetz über die Zuordnung von Aufgaben im Rahmen der Landkreisneuordnung (GVOBl. M-V S. 383).

II.

53

Mit ihrer am 1. Dezember 2010 erhobenen kommunalen Verfassungsbeschwerde wenden sich die Beschwerdeführer mit ihrem Hauptantrag gegen Art. 1 § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 und §§ 5 bis 8, mit einem Hilfsantrag gegen Art. 1 § 12 Abs. 1 Satz 2 und § 26 Abs. 2, § 27 Abs. 2 und § 28 sowie Art. 6 Nr. 5 Buchst. a und ferner äußerst hilfsweise gegen Art. 11 Abs. 2 und 3 des Kreisstrukturgesetzes. Die angegriffenen Vorschriften verletzten sie in ihrem Selbstverwaltungsrecht aus Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV.

54

Jedenfalls § 7 LNOG M-V sei verfassungswidrig, weil der danach vorgesehene Zuschnitt des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte im Hinblick auf seine Fläche und die Anzahl der ihm angehörenden Gemeinden im Vergleich zu im Bundesgebiet vorzufindenden Landkreisen bzw. sogar zu den Flächenausdehnungen einzelner Bundesländer (etwa Saarland oder Schleswig-Holstein) nicht mehr das Gepräge einer kommunalen Gebietskörperschaft im Sinne von Art. 72 Abs. 1 LV aufweise.

55

Insgesamt beruhe das Kreisstrukturgesetz auf einer unzureichenden Anhörung, weil tatsächlich von einer Mehrfachneugliederung auszugehen sei; deswegen habe das Ergebnis der abgegebenen Stellungnahmen nicht in der gebotenen Weise Eingang in die gesetzgeberische Abwägung gefunden. Der Innenausschuss habe diese Stellungnahmen - wie auch sonst - lediglich umfangreich dokumentiert, ohne sie inhaltlich zu werten. Entsprechendes gelte für die Erstellung des Gesetzentwurfs.

56

Schon die in der DDR geschaffenen 31 Landkreise, die mit kleineren Änderungen nach 1990 im Gebiet des jetzigen Landes Mecklenburg-Vorpommern fortbestanden hätten, hätten das Recht zur Selbstverwaltung gehabt. Die Kreisgebietsreform 1993/94 habe kommunale Selbstverwaltungskörperschaften nicht erstmals geschaffen, sondern der weiteren Entwicklung der Kreisebene gedient. Auch wenn die Kreisneuordnung 1993/94 in einer Zeit des Umbruchs erfolgt sei, müsste sich eine erneute Reform, die sich auf zwischenzeitlich geänderte Zielvorstellungen und Prioritäten stütze, an den in Rechtsprechung und Literatur aufgestellten Voraussetzungen für eine Mehrfachneugliederung messen lassen.

57

Die Kreisgebietsreform diene nicht dem öffentlichen Wohl. Sämtliche Ausführungen zum Reformbedarf beruhten auf der generalisierenden Überlegung, dass die demographische und finanzielle Entwicklung im Land eine Verwaltungsstrukturreform erfordere. Noch im Jahr 2002 bei sich verschärfender Haushaltslage der Kommunen sei die Landesregierung aber von einer funktionierenden Kreisebene ausgegangen; deren Finanzsituation habe sich seit 2005 zudem wieder verbessert.

58

Der Reformbedarf werde durchgehend für das ganze Land begründet, ohne darzustellen, was die Situation der Landkreise und kreisfreien Städte von derjenigen des Landes und der Gemeinden, Städte und Ämter im kreisangehörigen Raum unterscheide. Ein Handlungsbedarf als Ergebnis einer Defizitanalyse nur oder überhaupt auf der Ebene der Landkreise lasse sich nicht erkennen. Die einzelnen Elemente einer Verwaltungsstrukturreform würden nicht im Zusammenhang entwickelt. Insbesondere eine Reform des kreisangehörigen Raumes sei derzeit nicht geplant. Nur bei einer umfassenden Gesamtreform aber hätte auf eine so genannte Defizitanalyse verzichtet werden dürfen. Somit müsse die Reform der Kreisgebietsebene gegenüber der zuletzt durchgeführten Reform individuell und mit Blick auf den Bestandsschutz der bisherigen Landkreise begründet werden, was aber nicht geschehen sei.

59

Die Möglichkeit zu bürgerschaftlich-demokratischer Partizipation, die für die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung konstitutiv sei, sei nicht hinreichend gewährleistet. Die Betonung der empirischen Feststellung, dass auch in größeren Einheiten Bereitschaft zum Ehrenamt bestehe, vernachlässige den Aspekt der räumlichen Überschaubarkeit aller Aufgaben des kreiskommunalen Raums. Die vom Gesetzgeber selbst erkannten Erschwernisse für die Ausübung ehrenamtlicher Tätigkeit könne nicht durch die Übertragung zusätzlicher Aufgaben ausgeglichen werden. Abgesehen davon begründe das Aufgabenzuordnungsgesetz letztlich kaum weitergehende Kompetenzen der Kreistage im eigenen Wirkungskreis.

60

Die Repräsentationsquote in den einzelnen Kreistagen werde verschlechtert und die Vertretung des ländlichen Raums in den Kreisen, die eine bisher kreisfreie Stadt integrierten, geschwächt. Die mit der Flächengröße ansteigende Belastung für die ehrenamtlichen Kreistagspräsidenten und Fraktionsvorsitzenden, deren Funktionen einer Erleichterung durch Regionalisierung und Spezialisierung nicht zugänglich seien, sei unberücksichtigt geblieben.

61

Der Sachverhalt sei nicht vollständig ermittelt worden, weil entsprechende Aussagen nur für eine Kreisgröße bis zu 3.000 km2 und Prognosen für eine Kreisgröße bis zu 4.000 km2 empirisch belegt seien, die vorgesehenen Kreise diese Werte aber mit einer Ausnahme überschritten. Es fehle die Prüfung, ob die Überschaubarkeit im Sinne bürgerschaftlich-demokratischer Partizipation noch gewahrt sei. Mit dem Verzicht auf die Aufhebung der Entschädigungsverordnung habe der Gesetzgeber dieses Ziel einer Kompensation der Beeinträchtigung des kommunalen Ehrenamtes auch formal aufgegeben.

62

Das Abwägungsergebnis leide unter einem Abwägungsausfall, weil Alternativen zu der gewählten Kreisgebietsreform nicht hinreichend einbezogen worden seien. Dies gelte schon für die dem Leitbild zugrunde gelegten Richtwerte für Flächengröße und Einwohnerzahl, da diese nicht durch vergleichende Betrachtungen oder empirische Ermittlungen belegt, sondern frei bestimmt worden seien. Eine Auseinandersetzung etwa mit den Zielgrößen der 2007 in Sachsen-Anhalt durchgeführten Kreisgebietsreform habe nicht stattgefunden. Dass noch vor Ablauf der Stellungnahmefrist Modelle einer Kreisstrukturreform im Juni 2008 vorgestellt worden seien, belege ebenfalls das Fehlen einer vorherigen wertenden Befassung mit Alternativen. Letztlich sei auch das Verbandsmodell ohne vorherige Bewertung als Alternative allein mit der Begründung abgelehnt worden, dass es nicht dem Leitbild des Landtages entspreche.

63

Die Abwägung des Gesetzgebers leide im Hinblick auf die prognostizierten Einsparungen an einer Fehlgewichtung, weil sich das Einsparpotential - selbst bei tendenziell optimistischen Berechnungen - in den Jahren 2010 bis 2020 mit 84,5 Mio. Euro auf weniger als 1 % der Ausgaben aller zwölf derzeitigen Landkreise im Jahr 2009 (in Höhe von 1,088 Mrd. Euro) belaufe. Diese Berechnung werde noch dadurch relativiert, dass die mit Abstand am höchsten verschuldeten kreisfreien Städte (Rostock und Schwerin) nicht in die Kreisgebietsreform einbezogen würden.

64

Zudem hänge der Eintritt der Einspareffekte im Wesentlichen von der Umsetzung durch die neuen Landkreise ab. Die zukünftigen Flächenausdehnungen schränkten den Spielraum für Einsparungen ein, weil in bestimmten Verwaltungsbereichen die Einrichtung von Außenstellen erforderlich werde. Auch die Wertausgleichsregelung des § 12 Abs. 1 Satz 2 LNOG M-V begründe erhebliche gegenläufige finanzielle Verpflichtungen. Beide Gesichtspunkte seien bei der Renditebetrachtung ebenso unberücksichtigt geblieben wie der Umstand, dass die errechneten Einsparungen teilweise einen schon unabhängig von der Gebietsreform durchgeführten oder jedenfalls eingeleiteten Personalabbau sowie bereits vor dem Gesetzesbeschluss durch interkommunale Zusammenarbeit erwirtschaftete Einsparungen umfassten. Damit gingen die Renditebetrachtungen von einer unzutreffenden Tatsachengrundlage aus; auch sei hierzu nicht ordnungsgemäß angehört worden.

65

Das Landkreisneuordnungsgesetz entspreche ferner nicht dem Leitbild des Landtages und wahre den Grundsatz der Systemgerechtigkeit nicht. Die neuen Landkreise Nordwestmecklenburg und Mecklenburgische Seenplatte wichen von den Richtwerten für Flächenausdehnung und Einwohnerzahl ab, die Zerschneidung des Landkreises Demmin von dem Grundsatz, dass die Teilung eines bisherigen Landkreises zu vermeiden sei. Die Systemwidrigkeit der Reform folge zudem aus der Summe der Abweichungen von Leitbild und Leitlinien und aus teilweise sich widersprechenden Begründungen für die Kreisneubildung. Mit § 9 LNOG M-V habe der Gesetzgeber die Letztentscheidungsbefugnis über den konkreten Zuschnitt der neuen Kreise ohnehin aus der Hand gegeben.

66

Flächenausdehnungen zwischen 3.000 und 5.000 km2 bedürften einer besonderen Rechtfertigung, und die verfassungsrechtlich zulässige Grenze sei bei einer Kreisgröße von 5.000 km2 regelmäßig überschritten. Die von Sachverständigen bei Kreisgrößen über 4.000 km2 als erforderlich angesehene weitergehende Begründung und Flankierung durch kompensierende, die Selbstverwaltung stärkende Maßnahmen fehle; der Gebietszuschnitt aller sechs neuen Landkreise sei in gleichermaßen zu geringem Umfang begründet worden.

67

Zwischen der neuen Landkreisebene und der Gemeindeebene bestehe - was der Gesetzgeber überhaupt nicht in seine Abwägung einbezogen habe - ein Ungleichgewicht, weil die Gemeinden nach Zahl, Gebietszuschnitt und Größe nicht reformiert worden seien. Die erfolgreiche Wahrnehmung der Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben erfordere eine überschaubare Zahl der Gemeinden im Kreis, deren Interessen untereinander auszugleichen seien. Daran fehle es, wenn selbst bei einer pauschalen Betrachtung jedem der sechs neuen Landkreise im Durchschnitt rund 135 Gemeinden und 13 Ämter angehörten.

68

Der Gesetzgeber habe die Reisezeiten der Einwohner der Landkreise zu den jeweiligen neuen Kreissitzen nicht hinreichend individuell betrachtet und nicht berücksichtigt, dass sich diese - auf die Verhältnisse im Individualverkehr bezogenen - Reisezeiten bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel in der Regel erhöhten.

69

Schließlich fehle es an einer ergebnisoffenen Beratung im Innenausschuss des Landtages. Dem Landkreistag sei noch am 20. Mai 2010 Gelegenheit zur Stellungnahme zu einem Gutachten zu den Renditemöglichkeiten der Reform gegeben worden, obwohl sich der Koalitionsausschuss bereits am 11. Mai 2010 auf das letztlich als Gesetz beschlossene Beratungsergebnis festgelegt habe.

70

Hilfsweise machen die Beschwerdeführer geltend, dass § 26 Abs. 2, § 27 Abs. 2 und § 28 Abs. 1 LNOG M-V gegen den Grundsatz der interkommunalen Gleichbehandlung verstießen. Durch den gesetzlich vorgesehenen Personalübergang würden diejenigen bisherigen Landkreise, die mit Teilen eines bisherigen Landkreises in einem neuen Kreis aufgingen, der auch Rechtsnachfolger des nicht vollständig in ihm aufgehenden Landkreises sei, schlechter behandelt als diejenigen Landkreise, die mit weiteren ungeteilten bisherigen Landkreisen in einem neuen Kreis zusammengeschlossen würden; beide Gruppen würden wiederum schlechter behandelt gegenüber denjenigen bisherigen Landkreisen, die gemeinsam mit Teilen früherer Landkreise einen neuen Kreis bildeten, ohne dass dieser Rechtsnachfolger des aufgeteilten bisherigen Landkreises werde. Denn während die neuen Kreise der ersten Gruppe mehr Personal aufnehmen müssten, als es dem bisherigen Verhältnis von Personal und Einwohnern entspreche, könnten die neuen Landkreise der letzten Gruppe aufgrund der Personalabgabe bereits unmittelbare Synergieeffekte ziehen; für die neuen Kreise der mittleren Gruppe ergäben sich weder solche positiven Effekte noch zusätzliche Belastungen.

71

Die Verfassungswidrigkeit des § 12 Abs. 1 Satz 2 LNOG M-V ergebe sich aus dessen „Zusammenspiel" mit § 103 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2, § 104 Abs. 3 Satz 1 und 3 sowie § 105 Abs. 2 Satz 1 des Schulgesetzes - SchulG M-V - wegen einer Verletzung der kommunalen Finanzhoheit. Danach sei es nämlich möglich, dass die Trägerschaft für Gymnasien und Gesamtschulen gemäß § 103 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SchulG M-V von den bisher kreisfreien Städten gegen einen Wertausgleich auf die neu gebildeten Landkreise übergehe, jene anschließend aber die Schulträgerschaft auf ihren Antrag entschädigungslos wieder zurück erhielten.

72

Art. 6 Nr. 5 Buchst. a des Kreisstrukturgesetzes verstoße mit differenzierten Kreisumlagen ebenfalls gegen das Gebot der interkommunalen Gleichbehandlung. Damit würden die großen kreisangehörigen Städte zukünftig nach einem sachlich nicht mehr zu rechtfertigenden Maßstab insbesondere gegenüber den Landkreisen besser gestellt, weil sie neben der neu einzuführenden Entlastung bei der Kreisumlage weiterhin dieselben Schlüsselzuweisungen und Stadt-Umland-Umlagen wie kreisfreie Städte erhielten. Die Verordnungsermächtigung zur näheren Ausgestaltung der differenzierten Kreisumlage sei nicht hinreichend bestimmt im Sinne des Art. 57 Abs. 1 Satz 2 LV.

73

Äußerst hilfsweise machen die Beschwerdeführer geltend, die Vorschriften über das Inkrafttreten in Art. 11 Abs. 2 und 3 des Kreisstrukturgesetzes verstießen gegen das Demokratieprinzip in Gestalt des Grundsatzes der Periodizität der Wahlen, weil sie mit der Bestimmung des Zeitpunkts, in dem die Kreisgebietsreform wirksam werde, eine vorzeitige Beendigung der laufenden Wahlperiode bewirkten. Würden lediglich Art. 11 Abs. 2 und 3 des Kreisstrukturgesetzes für nichtig erklärt, würde dies allerdings dazu führen, dass das Gesetz in seiner Gesamtheit bereits im August 2010 in Kraft trete; weil dies die Folgen der Verletzung objektiven Verfassungsrechtes noch intensiviere, müsse das Gesetz insgesamt für mit der Verfassung unvereinbar erklärt werden.

74

Die Beschwerdeführer beantragen

75

festzustellen, dass Art. 1 § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 5 bis 8 des Gesetzes zur Schaffung zukunftsfähiger Strukturen der Landkreise und kreisfreien Städte des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Kreisstrukturgesetz) vom 12. Juli 2010 (GVOBl. M-V S. 366) nichtig sind,

76

sowie hilfsweise

77

festzustellen, dass Art. 1 § 12 Abs. 1 Satz 2, § 26 Abs. 2, § 27 Abs. 2 und § 28 sowie Art. 6 Nr. 5 Buchst. a des Gesetzes zur Schaffung zukunftsfähiger Strukturen der Landkreise und kreisfreien Städte des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Kreisstrukturgesetz) vom 12. Juli 2010 (GVOBl. M-V S. 366) nichtig sind,

78

sowie außerdem äußerst hilfsweise

79

festzustellen, dass Art. 11 Abs. 2 und 3 des Gesetzes zur Schaffung zukunftsfähiger Strukturen der Landkreise und kreisfreien Städte des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Kreisstrukturgesetz) vom 12. Juli 2010 (GVOBl. M-V S. 365) nichtig ist.

III.

80

Der Landtag Mecklenburg-Vorpommern beantragt die Zurückweisung der Anträge der Beschwerdeführer; die Landesregierung stellt keinen förmlichen Antrag. Beide halten die Verfassungsbeschwerde für unbegründet, weil der Gesetzgeber alle Vorgaben der Verfassung für eine Kreisgebietsreform und insbesondere auch sämtliche Anforderungen an das Verfahren eingehalten habe, die das Landesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 26. Juli 2007 -LVerfG 9/06 u.a. - aufgestellt habe.

81

1. Nach Auffassung des Landtages ist die Kreisgebietsreform nicht an den Anforderungen zu messen, die für eine Mehrfachneugliederung gelten. Auch sei keine Defizitanalyse speziell bezogen auf die Kreisebene erforderlich gewesen.

82

Die durchgeführten Anhörungen genügten den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung verschaffe den Beschwerdeführern nicht den Anspruch, sich mit ihren Vorstellungen in der Sache mehr oder weniger stark durchzusetzen, sondern nur einen Anspruch auf deren Einbeziehung in die Abwägung der Elemente, aus denen das legitimierende öffentliche Wohl zu bestimmen sei; letzteres obliege allein dem Gesetzgeber.

83

Der äußere und formale Ablauf der Gesetzgebung zeige ein Ineinandergreifen von teils durch die Landesregierung, teils vom oder im Landtag beigesteuerten Schritten, die in ihrer Gesamtheit zu bewerten seien. Das Gesetzgebungsverfahren und diesem vorgeschaltet die Arbeit der Enquete-Kommission "Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung" belegten eine außergewöhnlich umfangreiche, anhaltende und intensive Beschäftigung mit den Anliegen der kommunalen Seite. Auch zeige der Bericht des Innenausschusses, dass die gewählte Lösung nicht einvernehmlich gefunden oder der Regierungsvorschlag schlicht übernommen, sondern in kontroversen Abstimmungen über Änderungsvorschläge entschieden worden sei. Auch der Umstand, dass der Innenausschuss umfangreiche Änderungen am Gesetzentwurf empfohlen habe, die dem Anhörungsverfahren Rechnung getragen hätten, belege, dass die Willensbildung eine bewusste und sorgfältige Abwägung eingeschlossen habe.

84

Im Übrigen könnten parlamentarische Entscheidungsprozesse nicht in einer "Eindringtiefe" dokumentiert werden, welche die Meinungsbildung im Einzelnen offen lege. Für die Erfüllung der prozeduralen Anforderungen müsse es genügen, wenn nachvollzogen werden könne, dass die unterschiedlichen Informationen, Gesichtspunkte und Belange greifbar gewesen und in der Willensbildung verwertet worden seien.

85

Hinsichtlich der gewählten Flächengrößen seien dem Aspekt einer nicht auszuschließenden, wenn auch empirisch nicht gesicherten Erschwerung der Mandatsausübung die Gesichtspunkte substantiellerer Kompetenzen und verbreiterter Handlungsmöglichkeiten als Stärkung der Mandatswahrnehmung gegenüber gestellt worden. Dies sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber habe sich auch mit grundsätzlichen Alternativen unter Bewertung der bestehenden Kreisstruktur, verschiedener Formen der Zusammenarbeit zwischen den Landkreisen sowie anderer Kreismodelle auseinandergesetzt.

86

Aus der Gesetzesbegründung werde insgesamt deutlich, dass die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung gerade im Hinblick auf die vorangegangene Entscheidung des Landesverfassungsgerichtes zum Verwaltungsmodernisierungsgesetz 2006 durchgehend mit dem ihr zukommenden verfassungsrechtlichen Gewicht in die Abwägung eingestellt worden sei.

87

Hinsichtlich des Hilfsantrages der Beschwerdeführer zu § 26 Abs. 2, § 27 Abs. 2 und § 28 LNOG M-V sei ein Verstoß gegen das Gebot der interkommunalen Gleichbehandlung nicht feststellbar. Bei den aufgezeigten Fallgruppen seien gleiche Sachverhalte gerade nicht gegeben.

88

Die von den Beschwerdeführern zu § 12 Abs. 1 Satz 2 LNOG M-V aufgezeigte Fallgestaltung sei rein spekulativ. Im Übrigen könne allein eine solche Möglichkeit des Verhaltens nicht ausreichen, um einen Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung oder wenigstens deren Gefährdung zu bejahen.

89

Mit der Regelung in Art. 6 Nr. 5 Buchst. a des Kreisstrukturgesetzes habe der Gesetzgeber seinen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum nicht überschritten. Es müsse ihm vorbehalten bleiben, den Status der großen kreisangehörigen Stadt näher auszugestalten und ihn gegenüber anderen (kreisangehörigen) Städten auch im Rahmen des Finanzausgleichs zu definieren.

90

Zum Antrag zu Art. 11 Abs. 2 und 3 des Kreisstrukturgesetzes gelte, dass der Grundsatz der Periodizität der Wahlen nur die Verlängerung einer laufenden Wahlperiode im Sinne einer Selbstermächtigung der einmal gewählten Vertretungskörperschaften ohne ein neues Votum der Wähler untersage. Die sich hier ergebende Verkürzung der Wahlperiode sei dagegen sachgerecht und alternativlos, weil die bestehenden Mandate den neu gebildeten Körperschaften die Legitimation des Wählers nicht vermitteln könnten. Im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens sei der Gesetzgeber befugt, die Kreisgebietsreform angesichts des bejahten dringenden Handlungsbedarfs so bald wie möglich in Kraft zu setzen.

91

2. Die Landesregierung macht geltend, der Einwand der Beschwerdeführer, die Kreisgebietsreform diene nicht dem öffentlichen Wohl, verkenne, dass der Gesetzgeber bei Neugliederungsentscheidungen im Vergleich zu der gemäß Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 4 LV an Recht und Gesetz gebundenen öffentlichen Verwaltung über einen erheblich weiteren Spielraum verfüge, der erst an den Grenzen der Verfassung ende und Raum für das Politische lasse.

92

Das Anhörungsgebot verpflichte den Gesetzgeber nicht, sich der Argumentation der Angehörten anzuschließen, sondern lediglich dazu, die abgegebenen Stellungnahmen vor einer abschließenden Entscheidung zur Kenntnis zu nehmen und bei der Abwägung der für und gegen die Neugliederungsmaßnahme sprechenden Gründe zu berücksichtigen. Dies sei hier geschehen. Eine vorzeitige Festlegung des Gesetzgebers selbst habe es nicht gegeben. Selbst wenn sich der Koalitionsausschuss bereits am 11. Mai 2010 festgelegt haben sollte, sei dies für die Abstimmung im Innenausschuss und später im Landtag mit Blick auf die Freiheit des Mandates unerheblich.

93

Die bürgerschaftlich-demokratische Dimension der kommunalen Selbstverwaltung sei mit dem vollen, ihr von Verfassungs wegen zukommenden Gewicht in die Abwägung eingestellt worden. Sowohl der Gesetzentwurf der Landesregierung wie die Beschlussempfehlung und der Bericht des Innenausschusses setzten sich mit dem Verbandsmodell auseinander.

