Sozialgericht Augsburg Schlussurteil, 12. Jan. 2015 - S 8 U 216/14

bei uns veröffentlicht am12.01.2015

Gericht

Sozialgericht Augsburg

Tenor

1. Der Bescheid der Beklagten vom 25. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Juni 2014 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand

Streitig ist, ob die Beklagte zu Recht die Anerkennung eines Arbeitsunfalls des Klägers zurückgenommen und die weitere Leistungsgewährung eingestellt hat.

Der 1960 geborene Kläger, damals im Autohandel tätig, kam am 1. Februar 1990 gegen 0:30 Uhr mit einem von ihm geführten Pkw auf der Bundesstraße 12 von A-Stadt nach I-Stadt in Höhe S. bei einem Überholmanöver von der Fahrbahn ab und überschlug sich. Der Kläger zog sich dabei vor allem Trümmerfrakturen im Bereich der Brustwirbelsäule und eine Subarachnoidalblutung zu und leidet seitdem an einer kompletten Paraplegie ab dem 4. Brustwirbelkörper.

In der Unfallanzeige wurde angegeben, der Kläger sei von einem Verkaufsgespräch mit dem Zeugen W. nach Hause gefahren. Der Interessent habe als Inhaber eines Restaurants in M. erst spät in der Nacht Zeit für eine Probefahrt gehabt. Der Zeuge W. bestätigte schriftlich, dass eine Probefahrt nach Schließung der Gaststätte stattgefunden habe.

Der Kläger selbst gab an, er sei gegen 23:30 Uhr bei der Gaststätte des Zeugen W. angekommen und kurz nach Mitternacht habe der Zeuge W. dann eine Probefahrt durchgeführt und habe den Wagen kaufen wollen. Er meine, dass er dann über die Bundesstraße 12 nach Hause gefahren sei, könne sich daran aber nicht erinnern.

Nach weiteren Ermittlungen bewilligte eine Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden ebenfalls: die Beklagte) dem Kläger mit Bescheid vom 9. August 1990 eine Kleider- und Wäschemehrverschleißentschädigung. Mit Bescheid vom 6. November 1990 wurde dem Kläger schließlich wegen des Unfalls vom 1. Februar 1990 ab 24. Juli 1990 eine Vollrente sowie Pflegegeld bewilligt und als Folgen des Arbeitsunfalls eine Querschnittslähmung mit Blasen- und Mastdarmlähmung anerkannt.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger außerdem mit Bescheid vom 23. Oktober 1997 im Rahmen der Wohnungshilfe die Kosten für die Einrichtung einer Aufzugsanlage sowie mit den Bescheiden vom 17. Januar 2000 und vom 9. Februar 2011 jeweils Kraftfahrzeughilfe.

Ende Januar 2013 wandte sich der Zeuge W. - unter einem Aliasnamen - an die Berufsgenossenschaft Holz Metall und teilte mit, er habe vor 20 Jahren eine falsche Aussage aus Gefälligkeit gemacht. Er wolle nun sein Gewissen erleichtern, seine Psychologin habe ihm dazu geraten.

Im Februar erfuhr die Beklagte davon und veranlasste die eidliche Vernehmung des Zeugen W., die am 4. Juni 2013 durch das Sozialgericht Augsburg (Verfahren S 7 SF 60/13 RH) durchgeführt wurde. Dabei gab der Zeuge W. an, er sei von der Frau des Klägers, der Zeugin A., um die damalige Aussage gebeten worden. Wegen der Gaststätte habe eine nächtliche Probefahrt plausibel dargestellt werden können. Seine damalige Verlobte, die Zeugin W., sei auch zugegen gewesen. Die Probefahrt habe aber nie stattgefunden.