94

Sowohl bei der Entwicklung seines Leitbildes und der Leitlinien als auch im Gesetzentwurf habe der Gesetzgeber die Feststellungen der Sachverständigen zugrunde legen dürfen, weil diese bei Anwendung unterschiedlicher, wissenschaftlich anerkannter Herangehensweisen übereinstimmend zu demselben Ergebnis gekommen seien. Danach dürfte ein spürbarer negativer Zusammenhang zwischen der Größe eines Landkreises und der Bereitschaft seiner Bürger zu bürgerschaftlich-demokratischem Engagement jedenfalls bis zu einer Fläche von 4.000 km2 nicht gegeben sein; da im Bereich von 1.000 bis 3.000 km2 keine signifikanten Selbstverwaltungseinbußen in Folge größerer Kreisflächen zu verzeichnen seien, habe der Gesetzgeber davon ausgehen können, dass im Bereich ab 3.000 km2 möglicherweise auftretende Ehrenamtserschwernisse jedenfalls nicht sprunghaft entstünden, sondern zunächst allenfalls fließend und allmählich in Erscheinung treten würden. Die von den Beschwerdeführern genannte Grenze von höchstens 5.000 km2 für die Verfassungsgemäßheit der Größe eines Landkreises sei gegriffen und nicht aus konkreten Vorgaben abgeleitet; ihr könne daher keine wesentliche Bedeutung für die Auslegung der Verfassung zukommen. Die besondere Situation in dem äußerst dünn besiedelten Mecklenburg-Vorpommern stelle den Gesetzgeber bei der Kreisreform außerdem vor eine besondere Herausforderung und verbiete es, Erfahrungswerte aus anderen Flächenländern ohne Anpassung auf das Land zu übertragen. Deswegen gebe es auch keine Bindung an in anderen Bundesländern wie etwa Sachsen-Anhalt festgelegte Zielgrößen, zumal auch diese nicht empirisch ermittelt worden seien, sondern dem gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum entstammten.

95

Die bürgerschaftlich-demokratische Partizipation werde nicht zwingend umso mehr gefördert, je mehr Kreistagssitze zu besetzen seien. Vielmehr sei vor allem das Niveau der dem Kreistag als Repräsentationsorgan zugeordneten Entscheidungsbefugnisse entscheidend für das Gelingen der Repräsentation. Deren Umfang werde durch die Reform gestärkt.

96

Mit den Reisezeiten zu den künftigen Kreissitzen habe sich der Gesetzgeber ausreichend auseinandergesetzt. Die Verfassung enthalte keine konkreten Vorgaben für zulässige Reisezeiten. Sie spielten für die Bevölkerung einer eher geringe Rolle; die Kreistage und damit die ehrenamtlichen Mandatsträger wiederum könnten auch an anderen Orten als dem Kreissitz zusammenkommen. Ferner sei auf die - schon jetzt häufig praktizierte - regionale, teilweise sogar parteiübergreifende Arbeitsteilung der Selbstverwaltungsorgane zu verweisen. Nach den empirischen Untersuchungen spiele die Möglichkeit, sich als Kreistagsmitglied mit dem gesamten Gebiet des Landkreises vor Ort auseinanderzusetzen, nur eine nachgeordnete Rolle. Ungeachtet dessen bewegten sich die ermittelten maximalen Reisezeiten etwa für gelegentlich vorzunehmende Ortsbesichtigungen in jedem Fall in einem Rahmen, der auch ehrenamtlich tätigen Bürgern zumutbar sei, zumal der Gesetzgeber habe davon ausgehen können, dass mit dem Neuzuschnitt der Landkreise auch die Verbindungen im öffentlichen Personennahverkehr verändert und an die neuen Strukturen angepasst würden.

97

Dem Gesetzgeber sei stets bewusst gewesen, dass die Höhe des Einsparvolumens nur grob eingeschätzt werden könne und sämtliche zukunftsbezogenen Untersuchungen nur über eine begrenzte Aussagekraft verfügten. Die Abwägung sei deshalb nicht auf ein konkretes Einsparvolumen gestützt worden, sondern auf die unbestreitbare betriebs- und verwaltungswissenschaftliche Erkenntnis, dass große Einheiten kostengünstiger arbeiteten als kleine. Die Berechnungsweise der Beschwerdeführer zum Verhältnis des Einsparpotentials in den Jahren 2010 bis 2020 zu den Ausgaben der Landkreise im Jahr 2009 sei fehlerhaft, weil in den Vergleich nur die mögliche Einsparung für ein Jahr eingestellt sei; lege man den gesamten Zeitraum von 2010 bis 2020 zugrunde, ergebe sich eine Einsparung von 7,8 % der Ausgaben der derzeitigen Landkreise im Jahr 2009.

98

Das Leitbild lasse in begründeten Einzelfällen Abweichungen zu. Diese könnten dann nicht als systemwidrig gerügt werden. So habe ohne Verstoß gegen das Leitbild den als Belange des öffentlichen Wohls eingestuften Wünschen betroffener Kommunen auf eine bestimmte Zuordnung Rechnung getragen werden dürfen, etwa bei der Bildung des Landkreises Nordwestmecklenburg mit der Folge einer Unterschreitung oder des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte mit der Folge einer Überschreitung der angestrebten Maximalfläche. Weshalb dieses kommunalfreundliche Vorgehen im Widerspruch zur Verfassung stehen sollte, sei nicht ersichtlich. Im Übrigen habe später tatsächlich keine einzige weitere Gemeinde einen Antrag nach § 9 LNOG M-V gestellt.

99

Dass bei 135 Gemeinden pro Landkreis dieser seine Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion nicht mehr erfüllen könne, sei eine bloße Behauptung, die die Filterwirkung der Ämter, die die Bedeutung der Zahl der kreisangehörigen Gemeinden erheblich relativiere, unberücksichtigt lasse.

100

Auch mit dem konkreten Zuschnitt des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte (§ 7 LNOG M-V) habe der Gesetzgeber keine offensichtliche Fehlentscheidung getroffen, die den ihm eingeräumten Wertungsrahmen verlasse. Er habe einerseits die Überschreitung der Flächenrichtgröße von 4.000 km2 gesehen; andererseits habe er den Zuordnungswünschen verschiedener Gemeinden Rechnung getragen und dabei zugrunde gelegt, dass es im Zuge der Vorbereitung des Gesetzes keine Anhaltspunkte für ein sprunghaftes Ansteigen der Belastung durch das Ehrenamt bei Kreisgrößen über diesem Wert auf ein Ausmaß gegeben habe, das mit ehrenamtlicher Mandatsausübung nicht mehr vereinbar wäre. Berücksichtigt worden seien zudem die geographischen Besonderheiten des Kreises sowie die im Vergleich zu den Planungen nach dem Verwaltungsmodernisierungsgesetz 2006 deutlich geringere Einwohnerzahl, die weniger kreisliche Einrichtungen als Gegenstand der ehrenamtlichen Tätigkeit erfordere. Sinnvolle Alternativen zur Bildung dieses neuen Landkreises hätten nicht bestanden. Bezogen lediglich auf die Fläche entsprächen zwei neue Landkreise auf diesem Gebiet - Demmin-Müritz mit rund 3.600 km2 und Mecklenburg-Strelitz-Neubrandenburg mit rund 2.200 km2 - zwar eher dem Flächenrichtwert. Damit würden jedoch zwei Landkreise geschaffen, die wiederum den Zielwert der Mindesteinwohnerzahl mit jeweils 126.000 bzw. 123.000 Einwohnern ganz erheblich unterschritten.

101

In den unterschiedlichen Begründungen für den Zuschnitt des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte einerseits und der Landkreise Südvorpommern und Südwestmecklenburg andererseits könne kein Widerspruch gesehen werden, der die Verfassungsmäßigkeit der getroffenen Entscheidungen in Frage stelle. Unterschiedlichen tatsächlichen Verhältnissen dürfe Rechnung getragen werden.

102

Die hilfsweise geltend gemachte Verletzung des Gebots der interkommunalen Gleichbehandlung durch § 26 Abs. 2 und § 27 Abs. 2 i.V.m. § 28 Abs. 1 LNOG M-V liege nicht vor. Die von den Beschwerdeführern gebildeten drei Gruppen von Landkreisen unterschieden sich sachlich und müssten folglich auch unterschiedlich behandelt werden. Da im Falle der Aufteilung eines bisherigen Landkreises dessen Personal nicht auf "den neuen Landkreis" übergehen könne, habe der Personalübergang besonders geregelt werden müssen. Gegenüber der noch im Gesetzentwurf vorgesehenen Lösung seien dabei die Interessen der Beschäftigten ausschlaggebend gewesen, die anderenfalls erst zum 1. Juli 2012 endgültig gewusst hätten, bei welchem neuen Landkreis sie künftig beschäftigt sein würden.

103

Bei der von den Beschwerdeführern zu § 12 Abs. 1 Satz 2 LNOG M-V in Bezug genommenen Konstellation handele es sich um einen konstruierten Fall, der sich durch Auslegung der einschlägigen Regelungen lösen lasse.

104

Die differenzierte Kreisumlage nach Art. 6 Nr. 5 Buchst. a des Kreisstrukturgesetzes sei im Hinblick auf den notwendigen Ausgleich der Kosten, die durch die Wahrnehmung besonderer - gesetzlich übertragener - Aufgaben entstünden, gerechtfertigt. Auch die in der Vorschrift enthaltene Verordnungsermächtigung sei nicht zu beanstanden, zumal sich deren Ausmaß zwanglos aus dem mit der Ausgleichszahlung verfolgten Zweck ergebe.

105

Gegen das von den Beschwerdeführern äußerst hilfsweise vorgebrachte Argument, die Regelungen über das Inkrafttreten führten zu einer Verletzung des Demokratieprinzips, sei einzuwenden, dass die Neubildung der Landkreise auch die Zusammensetzung des Wahlvolkes verändere und damit zwingend Neuwahlen als Grundlage für die Legitimation der Repräsentationsorgane der neu gebildeten Gebietskörperschaften erfordere.

B.

106

Mit ihrem Hauptantrag ist die kommunale Verfassungsbeschwerde zulässig.

I.

107

Die Beschwerdeführer sind als Landkreise im Verfahren nach Art. 53 Nr. 8 LV, § 11 Abs. 1 Nr. 10 des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern - LVerfGG -beschwerdebefugt.

108

Zwar ist für die kommunale Verfassungsbeschwerde ein entsprechendes Erfordernis eigener Rechtsverletzung in Art. 53 Nr. 8 LV, § 52 Abs. 2 LVerfGG - anders als bei der Individualverfassungsbeschwerde gemäß § 52 Abs. 1 LVerfGG - nicht ausdrücklich genannt; auch spricht Art. 53 Nr. 8 LV lediglich von einer Beschwerde „wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung", womit sprachlich dem Umstand Rechnung getragen wird, dass die Garantie kommunaler Selbstverwaltung auch eine institutionelle Garantie und nicht nur ein subjektives Recht der einzelnen Gebietskörperschaft enthält. Das Landesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung - in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die Kommentarliteratur - jedoch bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass § 52 Abs. 2 LVerfGG (früher: § 51 Abs. 2 LVerfGG ) lediglich den Prüfungsgegenstand begrenzt, nicht aber vom Erfordernis der Geltendmachung einer subjektiven Rechtsverletzung suspendiert (LVerfG M-V, Urt. v. 18.12.2003 - LVerfG 13/02 -, LVerfGE 14, 293, 300 f.; Urt. v. 04.02.1999 - LVerfG 1/98 -, LVerfGE 10, 317, 321 m.w.N.); hiervon geht offensichtlich auch § 54 LVerfGG (früher: § 53 LVerfGG) aus, wenn er verlangt, dass der Beschwerdeführer das nach seiner Auffassung verletzte Recht und die gesetzliche Bestimmung, durch die er sich verletzt fühlt, benennt (LVerfG M-V, Urt. v. 04.02.1999 - LVerfG 1/98 -, a.a.O.). Das Gericht sieht sich damit zugleich in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung auch anderer Landesverfassungsgerichte (vgl. statt vieler jüngst etwa LVerfG LSA, Urt. v. 10.05.2011 - LVG 47/10 -, UA S. 9 m.w.N.).

109

Die Beschwerdeführer sind durch § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 und §§ 5 bis 8 LNOG M-V selbst und unmittelbar betroffen. Durch § 1 Abs. 1 LNOG M-V werden die Landkreise aufgelöst; unter Eingliederung von vier der bestehenden sechs kreisfreien Städte werden aus ihnen nach Maßgabe von § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 5 bis 8 LNOG M-V neue Kreise gebildet. Die Beschwerdeführer greifen dabei jeweils die sie selbst betreffenden Vorschriften an.

II.

110

Die Beschwerdeführer sind durch die von ihnen angegriffenen Bestimmungen auch gegenwärtig betroffen. Dem steht nicht entgegen, dass die mit dem Hauptantrag angegriffenen Vorschriften nach Art. 11 Abs. 2 und 3 des Kreisstrukturgesetzes erst mit Ablauf des 03. bzw. am 04. September 2011 in Kraft treten.

111

Mit dem Erfordernis der gegenwärtigen Beschwer sollen so genannte Popularklagen ausgeschlossen werden. Grundsätzlich ist eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz erst zulässig, sobald der jeweilige Beschwerdeführer durch die Regelungswirkung der angegriffenen Norm beschwert ist. Eine Regelungswirkung entfaltet eine noch nicht in Kraft getretene Norm rechtstechnisch noch nicht, so dass einer Verfassungsbeschwerde regelmäßig die gegenwärtige Beschwer fehlte. Allerdings ist eine Verfassungsbeschwerde gegen ein noch nicht in Kraft getretenes Gesetz nicht immer wegen fehlender gegenwärtiger Beschwer unzulässig; ist klar abzusehen, dass und wie ein Beschwerdeführer künftig von der Regelung betroffen sein wird, liegt bereits gegenwärtig eine Beschwer vor (vgl. BVerfGE 108, 370, 385; 101, 54, 73 f.; ebenso LVerfG M-V, Urt. v. 26.07.2007 -LVerfG 9/06 u.a. -, LVerfGE 18, 342 - Kreisgebietsreform -; Urt. v. 26.11.2009 - LVerfG 9/08 -,BeckRS 2009, 41840 - Doppik -).

112

Daraus ergibt sich eine gegenwärtige Beschwer der Beschwerdeführer. Sie sollen mit Ablauf des Tages vor den Neuwahlen für die Kreistage der neu gebildeten Landkreise im September 2011 nicht mehr existieren, sondern in den neuen Kreisen aufgehen. Sie können nicht darauf verwiesen werden, Rechtsschutz erst dann zu suchen, wenn sie nicht mehr existieren.

113

Im Übrigen entfaltet das Kreisstrukturgesetz jedenfalls mit den in Art. 11 Abs. 1 genannten Vorschriften, die zur Vorbereitung der Kreisneugliederung notwendig und bereits in Kraft getreten sind, schon jetzt rechtliche Vorwirkungen.

III.

114

Die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen für kommunale Verfassungsbeschwerden liegen vor. Die Jahresfrist des § 53 LVerfGG ist gewahrt. Dem Begründungserfordernis des § 54 LVerfGG ist genügt.

C.

115

Die kommunale Verfassungsbeschwerde ist mit ihrem Hauptantrag jedoch unbegründet. Die vom Gesetzgeber ins Werk gesetzte Reform der Kreisstruktur unter Einbeziehung von vier kreisfreien Städten und damit auch Art. 1 § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 und §§ 5 bis 8 des Kreisstrukturgesetzes halten einer verfassungsgerichtlichen Prüfung stand. Die Beschwerdeführer werden insbesondere nicht in ihrem Recht auf Selbstverwaltung aus Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV verletzt.

116

Dabei überprüft das Landesverfassungsgericht die Kreisstrukturreform anhand der von den Verfassungsgerichten für eine derartige Neugliederungsmaßnahme entwickelten Maßstäbe, denn der Gesetzgeber hat vorliegend - ersichtlich veranlasst durch die entsprechenden Ausführungen in der Entscheidung des Gerichts vom 26. Juli 2007 (- LVerfG 9/06 u.a. -, LVerfGE 18, 342, 381 f.) und in Abkehr von seinem darin verworfenen früheren, auf Einräumigkeit und Einheit der Verwaltung in Verbindung mit der Orientierung an vorhandenen Planungsregionen ausgerichteten Reformansatz -ein an dem herkömmlichen Entscheidungsmuster orientiertes Konzept erstellt.

117

Der Landtag ist befugt, in Ausübung seiner gesetzgebenden Gewalt aus Art. 20 Abs. 1 Satz 3 LV, die sich nach Art. 70 Abs. 2 Satz 1 LV auch auf die Organisation, Zuständigkeiten und Verfahren der öffentlichen Verwaltung erstreckt, die Strukturen nicht nur auf Gemeinde-, sondern auch auf Kreisebene - unter Einbeziehung der kreisfreien Städte - grundlegend neu zu regeln. Die Landkreise sind neben den Gemeinden Träger der kommunalen Selbstverwaltung, die ihnen nach Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereichs nach Maßgabe der Gesetze gewährt ist, und damit Teil der öffentlichen Verwaltung (Art. 69 LV).

118

Zwar wird für die Auflösung und Neubildung von Kreisen eine gesetzliche Regelung nicht ausdrücklich von der Verfassung, sondern nur einfachgesetzlich in § 97 Abs. 2 KV M-V gefordert, jedoch ergibt sich die Notwendigkeit eines Gesetzes daraus, dass es sich um eine grundlegende Entscheidung über die Ausgestaltung rechtlich selbständiger und von der Verfassung mit eigener Rechtsstellung ausgestatteter Verwaltungsträger handelt, die dem Parlament vorbehalten bleiben muss (so schon LVerfG M-V, Urt. v. 26.07.2007 - LVerfG 9/06 u.a. -, LVerfGE 18, 342, 371 m.w.N.).

119

Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass die kommunale Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 GG den Ländern als Strukturprinzip ihres Verwaltungsaufbaus vorgegeben und von ihnen zu gewährleisten ist; dieser Verpflichtung ist der Verfassunggeber in Mecklenburg-Vorpommern mit der Schaffung des Art. 72 Abs. 1 LV nachgekommen. Als institutionelle Garantie bedarf sie der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber (BVerfGE 79, 127, 143), der ihrem Gewicht Rechnung tragen muss, wenn er von seiner Gestaltungskompetenz Gebrauch macht.

120

Auch wenn die Kreise keine Zweckschöpfungen des Gesetzgebers mit im Vergleich zu den Gemeinden „schwächelnder Selbstverwaltungsgarantie" sind, sondern die Selbstverwaltung der Gemeinden und der Kreise als kommunale Selbstverwaltung eine Einheit bilden (LVerfG M-V, Urt. v. 26.07.2007 - LVerfG 9/06 u.a. -, a.a.O., S. 373), gilt auch für sie, dass Gebietsänderungen den verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich im Grundsatz nicht beeinträchtigen. Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV enthält zu ihren Gunsten lediglich eine objektive Garantie der Kreisebene als Institution; den einzelnen Landkreis als solchen oder dessen konkreten Gebietsbestand sichert die Vorschrift nicht.

121

Gleichwohl ist auch ein Landkreis gegenüber seiner Auflösung und der Neuordnung der Kreisgebiete nicht ohne Schutz. Zum verfassungsrechtlich gewährleisteten Kernbereich des kreiskommunalen Selbstverwaltungsrechts gehört nämlich auch, dass Veränderungen des Gebietszuschnitts nur aus Gründen des Wohls der Allgemeinheit und nach Anhörung der die Veränderung betreffenden Gebietskörperschaften zulässig sind (vgl. BVerfGE 86, 90, 107 ff.; 50, 50 f.; LVerfG M-V, Urt. v. 26.07.2007 - LVerfG 9/06 u.a. -, a.a.O., S. 375 m.w.N.; SächsVerfGH, Urt. v. 29.05.2009 - Vf. 79-II-08 -, juris, Rn. 309 ff.; NdsStGH, Urt. v. 14.02.1979 - StGH 2/77 -NdsStGHE 2, 1, 152; VerfGH NW, Urt. v. 24.04.1970 - VGH 13/69 -, OVGE MüLü 26, 270). In diesem Sinne ist auch Art. 72 Abs. 1 LV zu verstehen, der nicht nur für Gebietsänderungen, sondern auch für die ihnen vorgelagerte Auflösung von Trägern kommunaler Selbstverwaltung gilt.

II.

122

Die angegriffene Kreisstrukturreform als solche wird den an ein derartiges Reformvorhaben zu stellenden Anforderungen gerecht. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer sind an das Reformvorhaben nicht mit Blick auf die nach der Wiedervereinigung Deutschlands bereits in den Jahren 1993/94 durchgeführte Landkreisneuordnung unter dem Aspekt der „Mehrfachneugliederung" erhöhte Anforderungen zu stellen (1); unter Berücksichtigung der nur eingeschränkten Kontrolldichte (2) entspricht die Kreisstrukturreform den an sie zu stellenden prozeduralen (3) und materiellen (4) Anforderungen.

123

1. Die Beschwerdeführer können sich unter Verweis auf die Kreisgebietsreform 1993/94 nicht auf einen besonderen, aus dem Tatbestand einer Mehrfachneugliederung abzuleitenden Bestands- bzw. Vertrauensschutz berufen. Dies hat das Landesverfassungsgericht bereits 2007 zu der von ihm aus anderen Gründen verworfenen Kreisgebietsreform (Urt. v. 26.07.2007 - LVerfG 9/06 u.a. -, LVerfGE 18, 342, 378) ausgeführt. Die Änderung der Gebietsstruktur 1993/94 erfolgte in einer Zeit des Umbruchs, als noch nicht vorhersehbar war, ob die Erwartungen über die Entwicklung des Landes erfüllt würden. Die damaligen Prognosen haben sich als zu optimistisch erwiesen (vgl. LT-Drs. 5/2683, S. 46, 48). Dies belegt insbesondere der Umstand, dass im Jahr 2020 drei Viertel der damals geschaffenen zwölf Landkreise - ganz überwiegend erheblich - unter der seinerzeitigen Regeleinwohnerzahl von 100.000 liegen würden. Zum Anlass für seine neue Konzeption hat der Gesetzgeber mithin Faktoren genommen, die in ihrer Bedeutung, die sie gegenwärtig erlangt haben, zum Zeitpunkt der Landkreisneuordnung 1993/94 noch nicht erkennbar sein konnten. Seinerzeit bestand in den neuen Bundesländern das dringende Bedürfnis zur Anpassung der Kreisgebiete an zeitgemäße Strukturen, weshalb das Zurückstellen der Reform der kreiskommunalen Ebene bis zum Vorliegen einer gesicherten Datenbasis kaum hinnehmbar gewesen wäre (vgl. hierzu auch SächsVerfGH, Urt. v. 29.08.2008 - Vf. 54-VIII-08 -, NVwZ 2009, 39; Urt. v. 29.05.2009 - Vf. 79-II-08 -, juris Rn. 312 ff.). Vor diesem Hintergrund wäre damals ein Übergang von der sehr kleinteiligen Kreisstruktur zu DDR-Zeiten auf Kreise mit den jetzt angestrebten Flächenausdehnungen nicht ernsthaft in Betracht gekommen.

124

2. Bei seiner Kontrolle der angegriffenen Vorschriften prüft das Landesverfassungsgericht zunächst, ob der Gesetzgeber den für seine Regelung erheblichen Sachverhalt ermittelt und dem Gesetz zugrunde gelegt hat und ob er die von ihm angeführten Gemeinwohlgründe sowie die Vor- und Nachteile der gesetzlichen Regelung in die vorzunehmende Abwägung eingestellt hat. Auf der Grundlage des in dieser Weise ermittelten Sachverhalts und der Gegenüberstellung der daraus folgenden verschiedenen - oft gegenläufigen - Belange ist der Gesetzgeber befugt, sich letztlich für die Bevorzugung eines Belangs (oder mehrerer Belange) und damit notwendig zugleich für die Zurückstellung aller anderen betroffenen Gesichtspunkte zu entscheiden. Insoweit hat sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf die Prüfung zu beschränken, ob der gesetzgeberische Eingriff in den Bestand eines einzelnen Kreises offenbar ungeeignet oder unnötig ist, um die mit ihm verfolgten Ziele zu erreichen, oder ob er zu ihnen deutlich außer Verhältnis steht und ob das Gesetz frei von willkürlichen Erwägungen und Differenzierungen ist. Sofern der Gesetzgeber ein Konzept für die Neugliederungsmaßnahme erstellt hat, ist zudem zu prüfen, ob er dies in einer dem verfassungsrechtlichen Gebot der Systemgerechtigkeit genügenden Weise umgesetzt hat. Soweit Ziele, Wertungen und Prognosen des Gesetzgebers in Rede stehen, ist die Nachprüfung darauf zu beschränken, ob diese offensichtlich oder eindeutig widerlegbar sind oder ob sie den Prinzipien der verfassungsrechtlichen Ordnung widersprechen (vgl. BVerfGE 86, 90, 109; vgl. auch SächsVerfGH, Urt. v. 29.08.2008 - Vf. 54-VIII-08 -, NVwZ 2009, 39, 41; ThürVerfGH, Urt. v. 18.12.1996 - 2/95, 6/95 -, LVerfGE 5, 391, 423 f.).