Aufgrund dieser Aussage nahm die Beklagte nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 25. Februar 2014 die Bescheide über die Gewährung von Verletztenrente und Pflegegeld vom 6. November 1990 sowie sich aus der Anerkennung des Versicherungsfalls sich ergebende Nachfolgebescheide über die Gewährung von Kleidermehrverschleißgeld vom 9. August 1990 und die Gewährung von Wohnungshilfe u. a. vom 23. Oktober 1997 mit Wirkung für die Vergangenheit und die Zukunft zurück und stellte die laufenden Zahlungen von Rente, Pflegegeld und Mehrverschließgeld mit Ablauf des Monats Februar 2014 ein. Der Unfall vom 1. Februar 1990 sei kein versicherter Arbeitsunfall gewesen, die begünstigende Entscheidung vom 6. November 1990 und daran anschließende Folgebescheide deshalb rechtswidrig. Man sei von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen. Die nunmehrige Aussage des Zeugen W., dass keine Probefahrt stattgefunden habe, sei glaubhaft und überzeugend. Damit ließen sich auch verschiedene Ungereimtheiten erklären. Auf Vertrauensschutz könne sich der Kläger nicht berufen, weil ihm die Rechtswidrigkeit bekannt sei musste. Ein Fortbestehen der Bescheide würde die Versichertengemeinschaft ungerechtfertigt stark belasten. Trotz der ernsthaften finanziellen Konsequenzen für den Kläger liege keine besondere Härt vor. Die Interessen des Klägers würden daher zurücktreten.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 24. Juni 2014 zurückgewiesen.

Dagegen hat der Kläger durch seine Prozessbevollmächtigten am 24. Juli 2014 Klage zum Sozialgericht Augsburg erheben lassen. Der angefochtene Bescheid sei nicht hinreichend bestimmt. In der Sache habe der Kläger nie falsche Angaben gemacht, vielmehr seien die Angaben des Zeugen W. falsch. Dieser sei in den 1980er Jahren mit der Frau des Klägers zusammen gewesen und hege Groll und Eifersucht gegen den Kläger. Auch habe er sich seit jeher in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befunden, während die Zeugin A. in einer florierenden Familienfirma gewesen sei. Der Zeuge W. sei außerdem psychisch beeinträchtigt und vom Kläger möglicherweise derart gekränkt worden, dass er auf Rache gesonnen habe und das Leben des Klägers habe zerstören wollen. Somit sei die Aussage des Zeugen W. nicht glaubhaft.

Am 3. November 2014 hat das Gericht den Bruder des Klägers, den Zeuge A., die Ehefrau des Klägers, die Zeugin A., die frühere Ehefrau des Zeugen W., die Zeugin W., sowie eine in der Unfallnacht in einem Tanzlokal unter der Gaststätte des Zeugen W. anwesende Frau, die Zeugin S., vernommen. Der Zeuge A. hat ausgesagt, den Kläger am 31. Januar 1990 nach B. gefahren zu haben, weil der Kläger dem Zeugen W. in der Nacht ein Auto habe vorführen wollen. Die Zeugin W. hat angegeben, bei einer Probefahrt nicht dabei gewesen zu sein und sich aus gesundheitlichen Gründen an nichts mehr aus der fraglichen Nacht recht erinnern zu können. Die Zeugin S. will den Kläger Stunden vor dem Unfall zur Gaststätte des Zeugen W. hinauf haben gehen sehen. Die Zeugin A. schließlich hat von einer Probefahrt in der Nacht zum 1. Februar 1990 berichtet, wozu der Kläger zum Zeugen W. gefahren sei. Zum Zeugen W. habe sie nach der Trennung 1987 jeglichen Kontakt möglichst vermieden. Im Sommer 2012 sei der Zeuge W. jedoch plötzlich bei ihr aufgetaucht und sie habe den Eindruck gehabt, dass er Geld vom Kläger und ihr wolle. Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift verwiesen.

Nach dieser Beweisaufnahme hat die Beklagte noch ausgeführt, die Zeitangaben der Zeugen weichten erheblich voneinander ab. Wo der Kläger unterwegs gewesen sei, bleibe offen, ebenso die genaue Wegstrecke. Auch die Aussage der Zeugin S. stelle keinen Beweis für die Durchführung einer Probefahrt dar. Offen bleibe auch, warum der Zeuge A. die Probefahrt nicht selbst anstelle des Klägers durchgeführt habe. Wenn bereits 1990 die gemeinsame Vergangenheit des Zeugen W. und der Zeugin A. bekannt gewesen wäre, wären deren Angaben viel genauer hinterfragt worden.