125

Diese deutliche Einschränkung der Kontrolldichte folgt daraus, dass die Bewältigung so komplexer Probleme wie bei einer Kreisgebietsreform vorrangig dem Parlament überlassen bleiben muss, auch weil ihm eine stärkere demokratische Legitimation zukommt als den Verfassungsgerichten. Es ist nicht deren Aufgabe zu prüfen, ob der Gesetzgeber die beste und zweckmäßigste Neugliederungsentscheidung getroffen hat (vgl. auch BbgVerfG, Urt. v. 14.07.1994 - VfGBbg 4/93 -, LVerfGE 2, 125, 159).

126

3. Die an ein Gesetzgebungsverfahren mit dem Ziel einer Neuordnung der Kreisstruktur zu stellenden verfahrensmäßigen Anforderungen sind eingehalten, insbesondere ist dem Anhörungsgebot (siehe § 97 Abs. 1 Satz 2 KV M-V) hinreichend Rechnung getragen worden. Weder ist die Durchführung der Anhörung als solche (a) zu beanstanden noch deren Umfang (b); auch hat der Landtag selbst sich hinreichend ergebnisoffen mit den Ergebnissen der Anhörung befasst (c) und bedurfte es keiner erneuten Anhörung, nachdem im Gesetzgebungsverfahren Änderungen am Gesetzentwurf vorgenommen worden waren (d).

127

a) Vor Gebietsänderungen sind die von ihr betroffenen Träger kommunaler Selbstverwaltung anzuhören, um ihnen zu ermöglichen, ihre Sicht der Belange des Wohls der Allgemeinheit zum Ausdruck zu bringen und dem Gesetzgeber eine umfassende und zuverlässige Kenntnis von allen abwägungserheblichen Gesichtspunkten rechtlicher und tatsächlicher Art zu vermitteln (vgl. auch SächsVerfGH, Urt. v. 29.05.2009 - Vf. 79-II-08 -, juris Rn. 321). Dies ist hier geschehen.

128

Der Innenminister hat unmittelbar nach dem Beschluss des Landtages vom 24. April 2008, mit dem dieser sich den Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung" betreffend „Ziele, Leitbild und Leitlinien der Landesregierung für eine Kreisgebietsreform in Mecklenburg-Vorpommern" und die Umsetzungsempfehlungen dazu (LT-Drs. 5/1380 neu und LT-Drs. 5/1409) zu eigen gemacht hatte (PlenProt 5/40), den Landkreisen, kreisfreien Städten, amtsangehörigen und amtsfreien Gemeinden sowie den Ämtern Gelegenheit gegeben, bis zum 27. Juni 2008 konkrete Vorstellungen zur Umsetzung des Leitbildes zu übermitteln. Nachrichtlich informierte er den Städte- und Gemeindetag sowie den Landkreistag Mecklenburg-Vorpommern entsprechend. Am 24. Juni 2008 stellte er öffentlich zudem 13 verschiedene Modelle einer Kreisstrukturreform zur Diskussion. Darüber hinaus führte das Innenministerium im Februar/März 2009 eine Anhörung zum Entwurf eines Gesetzes zur Schaffung zukunftsfähiger Strukturen der Landkreise und kreisfreien Städte des Landes Mecklenburg-Vorpommern durch. Im Juli 2009 leitete die Landesregierung dem Landtag den entsprechenden Gesetzentwurf (LT-Drs. 5/2683) zu. Nach der 1. Lesung im Parlament am 16. Juli 2009 führte auch der Innenausschuss des Landtages zunächst schriftliche und im Dezember 2009 und im Mai 2010 umfangreiche mündliche Anhörungen der betroffenen Träger kommunaler Selbstverwaltung durch.

129

b) Eine zusätzliche bzw. weitergehende Anhörung zu Leitbild und Leitlinien wäre nicht etwa deshalb erforderlich gewesen, weil - wie die Beschwerdeführer geltend machen - das Verbandsmodell als Alternative zur Kreisgebietsreform dem Gesetzentwurf zufolge nur deshalb verworfen worden wäre, weil es nicht dem Leitbild entspräche. Es trifft zwar zu, dass der Gesetzgeber sich bereits auf der ersten Stufe, mithin bei der Frage, ob er sich überhaupt für eine Kreisgebietsreform entscheidet, mit möglichen Alternativen auseinandersetzen muss und auf dieser Stufe noch nicht mit dem Leitbild selbst argumentieren kann, ohne hierzu eine Anhörung durchgeführt zu haben. Dies ist hier jedoch auch nicht geschehen. Wie dargestellt, hatten die betroffenen kommunalen Körperschaften schon bis zur Erstellung des Gesetzentwurfs ausreichend Gelegenheit, zu Leitbild und Leitlinien Stellung zu nehmen. Begründete Zweifel an einer unvoreingenommenen und ergebnisoffenen Anhörung sind nicht etwa deshalb veranlasst, weil der Innenminister der Öffentlichkeit bereits vor Ablauf der Stellungnahmefrist 13 verschiedene Modelle einer Kreisstrukturreform vorgestellt hat. Mag auch ein solches Vorgehen auf den ersten Blick den Anschein einer Vorfestlegung erwecken können, so gibt es dafür jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte. Allen betroffenen Kommunen und Institutionen war es weiterhin unbenommen, zu Leitbild und Leitlinien bis zum Ablauf der hierfür gesetzten Frist Stellung zu nehmen. Dies gilt umso mehr, als die Vorstellung von konkreten Modellen ersichtlich die Diskussion anreichern sollte und gerade diese Diskussion ebenso gut zu Zweifeln an der Tauglichkeit von Leitbild und Leitlinien hätte führen können.

130

Im Übrigen wird aus der Gesetzesbegründung deutlich, dass die Orientierung am Leitbild nur einer von mehreren Gesichtspunkten war, die gegen das Verbandsmodell sprachen. Daneben sind weitere Gründe aufgeführt, die die Ablehnung dieses Alternativmodells ebenfalls tragen (LT-Drs. 5/2683, S. 96), eingeleitet mit dem Hinweis, dass das Verbandsmodell zahlreichen grundlegenden Bedenken begegne. Abgestellt wird dann u.a. darauf, dass dieses Modell keine vergleichbaren Einspareffekte mit sich bringe und mit ihm ein „ganz erheblicher Personalmehrbedarf", neue Doppelzuständigkeiten sowie Kontroll- und Demokratiedefizite verbunden wären. Ungeachtet dessen hat sich auch der Landtag später noch einmal mit dem Verbandsmodell als Alternative auseinandergesetzt, und zwar unabhängig davon, dass das Leitbild eine Kreisstrukturreform vorgibt (vgl. LT-Drs. 5/3599, S. 173 ff., 182).

131

c) Soweit die Beschwerdeführer geltend machen, der Landtag selbst habe die Anhörungsergebnisse bei seiner Befassung mit dem Gesetzentwurf nicht hinreichend gewürdigt, kann offen bleiben, ob es bei dieser Rüge (noch) um die Anhörung als solche geht oder ob diese Frage (schon) dem Abwägungsvorgang zuzuordnen ist. Jedenfalls werden damit keine Zweifel an der Erfüllung der verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine Kreisgebietsreform begründet.

132

Die Anhörungen im federführenden Innenausschuss des Landtages waren durch den Austausch zahlreicher konträrer Standpunkte geprägt, der die teils gegenläufigen Erfahrungen und Interessen im Hinblick auf die geplante Reform veranschaulicht (ausführlich zusammengetragen in LT-Drs. 5/3599). Die für den Abwägungsprozess und sein Ergebnis relevanten Gesichtspunkte sind aus den Gesetzesmaterialien, insbesondere aus der Gesetzesbegründung (LT-Drs. 5/2683) sowie dem Bericht und der Beschlussempfehlung des Innenausschusses des Landtages (LT-Drs. 5/3599), hinreichend erkennbar (vgl. hierzu auch SächsVerfGH, Urt. v. 29.08.2008, - Vf. 54-VIII-08 -, NVwZ 2009, 39, 41). Darüber hinausgehende Anforderungen an die Offenlegung des parlamentarischen Entscheidungsprozesses ergeben sich aus der Verfassung nicht.

133

Es fehlte auch nicht an der Offenheit des Gesetzgebers im Hinblick auf die inhaltliche Auseinandersetzung mit in Betracht kommenden alternativen Kreismodellen sowie mit den damit verbundenen Vor- und Nachteilen. Soweit die Beschwerdeführer vortragen, die Beratung im Innenausschuss des Landtages sei wegen einer Vorfestlegung im Koalitionsausschuss nicht mehr offen gewesen, mag die Betrachtung allein der zeitlichen Reihenfolge diesen Eindruck erwecken. Doch ist anerkannt, dass Koalitionsabsprachen, Stimmabgabeempfehlungen und Probeabstimmungen von Fraktionen in zulässiger Weise zur parlamentarischen Willensbildung beitragen und als solche nicht geeignet sind, eine sachwidrige Zwecksetzung des Gesetzgebers zu belegen (vgl. BVerfGE 86, 90, 113; StGH BW, Urt. v. 08.09.1972 - 6/71 -, ESVGH 23, 1, 16 f.). Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn eine Koalitionsabsprache darauf abzielte, eine entscheidungserhebliche Diskussion im Parlament von vornherein zu unterbinden; dafür ist hier aber nichts ersichtlich. Insbesondere gibt es keine Anhaltspunkte für das bewusste Ausblenden von Nachteilen, die mit der Kreisgebietsreform verbunden sind (vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch SächsVerfGH, Urt. v. 29.05.2009, - Vf. 79-II-08 -, juris Rn. 391).

134

d) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer erforderten die im Laufe des parlamentarischen Verfahrens vorgenommenen Änderungen am Gesetzentwurf keine erneute Anhörung. Wesentliche, ein neuerliches Anhörungserfordernis auslösende Änderungen des Neugliederungsvorhabens können insbesondere weder darin gesehen werden, dass nach den §§ 26 bis 28 LNOG M-V der Personalübergang nunmehr vollständig mit der Kreisneubildung kraft Gesetzes erfolgt, noch in der Änderung des Zeitpunktes für den Aufgabenübergang. Damit werden die Grundlagen der zu treffenden Abwägung nicht erheblich verändert. Anders wäre dies nur zu sehen, wenn etwa der Gesetzgeber das ursprüngliche Reformziel durch ein anderes ersetzt oder die abstrakt-generellen Leitlinien der Reform mehr als nur unerheblich verändert hätte bzw. sich der territoriale oder funktionale Zuschnitt einer konkreten Maßnahme gegenüber dem bisherigen Stand mehr als nur geringfügig geändert hätte (vgl. BVerfGE 50, 195, 203; SächsVerfGH, Urt. v. 25.11.2005 - Vf. 119-VIII-04 -, LKV 2006, 169, 170 u. Urt. v. 23.06.1994 - Vf. 4-VIII-94 -, LKV 1995, 115, 116; NdsStGH, Urt. v. 14.02.1979 - StGH 2/77 -, OVGE MüLü 33, 497, LS II.7). Eine Veränderung des Gesetzentwurfs von solchem Gewicht, die die frühere Anhörung hätte ersichtlich ins Leere gehen und eine neue Stellungnahme unter völlig anderen Gesichtspunkten als notwendig erscheinen lassen, kann in diesem Zusammenhang jedoch nicht angenommen werden.

135

4. Die in den angegriffenen Vorschriften des Kreisstrukturgesetzes vorgesehenen Kreisgebietsänderungen erfüllen auch die materiellen Anforderungen an eine derartige Reform, insbesondere dienen sie dem Wohl der Allgemeinheit. Mit ihnen werden legitime Reformziele verfolgt (a) auf der Grundlage von Leitbild und Leitlinien, die nach jeweils hinreichender Sachverhaltsermittlung geeignet sind, den Gemeinwohlbegriff zu konkretisieren (b), und dabei die von der Verfassung gezogenen Grenzen, insbesondere die strukturellen Anforderungen an Kreise i.S.v. Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV wahren (c). Der Gesetzgeber durfte im Rahmen der angestrebten umfassenden Verwaltungsmodernisierung ohne Verfassungsverstoß neben anderen Maßnahmen auch vorrangig eine solche Kreisgebietsreform für erforderlich halten (d); ebenso stehen die nach Leitbild und Leitlinien vorgesehenen Maßnahmen nicht etwa deutlich außer Verhältnis zu den verfolgten Reformzielen (e).

136

a) Mit der Kreisstrukturreform sollen auch im Lichte der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie verfassungsrechtlich legitime Reformziele verwirklicht werden. Der Gesetzgeber ist insbesondere fehlerfrei von einem Anlass zur umfassenden Modernisierung der Verwaltung - sowohl des Landes als auch der Kommunen - ausgegangen (so schon LVerfG M-V, Urt. v. 26.07.2007 - LVerfG 9/06 u.a. -, LVerfGE 18, 342, 376 ff.).

137

Es ist vorrangig Sache des Gesetzgebers, den unbestimmten Begriff des Wohls der Allgemeinheit zu konkretisieren. Innerhalb der von der Landesverfassung vorgegebenen Grenzen hat er die relevanten Belange im Einzelnen zu ermitteln, zu gewichten und zu bewerten sowie die Vor- und Nachteile von Handlungsalternativen in die Abwägung einzustellen. Dies ist hier in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise geschehen.

138

Der Gesetzgeber durfte sich vor allem aufgrund der zu erwartenden demografischen Entwicklung in Mecklenburg-Vorpommern und der Verschuldungssituation des Landes zum Handeln veranlasst sehen (so schon LVerfG M-V, Urt. v. 26.07.2007- LVerfG 9/06 u.a. -, a.a.O.; vgl. auch SächsVerfGH, Urt. v. 29.05.2009 - Vf. 79-II-08 -, juris Rn. 324 ff.). Mit der Verringerung der Zahl der Kreise durch Vergrößerung der Kreisgebiete unter Einkreisung von kreisfreien Städten verfolgt er das legitime Ziel, die Wirtschaftlichkeit, die Leistungskraft und die Effizienz der kreiskommunalen Selbstverwaltung nachhaltig zu erhöhen, um vor allem dem demographischen Wandel und der absehbaren Verschlechterung der finanziellen Situation des Landes Rechnung zu tragen. Hintergrund ist, dass Mecklenburg-Vorpommern, bereits heute das Bundesland mit der geringsten Einwohnerdichte, auch in den nächsten Jahren besonders stark vom demographischen Wandel betroffen sein wird. Zugleich muss sich das Land aufgrund der vereinbarten Degression der Mittel aus dem Solidarpakt II, der absehbaren Einschränkungen infolge verminderter Zahlungen aus den EU-Fonds und der Ergebnisse der Föderalismusreformkommission II auf erhebliche finanzielle Einschnitte einstellen (vgl. zum Reformbedarf im Einzelnen LT-Drs. 5/2683, S. 47 ff. zur Bevölkerungsentwicklung, S. 53 ff. zu den finanziellen Rahmenbedingungen, insbesondere zur Finanzlage des Landes und der Kommunen).

139

Anhaltspunkte dafür, dass sich diese absehbaren Entwicklungen entgegen allen Erwartungen umkehren würden und damit die Notwendigkeit von Reformmaßnahmen grundlegend in Frage gestellt würde, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Im Gegenteil gehen sämtliche Beschwerdeführer - wie schon in den Anhörungsverfahren eingeräumt und auch in den Antragsschriftsätzen ausdrücklich anerkannt - selbst von einem „erheblichen Handlungsbedarf für eine Modernisierung und Reform der öffentlichen Verwaltung nicht zuletzt aufgrund der unbestrittenen demographischen Entwicklung und der daraus folgenden, sich verschlechternden Situation des Landes Mecklenburg-Vorpommern" aus und halten auch sie eine „grundlegende Reform der Landes- und Kommunalverwaltung zur Anpassung an die Herausforderungen der Zukunft für geboten".

140

In dieser schwierigen Lage sind der Landtag und die Landesregierung weiterhin berechtigt, die Strukturen der Verwaltung an die bereits laufenden und die prognostizierten Entwicklungen der vorhersehbaren Zukunft anzupassen. Sie haben vorausschauend und vorsorgend die drohenden Schäden und Gefahren vom Land und den Kommunen abzuwenden oder sie zumindest zu begrenzen (so schon LVerfG M-V, Urt. v. 26.07.2007 - LVerfG 9/08 u.a. -, LVerfGE 18, 342, 378), was eine Kreisgebietsreform einschließt, zumal auch heute nichts dafür ersichtlich ist, dass der Reformanlass allein in strukturellen Problemen der Staatsverwaltung begründet sein könnte. Dies gilt auch im Hinblick auf den Zusammenhang mit der - im Vergleich zum 2007 gescheiterten Reformvorhaben allerdings deutlich weniger umfassenden - Funktionalreform in Gestalt des Gesetzes über die Zuordnung von Aufgaben im Rahmen der Landkreisneuordnung.

141

b) Leitbild und Leitlinien, die - aus einer legitimen Zielsetzung heraus - der Neugliederung als Ordnungsrahmen zu Grunde gelegt wurden, sind geeignet, in verfassungskonformer Weise den Gemeinwohlbegriff zu konkretisieren. Dabei kann das Landesverfassungsgericht das vom Landtag als Ordnungsrahmen aufgestellte Leitbild nebst Leitlinien nur daraufhin überprüfen, ob sich aufdrängende Gemeinwohlaspekte übersehen wurden, ob die ihnen zugrunde liegenden Erkenntnisse offensichtlich unzutreffend sind oder das mit ihnen verwirklichte Neugliederungskonzept offensichtlich ungeeignet ist, um das Reformziel zu verwirklichen (vgl. auch SächsVerfGH, Urt. v. 29.08.2008 - Vf. 54-VIII-08 -, NVwZ 2009, 39, 41; Erbguth, DÖV 2008, 152, 154). Diesen Anforderungen hat der Gesetzgeber Rechnung getragen; insbesondere hat er den für die „Leitsatzbildung" relevanten Sachverhalt vollständig ermittelt.

142

aa) Die Leitbild und Leitlinien zugrunde liegenden Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung, die einen Zeitraum bis 2030 einschließen, greifen die Beschwerdeführer nicht an; sie wären im Übrigen nicht zu beanstanden.

143

bb) Auch bezogen auf das prognostisch zugrunde gelegte Einsparpotential hat sich der Gesetzgeber bei Verabschiedung des Kreisstrukturgesetzes Mitte 2010 auf vertretbar ermittelte und damit hinreichend belastbare Erkenntnisse gestützt. Ebenso war bereits bei der Erstellung des Leitbildes und der Leitlinien diesem Gesichtspunkt erhebliche Bedeutung beigemessen worden. Auf der Grundlage verschiedener Gutachten und Prognosen wurde davon ausgegangen, dass sich das durch die Reform, insbesondere im Hinblick auf die damit verbundenen Synergie- und Skalierungseffekte, letztlich erreichbare Einsparpotential unter Berücksichtigung der Kosten der Reform und nach einer vorübergehenden Anpassungs- und Konsolidierungsphase auf etwa 40 bis 100 Mio. Euro jährlich belaufen werde. Dabei bestand das Bestreben, sich auf möglichst breiter Grundlage Erkenntnisse über das Einsparpotential zu verschaffen. Der Landtag bei Beschlussfassung über das Leitbild und die Leitlinien und die Landesregierung bei Erstellung des Gesetzentwurfs stützten sich insoweit auf eine Untersuchung des Landesrechnungshofes (Kommunalbericht 2007 - Teil 1, S. 73), die auf Benchmarkvergleichen und Korrelationsanalysen mit anderen Bundesländern beruhte, auf die „Überschlägige Wirtschaftlichkeitsuntersuchung einer möglichen Kreisgebietsreform anhand einer vereinfachten Personalkostenanalyse" des Innenministeriums (November 2007) sowie die Untersuchung der Einsparpotentiale eines Zusammengehens der Landkreise Nordvorpommern und Rügen sowie der Hansestadt Stralsund in einem neuen Landkreis durch den Landesrechnungshof. Der Innenausschuss hat später in seine Arbeit zudem einbezogen das Gutachten der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) zur „Renditebetrachtung für die sechs neu zu bildenden Landkreise in Mecklenburg-Vorpommern" (März 2010) und die Untersuchung des ifo-Wirtschaftsinstituts über „Fiskalische Einsparpotenziale durch die Kreisstrukturreform in Mecklenburg-Vorpommern" (März 2010).

144

Gegenstand der Bewertungen und Berechnungen war dabei jeweils auch, dass der Bevölkerungsrückgang nicht nur zu Kostensteigerungen, sondern auch zu Kostenentlastungen führen werde (vgl. hierzu auch Bednarz, Demographischer Wandel und kommunale Selbstverwaltung, 2010, S. 86 ff.), hinsichtlich der Personalkosten auch in den bestehenden Strukturen noch Optimierungspotential bestehe und die Schaffung größerer Kreisgebiete nicht nur zu Einsparungen führen, sondern in bestimmten Bereichen auch mit Mehrkosten verbunden sein werde. Ebenfalls berücksichtigt worden waren in der Übergangsphase der Kreisgebietsreform entstehende Mehrkosten.

145

Dabei war der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht gehalten, vorab einen festen Betrag zu ermitteln, auf den sich das jährliche Einsparpotential belaufen würde. Es ist aus Sicht der Verfassung nicht zu beanstanden, dass es ihm vorrangig darum ging, anhand der Gutachten und Prognosen, die sich der Frage nach dem Einsparpotential unterschiedlich genähert hatten, zu ermitteln, welchen Korridor die angestrebte Kreisgebietsreform insoweit eröffnete. Nachdem die eingeholten Gutachten jedenfalls in der Grundannahme übereinstimmend nicht unerhebliche Einsparpotentiale aufgezeigt hatten, konnte der Gesetzgeber diesem Gesichtspunkt Gewicht beimessen für das von ihm angestrebte Ziel, in Mecklenburg-Vorpommern im Rahmen „einer grundlegenden Modernisierung aller staatlichen Ebenen zukunftsfähige Verwaltungsstrukturen zu schaffen bzw. zu erhalten, die dauerhaft in der Lage sind, öffentliche Dienstleistungen zu erbringen, notwendige Infrastruktur vorzuhalten und insbesondere ehrenamtliches Engagement zu ermöglichen, mit dem die Bürgerinnen und Bürger Verantwortung für die örtliche Gemeinschaft übernehmen" (so die Problem- und Zielbeschreibung zum Gesetzentwurf, LT-Drs. 5/2683, S. 1 f. unter Bezugnahme auf LT-Drs. 5/1409).

146

Die Angriffe der Beschwerdeführer hiergegen tragen nicht. Das Landesverfassungsgericht, das nach seinem Ermessen den zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Beweis erhebt (§ 22 Abs. 1 Satz 1 LVerfGG), brauchte insbesondere der in diesem Zusammenhang durch förmlichen Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung angeregten Beweisaufnahme nicht näher zu treten, soweit die Beschwerdeführer damit rügen, den Gutachten hätten zahlreiche - im einzelnen näher umschriebene - fehlerhafte Anknüpfungstatsachen zugrunde gelegen und die zu erwartenden Einsparungen relativierten sich in erheblichem Umfang.

147

Soweit damit vor allem geltend gemacht wird, das KGSt-Gutachten, aber auch die anderen Gutachten hätten unzutreffende Annahmen hinsichtlich der Frage zugrunde gelegt, inwieweit die prognostizierten Einsparungen bei den Personalkosten reformbedingt seien, kann dies allenfalls auf das erstgenannte Gutachten zutreffen. Aber selbst wenn die von der KGSt errechnete Fusionsrendite (84 Mio. Euro) um rd. 41 Mio. Euro zu reduzieren wäre, ließe dies die verfassungsrechtliche Tragfähigkeit der Annahmen des Gesetzgebers zum Einsparpotential unberührt. Damit wäre die zugrunde gelegte Tendenz nämlich gerade nicht in Frage gestellt.

148

Im Übrigen befasst sich das KGSt-Gutachten nicht unmittelbar mit der Frage nach dem jährlichen Einsparpotential. Vielmehr bietet die Fusionsrendite allenfalls Anhaltspunkte für dessen Bestimmung (vgl. auch LT-Drs. 5/3599, S. 79). Damit kommt es nicht darauf an, ob sich - wie die Beschwerdeführer meinen - aus der von der KGSt für den Zeitraum 2010 bis 2020 ermittelten Fusionsrendite (84 Mio. Euro) ein jährliches Einsparpotential (etwa ab 2021) in Höhe von lediglich 0,8% der jährlichen Gesamtausgaben auf Kreisebene (bezogen auf das Jahr 2009) oder - wie von der Landesregierung geltend gemacht - in Höhe von 81 bzw. 92 Mio. Euro ergibt (vgl. dazu auch die Schreiben des Innenministeriums vom 30.04.2010 und der KGSt vom 16.05.2011).

149

Der Gesetzgeber selbst ist im Übrigen davon ausgegangen, dass Prognosen zum Einsparpotential naturgemäß mit Unsicherheiten behaftet sind, und hat sich daher nicht auf einen mehr oder weniger konkreten, in den entsprechenden gutachterlichen Untersuchungen ausgewiesenen Betrag gestützt (siehe LT-Drs. 5/2683, S. 86).

150

Auch der Bericht des Innenausschusses stellte später bezogen auf das prognostizierte Einsparpotential lediglich auf eine entsprechende Tendenz ab (vgl. LT-Drs. 5/3599, S. 79, auch S. 82 ff., S. 173).

151

Das Landesverfassungsgericht hat, soweit es um Prognosen des Gesetzgebers hinsichtlich der Einspareffekte der Kreisgebietsreform geht, seine Nachprüfung darauf zu beschränken, ob die Einschätzungen und Entscheidungen des Gesetzgebers offensichtlich fehlerhaft oder eindeutig widerlegbar sind oder der verfassungsrechtlichen Wertordnung widersprechen (vgl. BVerfGE 50, 50). Diese dem Gericht auferlegte Zurückhaltung kann nicht dadurch überspielt werden, dass - wie in dem Beweisantrag geschehen - zwischen Anknüpfungs- und Befundtatsachen unterschieden wird und über die Rüge angeblich fehlerhafter Anknüpfungstatsachen bei Erstellung der Gutachten im Ergebnis die Bewertung des Gesetzgebers selbst mit Erfolg in Frage gestellt würde. Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers bezieht sich auch auf die Grundlagen der Prognosen, weil mit diesen wiederum prognostische Elemente verbunden sind, wie etwa im Hinblick auf die Frage, inwieweit der Bevölkerungsrückgang auch zu Kostenentlastungen führen wird oder hinsichtlich der Personalkosten auch in den bestehenden Strukturen noch Optimierungspotential besteht. Offensichtlich fehlerhaft und eindeutig widerlegbar sind die Prognosen jedenfalls nicht; auch ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass das vom Gesetzgeber zur Begründung der Reform angeführte Einsparpotential nur vorgeschoben sein könnte.

152

Es ist verfassungsrechtlich ebenfalls unbedenklich, dass die Gesetzesmaterialien keinen konkreten Zeitpunkt benennen, ab dem die geplanten Einspareffekte die Kosten der Reform überwiegen sollen. Es genügt, dass positive finanzielle Wirkungen zumindest in einem noch überschaubaren Zeitraum zu erwarten sind und dass bis dahin nicht von einem neuerlichen Reformbedarf auszugehen ist (vgl. auch SächsVerfGH, Urt. v. 29.08.2008 - Vf. 54-VIII-08 -, NVwZ 2009, 39, 42).

153

c) Nach Leitbild und Leitlinien werden keine kommunalen Gebietskörperschaften geschaffen, die den strukturellen Anforderungen des Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV an Kreise generell nicht mehr gerecht würden. Dies gilt auch im Hinblick auf den Richtwert für die künftigen Flächenausdehnungen.

154

Zwar setzt die Kerngehaltsgarantie des Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV der Kreisgröße gewisse äußerste Grenzen (vgl. auch StGH BW, Urt. v. 08.09.1972 - 6/71 -, DÖV 1973, 163). Der Gesetzgeber darf nicht Kreise schaffen, die wegen ihrer Größe den überörtlichen, die Gemeindeebene ergänzenden Selbstverwaltungsaufgaben nicht mehr gerecht werden können. Wann diese Grenze überschritten ist, ist aber der Verfassung selbst nicht zu entnehmen und lässt sich auch nicht durch die abstrakte Festlegung von flächenmäßigen Obergrenzen bestimmen. Dafür unterscheiden sich die Gegebenheiten und die Organisationsstrukturen der kommunalen Ebenen - nicht zuletzt als Folge von unterschiedlichen historischen und rechtlichen Entwicklungen - von Bundesland zu Bundesland viel zu stark, als dass sich diese länderspezifischen Voraussetzungen einer bundesweit einheitlichen Maßstabsbildung unterwerfen ließen. Das Funktionieren eines Kreises als Selbstverwaltungseinrichtung, insbesondere seiner übergemeindlichen Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion, sowie seine Überschaubarkeit und Bürgernähe hängen von einer Vielzahl von - nur teilweise numerisch erfassbaren - Faktoren ab wie etwa der Bevölkerungsdichte, aber auch der Siedlungs- und Verkehrsinfrastruktur (vgl. Scheffer, LKV 2008, 158). Auch wird sich die Betrachtung nicht auf die Flächenausdehnung eines Kreises beschränken können (vgl. Erbguth, DÖV 2008, 152, 154 f.). Es geht dabei nicht allein um Entfernungen, die von Kreistagsmitgliedern im Zusammenhang mit ihrer Mandatsausübung oder von Bürgern bei Inanspruchnahme von Verwaltungsleistungen des Kreises zu bewältigen sind. Von Bedeutung ist vielmehr die materielle und finanzielle Wirkkraft eines Kreises, zumal sich zu enge Spielräume demotivierend auf das ehrenamtliche Engagement auswirken können (Hesse, Kreisgröße und kommunales Ehrenamt, Berlin 2008, S. 87). Entscheidend muss sein, ob das erhalten bleibt, was die spezifische Aufgabenfunktion der Kreise als Selbstverwaltungskörperschaften (siehe auch § 88 KV M-V) ausmacht in Abgrenzung etwa zu Mittelinstanzen im staatlichen Behördenaufbau; dies erfordert in erster Linie eine inhaltliche Betrachtung. Zu prüfen ist vorrangig, ob der Gesetzgeber die Verbindung von Aufgabenzuweisung unter Respektierung der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie aus Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG bzw. Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV (kompetentielle Mindestausstattung) und Garantie einer unmittelbar gewählten Volksvertretung als Ausdruck der politisch-demokratischen Funktion hinreichend wahrt (vgl. hierzu Meyer in: Schweriner Kommentierung, 3. Aufl. 2005, § 88 Rn. 11).

155

Die nach Leitbild und Leitlinien vorgesehene Vergrößerung der Landkreise auf eine Regelmindestgröße von 175.000 Einwohnern (bezogen auf das Jahr 2020) bei einer Fläche von in der Regel bis zu 4.000 km2 als solche überschreitet in Ansehung der Gegebenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern und des Gesamtgefüges der Neuregelungen in Form einer generell abstrakten Vorgabe die von Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV gezogenen Grenzen nicht. Im Hinblick auf die Vielzahl ganz unterschiedlicher Rahmenbedingungen und alternativer Gestaltungsmöglichkeiten lässt sich die Frage nach der Wahrung des verfassungsrechtlich geschützten strukturellen Kerns bei den neu geschaffenen Kreisen nur unter Betrachtung der konkreten gesetzgeberischen Umsetzung dieser Vorgaben im Einzelfall beantworten.

156

d) Im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte besteht keine Veranlassung, an der Erforderlichkeit und Eignung einer Reform gerade auch der Kreisebene zur Erreichung der mit Leitbild und Leitlinien gesetzten Ziele zu zweifeln. Weder bedurfte es einer vorherigen, speziell auf die Kreisebene bezogenen Untersuchung i.S. einer sog. Defizitanalyse, ob bzw. inwieweit sich bei den bestehenden Kreisgebietsstrukturen Mängel in der Verwaltung oder bei der Versorgung der Bevölkerung gezeigt hätten, die einen besonderen Handlungsbedarf begründeten (aa), noch kann angenommen werden, die Kreisgebietsreform sei ausschließlich darauf ausgerichtet, die Landesebene auf Kosten der Kommunen zu sanieren (bb).

157

aa) Die Gesetzesbegründung des Kreisstrukturgesetzes stellt ebenso wie schon die Begründung des Verwaltungsmodernisierungsgesetzes 2006 hinsichtlich der Notwendigkeit einer Kreisgebietsreform vor allem auf den erheblichen demographischen Wandel in einem Bundesland ab, das innerhalb der Bundesrepublik Deutschland das mit Abstand am dünnsten besiedelte ist, sowie auf die sich absehbar verschlechternde Finanzausstattung. Unter diesen unverändert anzunehmenden schwierigen und auch von den Beschwerdeführern nicht in Abrede gestellten Umständen darf sich der Gesetzgeber durch grundlegende Änderungen der allgemeinen Verhältnisse im Land zu einer Gesamtreform veranlasst sehen; er braucht keine Defizitanalyse darüber vorzunehmen, ob und in welcher Beziehung gerade die bestehenden Landkreise und kreisfreien Städte konkret ihre Aufgaben nicht hinreichend erfüllen (so schon LVerfG M-V, Urt. v. 26.07.2007 - LVerfG 9/06 u.a. -, LVerfGE 18, 342, 379). Die Selbstverwaltungsgarantie zwingt den Gesetzgeber nicht, den Eintritt konkreter Missstände abzuwarten, bevor er eine Gebietsreform durchführt, wenn eine solche schon durch die prognostizierten Entwicklungen des Landes in der näheren Zukunft gerechtfertigt ist.

158

Die Notwendigkeit einer Defizitanalyse lässt sich entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer auch nicht mit der Erwägung begründen, die Defizitanalyse sei nur entbehrlich, wenn der Gesetzgeber die von ihm angestrebte Gesamtreform der öffentlichen Verwaltung insgesamt in engem zeitlichen Zusammenhang durchführe. Maßgeblich ist vielmehr allein, dass der Gesetzgeber aufgrund der zu erwartenden Entwicklungen eine Umgestaltung der Verwaltung auf Landes- und kommunaler Ebene für erforderlich halten darf. In welcher Weise er die Gesamtreform umsetzt und wie er dabei die Prioritäten setzt, fällt in die Sphäre politischer Entscheidungen, die einer verfassungsgerichtlichen Nachprüfung grundsätzlich entzogen sind (vgl. auch StGH BW, Urt. v. 08.09.1972 - 6/71 -, ESVGH 23, 1, 14: Der Gesetzgeber ist nicht gehalten, das Stadt-UmlandProblem gleichzeitig mit der Landkreisneugliederung zu lösen).

159

bb) Die Kreisgebietsreform ist auch nicht darauf ausgerichtet, das Land auf Kosten der Kommunen zu sanieren. Dass der Gesetzgeber den bestehenden Reformbedarf in erster Linie aus Bedürfnissen der Landesverwaltung herleite, entspricht allein der Wertung der Beschwerdeführer. Die Gesetzesbegründung stellt demgegenüber mehrfach und für das Gericht nachvollziehbar auf Handlungsbedarf im staatlichen wie im kommunalen Bereich ab. So wird neben der Finanzlage des Landes auch die der Kommunen ausführlich erörtert, etwa unter den Gesichtspunkten zu geringer originärer Einnahmen, des Personalabbaus, der nach internen Optimierungen und entsprechendem Aufgabenverzicht allmählich an einem Punkt angekommen sei, an dem er ohne strukturelle Maßnahmen jenseits der eigenen Organisation im Hinblick auf eine dringend nötige Konsolidierungsanpassung nicht weiter fortgeführt werden könne, und der Verschuldung der Kommunalhaushalte, die bei schrumpfender Bevölkerung zu sinkenden Finanzierungsspielräumen für öffentliche Leistungen führe; dabei müssten sinkende Einnahmen nicht durch Kreditaufnahmen, sondern durch Anpassung der Ausgaben kompensiert werden (vgl. LT-Drs. 5/2683, S. 62 ff.). Zudem wird der bestehende Reformbedarf nicht allein mit den finanziellen Rahmenbedingungen, sondern vor allem auch mit den Konsequenzen der Bevölkerungsentwicklung begründet, die jene maßgeblich beeinflussten. Der Rückgang der Einwohnerzahlen und der steigende Anteil der Älteren stellten eine Herausforderung für die Infrastruktur der Kommunen und des Landes dar. Es sei zweifelhaft, ob die heutigen Landkreise und kreisfreien Städte das Versorgungsniveau noch aufrecht erhalten könnten. In gering besiedelten Gebieten, in denen immer weniger junge Menschen lebten, werde es für die Verwaltungen schwieriger, geeignetes Nachwuchspersonal zu gewinnen. Ungeachtet dessen müsse für alle Teile und alle Altersgruppen der Bevölkerung ein angemessener Zugang zu qualitativ gleichwertigen Verwaltungsleistungen gewährleistet werden (vgl. LT-Drs. 5/2683, S. 52 f.).

160

e) Es ist auch nicht ersichtlich, dass die nach Leitbild und Leitlinien anzustrebenden Maßnahmen deutlich außer Verhältnis zu den Reformzielen stünden. Dies gilt auch für die Festlegung eines Richtwertes von mindestens 175.000 Einwohnern je Kreis. Der Gesetzgeber hat sich dabei mit alternativen Lösungen auseinandergesetzt und mit nachvollziehbarer und vertretbarer Begründung die Beibehaltung der bestehenden Kreisgebiete, aber auch Kooperationsmodelle und schließlich die Bildung deutlich einwohnerschwächerer Landkreise als Handlungsalternativen abgelehnt. Dabei ist insbesondere seine Einschätzung, Kooperationsmodelle seien zur Zielerreichung weniger geeignet, verfassungsrechtlich unbedenklich, nicht zuletzt auch wegen der Nachteile hinsichtlich der Transparenz der Verwaltung (vgl. hierzu SächsVerfGH, Beschl. v. 22.04.2008 - Vf 19-VIII-08 -, SächsVBl. 2008, 170, 176)

161

Dem Richtwert lässt sich auch nicht entgegen halten, dass diese Zielgröße empirisch nicht belegt sei und schonendere Alternativen, etwa die bei der Kreisgebietsreform in Sachsen-Anhalt (wie die Beschwerdeführer meinen: „erfolgreich") zugrunde gelegten Richtgrößen (Fläche von höchstens 2.500 km2 und 150.000 Einwohner im Jahr 2025), nicht einbezogen worden seien. Schon wegen der Ausnahmestellung Mecklenburg-Vorpommerns hinsichtlich der Bevölkerungsdichte sind in anderen Bundesländern festgelegte Richtwerte nicht übertragbar und können nicht die hier getroffenen Festlegungen als unverhältnismäßig erscheinen lassen (vgl. auch Müller, LKV 2005, 478); „optimale Betriebsgrößen" sind kaum exakt zu ermitteln (Bull, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen einer Funktional-, Struktur- und möglichen Kreisgebietsreform – Gutachten im Auftr. d. Staatskanzlei S-H, Hamburg 2007, S. 65).

162

Dabei geht auch das Landesverfassungsgericht davon aus, dass die Einwohnerzahl von besonderer Bedeutung für die Kreisstrukturreform ist (vgl. hierzu Steinbrecher/Thater, ifo Dresden berichtet 3/2010, S. 24 f.). Mecklenburg-Vorpommern ist eines der Bundesländer, die in den nächsten Jahren sehr stark vom demographischen Wandel betroffen sein werden, und gleichzeitig bereits heute das Bundesland mit der geringsten Einwohnerdichte. Legt man den festgestellten Zusammenhang zwischen den Pro-Kopf-Ausgaben eines Landkreises und seiner Einwohnerzahl zugrunde, ist es im Hinblick auf die mit der Reform angestrebten Skalen- und Verbundeffekte nachvollziehbar, dass die neuen Landkreise hinreichend große Einwohnerzahlen aufweisen müssen, damit die Skaleneffekte deutlich höher liegen als die Umstrukturierungskosten. Dabei müssen in Mecklenburg-Vorpommern zwangsläufig größere Kreisflächen in Kauf genommen werden als in anderen Bundesländern, um ein ausreichend großes Bevölkerungspotenzial und damit die angestrebten Einsparungen zu erreichen (vgl. auch Hesse, Kreisgröße und kommunales Ehrenamt, S. 88).

III.

163

Ebenso wenig sind die in Art. 1 § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 und §§ 5 bis 8 des Kreisstrukturgesetzes für die Gebiete der beschwerdeführenden Landkreise in Umsetzung von Leitbild und Leitlinien konkret getroffenen Festlegungen für die Neugliederung verfassungsrechtlich zu beanstanden. So sind - bezogen insbesondere auf den strukturellen Aspekt der Überschaubarkeit eines Kreises - die Anforderungen des Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV eingehalten (1), ist das Ergebnis der Abwägung im Spannungsverhältnis zwischen dem Bestreben nach Schaffung nachhaltig tragfähiger und effektiver Verwaltungsstrukturen einerseits und der Notwendigkeit der Erhaltung der ehrenamtlich ausgeübten kommunalen Selbstverwaltung andererseits vertretbar (2) und sind bezogen auf die Lösungen im Einzelfall Alternativen hinreichend in die Abwägung einbezogen worden (3). Auch unter dem Aspekt der Systemgerechtigkeit ist das gefundene Ergebnis nicht zu beanstanden (4); den Begründungsanforderungen ist genügt (5).

164

1. Die Einschätzung des Gesetzgebers, auch in den neu geschaffenen Kreisen werde kommunale Selbstverwaltung in dem Sinne möglich sein, wie sie dem vom Grundgesetz und der Landesverfassung vorgegebenen, im allgemeinen Verständnis verhafteten Bild der Landkreise entspricht, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch wenn mit der nunmehr Gesetz gewordenen Kreisstruktur zwei Landkreise geschaffen werden, die den angestrebten Flächenrichtwert von 4.000 km2 deutlich überschreiten (Südwestmecklenburg mit 4.751 km2 und Mecklenburgische Seenplatte mit 5.469 km2), ist davon auszugehen, dass damit die strukturellen Anforderungen gewahrt sind, die von Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV für Kreise vorgegeben werden und deren Einhaltung das Gericht im Grundsatz vollumfänglich zu prüfen hat. Dies gilt insbesondere für die Überschaubarkeit als Wesensmerkmal eines Kreises und Voraussetzung für das Funktionieren bürgerschaftlich-demokratischer Selbstverwaltung entsprechend dem ihr von Verfassungs wegen eingeräumten Gewicht (vgl. LVerfG M-V, Urt. v. 26.07.2007 - LVerfG 9/06 u.a. -, LVerfGE 18, 342, 386 ff.).

165

Sowohl das Grundgesetz als auch die Landesverfassung gehen davon aus, dass es zwischen der Landes- und der Gemeindeebene kommunale Selbstverwaltungskörperschaften in Gestalt der Landkreise gibt. Dabei schließt der Kreis gleichsam die Lücke zwischen staatlich-zentraler Aufgabenerfüllung einerseits und notwendig ortsnaher und bürgernaher Aufgabenerfüllung in den Gemeinden andererseits (vgl. Schmidt-Aßmann, DVBl. 1996, 534). Das Funktionieren eines Kreises als Selbstverwaltungseinrichtung, insbesondere seine übergemeindliche Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion, seine Überschaubarkeit und Bürgernähe hängen - wie bereits oben dargestellt - von einer Vielzahl von Faktoren ab.

166

Kommunale Selbstverwaltung zielt ab auf die Aktivierung der Bürger für die Erledigung ihrer eigenen Angelegenheiten (BVerfGE 11, 266, 275). Auf Kreisebene bedeutet sie Behandlung und Entscheidung der die Gemeinden übergreifenden Angelegenheiten, geprägt durch die bürgerschaftlich-demokratische Komponente der ehrenamtlichen Mitwirkung im Kreistag (Ewer, Gutachten 2007, S. 163 f.; Meyer in: Büchner/Franzke/Nierhaus, Verfassungsrechtliche Anforderungen an Kreisgebietsreformen - Zum Urteil des LVerfG M-V, 2008, S. 64; nach Katz/Ritgen, DVBl. 2008, 1525, 1531, ist das Ehrenamt sogar wesensbestimmendes Element kommunaler Selbstverwaltung; kritisch Bull in: Büchner/Franzke/Nierhaus, a.a.O., S. 27 f.). Dies ist auch unter dem Aspekt, dass die Selbstverwaltung in den Gemeinden und Kreisen dem Aufbau der Demokratie von unten nach oben dient (Art. 3 Abs. 2 LV), und damit für den politischdemokratischen Aufbau des Gemeinwesens von zentraler Bedeutung (vgl. hierzu Wallerath in: Litten/Wallerath, LVerf M-V, Art. 3 Rn. 6; Thieme in: Büchner/Franzke/Nierhaus, S. 117 f.; Ewer, Gutachten 2007, S. 78 f.). Politisch-demokratisches Handeln beginnt für die Menschen in den Kommunen. Dementsprechend müssen (auch) Kreise so gestaltet sein, dass es ihren Bürgern typischerweise möglich ist, nachhaltig und zumutbar ehrenamtliche Tätigkeit in den Vertretungskörperschaften, d.h. im Kreistag und seinen Ausschüssen zu entfalten (so LVerfG M-V, Urt. v. 26.07.2007 - LVerfG 9/06 u.a. -, LVerfGE 18, 342, 387; vgl. hierzu auch Katz/Ritgen, a.a.O.; März, NJ 2007, 433, 441; Dombert in: Büchner/Franzke/Nierhaus, a.a.O., S. 44).

167

Die kommunale Selbstverwaltung muss vor solchen Beeinträchtigungen geschützt werden, die sich aus einer wesentlichen, ihre Funktionsfähigkeit gefährdenden Verschlechterung der Rahmenbedingungen ergeben (vgl. Bull, Gutachten 2007, S. 70 f). Dabei mag auch die Tendenz, dass sich Kreistage schon jetzt vornehmlich aus Angehörigen bestimmter Berufsgruppen zusammensetzen, in den Blick zu nehmen sein (vgl. hierzu LVerfG M-V, Urt. v. 26.07.2007 -LVerfG 9/06 u.a. -, a.a.O. S. 389; kritisch hierzu Bull in: Büchner/Franzke/Nierhaus, a.a.O., S. 26 f.; Mehde, NordÖR 2007, 331, 335). Auch erfordert die wirksame Wahrnehmung der Ausgleichsund Ergänzungsfunktion der Kreise, dass sich die Kreistagsmitglieder über die Verhältnisse auch in entfernter gelegenen Bereichen des Kreises in zumutbarer Weise eigene Kenntnisse verschaffen können (vgl. Nierhaus in: Büchner/Franzke/Nierhaus, a.a.O., S. 11).

168

Angesichts der Vielfalt von Möglichkeiten, einerseits die kreiskommunale Mandatsausübung rechtlich näher auszugestalten und andererseits die Bedingungen der praktischen Arbeit zu gestalten, und der höchst unterschiedlichen Auswirkungen je nach der Situation der Betroffenen können auch im Einzelfall absolute Grenzen hinsichtlich der Kreisgröße kaum gezogen werden (vgl. auch Bull, Gutachten 2007, S. 65 f.). Auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beschwerdeführer und in Auswertung der einschlägigen Berichte und Gutachten, die sich teils auf empirische Untersuchungen auf der Basis der derzeit gegebenen kreislichen Strukturen stützen, teils daraus lediglich Schlussfolgerungen in Form von Prognosen für größere Kreisgebiete ziehen können, ist nicht festzustellen, dass mit den neu geschaffenen Landkreisen - oder zumindest in einzelnen von ihnen - die Kreisebene den sie prägenden Charakter als Teil der kommunalen Selbstverwaltung verliert (allgemein siehe Erbguth, DÖV 2008, 152, 154 f.; Bull, Gutachten 2007, a.a.O. sowie DVBl. 2008, 1, 6 und in: Büchner/Franzke/Nierhaus, a.a.O., S. 25 ff.; Seitz in: Büchner/Franzke/Nierhaus, a.a.O., S. 85 ff.; Hesse, Kreisgröße und kommunales Ehrenamt, S. 88).