In der mündlichen Verhandlung am 12. Januar 2015 ist außerdem der Zeuge W. nochmals befragt worden. Dieser will den Kläger in der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar 1990 überhaupt nicht gesehen haben und auch kein Auto habe kaufen wollen. Infolge eines Gesprächs mit der Zeugin A. sei es aus Mitleid zu der Bestätigung gekommen. Mit seiner späteren Aussage habe er diese Belastung loswerden wollen. Vom Kläger habe er 2012 nur das Wort „Dankeschön“ hören wollen. Mit der Zeugin A. habe er über all die Jahre immer wieder Kontakt gehabt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift verwiesen.

Für den Kläger wird beantragt:

Der Bescheid vom 25. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Juni 2014 wird aufgehoben.

Für die Beklagte wird beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten sowie die Niederschriften Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Der Bescheid der Beklagten vom 25. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Juni 2014 ist aufzuheben, weil er rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Es ist nämlich nicht feststellbar, dass die Anerkennung eines Arbeitsunfalls des Klägers am 1. Februar 1990 zu Unrecht erfolgt ist.

Für die von der Beklagten verfügte Rücknahme kommt als Rechtsgrundlage § 45 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) infrage. Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtwidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein Verwaltungsakt ist in diesem Sinn auch dann rechtswidrig, wenn die in dem Bescheid eingeräumte begünstigende Rechtsposition erst auf der Grundlage später zu Tage getretener Erkenntnisse bereits aus damaliger Sicht rechtsfehlerhaft war (BSG, Urteil vom 2. April 2009, B 2 U 25/07 R).

§ 45 Abs. 2 SGB X regelt in seinem Satz 1, dass ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden darf, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte jedoch u. a. nach Satz 3 Nr. 3 dann nicht berufen, wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maß verletzt hat. § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X bestimmt, dass ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach Absatz 2 nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden kann. Weiter legt § 45 Abs. 4 SGB X fest, dass in den Fällen des Absatzes 2 Satz 3 der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann und die Behörde dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen tun muss.

Außerdem ist nach § 24 Abs. 1 SGB X, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern.

Eine formelle Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids der Beklagten vom 25. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Juni 2014 liegt demnach nicht vor. Die Beklagte hat den Kläger insbesondere vor ihrer Entscheidung angehört.

Auch ist die Entscheidung der Beklagten genügend bestimmt im Sinn des § 33 Abs. 1 SGB X. Diejenigen Bescheide, welche die Beklagte aufheben wollte, sind nach dem Empfängerhorizont des Klägers ausreichend konkret bezeichnet. Dass etwa die vielfachen, über die Jahrzehnte ergangenen Rentenanpassungsbescheide nicht einzeln erwähnt sind, schadet nicht. Denn auch für den Kläger war leicht erkennbar, dass diese auf der Grundentscheidung über die Gewährung von Entschädigungsleisten, dem Rentenbescheid vom 6. November 2011 beruhen. Diese maßgebliche Entscheidung ist aber ausdrücklich bezeichnet.

Allerdings ist die Rechtswidrigkeit der aufgehobenen Verwaltungsakte nicht erwiesen.

Anders als bei der Frage, ob ein Arbeitsunfall vorliegt, müssen nicht die versicherte Tätigkeit, der Unfall und die Gesundheitsschädigung im Sinn des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden. Vielmehr muss die Rechtswidrigkeit des aufgehobenen Verwaltungsaktes, hier vor allem der inzidenten Anerkennung des Unfalls des Klägers vom 1. Februar 1990 als Arbeitsunfall, im Sinn des Vollbeweises feststehen. Dazu genügt es, wenn sich diese aufgrund späterer Erkenntnisse ergibt. Bloße Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls genügen jedoch nicht. Bei einem „non liquet“ steht ebenfalls nicht fest, dass der Versicherte keine im sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehende Verrichtung ausgeübt hat (vgl. BSG, Urteil vom 2. April 2009, B 2 U 25/07 R).