169

Auch wenn die Einhaltung der strukturellen Anforderungen des Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV grundsätzlich der vollen verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterliegt, ist es zunächst Sache des Gesetzgebers, die künftige Entwicklung von Sachverhalten zu beurteilen und die Auswirkungen der von ihm getroffenen Regelungen hierauf zu prognostizieren. Ihm kommt insoweit ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum selbst dann zu, wenn er - wie hier -verfassungsrechtlich verpflichtet ist, den Kernbereich kommunaler Selbstverwaltung zu wahren. Der Umfang des Spielraums hängt von verschiedenen Faktoren ab, insbesondere von der Eigenart des zu regelnden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich - zumal über künftige Entwicklungen wie die Auswirkungen einer Norm - ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter (vgl. auch BVerfGE 88, 203, 262; 50, 290, 332 f.). Dabei können differenzierte Maßstäbe zur Anwendung kommen, die von einer Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensiveren inhaltlichen Kontrolle reichen (vgl. BVerfGE 123, 186, 241; 50, 290, 333).

170

Im vorliegenden Fall genügt es, dass gewichtige Beeinträchtigungen der kommunalen Selbstverwaltung auch für die Zukunft mit vertretbaren Argumenten verneint werden können. Es kann nicht gefordert werden, dass der Gesetzgeber die Auswirkungen der Kreisgebietsreform in jeder Hinsicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit oder gar Sicherheit übersieht (vgl. BVerfGE 50, 290, 333). Anderenfalls wäre die erforderliche gesetzgeberische Konkretisierung, auf welche die Gewährleistung kommunaler Selbstverwaltung als institutionelle Garantie ausgelegt ist (vgl. auch Wallerath, FS Schnapp, 2008, S. 695, 707), im Hinblick auf deren Weiterentwicklung ganz erheblich erschwert bzw. sogar ausgeschlossen. Dies würde auch für den vorliegenden Fall gelten, in dem die vom Gesetzgeber für notwendig erachtete Anpassung der Kreisstrukturen an die zukünftigen Anforderungen, nämlich deren Vergrößerung, naturgemäß nicht auf empirische Erkenntnisse gestützt werden kann, soweit es um deren künftige Auswirkungen auf das kommunale Ehrenamt geht. Prüfungsmaßstab kann daher nur sein, ob der Gesetzgeber die oben genannten Faktoren ausreichend berücksichtigt und seinen Einschätzungsspielraum in vertretbarer Weise gehandhabt hat.

171

Dies ist hier der Fall. Der Gesetzgeber hat insbesondere die vorgenannten Faktoren ausreichend berücksichtigt. Dabei durfte er davon ausgehen, dass weitere gutachterliche Einschätzungen zu der Frage, wie sich die vorgesehene Vergrößerung der Kreise auf die bürgerschaftlich-demokratische Komponente der kommunalen Selbstverwaltung im Einzelnen auswirken werde, schon deshalb keinen nennenswerten Mehrwert haben würden, weil es im Bundesgebiet an empirischen Erfahrungen mit Flächenausdehnungen von deutlich über 3.000 km2 fehlt. Da hinreichend gesicherte Feststellungen nicht zu gewinnen sind, blieben weitere Erkenntnisse zur Folgenabschätzung der Landkreisneuordnung auf das Ehrenamt nach gegenwärtigem Erkenntnisstand beschränkt auf gutachterlich eingeholte Einschätzungen von Mandatsträgern und Bürgern in den Kreisen zu möglichem eigenem oder fremdem künftigen Verhalten. Schon Hesse (Kreisgröße und kommunales Ehrenamt) stützt seine Aussagen im Wesentlichen auf Interviews mit Funktionsträgern aus der Landes- und Kommunalverwaltung in Mecklenburg-Vorpommern und anderen Flächenländern der Bundesrepublik. Davon konnte im Hinblick auf die Fragwürdigkeit des damit verbundenen Erkenntnisgewinns abgesehen werden. Der Gesetzgeber durfte sich auf seine eigene Einschätzung stützen.

172

Es ist auch nicht erkennbar, dass er bei seiner Prognose von unvertretbaren Annahmen ausgegangen ist. So fehlt es - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer - an hinreichenden Anhaltspunkten für die Annahme, dass die neuen Kreisstrukturen insbesondere im Hinblick auf ihre Flächenausdehnungen zu erheblichen Beeinträchtigungen vor allem für die Ausübung des kreiskommunalen Ehrenamtes führen werden.

173

Es sind signifikante Selbstverwaltungseinbußen infolge größerer Flächenausdehnung bei den im Bundesgebiet vorhandenen Kreisen mit einer Größe zwischen unter 1.000 und bis zu 3.000 km2 nicht feststellbar (Hesse, Kreisgröße und kommunales Ehrenamt, S. 89). Auch gibt es keine empirischen Belege dafür, dass in diesen Kreisstrukturen die Bereitschaft, für den Kreistag zu kandidieren, mit zunehmender Fläche abnimmt (vgl. Seitz in: Büchner/Franzke/Nierhaus, a.a.O., S. 85 ff.). Nähme man hiervon ausgehend bei wachsender Kreisgröße eine lineare Steigerung der Belastungen an, wären auf dieser Grundlage deutlich größere Kreisgebiete als die derzeit im Bundesgebiet vorhandenen zulässig. Selbst die Annahme, entsprechende Mehrbelastungen würden sich ab einer Kreisgröße von über 3.000 km deutlich verstärken (was die verfügbare Empirie gerade nicht belegen kann), ließe nicht den Schluss zu, die Erweiterung eines Kreisgebiets etwa auf 4.000 oder 5.400 km2 - was den derzeit größten Kreis im Bundesgebiet um rund ein bzw. mehr als zwei Drittel überträfe - nähme solchen Gebietskörperschaften die Eigenschaft als Kreise im Sinne des Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV (vgl. hierzu auch Hesse, Kreisgröße und kommunales Ehrenamt, S. 89 f.). Dass Bürgernähe und Identifikation bei einer solchen flächenmäßigen Vergrößerung der Kreise gefährdet sein könnten, ist nicht belegt.

174

Es fehlen auch hinreichende Belege, die von Verfassungs wegen die Überzeugung begründen könnten, die durch das Grundgesetz und die Landesverfassungen gezogene absolute Grenze für Kreisgrößen sei jedenfalls bei flächenmäßigen Ausdehnungen von mehr als 5.000 km2 regelmäßig überschritten (so aber Ewer, Gutachten zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen einer Verwaltungsstruktur-, Funktional- und Kreisgebietsreform, Kiel 2007, S. 108 f.; vgl. auch Erbguth, DÖV 2008, 152, 154 f.).

175

Eine tatsächliche Vermutung streitet dafür nicht. Da die Annahme einer Grenze von 5.000 km2 im Übrigen nur für den Regelfall gelten soll, schließt sie auf sachlichen Gründen, insbesondere den spezifischen Verhältnissen im betreffenden Bundesland, beruhende Ausnahmen schon nicht aus. Zudem ist die Grundannahme nicht überzeugend. Sie wird im Wesentlichen aus der Betrachtung der bisherigen kreislichen Gegebenheiten im Bundesgebiet unter Berufung auf einzelne Literaturstimmen und die Entscheidung des erkennenden Gerichts vom 26. Juli 2007, in der das Gericht „jedenfalls bei Kreisen mit einer Fläche von 6.997 bzw. 5.809 km2 ... erhebliche Zweifel an deren verfassungsrechtlichen Zulässigkeit" geäußert hat, hergeleitet, ohne über empirische Erkenntnisse im Hinblick auf die Auswirkungen größerer Kreisflächen zu verfügen. Da die vorgenannte Entscheidung aus ihrem besonderen Kontext heraus gesehen werden muss - denn nach Auffassung des Gerichts war das Land mit dem darin überprüften Reformvorhaben, das lediglich fünf Großkreise unter Einkreisung sämtlicher bisher kreisfreier Städte mit Flächen zwischen 3.182 und 6.997 km2 vorsah, „mit seinem auf Einräumigkeit und Einheit der Verwaltung in Verbindung mit der Orientierung an vorhandenen Planungsregionen gerichteten Reformansatz neue Wege gegangen", von „dem Entscheidungsmuster abgewichen, nach dem gemeinhin umfassende Kreisgebietsreformen konzipiert und durchgeführt werden" und „in eine neue Dimension vorgestoßen" -, kann sie nicht als Beleg für eine solche absolute Grenze dienen. Die angeführten Literaturstimmen („Clausen-Gutachten" für die hiesige Kreisgebietsreform 1993/1994; hierauf Bezug nehmend Meyer in: Schweriner Kommentierung, § 96, Rn. 4; Pappermann/Stollmann, NVwZ 1993, 240) sind ersichtlich „überholt" bzw. tragen den aktuellen Entwicklungen nicht hinreichend Rechnung. Auch soweit Rothe (Kreisgebietsreform und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, 2004, S. 150), ausgehend von einem (abstrakten) Richtwert für eine empfehlenswerte Flächengröße von 2.000 bis 2.500 km2, feststellt, dass ein Gebiet ab 3.000 km2 „unter Selbstverwaltungsgesichtspunkten nicht mehr ... integrativ verwaltbar" sei (S. 148), wird diese Annahme nicht belegt (vgl. auch den Landkreis Uckermark in Brandenburg). Er selbst hält eine schematische Vorgehensweise für nicht vertretbar (S. 149 m.w.N.).

176

Fehlen somit auch hinreichende Belege für die abschreckende Wirkung größerer Flächenausdehnungen wie bei den hier gebildeten neuen Kreisen, und lassen sich insoweit konkrete Belastungsgrenzen für das Ehrenamt kaum festlegen (vgl. auch Hesse, Kreisgröße und kommunales Ehrenamt, S. 90; Bull, DVBl. 2008, 1, 6), sind ungeachtet dessen die Befürchtungen ernst zu nehmen, die insoweit vor allem im Hinblick auf die Mandatsausübung geäußert werden. Bei Flächenausdehnungen von rund 4.700 und 5.400 km2 und Entfernungen vom Randbereich des Kreises bis zum Kreissitz von über 100 km geht es bei der Frage nach den daraus folgenden spezifischen Nachteilen für die ehrenamtliche Mandatsausübung, ihrer Relevanz für die Entscheidung zur Übernahme eines solchen Mandats und möglichen Belastungsgrenzen wiederum vor allem um individuellen Aufwand und Hindernisse, die einzelne Mandatsträger treffen können. Bei dem größten Teil der Kreistagsmitglieder, die in den neuen Kreisen weitere Entfernungen zu überbrücken haben, wird die Bereitschaft zur Übernahme des Ehrenamtes nicht davon abhängen, ob sie für die Fahrt zum Kreistag künftig beispielsweise 15 bis 20 Minuten länger benötigen werden. Die Tätigkeit als Kreistagsabgeordneter ist ohnehin mit einem erheblichen Zeiteinsatz verbunden. Daher werden zum nachhaltigen Einsatz für das Gemeinwesen bereite Bürger sich davon kaum allein wegen einer entsprechenden zeitlichen Mehrbelastung abhalten lassen (vgl. Seitz, Kreisgröße, Bürgerbeteiligung und Demokratie, Beitrag für "ifo dresden berichtet", 2007, S. 12). Die Bereitschaft zur Mitwirkung im Kreistag dürfte durch eine Vielzahl von Gründen beeinflusst werden. Für die Frage der Erreichbarkeit des Kreissitzes in einer vertretbaren Zeit ist nicht allein die bloße Distanz maßgeblich, sondern sind vor allem auch die zur Verfügung stehenden Verkehrswege und -mittel einschließlich der Möglichkeit, das zeitsparendste Verkehrsmittel in Anspruch nehmen zu können und dafür angemessen finanziell entschädigt zu werden, von Bedeutung. Weitere Umstände, insbesondere die durch die Reform wachsende politische und administrative Bedeutung des Kreises sowie der damit verbundene Zuwachs an Gestaltungsmöglichkeiten für den Kreistag und die darin mitwirkenden Mandatsträger, können das Kriterium der Erreichbarkeit des Kreissitzes in den Hintergrund treten lassen (vgl. Erbguth, DÖV 2008, 152, 154 f.). Generelle Belastungsobergrenzen lassen sich nicht festlegen. An - denkbaren - besonders gelagerten Einzelfällen (etwa Wohnort an der Peripherie des Kreises und Angewiesensein auf Nutzung einer Taxe für eine Rückkehr in zumutbarer Fahrzeit) muss sich die verfassungsrechtliche Bewertung nicht ausrichten.

177

Auch unter dem Aspekt, dass die Kreistagsmitglieder in der Lage sein müssen, sich über die Verhältnisse auch in entfernter gelegenen Bereichen des Kreises in zumutbarer Weise eigene Kenntnisse zu verschaffen, ist nicht ersichtlich, dass die Mandatsträger ihre Verantwortung hinsichtlich der kreisintegralen Aufgaben und der Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben der Kreise regelmäßig nicht mehr hinreichend werden wahrnehmen können. Schon wegen der Vielzahl von Möglichkeiten - einschließlich moderner Informationstechnologie -, sich auch in einem Kreis mit einer Flächenausdehnung von rund 5.400 km2 bei Bedarf nähere Kenntnisse über bestimmte Verhältnisse vor Ort zu verschaffen und die Zusammenarbeit mit den Einwohnern, in Gremien und mit der Verwaltung praktikabel und effizient zu gestalten, ist die Überschaubarkeit des Kreises insoweit nicht ernsthaft in Frage gestellt, auch nicht mit Blick auf die Verringerung der Repräsentationsquote (so aber Ewer, Gutachten 2007, S. 103: „Mandatsausdünnung"; vgl. hierzu auch März, NJ 2007, 431, 438; Schröder, LKV 2006, 540, 544).

178

Das Landesverfassungsgericht sieht bei den gewählten Gebietszuschnitten die Überschaubarkeit auch nicht unter den Aspekten der Bürgernähe und Identifikation in einer Weise in Frage gestellt, die dazu führt, den neu gebildeten Kreisen die Eigenschaft von Kreisen i. S. des Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV abzusprechen.

179

Für die Bürgernähe wird es ohnehin weniger auf die räumliche Distanz zum Kreissitz ankommen als vielmehr auf die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Kreis und Einwohnern, die - was auch beabsichtigt ist - durch verstärkte Nutzung moderner Kommunikationstechnologien und die Schaffung von Außenstellen der Kreisverwaltung bei Ämtern und amtsfreien Gemeinden deutlich verbessert werden können. Für die Frage der inneren Verbundenheit der Einwohner mit „ihrem" Kreis wird weniger die Repräsentationsdichte durch Abgeordnete im Kreistag von Bedeutung sein als vielmehr die Aufgabenkompetenz des Kreises insgesamt, d.h. Art und Weise der Ausübung wichtiger Zuständigkeiten, und deren für die Bürgerinnen und Bürger sichtbare Wahrnehmung.

180

Durchgreifende Bedenken kann auch die bloße Zahl der in den künftigen Landkreisen zusammengefassten Gemeinden als solche nicht begründen (vgl. zu diesem Aspekt Ewer, Gutachten 2007, S. 83 ff.), zumal die koordinierende Funktion der Amtsebene nicht außer Betracht bleiben darf.

181

Damit ist die Beurteilung der Auswirkungen des Gesetzes aus Sicht der Kernbereichsgarantie als vertretbar anzusehen, mag sie sich später auch ganz oder teilweise als Irrtum erweisen (vgl. dazu BVerfGE 123, 186, 242; 50, 290, 335 f.).

182

2. Das Landesverfassungsgericht kann nicht feststellen, dass der Gesetzgeber im Rahmen seiner Abwägung das Spannungsverhältnis zwischen dem Bestreben, nachhaltig tragfähige und effiziente Verwaltungsstrukturen zu schaffen, und der Notwendigkeit, die ehrenamtlich ausgeübte kommunale Selbstverwaltung zu erhalten (vgl. hierzu schon LVerfG M-V, Urt. v. 26.07.2007 - LVerfG 9/06 u.a. -, LVerfGE 18, 342, 373), nicht hinreichend berücksichtigt bzw. einseitig zum Nachteil der Selbstverwaltungsbelange aufgelöst hätte. Der Gesetzgeber hat die Vor- und Nachteile der gesetzlichen Regelung gerade auch mit Blick auf die Flächenausdehnung der geplanten Kreise in seine Abwägung als Belange eingestellt und diese nachvollziehbar und vertretbar vorgenommen. Dabei hat er sich aufgrund der besonderen Situation des Landes Mecklenburg-Vorpommern und im Hinblick auf die zu erwartende negative Entwicklung der Rahmenbedingungen für eine gewisse Bevorzugung von Effizienz und Wirtschaftlichkeit der Verwaltung und damit notwendig zugleich für das teilweise Zurücktreten anderer betroffener Gesichtspunkte, insbesondere der bürgerschaftlich-demokratischen Komponente der kommunalen Selbstverwaltung, entschieden, um die Ausgangslage für die Bewältigung künftiger Belastungen seitens der Verwaltung zu verbessern. Dass damit beispielsweise größere Entfernungen zum Kreissitz und dadurch bedingt insbesondere längere Fahrtzeiten für einen Teil der Kreistagsmitglieder verbunden sein werden, durfte der Gesetzgeber dabei in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise in Kauf nehmen. Im Rahmen der dem Landesverfassungsgericht obliegenden Kontrolle von Abwägungsvorgang und -ergebnis ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber das Gewicht der bürgerschaftlichdemokratischen Dimension der kommunalen Selbstverwaltung verkannt und nicht mit der vollen ihr von Verfassungs wegen zukommenden Bedeutung in die Abwägung eingestellt hätte oder das Abwägungsergebnis zu den mit der Gebietsreform verfolgten Zielen deutlich außer Verhältnis stünde oder von willkürlichen Erwägungen und Differenzierungen beeinflusst wäre.

183

Das Ergebnis der Abwägung ist auch dann vertretbar, wenn man davon ausgeht, dass die Anforderungen an ein die kommunale Selbstverwaltung berührendes Gesetz und dessen Begründung, mithin auch die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte umso höher sind, je schwerwiegender in die kommunale Selbstverwaltung eingegriffen wird oder - so Stüer (DVBl. 2007, 1271) - je mehr das „tradierte Bild von überschaubaren Kreisstrukturen aufgegeben" wird. Die Bewertung, es handele sich um eine einseitig an Effizienzgesichtspunkten orientierte Kreisgebietsreform unter Ausblendung aller anderen Aspekte, vermag das Landesverfassungsgericht nicht zu teilen. Es hat vielmehr die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers anzuerkennen, weil die Frage nach den Auswirkungen des Gesetzes in hohem Maße von prognostischen Annahmen abhängt.

184

Dies gilt umso mehr, als auch das Kriterium der Effizienz und Wirtschaftlichkeit der Verwaltung in der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung selbst angelegt ist und damit einen entsprechenden verfassungsrechtlichen Stellenwert hat (vgl. Katz/Ritgen, DVBl. 2008, 1525, 1527 f.; Erbguth, DÖV 2008, 152, 154; Dombert in: Büchner/Franzke/Nierhaus, a.a.O., S. 30; Nierhaus in: Büchner/Franzke/Nierhaus, a.a.O., S. 9; Stüer in: Büchner/Franzke/Nierhaus, a.a.O., S. 109), mag auch die bürgerschaftlich-demokratische Dimension kommunaler Selbstverwaltung in der Regel qualitativ gewichtiger sein als bloße Effizienz und Wirtschaftlichkeit. Ineffiziente kommunale Strukturen können ebenso eine Gefahr für eine lebendige Selbstverwaltung darstellen wie die Verkürzung der bürgerschaftlich-demokratischen Teilhabemöglichkeiten; umgekehrt ist aber auch mit kommunaler Selbstverwaltung nicht zwangsläufig ineffiziente Verwaltung verbunden (zum Spannungsverhältnis der beiden Elemente vgl. Mehde, NordÖR 2007, 331, 332). Die im Kreis wohnenden Bürger werden an einer leistungsfähigen und zugleich kostengünstigen Verwaltung ein vergleichbar großes Interesse haben wie an der effektiven Mitwirkung ihrer gewählten Mandatsträger in den kommunalen Entscheidungsgremien (vgl. auch Bull, Gutachten 2007, S. 70 f.).

185

3. Bezogen auf die gebietlichen Festlegungen im Einzelfall hat der Gesetzgeber Alternativen hinreichend mit einbezogen. Dabei gilt, dass Neugliederungsmaßnahmen die Erforderlichkeit erst dann abgesprochen werden darf, wenn Alternativlösungen zur Verwirklichung der mit der Neugliederungskonzeption verfolgten Ziele offensichtlich mindestens gleichermaßen geeignet und zugleich von geringerer Eingriffsintensität als die vom Gesetzgeber gewählte Maßnahme wären (vgl. BbgVerfG, Urt. v. 14.07.1994 - VfGBbg 4/93 -, LKV 1995, S. 37, 39).

186

Die Annahme des Gesetzgebers, das dem Gesetz zugrunde liegende 6+2-Modell habe sich als dasjenige herausgestellt, welches unter den drei Gesichtspunkten Sicherung der Wirtschaftlichkeit, Sicherung des Ehrenamtes und Sicherstellung größtmöglicher Akzeptanz unter den Kommunen das einzig geeignete sei, weil jedes andere Kreismodell einschließlich der Beibehaltung der bestehenden Situation unter mindestens einem der genannten Aspekte schlechter zu bewerten gewesen sei (LT-Drs. 5/2683, S. 4), erweist sich als nachvollziehbar und vertretbar. Die für dieses Modell angeführten Gründe sind auch insoweit hinreichend, als der Gesetzgeber prognostische Unsicherheiten im Hinblick auf die Auswirkungen für das Ehrenamt hingenommen und sich bezogen auf den Richtwert für die Flächenausdehnung der zukünftigen Kreise nicht für den sichereren Weg entschieden hat, da ihm - wie bereits dargelegt - auch insoweit eine Einschätzungsprärogative zuzubilligen ist.

187

Nachvollziehbar und vertretbar ist insbesondere seine Annahme, es habe keine zumindest ebenso geeignete Alternative zur Schaffung des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte gegeben. Hätte man statt des einen zwei neue Landkreise geschaffen, nämlich einen Landkreis „Demmin-Müritz" und einen Landkreis „Mecklenburg-Strelitz-Neubrandenburg", hätten beide den Richtwert von 175.000 Einwohnern in ganz erheblicher Weise unterschritten; Veränderungen des Zuschnitts unter Einbeziehung von Teilen anderer Landkreise hätten wiederum andere im Leitbild verankerte Aspekte vernachlässigt und mit der Aufteilung weiterer Ämter und Landkreise zusätzliche schwierige Überleitungsprobleme aufgeworfen (vgl. hierzu im Einzelnen LT-Drs. 5/2683, S. 141 ff.).

188

Dass der Gesetzgeber für den am dünnsten besiedelten Landesteil, der zugleich einer der strukturschwächsten Räume des Landes ist, einen Kreiszuschnitt vermieden hat, der nicht nur ungeeignet gewesen wäre, den bestehenden Schwächen zu begegnen, sondern sie sogar noch verfestigt hätte, ist nicht zu beanstanden. Dies gilt umso mehr, als bei einem Landkreis „Demmin-Müritz" eine sehr niedrige Einwohnerdichte hinzu gekommen wäre (nur 35 Einwohner je km2 im Jahr 2020) und einen Landkreis „Mecklenburg-Strelitz-Neubrandenburg" entgegen dem Leitbild (Ziffer 5.7) die Stadt Neubrandenburg (Anteil an der Kreisbevölkerung jetzt mehr als 40 %, 47 % im Jahr 2020 und 49 % im Jahr 2030) bevölkerungsmäßig dominiert hätte. Zwar mag die Lösung mit zwei Landkreisen bei formaler Betrachtung allein der räumlichen Ausdehnung „ehrenamtsfreundlicher" wirken, jedoch beruht dieser Eindruck auf einer verkürzten Betrachtung allein von Entfernungsaspekten. Der Gesichtspunkt, dass kommunale Selbstverwaltung auch finanziell und materiell in die Lage versetzt werden muss, genügend Wirkkraft zu entfalten und inhaltlich substantiell gestalten zu können, bliebe dabei unberücksichtigt. Der Gesetzgeber durfte zudem auch auf die raumordnerischen Verflechtungen (zur Einbeziehung von Gesichtspunkten der Raumordnung vgl. SächsVerfGH, Urt. v. 29.05.2009 - Vf. 79-II-08 -, juris Rn. 352) und den erklärten Willen der insoweit betroffenen Ämter und Gemeinden abstellen.

189

Dass die Kreissitze gemäß § 2 Abs. 1 Satz 3 und 4 in Abweichung von §§ 3 bis 8 LNOG M-V durch die Kreistage der neuen Landkreise mit 2/3-Mehrheit noch anderweitig festgelegt werden können, stellt die hinreichende Abwägung von Alternativen nicht in Frage, weil sämtliche in Betracht kommenden Kommunen (die zum Kreisgebiet gehörenden bisherigen Kreissitze und die bisher kreisfreien Städte) in die vorbereitenden Untersuchungen zu Auswirkungen auf die Erreichbarkeit einbezogen worden sind (vgl. zu den Reisezeiten bezogen auf die in Betracht kommenden Kreissitze LT-Drs. 5/2683, S. 241 ff.). Ebenso wenig vermochte die in § 9 LNOG M-V befristet geschaffene Optionsmöglichkeit für einzelne Gemeinden eine ordnungsgemäße Abwägung in Frage zu stellen; unabhängig davon ist heute festzustellen, dass hiervon tatsächlich nicht Gebrauch gemacht worden ist.

190

4. Da der Gesetzgeber im Rahmen seiner Abwägungsentscheidung von seinen mit Leitbild und Leitlinien getroffenen Festlegungen nicht ohne rechtfertigenden Grund abgewichen ist, ist die Neugliederungsentscheidung entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer in ihren konkreten Ausgestaltungen auch unter dem Gesichtspunkt der Systemgerechtigkeit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

191

In der Literatur wie der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte ist mit unterschiedlichem verfassungsrechtlichen Ansatz anerkannt, dass der Gesetzgeber dann, wenn er sich hinsichtlich eines bestimmten Regelungsgegenstandes für ein bestimmtes System oder für bestimmte Strukturprinzipien entschieden hat, dieses System bzw. diese Strukturprinzipien nicht beliebig durchbrechen darf (BVerfGE 125, 175 zur Bindung an die Strukturprinzipien eines selbst gewählten Statistikmodells; BVerfGE 86, 148 zum Länderfinanzausgleich; SächsVerfGH, Urt. v. 29.01.2010 -Vf. 25-VIII - 09 -, LKV 2010, 126, 127 und Urt. v. 29.08.2008 - Vf, 54-VIII-08 -, NVwZ 2009, 39, 44; LVerfG LSA, Urt. v. 13.06.2006 - LVG 14/05 -, LKV 2007, 125, 127 auch zur diesbezüglichen Darlegungslast; Rothe, Kreisgebietsreform und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, S. 119 f.; Gusy, NJW 1988, 2505, 2508).

192

Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Systemgerechtigkeit kann hier schon deswegen nicht festgestellt werden, weil die besondere Struktur von Leitbild und Leitlinien für einen wie hier sehr komplexen Reformansatz zu beachten ist, diese selbst ausdrücklich die Notwendigkeit von Abweichungen hinsichtlich einzelner Elemente bei einer Abwägung widerstreitender Interessen anerkennen und sie den Rahmen dafür vorgeben.

193

Der Gesetzgeber hat die Kreisstrukturreform verstanden als Teil des Gesamtrahmens der Verwaltungsmodernisierung im Bundesland, wie die Beschlussvorlage LT-Drs. 5/1059 i.d.F. der Änderung gem. LT-Drs. 5/1105 über „Ziele, Leitbild und Leitlinien der Landesregierung für eine Kreisgebietsreform in Mecklenburg-Vorpommern" belegt. Dabei handelte es sich um eine komplexe Darstellung der mit der in Angriff zu nehmenden Neugliederungsentscheidung verfolgten Reformziele, verbunden mit der Zusammenfassung verschiedenster Einzelaspekte zu einem Leitbild und einer Vielzahl von Strukturgrundsätzen als Leitlinien, die dabei berücksichtigt werden sollten. Teilweise erfuhren diese einzelnen Parameter - soweit einer solchen Festlegung zugänglich wie etwa die Einwohnerzahl eines neuen Landkreises (175.000 im Jahr 2020) oder dessen Flächenausdehnung (in der Regel nicht größer als 4.000 km2) - eine Konkretisierung durch Zielgrößen.

194

Offenkundig konnte es sich hierbei nicht um ein einheitliches, verbindliches Raster handeln, das lediglich noch über das Land Mecklenburg-Vorpommern hätte gelegt werden müssen, um - im Sinne eines reinen Rechenvorgangs - als Ergebnis eine neue Landkreisstruktur hervorzubringen, die sämtliche Anforderungen optimal hätte erfüllen und allen beteiligten Interessen in gleicher Weise hätte gerecht werden können. Vielmehr konnte es sich nur um die Rahmensetzung für einen Prozess handeln, in den, vielfach abhängig von Prognosen, notwendigerweise Wertungen und Gewichtungen eingingen und nicht zuletzt auch die im Rahmen einer ergebnisoffenen Anhörung aller betroffenen Interessen gewonnenen Erkenntnisse einfließen sollten. Von Anfang an wurde das Spannungsfeld gesehen, in dem notwendig einzelne Gesichtspunkte zueinander stehen mussten (siehe etwa LT-Drs. 5/1409, S. 7), und die Abhängigkeit einer tragfähigen Lösung davon, wie im Ergebnis die jeweiligen Aspekte im Verhältnis zueinander gewichtet würden. In der Konsequenz hätte jede gewählte Lösung Abweichungen von einzelnen - jeweils aber anderen - abstrakt formulierten Zielgrößen und Zielvorstellungen erfordert.

195

Die Abweichungen von den Richtgrößen bei den Landkreisen Nordwestmecklenburg, Mecklenburgische Seenplatte und Südwestmecklenburg waren jeweils auf sachlich nachvollziehbare Gründe gestützt, wenn etwa die Unterschreitung der Mindesteinwohnerzahl damit begründet wird, dass diese eher geringfügig sei und weder die Leistungsfähigkeit des Landkreises noch die Homogenität der neu geschaffenen Landkreise bezüglich der Fläche beeinträchtige (Landkreis Nordwestmecklenburg), oder die Überschreitung des Flächenrichtwertes unter Hinweis auf den Strukturgrundsatz 5.1 damit, zwei Ämter (Sternberger Seenlandschaft und Ostufer Schweriner See) hätten nicht vom Rest des derzeitigen Landkreises Parchim abgetrennt werden sollen (Landkreis Südwestmecklenburg). Entsprechendes gilt für die - bereits oben dargestellten -Gründe für die Überschreitung des Flächenrichtwertes von 4.000 km2 bei dem Landkreis Mecklenburgische Seenplatte auf über 5.400 km2. Die für die Teilung des Landkreises Demmin angeführten Gründe sind ebenfalls sachlich nachvollziehbar belegt (vgl. LT-Drs. 5/2683, S. 81 f.).

196

Dieser Einschätzung widerspricht auch nicht, dass in wenigen Fällen Zuordnungswünschen einzelner Gemeinden oder Ämter ein höheres Gewicht beigemessen wurde als der Einhaltung des 4.000 km2-Richtwertes; auch hierfür sind sachlich nachvollziehbare Gründe anzuerkennen. Im jeweiligen Einzelfall (Ämter Malchin am Kummerower See, Treptower Tollensewinkel, Stadt Dargun, Amt Demmin-Land, Hansestadt Demmin) hat der Gesetzgeber in vertretbarer Weise dem sich aus den Anhörungen betroffener Kommunen ergebenden Stimmungsbild als einem Gesichtspunkt Rechnung tragen dürfen, der ebenfalls, wenn auch nicht vorrangig, für die Ermittlung der Gründe des öffentlichen Wohls und damit für seine Abwägungsentscheidung von Bedeutung ist. Auch wenn den Leitlinien das Eingehen auf derartige Zuordnungswünsche nicht direkt als Kriterium für den Zuschnitt der neuen Landkreise zu entnehmen ist - unter 5.4 der Leitlinien zu „Abweichungen von den Zielgrößen" sind immerhin u.a. „...infrastrukturelle und naturräumliche Zusammenhänge sowie historische und landsmannschaftliche Verbundenheiten" genannt (LT-Drs. 5/1409, S. 8) - und der Gesetzgeber an ein sich aus Anhörungen betroffener Kommunen ergebendes Stimmungsbild nicht gebunden ist (vgl. hierzu auch BbgVerfG, Beschl. v. 18.11.2004 - VfGBbg 273/03 -, juris Rn. 36 f. m.w.N.), ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass er insoweit dem Grundsatz kommunalfreundlichen Verhaltens Vorrang eingeräumt hat.

197

Ist so jede einzelne Abweichung für sich gesehen sachlich gerechtfertigt, lässt sich eine Systemwidrigkeit entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer auch nicht mit der Summe aller Abweichungen von Leitbild und Leitlinien begründen. Ebenso wenig kann in der unterschiedlichen Begründung für einzelne Abweichungen von den Richtgrößen ein Verstoß gegen den Grundsatz der Systemgerechtigkeit gesehen werden. Leitbild und Leitlinien haben nicht die Strukturentscheidung vorab festgelegt, sondern sollten den Weg dahin leiten. Das System der Entscheidungsfindung hat der Gesetzgeber nicht verlassen, weil er bei allen getroffenen Strukturentscheidungen von im Leitbild genannten Gesichtspunkten ausgegangen ist und diese für jeden Kreis miteinander abgewogen hat.

198

5. Die getroffenen Abwägungsentscheidungen haben eine hinreichende Begründung erfahren, denn die für den Abwägungsprozess und sein Ergebnis relevanten Gesichtspunkte sind aus den Gesetzesmaterialien, insbesondere aus der Gesetzesbegründung (LT-Drs. 5/2683) sowie dem Bericht und der Beschlussempfehlung des Innenausschusses des Landtages (LT-Drs. 5/3599), hinreichend erkennbar (vgl. hierzu auch SächsVerfGH, Urt. v. 29.08.2008 - Vf. 54-VIII-08 -, NVwZ 2009, 39, 42). Darüber hinausgehende Anforderungen an die Offenlegung des parlamentarischen Entscheidungsprozesses sind verfassungsrechtlich nicht zu stellen (vgl. BVerfGE 125, 175 zu den Gesetzgeber treffenden Begründungsanforderungen; Erbguth, JZ 2008, 1038, 1039 ff.).

IV.

199

Wenn sich auch nach alledem der Neuzuschnitt der Landkreise als verfassungsgemäß erweist, sieht das Landesverfassungsgericht den Gesetzgeber allerdings gehalten, die tatsächlichen Auswirkungen der Neuregelung, insbesondere auf das Ehrenamt, intensiv zu beobachten und gegebenenfalls dort nachzubessern, wo es zusätzlicher Unterstützung bedarf, etwa um dessen tatsächliche Ausübbarkeit für jedes Kreistagsmitglied gerade auch in den besonders großflächigen Kreisen sicherzustellen.

200

In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wird eine derartige Beobachtungspflicht -gegebenenfalls verbunden mit einer Nachbesserungspflicht - insbesondere in Fällen angenommen, in denen ein Lebensbereich erstmals normativ erfasst wird, Strukturen eines Regelungsbereichs deutlich veränderten äußeren Rahmenbedingungen angepasst oder sonst grundlegend verändert werden und dem Gesetzgeber dabei im Rahmen der Abwägung widerstreitender, verfassungsrechtlich durchaus relevanter Belange ein Einschätzungs- und Prognosespielraum zuerkannt worden ist (vgl. etwa BVerfGE 123, 186: Einführung Basistarif durch GesundheitsreformG 2007; BVerfGE 122, 1: Änderung BetrPrämDurchfG 2004; BVerfGE 111, 333: grundlegende Änderungen der Hochschulstruktur; BVerfGE 110, 141: Gefährdungslage bei HundVerbrEinfG; BVerfGE 95, 267: Altschuldenübernahme der LPG nach § 16 Abs. 3 DMBi1G; BVerfGE 88, 203: Einführung eines neuen Schutzkonzepts bei Schwangerschaftsabbruch; BVerfGE 18, 315: Ausgleichsabgabe nach § 12 Abs. 3 MFG 1952).

201

Eine vergleichbare Situation sieht das Landesverfassungsgericht, wenn wie hier nach einer komplexen Abwägung die grundlegende Neuordnung der kreislichen Strukturen wegen der Ausnahmestellung des Landes Mecklenburg-Vorpommern in Bezug auf die Bevölkerungsdichte im Vergleich mit allen anderen Flächenstaaten der Bundesrepublik Deutschland zu einem als solches verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Ergebnis bei den Kreisgrößen führt, das sich hinsichtlich der Auswirkungen auf das kommunale Ehrenamt auf Kreisebene nur auf Prognosen, nicht aber auf konkrete Erfahrungen stützen kann.

202

Zumindest in einigen der neuen Kreise werden Kreistagsmitglieder bei Ausübung ihres Ehrenamtes vielfach größere Entfernungen als früher zurückzulegen haben; für sie dürfte damit der zeitliche und finanzielle Gesamtaufwand zumindest teilweise denjenigen deutlich übersteigen, der bisher den einschlägigen Entschädigungs- und Kündigungsschutzregelungen der Kommunalverfassung zugrunde gelegt wurde. In der Folge könnte sich damit zumindest in Einzelfällen die Frage der Vereinbarkeit einer Mitgliedschaft im Kreistag - und erst recht in Verbindung mit einer Führungsaufgabe in dessen Gremien - mit einer abhängigen Beschäftigung in der Privatwirtschaft oder einer freiberuflichen bzw. selbständigen Tätigkeit stärker stellen als unter den derzeitigen Gegebenheiten, ungeachtet der formalen rechtlichen Absicherung durch § 27 Abs. 5 und 6 KV M-V.

203

Nach § 105 Abs. 2 Satz 3 KV M-V sind die Kreistagsmitglieder zur Teilnahme an den Sitzungen und zur Mitarbeit verpflichtet, wenn sie nicht aus wichtigem Grund verhindert sind. Für sie gelten gemäß § 105 Abs. 6 KV M-V u.a. die Bestimmungen über Entschädigungen und Kündigungsschutz (§ 27 KV M-V) entsprechend; demzufolge bezieht sie auch die auf der Grundlage des § 174 Abs. 1 Nr. 8 KV M-V erlassene Verordnung über die Entschädigung der in den Gemeinden, Landkreisen, Ämtern und Zweckverbänden ehrenamtlich Tätigen (Entschädigungsverordnung) vom 09. September 2004 (GVOBI. M-V S. 468) ein. Bei dieser Verordnung soll es zunächst bleiben; nur so kann gedeutet werden, dass im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens von der ursprünglich beabsichtigten Aufhebung dieser Vorschrift (Art. 9 des Entwurfs) Abstand genommen wurde.

204

Wegen der konstitutiven Bedeutung der bürgerschaftlich-demokratischen Dimension für die kommunale Selbstverwaltung, die in der Wahrnehmung eines kommunalen Mandats ihren Ausdruck findet, hat der Staat die Rahmenbedingungen sicherzustellen, die vom Grundsatz her geeignet sind, allen passiv Wahlberechtigten eine Mandatsausübung in gleicher Weise tatsächlich zu ermöglichen. Nur dann wird er der „grundlegenden Bedeutung kommunaler Selbstverwaltung für den Staatsaufbau und die Staatswillensbildung (iwS)" im Sinne der Metapher von der „Schule der Demokratie" gerecht, wie sie in Art. 3 Abs. 2 LV ihren Ausdruck gefunden hat (so Wallerath in: Litten/Wallerath, LVerf M-V, Art. 3 Rn. 6).

205

Dies kann erfordern, etwa die Regelungen über Entschädigungen für ehrenamtlich in der Kommunalpolitik Tätige ebenso zu überprüfen wie sonstige flankierende Maßnahmen zu erwägen, die die Mandatsausübung in ihren praktischen und technischen Abläufen erleichtern, ohne zugleich die Entscheidungsfindung der ehrenamtlichen Kreistagsmitglieder in einer Weise zu professionalisieren, die Gefahr liefe, die kommunale Selbstverwaltung in ihrem verfassungsrechtlich gesicherten Charakter zu schmälern (vgl. zu dieser Befürchtung LVerfG M-V, Urt. v. 26.07.2007 - LVerfG 9/06 u.a. -, LVerfGE 18, 342, 391). Die Gewährleistung entsprechender Unterstützung - z.B. in Form einer angemessenen Reisekostenvergütung, die die Kosten individueller Mobilitätsanforderungen ausgleicht - kann etwa dann angezeigt sein, wenn sich im Einzelfall ergibt, dass die individuellen Belastungen für ein weiter entfernt wohnendes Kreistagsmitglied anderenfalls das zumutbare Maß überschreiten würden (vgl. zu entsprechenden Unterstützungsmaßnahmen auch Hesse, Kreisgröße und kommunales Ehrenamt, S. 93 ff., insb. S. 96; Erbguth, DÖV 2008, 152, 154 f.; Mehde, NordÖR 2007, 331, 335). Auf derartige Gegebenheiten im Einzelfall muss flexibel und zeitnah reagiert werden können. Soweit dies die derzeitigen rechtlichen Vorgaben nicht zulassen sollten, wären sie zu ändern. Das kann, soweit auch dies nicht ausreicht, auch die Prüfung weiterer Maßnahmen bis hin zu einer Verlegung des Kreissitzes erfordern.

D.

206

Die gestellten Hilfsanträge sind überwiegend unzulässig, da die Beschwerdeführer insoweit schon die Möglichkeit einer eigenen unmittelbaren Rechtsverletzung nicht geltend machen können, im Übrigen jedenfalls unbegründet.

207

Grundsätzlich können allerdings in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren Hilfsanträge dann gestellt werden, wenn über sie in demselben Verfahren entschieden werden kann und durch die Entscheidung keine weitergehenden materiellen oder prozessualen Rechte Dritter berührt werden; haben sie verfahrenseinleitende Funktion, gelten für sie die gleichen Formerfordernisse wie für den Hauptantrag (Umbach in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 23 Rn. 23; Lechner/Zuck, BVerfGG, 6. Aufl. 2011, § 23 Rn. 14).

208

Soweit die Beschwerdeführer unter Berufung auf das aus Art. 72 Abs. 1 Satz 2 LV hergeleitete Gebot der interkommunalen Gleichbehandlung zunächst hilfsweise die Feststellung der Nichtigkeit von § 26 Abs. 2 und § 27 Abs. 2 i.V.m. § 28 LNOG M-V begehren, ist ihrem Vorbringen die Möglichkeit einer unmittelbaren Verletzung in eigenen Rechten nicht zu entnehmen. Sie liegt jedenfalls nicht darin, dass „bei gleicher Ausgangssituation im Wesentlichen gleiche Sachverhalte zwischen einzelnen Landkreisen ungleich behandelt werden" mit der Folge, dass „einzelne bisherige Landkreise hinsichtlich der Vorwirkungen der anstehenden Entstehung der neuen Landkreise ohne rechtfertigenden Grund schlechter dastehen als andere".

209

Für die Regelungen in § 26 Abs. 2 Satz 1 und § 27 Abs. 2 Satz 1 LNOG M-V über den Übertritt von Beamten und Arbeitnehmern eines aufgelösten, auf mehrere neue Landkreise aufgeteilten Landkreises kraft Gesetzes in den Dienst des nach § 10 LNOG M-V zum Rechtsnachfolger bestimmten Landkreises sind Normadressaten ausschließlich die neu gebildeten Landkreise, und auch die Rechtswirkungen treten für alle Beteiligten erst mit Bildung der neuen Landkreise ein. Soweit § 28 Abs. 1 i.V.m. § 26 Abs. 2 Satz 2 und § 27 Abs. 2 Satz 2 LNOG M-V in diesen Fällen den beteiligten Körperschaften bis zu ihrer Auflösung die Möglichkeit einräumt, in einem Personalüberleitungsvertrag Regelungen zur Überleitung von Beamten und Arbeitnehmern entsprechend dem Verhältnis der Anzahl der auf den jeweiligen neuen Landkreis übergehenden Einwohner zur Anzahl der Einwohner des aufgelösten Landkreises zu treffen und bis zum Ablauf des Tages vor der Bildung der neuen Landkreise zu vollziehen, könnte eine solche Regelung nur im Einverständnis zwischen allen Beteiligten getroffen werden, so dass eine Rechtsverletzung schon deswegen ausscheidet, weil das Gesetz selbst lediglich die Möglichkeit für eine derartige Vereinbarung einräumt und den Beschwerdeführern eine Vereinbarung gegen ihren Willen nicht aufgezwungen werden könnte. Jedenfalls träte die Wirkung der Überleitung erst mit „Bildung der neuen Landkreise" ein.

210

Abgesehen davon werden die Beschwerdeführer zu 1. und 4. von den hier angegriffenen Regelungen schon tatsächlich überhaupt nicht berührt, da sie nicht in einem Landkreis aufgehen werden, in den Teilgebiete eines anderen aufgelösten Landkreises einbezogen werden (§ 8 und § 5 LNOG M-V); die übrigen Beschwerdeführer wären nur insofern (mittelbar) berührt, als sie in Gänze in neuen Landkreisen aufgehen, die jeweils Teile des bisherigen Landkreises Demmin aufnehmen (§ 6 und § 7 LNOG M-V).

211

Die Beschwerdeführer erkennen letztlich selbst an, dass die Regelungen sich lediglich auf die künftigen Landkreise auswirken werden. Ausgangspunkt für ihre Rüge eines Verstoßes gegen das Gebot der interkommunalen Gleichbehandlung soll zwar die „schlechtere Behandlung" derjenigen bisherigen Landkreise sein, die gemeinsam mit Teilen eines bisherigen Landkreises in einem neuen Landkreis aufgehen, der auch Rechtsnachfolger des nicht vollständig in ihm aufgehenden Landkreises ist, im Vergleich zu denjenigen Landkreisen, die jeweils mit weiteren ungeteilten bisherigen Landkreisen in neuen Landkreisen aufgehen; sie sehen wiederum diese beiden Gruppen gegenüber denjenigen bisherigen Landkreisen „schlechter behandelt", die gemeinsam mit Teilen früherer Landkreise in einem neuen Landkreis aufgehen, ohne dass der neue Landkreis Rechtsnachfolger des aufgeteilten bisherigen Landkreises sein wird. Die eigentlichen tatsächlich -und gegebenenfalls rechtlich - relevanten Folgen sehen dann aber auch sie ausschließlich bei den zukünftigen Landkreisen, die in völlig unterschiedlicher - aus Sicht der Beschwerdeführer nicht zu rechtfertigender - Weise aus der Regelung des Personalübergangs unmittelbar „Synergieeffekte ziehen" könnten oder eben nicht.

II.

212

In gleicher Weise machen die Beschwerdeführer auch im Hinblick auf die Vorschrift des § 12 Abs. 1 Satz 2 LNOG M-V über einen angemessenen Wertausgleich bei der Übertragung von Vermögensgegenständen - die sie speziell „im Zusammenspiel mit § 103 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Nr. 2, § 104 Abs. 3, § 105 Abs. 2 Satz 12 SchulG M-V" als gegen die Finanzhoheit der Landkreise aus Art. 72 Abs. 1 Satz 1 LV und zugleich das interkommunale Gleichbehandlungsgebot verstoßend erachten - lediglich Umstände und Rechte geltend, die ausschließlich die neu gebildeten Landkreise nach Inkrafttreten der Reform betreffen bzw. diesen zustehen könnten. Allein die neuen Landkreise und die bisher kreisfreien, künftig eingekreisten Städte sind Adressaten der genannten Vorschriften.

213

Danach kann offen bleiben, ob die von den Beschwerdeführern als „denkbar" bezeichnete Annahme, diese Regelungen eröffneten die Möglichkeit, nach dem gesetzlich vorgesehenen Übergang der bisher in der Trägerschaft der einzukreisenden Städte stehenden Gymnasien und Gesamtschulen auf die Landkreise gegen Wertausgleich diese Schulen sodann zeitnah ohne einen entsprechenden Wertausgleich und damit zu Lasten der Landkreise wieder auf die früheren Schulträger zurück übertragen zu lassen, überhaupt als realistisch eingeschätzt werden könnte. Eine derartige Unterstellung wohl rechtsmissbräuchlichen Verhaltens - dem zudem im Rahmen der aufsichtsrechtlichen Genehmigungserfordernisse nach §§ 103 ff. SchulG M-V zu begegnen wäre musste der Gesetzgeber bei Schaffung der Regelungen nicht zugrunde legen.

214

Für die Annahme einer Prozessstandschaft wären schon keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich, so dass offen bleiben kann, ob diese im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde nicht ohnehin gänzlich unstatthaft ist (so Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, vor § 17 Rn. 23, § 91 Rn. 108; siehe auch Lechner/Zuck, a.a.O., § 90 Rn. 65 ff.; Ruppert in: Umbach/Clemens/Dollinger, a.a.O., Rn. 82 ff.).

III.

215

Mit Art. 6 Nr. 5 Buchst. a des Kreisstrukturgesetzes greifen die Beschwerdeführer ferner hilfsweise mit dem Ziel der Feststellung der Nichtigkeit die Ergänzung des § 23 des Finanzausgleichsgesetzes Mecklenburg-Vorpommern - FAG M-V - um einen Absatz 3 an. Danach ist künftig die Kreisumlage zwischen großen kreisangehörigen Städten und sonstigen kreisangehörigen Gemeinden zu differenzieren, wenn große kreisangehörige Städte in ihrem Gebiet Aufgaben anstelle des Landkreises wahrnehmen und anderweitig kein ausreichender finanzieller Ausgleich stattfindet oder sie für Landkreisaufgaben Zuweisungen erhalten, und kann das Innenministerium das Nähere zur Ermittlung und Festsetzung der Kreisumlage durch Rechtsverordnung regeln.

216

Auch insoweit fehlt den Beschwerdeführern schon die Beschwerdebefugnis, weil sie unter Berufung auf den Grundsatz der interkommunalen Gleichbehandlung nicht eigene Rechte verteidigen, sondern ausschließlich solche der künftigen Landkreise, deren Rechte sie offenbar dadurch geschmälert sehen, dass die künftigen großen kreisfreien Städte durch das nach Umsetzung der Kreisstrukturreform geltende Regelungsgefüge des kommunalen Finanzausgleichs im Verhältnis zu den Landkreisen ungerechtfertigt besser gestellt würden. Die Aktualisierung der angegriffenen Norm kann zwangsläufig die Beschwerdeführer selbst nicht (mehr) treffen, weil sie im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens bereits aufgelöst sind.

217

Unabhängig davon bedarf die angegriffene Bestimmung ohnehin erst noch einer Konkretisierung hinsichtlich der Ermittlung und Festsetzung der Kreisumlage, um überhaupt spürbare Auswirkungen in der Praxis entfalten zu können, gegebenenfalls auf der Grundlage einer untergesetzlichen Rechtsnorm, der nach § 23 Abs. 3 Satz 2 FAG M-V zu erlassenden Rechtsverordnung des Innenministeriums. Da die Differenzierungspflicht nur dann greift, wenn die künftige große kreisangehörige Stadt Aufgaben anstelle des künftigen Landkreises wahrnimmt, und damit fest steht, dass in diesem Fall dieser Landkreis jedenfalls Aufwendungen spart, ist nicht ersichtlich, wie schon die abstrakte gesetzliche Verpflichtung zur Erhebung einer differenzierten Kreisumlage eine Rechtsverletzung begründen sollte. Erst im Einzelfall der Rechtsanwendung ließe sich feststellen, ob überhaupt verfassungsrechtlich abgesicherte Rechte verletzt sein könnten.

218

Das Landesverfassungsgericht kann somit offen lassen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen der vom Bundesverfassungsgericht und auch von Landesverfassungsgerichten anerkannte Grundsatz, dass einer Kommune der unmittelbare Angriff auf ein Gesetz verwehrt ist, das für seine Vollziehbarkeit noch der Konkretisierung durch eine nachrangige Norm bedarf, gegen die ihrerseits die Verfassungsbeschwerde erhoben werden kann (BVerfGE 76, 107, 113; 71, 25, 35 f.; siehe etwa VerfGH NW, Urt. v. 10.12.2002 - VerfGH 10/01 -, NVwZ 2003, 982 m.w.N.; ggf. auch erst nach Durchführung eines Normenkontrollverfahrens nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, siehe hierzu ThürVerfGH, Urt. v. 12.10.2004 - 16/02 -, juris Rn. 78 f.), im Rahmen der Landesverfassungsbeschwerde nach Art. 53 Nr. 8 LV mit Blick auf die darin enthaltene ausdrückliche Beschränkung des Beschwerdegegenstands auf (formelle) Landesgesetze zu modifizieren wäre (vgl. hierzu Classen in: Litten/Wallerath, LVerf M-V, Art. 53 Rn. 45; zu Ausnahmen bei entsprechender Formulierung in Art. 53 Nr. 6 LV, § 51 Abs. 1 LVerfGG a.F. für die Individualverfassungsbeschwerde vgl. LVerfG M-V, Urt. v. 18.05.2000 - LVerfG 5/98 -, LVerfGE 11, 265, 273).

219

Nach alledem kommt es auch auf die ebenfalls von den Beschwerdeführern aufgeworfene Frage, ob die in Art. 6 Nr. 5 Buchst. a Satz 2 des Kreisstrukturgesetzes enthaltene Verordnungsermächtigung den Anforderungen des Art. 57 Abs. 1 Satz 2 LV hinsichtlich der hinreichenden Bestimmtheit nach Inhalt, Zweck und Ausmaß gerecht wird, nicht an.

IV.

220

Auch der äußerst hilfsweise gestellte Antrag, die Nichtigkeit des Art. 11 Abs. 2 und 3 des Kreisstrukturgesetzes festzustellen - während Art. 11 Abs. 1 des Gesetzes (Inkrafttreten einiger enumerativ benannter Vorschriften schon am Tag nach der Verkündung) nicht ausdrücklich angegriffen wird -, hat keinen Erfolg.

221

Art. 11 Abs. 2 des Gesetzes regelt das Inkrafttreten von Art. 1 § 1 (Auflösung der bisherigen Landkreise und Einkreisung der Hansestädte Greifswald, Stralsund und Wismar sowie der Stadt Neubrandenburg) gleichzeitig mit dem Außerkrafttreten des Landkreisneuordnungsgesetzes vom 01. Juli 1993 mit Ablauf des 03. September 2011, Absatz 3 das Inkrafttreten des Gesetzes im Übrigen am 04. September 2011. Die Beschwerdeführer sehen in der mit dem Inkrafttreten des Gesetzes verbundenen vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode auch dann, wenn man die Kreisgebietsreform als solche als durch das öffentliche Wohl gerechtfertigt ansähe, einen Eingriff in die „erst im Jahre 2009 getroffene, schützenswerte Wahlentscheidung des Kommunalwahlvolkes" und damit einen Verstoß gegen „das Demokratieprinzip des Art. 3 LV als objektives Verfassungsrecht", das auch den „Gewährleistungsgehalt der Garantie kommunaler Selbstverwaltung aus Art. 72 Abs. 1 LV mit ausgestalte".

222

1. Es kann dahingestellt bleiben, ob ein Urteilsausspruch im Sinne der in diesem Hilfsantrag formulierten Tenorierung dem Anliegen der Beschwerdeführer gerecht würde bzw. aus verfassungsrechtlicher Sicht überhaupt denkbar wäre. Die Beschwerdeführer haben dieses Dilemma selbst erkannt, wenn sie ausführen, dass „eine bloße Nichtigerklärung des Art. 11... gemäß Art. 58 Abs. 3 LV dazu führen würde, dass das gesamte Kreisstrukturgesetz bereits am 11.08.2011, dem vierzehnten Tag nach der Verkündung.im Gesetz- und Verordnungsblatt für Mecklenburg-Vorpommern am 28.07.2010, in Kraft getreten wäre", und daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass „das Kreisstrukturgesetz, da diese Folge die Verletzung objektiven Verfassungsrechts sogar noch intensivieren würde, insgesamt für nichtig oder zumindest mit der Verfassung unvereinbar erklärt werden muss" und „hilfsweise aber jedenfalls der Gesetzgeber selbst gefordert wäre, einen späteren, mit dem Demokratieprinzip zu vereinbarenden Termin für das Inkrafttreten festzulegen".

223

Danach spricht alles dafür, dieses Vorbringen nicht als eigenständigen (Hilfs-)Antrag, sondern lediglich als ein weiteres Begründungselement für die seitens der Beschwerdeführer angenommene Verfassungswidrigkeit des Kreisgebietsreformgesetzes insgesamt und damit auch der im einzelnen angegriffenen Vorschriften zu werten.

224

2. Den geltend gemachten Bedenken vermag das Landesverfassungsgericht jedenfalls nicht zu folgen. Denn auch dann, wenn man bei der kommunalen Verfassungsbeschwerde - ausgehend von einem erweiterten Prüfungsmaßstab - über die subjektive Rechtsverletzung hinaus die Vereinbarkeit des angegriffenen Gesetzes mit zumindest denjenigen Normen der Landesverfassung prüft, die ihrem Inhalt nach das verfassungsrechtliche Bild der kommunalen Selbstverwaltung mitzubestimmen geeignet sind, ist ein Verfassungsverstoß nicht festzustellen.

225

Dabei muss die verfassungsgerichtliche Überprüfung im Verfahren der kommunalen Verfassungsbeschwerde allerdings schon die Grenze zum objektiven Beanstandungsverfahren beachten. Denn aus dem verfassungsrechtlich abgesicherten Selbstverwaltungsrecht folgt kein allgemeiner Anspruch der kommunalen Gebietskörperschaft auf verfassungskonformes Handeln des Gesetzgebers; zudem wären die Beschwerdeführer nicht befugt, etwaige Rechte ihrer Organe bzw. der diesen angehörenden Mandats- und Funktionsträger stellvertretend oder als eigene Rechte geltend zu machen, da solche Rechte nicht zu ihrer eigenen Organisationshoheit und damit nicht zu ihrer Selbstverwaltungsgarantie gehören und ihnen somit mangels Selbstbetroffenheit die Beschwerdebefugnis fehlt (so auch LVerfG LSA, Urt. v. 10.05.2011 - LVG 47/10 -, UA S. 8, m.w.N., zur Verfassungsbeschwerde einer Gemeinde gegen ein Gemeinde-Neugliederungsgesetz).

226

3. Soweit die Beschwerdeführer sich allgemein auf eine Verletzung des Demokratieprinzips in Gestalt des Grundsatzes der Periodizität der Wahlen berufen, gilt:

227

Das verfassungsrechtliche Bild der kommunalen Selbstverwaltung wird maßgeblich mit geprägt vom Demokratieprinzip (BVerfGE 91, 228, 244; vgl. Magen in: Umbach/Clemens/Dollinger, a.a.O., § 91 Rn. 53 m.w.N. zur Rspr. des BVerfG; Lechner/Zuck, a.a.O., Art. 91 Rn 35). Die Landesverfassung Mecklenburg-Vorpommerns macht diesen untrennbaren Zusammenhang mit ihren Formulierungen in Art. 3 besonders deutlich, wenn es dort heißt, dass die Selbstverwaltung in den Gemeinden und Kreisen dem Aufbau der Demokratie von unten nach oben dient (Abs. 2) und dementsprechend die Wahlen zu den Volksvertretungen im Lande, in den Gemeinden und Kreisen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sind (Abs. 3). Damit wird angeknüpft an die „verfassungsrechtliche Grundentscheidung" für einen republikanischen, demokratischen, sozialen und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verpflichteten Rechtsstaat (Wallerath in: Litten/ Wallerath, LVerf M-V, Art. 2 Rn. 1) in Art. 2 LV und an Art. 3 Abs. 1 LV, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und von diesem in Wahlen und Abstimmungen sowie durch die Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird.

228

Die notwendigen Voraussetzungen von Legitimation und Kontrolle der Staatsgewalt als wesentliche Teilelemente des demokratischen Prinzips gebieten es, dass sich der politische Wille des Staatsvolkes in periodisch wiederkehrenden Wahlen des Parlaments als „Grundakt demokratischer Legitimation" äußern und so dessen Zusammensetzung bestimmen kann. Dieses sich im Grundsatz der „Periodizität der Wahlen und des politischen Geschehens" spiegelnde verfassungsrechtlich geformte System politischer Herrschaft auf Zeit gehört zu den unverzichtbaren Kernelementen demokratischer Ordnung (vgl. LVerfG M-V, Urt. v. 26.06.2008 - LVerfG 4/07 -, LVerfGE 19, 283, 297). In erster Linie sichert dieser - verfassungsfeste (siehe Art. 56 Abs. 3 LV) - Grundsatz als Teil des objektiven Verfassungsrechts (BVerfGE 18, 151, 154; 6, 376, 385) in der repräsentativen Demokratie, dass sich die Inhaber der obersten politischen Staatsorgane selbst in regelmäßig wiederkehrenden zeitlichen Abständen der demokratischen Verantwortung stellen müssen und - im Falle der Wiederwahl - neue demokratische Legitimation erfahren (LVerfG M-V, Urt. v. 26.06.2008 - LVerfG 4/07 -, a.a.O. m.w.N.); er unterbindet somit vorrangig eine beliebige Verlängerung der Amtszeit oder gar eine Wahl auf unbestimmte Zeit.

229

4. Dieser allgemeine Grundsatz der Periodizität der Wahlen als solcher ist nicht verletzt, wenn auf Grund einer den Anforderungen der Landesverfassung gerecht werdenden Kreisgebietsreform bestehende Gebietskörperschaften aufgelöst und neue auf gleicher Ebene gebildet werden, die denselben grundlegenden Organisationsstrukturen wie bisher unterworfen sind, zu denen auch die Wahl der Vertretungsorgane in regelmäßigen Abständen nach den vorstehend benannten, von der Verfassung vorgegebenen allgemeinen Grundsätzen gehört.

230

5. Soweit die Beschwerdeführer unter Berufung auf diesen Grundsatz der Periodizität der Wahlen die vermeintlich unzulässige vorzeitige Beendigung der Wahlperiode rügen, ist zunächst darauf zu verweisen, dass eine Verkürzung einer laufenden Wahlperiode - sei es bezogen auf ein Gremium, sei es bezogen auf eine Einzelperson - nicht grundsätzlich in Widerspruch zu Verfassungsrecht steht; dies zeigt schon der Umstand, dass allen wahlrechtlichen Regelungen auf Bundes- und Landesebene unterschiedlichste Einzelregelungen zur vorzeitigen Beendigung von Legislaturen nicht fremd sind, mit denen auf bestimmte Ereignisse reagiert wird.

231

Allerdings ist auf Bundesebene anerkannt, dass die Dauer der Wahlperiode im konkreten Fall als Bestandteil des verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten nach Art. 38 GG anzusehen ist (vgl. Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl., Art. 39 Rn. 1 a.E.), er sie einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung im Organstreitverfahren unterziehen lassen kann und eine Verkürzung etwa durch Auflösung des Bundestages nur gerechtfertigt ist, wenn das Grundgesetz dies erlaubt (BVerfGE 114, 121, 148).

232

Diese Grundgedanken lassen sich auf das in der Verantwortung des Landesgesetzgebers stehende Kommunal(wahl)recht insoweit übertragen, als die Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung gemäß Art. 72 Abs. 5 LV unter einem Gesetzesvorbehalt steht und das Demokratieprinzip einfachgesetzlich seine Ausprägung in den Regelungen der Kommunalverfassung und des Kommunalwahlrechts gefunden hat.

233

a) Daraus folgt zum einen, dass die Beschwerdeführer die individuelle Betroffenheit des einzelnen gewählten Mandatsträgers durch Abkürzung der Wahlperiode ebenso wenig als Betroffenheit in eigenen Rechten geltend machen können wie - soweit sie sich zum Sachwalter der „erst im Jahr 2009 getroffenen, schützenswerten Wahlentscheidung des Kommunalwahlvolkes" machen - darauf bezogene subjektive Rechte des Wahlbürgers.

234

b) Zum anderen folgt daraus, dass ein Eingriff in die laufende Wahlperiode allgemein dann gerechtfertigt ist, wenn er der Prüfung am Maßstab der Landesverfassung im oben dargestellten Sinne standhält.

235

Die Organe der antragstellenden Gebietskörperschaften - der Kreistag als Vertretung der Bürger und oberstes Willensbildungs- und Beschlussorgan (§ 104 KV M-V) und der Landrat als gesetzlicher Vertreter des Landkreises (§ 115 KV M-V) - teilen deren rechtliches Schicksal; ihre im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie verfassungsrechtlich gesicherten Rechte können nicht weiter reichen als die hieraus erwachsenden Rechte der Gebietskörperschaft selbst. Mit deren Auflösung ist auch der Tätigkeit ihrer Organe die Grundlage entzogen und endet zugleich das Mandat bzw. Amt derjenigen, die in solche Funktionen gewählt worden sind.

236

Hält die Auflösung der Beschwerdeführer als Gebietskörperschaften selbst der verfassungsrechtlichen Überprüfung stand, wie dies nach dem oben Gesagten der Fall ist, gilt dies in gleicher Weise für die Folgen, die sich daraus für ihre Vertretungsorgane und die Amts- und Mandatsträger ergeben. Die Auflösung der bisherigen Landkreise mit Ablauf des 03. September 2011 entzieht somit zwangsläufig in ebenso verfassungskonformer Weise auch ihren Organen die Bestehensgrundlage. Mangels Identität des Wahlvolkes der alten Landkreise einerseits und der neu gebildeten Landkreise andererseits bedarf es zwingend einer neuen Wahlentscheidung auf der Grundlage der neuen Kreisstrukturen.

E.

237

Die Kostenentscheidung beruht auf § 33 Abs. 1, § 34 Abs. 2 LVerfGG.

Abweichende Meinung

238

Abweichende Meinung der Richter Joecks, Brinkmann und Wähner zum Urteil vom 18. August 2011 - LVerfG 21/10

239

Wir vermögen der Entscheidung nicht zuzustimmen. Den Verfassungsbeschwerden hätte stattgegeben werden müssen.

240

Zuzustimmen ist den grundsätzlichen Ausführungen zur verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte (oben C. II. 2) bei herkömmlichen Kreisgebietsreformen. Diese entsprechen insoweit allgemeiner Auffassung. Bei seiner Kontrolle der angegriffenen Vorschriften prüft das Landesverfassungsgericht zunächst, ob der Gesetzgeber den für seine Regelung erheblichen Sachverhalt ermittelt und dem Gesetz zugrunde gelegt hat und ob er die von ihm angeführten Gemeinwohlgründe sowie die Vor-und Nachteile der gesetzlichen Regelung in die vorzunehmende Abwägung eingestellt hat. Auf der Grundlage des in dieser Weise ermittelten Sachverhalts und der Gegenüberstellung der daraus folgenden verschiedenen - oft gegenläufigen - Belange ist der Gesetzgeber befugt, sich letztlich für die Bevorzugung eines Belangs (oder mehrerer Belange) und damit notwendig zugleich für die Zurückstellung aller anderen betroffenen Gesichtspunkte zu entscheiden. Insoweit hat sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf die Prüfung zu beschränken, ob der gesetzgeberische Eingriff in den Bestand eines einzelnen Kreises offenbar ungeeignet oder unnötig ist, um die mit ihm verfolgten Ziele zu erreichen, oder ob er zu ihnen deutlich außer Verhältnis steht und ob das Gesetz frei von willkürlichen Erwägungen und Differenzierungen ist. Sofern der Gesetzgeber ein Konzept für die Neugliederungsmaßnahme erstellt hat, ist zudem zu prüfen, ob er dies in einer dem verfassungsrechtlichen Gebot der Systemgerechtigkeit genügenden Weise umgesetzt hat.

241

Nach diesen Maßstäben hätte die Verfassungsbeschwerde erfolgreich sein müssen. Die Mehrheitsentscheidung akzeptiert zu Unrecht eine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers auch, soweit Kreise geschaffen werden, die sich signifikant von dem Überkommenen entfernen, ohne dass der Gesetzgeber wirklich geprüft hätte, welche Konsequenzen dies für die kommunale Selbstverwaltung haben kann. Der in die Beurteilung einzubeziehende Sachverhalt wurde für eine überkommene Dimensionen verlassende Kreisgebietsreform unzureichend ermittelt.

242

1. Die kommunale Selbstverwaltung ist Ausfluss eines der wenigen zentralen Staatskriterien der Bundesrepublik Deutschland, des Demokratieprinzips (Art. 20 GG, Art. 2, 3 LV). Sie dient der Sicherung bürgerschaftlicher Mitwirkung der Bewohner auf kommunaler Ebene, ist Ausprägung des Prinzips der Demokratie von unten. Sie ist ein Recht der Bürger; Kreise müssen diesen auch weiterhin eine wirksame Teilhabe an den Angelegenheiten des Gemeinwesens ermöglichen. Ein Mindestmaß an lokaler Identifikation ist unabdingbar. Im Gegensatz zum überörtlichen - regionalen - Legitimationsprozess ist diese Identifikation ein zentrales Element lokaler demokratischer Legitimation. Die konstruktive ehrenamtliche Mandatswahrnehmung muss ebenso gewährleistet sein wie die Integrationsfunktion des Landrats (vgl. nur Meyer in: Litten-Wallerath, LVerf M-V, Art. 72 Rn. 41 f. m.w.N.).

243

Die kommunale Selbstverwaltung ist damit ein verbliebener Kern demokratischer Mitbestimmung. Das Gewicht dieses Gesichtspunkts wird verkannt, wenn man es dem Landesgesetzgeber erlaubt, ihn vermuteter Effizienz unterzuordnen.

244

2. Sicherlich ist die Zeit vorbei, in der die Größe eines Kreises so zu bemessen war, dass der Landrat zur entferntesten Gemeinde seines Kreises an einem Tag mit der Pferdekutsche hin- und zurück fahren konnte und ihm dort noch genügend Zeit zur Erledigung seiner Amtsgeschäfte blieb. Man hat aus der verbesserten Infrastruktur und den Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Landkreise immer wieder Konsequenzen gezogen. Gab es am 23. Mai 1949 in der alten Bundesrepublik noch 418 Landkreise, sank diese Zahl bis zum 2. Oktober 1990 auf 237, um mit dem Beitritt der neuen Bundesländer am 3. Oktober 1990 auf 426 zu wachsen. War das Gebiet der ehemaligen DDR noch in 189 Landkreise aufgeteilt, sank diese Zahl durch Reformen kontinuierlich. Heute weist die Bundesrepublik Deutschland unter Einbeziehung der Reformen in den neuen Bundesländern (noch) 301 Landkreise auf. Die durchschnittliche Kreisfläche beträgt bislang 1.140 km2. Sie reicht von Rheinland-Pfalz mit durchschnittlich 782 km2 bis Brandenburg mit einem Durchschnitt von 2.053 km2. Nach den 2007/2008 durchgeführten Reformen umfasst ein Landkreis in Sachsen durchschnittlich 1.757 km2, in Sachsen-Anhalt 1.806 km2. In Mecklenburg-Vorpommern war der durchschnittliche Kreis bislang 1.888 km2 groß (Quelle zu den Zahlen: Statistisches Bundesamt, Ausgewählte regionale Daten für Deutschland, Ausgabe 2010 mit Stand April 2011, S. 8 ff.). Der bislang größte Landkreis in Deutschland ist der Landkreis Uckermark mit etwas über 3.000 km2. Mit der hier zu beurteilenden Reform werden sechs Landkreise geschaffen, von denen fünf diese Größe (deutlich) überschreiten. Der durchschnittliche Kreis umfasst mehr als 3.800 km2, der größte Kreis ist mit 5.469 km2 fast fünfmal so groß wie im Bundesdurchschnitt, und mehr als doppelt so groß wie der bislang größte in Mecklenburg-Vorpommern, der Landkreis Ludwigslust.

245

Nähme man die Argumentation von Landesregierung und Landtag beim Wort, würden Gründe des Gemeinwohls auch eine Reduzierung auf zwei bzw. drei Kreise erlauben. Tatsächlich ist von Verfassungs wegen aber eben dies nicht möglich. Wenn solches aus finanziellen Gründen nötig werden sollte, muss gegebenenfalls Art. 28 GG, der keine Ewigkeitsgarantie besitzt, geändert werden (vgl. Stüer, Region und Regionalisierung, LKV 2004, 6, 9).

246

3. Bereits im Gesetzgebungsverfahren zur Neuregelung 2006, aber auch durch die Entscheidung des Gerichts vom 26. Juli 2007, war der Gesetzgeber darauf hingewiesen worden, dass die damals vorgesehene Kreisgröße von Verfassungs wegen kaum tolerabel ist. So sah damals Wallerath (Unterrichtung durch den Innenminister zur Verwaltungsreform, LT-Drs. 4/1210, S. 113) Probleme unter dem Aspekt der Überschaubarkeit als konkrete Relation von Bevölkerungsdichte und Fläche und zum zweiten unter dem Aspekt der strukturellen Konkordanz von Kreisebene und örtlicher Ebene. Von Mutius war in einer ebenfalls in der Unterrichtung durch den Innenminister enthaltenen Stellungnahme vom 20. Juni 2003 sehr deutlich geworden (LT-Drs. 4/1210, S. 123). Die damals im Papier des Innenministeriums vom 15. Mai 2003 angeführte Zielsetzung der Reformkonzeption genüge den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Dies beginne bereits bei der Begründung des Reformbedarfs, die im Wesentlichen auf den Bevölkerungsrückgang, die finanziellen Belastungen und die hohe Personalquote im Land rekurriert habe. Bei den damals vorgesehenen vier Kreisen würden relevante Selbstverwaltungsfunktionen, Bürgernähe und Objektnähe, Überschaubarkeit der Dienstleistungen und Entscheidungsabläufe usw. wie von der Verfassung vorausgesetzt, auf der Strecke bleiben. Dieses Gericht hat in seiner Entscheidung vom 26. Juli 2007 in den Leitsätzen 8 („Kreise müssen in der Fläche so gestaltet sein, dass es ihren Bürgern typisch möglich ist, nachhaltig und zumutbar ehrenamtliche Tätigkeit im Kreistag und seinen Ausschüssen zu entfalten. Kraftvolle Selbstverwaltung ist darauf angewiesen, dass sich Vertreter aus möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen zusammenfinden") und 9 („Es ist Aufgabe der Landesregierung, durch Vorarbeiten oder im Gesetzentwurf über eine Kreisgebietsreform die notwendigen Grundlagen für die erforderliche Abwägung zu liefern. Geschieht das nicht hinreichend, ist der Landtag selber gehalten, sich die Entscheidungsgrundlagen zu verschaffen") den verfassungsrechtlichen Rahmen für eine Kreisgebietsreform vorgezeichnet.

247

4. Offenbar in Reaktion auf die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts vom 26. Juli 2007 hat der Gesetzgeber bei der jetzt zu überprüfenden Reform einen neuen Ansatz gewählt. Er hat sich ein Leitbild gegeben (vgl. Leitsatz 7 der Entscheidung des LVerfG vom 26.07.2007). Danach sollte – in Abweichung von dem bislang in Deutschland üblichen - vor dem Hintergrund der dünnen Besiedelung des Bundeslandes und der sich abzeichnenden demographischen Entwicklung eine Kreisgröße von 4.000 km2 angestrebt werden. Dass es Stimmen gibt, die Kreise von mehr als 3.000 km2 unter Selbstverwaltungsgesichtspunkten für nicht mehr integrativ verwaltbar halten (vgl. Rothe, Kreisgebietsreform und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, 2004, S. 148; Deutscher Landkreistag, Landkreise im Prozess der Verwaltungsreformen, 2006, S. 8 f.), musste den Landtag nicht bekümmern. Insofern ist ihm eine Einschätzungsprärogative zuzugestehen.

248

5. In der Umsetzung hat der Gesetzgeber dann zum Schluss zwei Modelle in „die engere Wahl" gezogen: Das Gesetz gewordene 6+2-Modell und ein 7+2-Modell, das von den Kreisgrößen her dem Leitbild entsprach. Der Gesetzgeber hat sich aus bestimmten - für sich genommen nachvollziehbaren - Gründen für das 6+2-Modell entschieden. Dabei hat er nicht hinreichend ermittelt, welche Konsequenzen dies für die kommunale Selbstverwaltung hat. Zugleich hat er den Gesichtspunkt der Effizienz der Verwaltung in den Vordergrund gestellt. Bei einer Kreisgebietsreform darf die Verwaltungswirtschaftlichkeit jedoch nur Nebenzweck, nicht aber primäres Ziel der Reform sein (Rothe S. 103 unter Hinweis auf VerfGH Rheinland-Pfalz A. S. 11, 118, 128 und Stüer LKV 2004, 6, 9).

249

a) Mit der Mehrheit des Gerichts (oben III. 1.) ist zu konstatieren, dass kommunale Selbstverwaltung auf die Aktivierung der Bürger für die Erledigung ihrer eigenen Angelegenheiten abzielt (BVerfGE 11, 266, 275). Auf Kreisebene bedeutet sie Behandlung und Entscheidung der die Gemeinden übergreifenden Angelegenheiten, geprägt durch die bürgerschaftlich-demokratische Komponente der ehrenamtlichen Mitwirkung im Kreistag. Dies ist auch unter dem Aspekt, dass die Selbstverwaltung in den Gemeinden und Kreisen dem Aufbau der Demokratie von unten nach oben dient (Art. 3 Abs. 2 LV), und damit für den politisch- demokratischen Aufbau des Gemeinwesens von zentraler Bedeutung (vgl. hierzu Wallerath in: Litten/Wallerath, LVerf M-V, Art. 3 Rn. 6; Thieme in: Büchner/Franzke/Nierhaus, S. 117 f.; Ewer, Gutachten 2007, S. 78 f.). Politischdemokratisches Handeln beginnt für die Menschen in den Kommunen. Dementsprechend müssen (auch) Kreise so gestaltet sein, dass es ihren Bürgern typischerweise möglich ist, nachhaltig und zumutbar ehrenamtliche Tätigkeit in den Vertretungskörperschaften, d.h. im Kreistag und seinen Ausschüssen zu entfalten (so LVerfG, Urt. v. 26.07.2007 - LVerfG 9/06 u.a. -, LVerfGE 18, 342, 387).

250

b) Der Gesetzgeber hat versucht, die Konsequenzen einer Kreisgröße von 4.000 km2 auf die kommunale Selbstverwaltung und die ehrenamtliche Tätigkeit zu ermitteln. So sind u.a. Gutachten von Hesse und Seitz eingeholt worden, weiterhin wurden Gutachten herangezogen, die für Niedersachsen und Schleswig-Holstein erstattet wurden (Bull, Ewer, Hesse). Diese Untersuchungen erfassen den Kern der Problematik jedoch nicht. Insbesondere gehen sie nicht auf die Frage ein, welche Auswirkungen sich bei Kreisgrößen über 5.000 km2 ergeben könnten. Damit haben Landesregierung und Landtag nicht hinreichend geprüft, welche Konsequenzen die normierte Kreisgröße von bis zu 5.469 km2 auf das bürgerschaftliche Engagement haben kann.

251

aa) Hesse sieht in seinem Gutachten „Kreisgröße und kommunales Ehrenamt" Kreisgrößen „bis zum oberen 'Rand', also gute 3.000 km2", für jeden Fall als vertretbar an (S. 89). Er untersucht ebendort, was sich ergäbe, wenn sich die Belastung mit der Größe der Fläche exponentiell erhöhte. Es will im Sinne konservativer Hypothesen annehmen, dass zwar eine durchaus erhebliche Vergrößerung der Kreisfläche möglich ist, jedoch die daraus resultierende Gefährdung ehrenamtlicher Selbstverwaltung exponentiell zunimmt. „Demnach würde man sich mit der Umsetzung einer Reform, die dem Leitbild der Landesregierung entspricht, im Grenzbereich des Machbaren bewegen, weshalb die Notwendigkeit eines solchen Schritts unter erweitertem Begründungszwang stünde und dabei nicht nur mit Haushaltserwägungen des Landes argumentiert werden dürfe." Er hält Größenordnungen von bis zu 4.000 km2 „unter den gegebenen Umständen für möglich". „Je besser diesen Kriterien entsprochen wird, desto gangbarer und gerichtsfester dürfte sich die in Aussicht genommene Reform darstellen" (S. 90). Hesses Gutachten datiert vom 30. April 2008, wurde also inhaltlich vor dem Hintergrund des Leitbildes und zeitlich vor der Festlegung der 6+2-Lösung erstattet.

252

bb) Ewer (Gutachten zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen einer Verwaltungsstruktur-, Funktional- und Kreisgebietsreform, erstattet im Auftrag des Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein, 2007, S. 109) weist darauf hin, dass bei Kreisen bestimmter Größe der Gesetzgeber prüfen müsse, ob die avisierten Größen der neuen Kreise befürchten lassen, dass eine Identifikation der Bevölkerung mit ihrem Kreis nicht mehr möglich ist und dass der Kreis die ihm obliegende Ergänzungs-, Ausgleichs- und Integrationsfunktion nicht mehr erfüllen kann. Ewer sieht es bei Flächen zwischen 3.000 km2 und 5.000 km2 als entscheidend an, wie die Infrastruktur sich darstellt, wo der Kreissitz liegt und ob es eine hinreichende Anbindung auch der ländlichen Gebiete gibt. „Je weiter man sich von dem Wert der 3.000 km2 entfernt, desto geringer ist die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers." Umgekehrt wird man sagen müssen: je geringer die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist, desto größer ist die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.

253

cc) Seitz hat in Reaktion auf die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts vom 26. Juli 2007 in einem Gutachten für Schleswig-Holstein („Fiskalische und ökonomische Aspekte der Verwaltungsreform in Schleswig-Holstein" vom 31.08.2007) unter dem Aspekt „Kreisgröße, Bürgerbeteiligung und Demokratie" ab S. 129 versucht, sich der „Überschaubarkeit des Kreisgebiets" und der Frage zu nähern, ob es zwischen der Größe der Kreise und Indikatoren des bürgerschaftlich-demokratischen Engagements überhaupt erkennbare systematische Zusammenhänge gibt. Schon jetzt könne von Überschaubarkeit in den Kreisen kaum gesprochen werden. Im Zeitalter perfekter Kommunikation und Information sei eine physische Überschaubarkeit eines Kreisgebiets und auch Stadtgebiets kaum erforderlich, da alle relevanten Informationen für Kreistagsabgeordnete zur Verfügung stünden und kaum beziehungsweise nur wenige politische Entscheidungsfälle vorstellbar seien, die es erforderlich machten, dass man sich zusätzlich ein Bild vor Ort mache. Er stellt fest, dass von der Kreisfläche kein signifikanter Effekt auf die Relation der Zahl der Kandidaten je Kreissitz ausgeht. Ebenso (Abbildung V.2.10) hat die Entfernung des Wohnorts der Kandidaten zum Kreissitz keine Bedeutung (vgl. S. 139 zu Brandenburg). In Fußnote 59 schließt er allerdings nicht aus, dass bei einem weiteren Distanzanstieg die Bereitschaft für eine Kreistagskandidatur sinkt. „Aber hierauf spekulierend kann man kein Urteil seriös begründen!" (a.a.O. S. 139).

254

Signifikant ist die Kandidaturbereitschaft indes nicht, da die Parteien regelmäßig dafür sorgen werden, dass genug Kandidaten für die Kreistagswahlen zur Verfügung stehen. In welchem Umfang die Gewählten dann ihren Aufgaben gerecht werden (können), untersucht Seitz nicht. Wenn Seitz im Übrigen meint, seine Berechnungen würden der Entscheidung aus dem Jahre 2007 „vollständig die empirische Legitimation rauben", überzeugt dies schon deshalb nicht, weil etwa bei der Verdopplung der Kreisgrößen in Sachsen-Anhalt sich die PKW-Fahrtzeiten zum Kreissitz im Durchschnitt nur um 20% und die maximale Fahrzeiten um 10% erhöht haben (a.a.O. S. 140).

255

c) Dass es keine signifikante Korrelation zwischen Kreisgröße und Bereitschaft zur Kandidatur gibt, bedeutet nicht, dass die Kreisgröße kein (Belastungs-) Faktor für die ehrenamtliche Tätigkeit sein könnte. Auch der Landtag spricht in seiner Stellungnahme in diesem Verfahren (vgl. Urteil S. 20) von einer nicht auszuschließenden, wenn auch empirisch nicht gesicherten Erschwerung der Mandatsausübung. Vor diesem Hintergrund wäre eine empirische „Falsifizierung" solcher Bedenken im Gesetzgebungsverfahren möglich und nötig gewesen.

256

aa) Seitz hatte „in mühevoller Kleinarbeit" (a.a.O. S. 132) für Brandenburg und Rheinland-Pfalz untersucht, ob die Veränderung des Kreisgebiets signifikante Auswirkungen auf das Kandidaturverhalten hat und solches nicht feststellen können. Nicht untersucht worden ist, welche Wirkungen die veränderte Kreisgröße auf die Annahme und die Wahrnehmung des Ehrenamtes hat. Dies zu ermitteln, wäre möglich gewesen, etwa durch einen Vergleich der Teilnahmefrequenz an Ausschuss- und Kreistagssitzungen vor und nach Kreisgebietsreformen in Sachsen-Anhalt (2007) und Sachsen (2008), mit der die Größe der Landkreise sich jeweils praktisch verdoppelte. Überdies steht im Land Niedersachen ein breites Spektrum an Kreisgrößen zur Verfügung, das vom Kreis Peine (535 km2) und Friesland (608 km2) bis zum Emsland (2.882 km2) reicht (vgl. Hesse, Kommunalstrukturen in Niedersachsen, 2010, S. 116 f.). Sollte die Kreisgröße Wirkungen auf die Wahrnehmung des Ehrenamtes (nicht) haben, wären in diesen Regionen Erkenntnisse zu gewinnen gewesen. Es liegt nahe, dass insbesondere in der Winterzeit nicht nur einige Mandatsträger namentlich Ausschusssitzungen „verpassen" werden, wenn die Wetterlage ungünstig ist. Diese Sorge hätte der Gesetzgeber durch eine empirische Untersuchung ausräumen können. Dazu hätte umso mehr Anlass bestanden, als dieses Gericht in seiner Entscheidung vom 27. Juli 2007 angenommen hat, die Belastung durch das Ehrenamt könne mit der Kreisgröße exponentiell steigen.

257

bb) Ungewissheit über die Auswirkungen eines Gesetzes in einer ungewissen Zukunft kann nicht die Befugnis des Gesetzgebers ausschließen, ein Gesetz zu erlassen, auch wenn dieses von großer Tragweite ist (BVerfGE 50, 290, 332). Umgekehrt kann Ungewissheit nicht schon als solche ausreichen, einen verfassungsgerichtlicher Kontrolle nicht zugänglichen Prognosespielraum des Gesetzgebers zu begründen. Prognosen enthalten stets ein Wahrscheinlichkeitsurteil, dessen Grundlagen ausgewiesen werden können und müssen; diese sind einer Beurteilung nicht entzogen. Im einzelnen hängt die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers von Faktoren verschiedener Art ab, im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter. Demgemäß hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei verschiedenen Fragestellungen, bei der Beurteilung von Prognosen des Gesetzgebers differenzierte Maßstäbe zugrunde gelegt, die von einer Evidenzkontrolle (vgl. nur BVerfGE 36, 1, 17; 37, 1, 20; 40, 196, 223) über eine Vertretbarkeitskontrolle (etwa BVerfGE 25, 1, 12 f; 30, 250, 263; 39, 210, 225f) bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen (etwa BVerfGE 7, 377, 415; 11, 30, 45; 17, 269, 276; 39, 1, 51 ff.; 45, 187, 238).

258

Angesichts des Stellenwertes der kommunalen Selbstverwaltung und der Wahrnehmung des Ehrenamtes im Kreisgebiet hätte es der Gesetzgeber nicht bei einer „Willful Blindness" belassen dürfen. Es mag dahin gestellt bleiben, ob sachverständige empirische Untersuchungen zum Bestandteil „guter Gesetzgebung" gehören müssen (vgl. Hill in FS König, 2004, S. 217 ff. zu Großbritannien). Hier hat der Gesetzgeber diesen Weg aber beschritten und ihn verlassen, als er mit der Erweiterung der Kreisgrößen vom Leitbild abwich. Er hat nicht die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft, um die voraussichtlichen Auswirkungen seiner Regelungen auch nur annähernd zuverlässig abschätzen zu können (vgl. BVerfGE 50, 290, 334).

259

Jedenfalls dann, wenn sich der Gesetzgeber mit diesem Leitbild schon deutlich vom bislang Üblichen entfernt hat und dann noch einmal die so geschaffenen Größen um mehr als 1/3 überschreitet, gibt es keine „überprüfungsfreie Einschätzungsprärogative" mehr. Der Gesetzgeber hat untersuchen zu lassen, welche Konsequenzen dies für das bürgerschaftliche Engagement im Kreis haben kann. Dies ist nicht geschehen.

260

cc) Die vom Gesetz vorgesehenen Kreisgrößen wären ohne eine solche empirische Untersuchung allenfalls akzeptabel, wenn der Gesetzgeber im Rahmen der Reform ein normatives Umfeld geschaffen hätte, mit dem die über die Kandidatur hinausgehende Wahrnehmung des Ehrenamtes erleichtert würde, wie es etwa von Hesse (a.a.O. S. 95 f.) als „kaum vermeidlich" bezeichnet wurde (Hesse a.a.O. S. 84: notwendige Verbesserung operativer Arbeitsbedingungen; zum normativen Umfeld in Gestalt von hauptamtlichen Mitarbeitern vergleiche Bull, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen in Schleswig-Holstein, August 2007, S. 72 f.; krit. LVerfG v. 26.07.2007 -LVerfG 9/06 u.a. -, LVerfGE 18, 342, 391). Dies hat er jedoch nicht getan.

261

Der Regierungsentwurf (LT-Drs. 5/2683) sah in Art. 9 noch die Aufhebung der Entschädigungsverordnung vor. Nach der Begründung (LT-Drs. 5/2683, S. 200) würden hierdurch die kommunale Selbstverwaltung und das Ehrenamt vor Ort wesentlich gestärkt: „Die kommunale Selbstverwaltung wird gestärkt, weil die Kommunen und damit die in den Vertretungskörperschaften tätigen ehrenamtlichen Bürger zukünftig im Bereich der Entschädigung gegenüber der derzeitigen Rechtslage erheblich erweiterte Entscheidungsmöglichkeiten haben. ... Nicht nur können zukünftig tatsächliche Auslagen auch ohne gesetzliche Einschränkung durch eine pauschalierte Aufwandsentschädigung ersetzt werden, sondern auch bei der Festlegung sowohl der Höhe als auch des begünstigten Personenkreises der einzelnen Entschädigungen gewinnen die ehrenamtlich Tätigen . neue Freiräume, die sie anhand der jeweiligen Gegebenheiten vor Ort ausfüllen können." Mit der Beschlussempfehlung des Innenausschusses wurde die Streichung revidiert (LT-Drs. 5/3599, S. 271). Zur Begründung heißt es u.a. „Die Fraktionen der SPD und der CDU hatten beantragt, Artikel 9 aufzuheben, ... Die beantragenden Fraktionen haben festgestellt, dass sich die Entschädigungsverordnung in der Praxis bewährt habe. An ihr werde deshalb festgehalten."

262

Dass damit Mitglieder des Kreistages zwar bei den Fahrtkosten nach Aufwand entschädigt werden, jedoch nicht für den mit der An- und Abreise außerhalb der Arbeitszeit liegenden Zeitaufwand, ist angesichts der Kreisgrößen nicht hinzunehmen. Die von der Mehrheit des Gerichts vorgesehene Beobachtungspflicht genügt als „judicatum imperfectum" insofern nicht, wird aber angesichts der dargestellten Umstände zur Vermeidung erneuter verfassungsgerichtlicher Verfahren gleichwohl besonders sorgfältig zu beachten sein.

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Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 20


(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der

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(1) Das Oberverwaltungsgericht entscheidet im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit auf Antrag über die Gültigkeit 1. von Satzungen, die nach den Vorschriften des Baugesetzbuchs erlassen worden sind, sowie von Rechtsverordnungen auf Grund des § 246 Abs. 2 de

Gesetz über das Kreditwesen


Kreditwesengesetz - KWG

Gesetz über das Bundesverfassungsgericht


Bundesverfassungsgerichtsgesetz - BVerfGG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 28


(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben,

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 38


(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. (2) W

Gesetz zur Durchführung der einheitlichen Betriebsprämie


Betriebsprämiendurchführungsgesetz - BetrPrämDurchfG

Gesetz zur Beschränkung des Verbringens oder der Einfuhr gefährlicher Hunde in das Inland


Hundeverbringungs- und -einfuhrbeschränkungsgesetz - HundVerbrEinfG

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(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar. In Gemeinden kann an die Stelle einer gewählten Körperschaft die Gemeindeversammlung treten.

(2) Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfaßt auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung; zu diesen Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle.

(3) Der Bund gewährleistet, daß die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 entspricht.

(1) Das Oberverwaltungsgericht entscheidet im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit auf Antrag über die Gültigkeit

1.
von Satzungen, die nach den Vorschriften des Baugesetzbuchs erlassen worden sind, sowie von Rechtsverordnungen auf Grund des § 246 Abs. 2 des Baugesetzbuchs
2.
von anderen im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften, sofern das Landesrecht dies bestimmt.

(2) Den Antrag kann jede natürliche oder juristische Person, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden, sowie jede Behörde innerhalb eines Jahres nach Bekanntmachung der Rechtsvorschrift stellen. Er ist gegen die Körperschaft, Anstalt oder Stiftung zu richten, welche die Rechtsvorschrift erlassen hat. Das Oberverwaltungsgericht kann dem Land und anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, deren Zuständigkeit durch die Rechtsvorschrift berührt wird, Gelegenheit zur Äußerung binnen einer zu bestimmenden Frist geben. § 65 Abs. 1 und 4 und § 66 sind entsprechend anzuwenden.

(2a) (weggefallen)

(3) Das Oberverwaltungsgericht prüft die Vereinbarkeit der Rechtsvorschrift mit Landesrecht nicht, soweit gesetzlich vorgesehen ist, daß die Rechtsvorschrift ausschließlich durch das Verfassungsgericht eines Landes nachprüfbar ist.

(4) Ist ein Verfahren zur Überprüfung der Gültigkeit der Rechtsvorschrift bei einem Verfassungsgericht anhängig, so kann das Oberverwaltungsgericht anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des Verfahrens vor dem Verfassungsgericht auszusetzen sei.

(5) Das Oberverwaltungsgericht entscheidet durch Urteil oder, wenn es eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, durch Beschluß. Kommt das Oberverwaltungsgericht zu der Überzeugung, daß die Rechtsvorschrift ungültig ist, so erklärt es sie für unwirksam; in diesem Fall ist die Entscheidung allgemein verbindlich und die Entscheidungsformel vom Antragsgegner ebenso zu veröffentlichen wie die Rechtsvorschrift bekanntzumachen wäre. Für die Wirkung der Entscheidung gilt § 183 entsprechend.

(6) Das Gericht kann auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.

(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

(2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.

(3) Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar. In Gemeinden kann an die Stelle einer gewählten Körperschaft die Gemeindeversammlung treten.

(2) Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfaßt auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung; zu diesen Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle.

(3) Der Bund gewährleistet, daß die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 entspricht.