Nach diesen Maßstäben ist für das Gericht nicht erwiesen, dass der Unfall des Klägers am 1. Februar 1990 in keinem Fall als Arbeitsunfall hätte anerkannt werden dürfen, die Entscheidung der Beklagten im Bescheid vom 6. November 1990 somit rechtswidrig ist.

Der Unfall am 1. Februar 1990 hat sich vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) am 1. Januar 1997 (Art. 36 Satz 1 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes) ereignet. Nach den §§ 212, 214 SGB VII richten sich somit die Voraussetzungen für die Anerkennung als Arbeitsunfall weiter nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), hier v. a. den §§ 548, 550 RVO (vgl. BSG, Urteil vom 21. September 2010, B 2 U 3/10 R). Im Ergebnis besteht insofern allerdings kein Unterschied zu den Regelungen des SGB VII.

Demnach ist ein Arbeitsunfall der Unfall, den ein Versicherter infolge einer den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit) erleidet. Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Als Arbeitsunfall gilt auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit.

Für einen Arbeitsunfall ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (Unfallkausalität), und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität). Das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls, sondern für die Gewährung einer Verletztenrente (BSG, Urteil vom 4. September 2007, B 2 U 28/06 R).

Für das Gericht kommen dabei mehrere Varianten infrage:

Die Probefahrt, weswegen der Kläger den Zeugen W. in M. aufgesucht haben will, hat nicht stattgefunden. Dann stand der Kläger auch im Unfallzeitpunkt nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, weil er bei der Fahrt weder einer versicherten Tätigkeit nachgegangen ist noch den Weg zu oder vom Ort einer versicherten Tätigkeit zurückgelegt hat.

Eine Probefahrt des Zeugen W. hat zwar stattgefunden, danach ist der Kläger aber einer weiteren, rein eigenwirtschaftlichen, unversicherten Tätigkeit nachgegangen oder hat sich mehr als zwei Stunden an einem dritten Ort aufgehalten und sich somit von einem möglicherweise versicherten Rückweg nach A-Stadt gelöst. Der Unfall am 1. Februar 1990 war damit nicht mehr versichert.

Eine Probefahrt hat, wie von der Beklagten ihren begünstigenden Verwaltungsakten zugrunde gelegt, stattgefunden. Der Kläger befand sich dann zum Unfallzeitpunkt auf einem versicherten Rückweg von seiner versicherten Tätigkeit. Die insofern initial unterschiedlichen Angaben zum gefahrenen Weg, sind unschädlich, weil jedenfalls der Unfallort auf dem unmittelbaren Weg von M. zur damaligen Wohnung des Klägers in A-Stadt anzunehmen ist. Daher kann offen bleiben, welchen Weg der Kläger tatsächlich genommen hat. Zumindest ist nämlich nicht zu erweisen, dass der Kläger einen nicht unmittelbaren Weg zurückgelegt hat.

Für die erste Variante spricht die Aussage des Zeugen W., die in sich stimmig war und auch unter Eid erfolgt ist. Sie würde die Ereignisse plausibel erklären. Auch ist für das Gericht nicht recht nachvollziehbar, weshalb sich der Kläger mit seinem, inzwischen verstorbenen Trauzeugen unbedingt in der vom Zeugen W. betriebenen Gaststätte getroffen haben soll. Denn nach den insofern übereinstimmenden und daher glaubhaft erscheinenden Angaben des Klägers, der Zeugin A., des Zeugen A. und des Zeugen W. bestand damals kein gutes Verhältnis mehr zwischen dem Kläger und dem Zeugen W. Hinzu kommt, dass weder der Kläger noch der Zeuge A. oder die Zeugin A. überzeugend erläutern konnten, auf welcher Grundlage die Beschäftigung des Klägers im Unfallzeitpunkt erfolgt ist. Auffällig ist für das Gericht, dass just zwei Wochen vor dem tragischen Unfall des Klägers ein Vertrag über eine Teilzeitbeschäftigung abgeschlossen wurde und niemand mehr genau sagen kann, wer diesen Vertrag überhaupt für die Arbeitgeberseite unterzeichnet hat. Insbesondere konnten weder die damaligen Geschäftsführer, die Zeugin A. und der Zeuge A., ihre Unterschriften verifizieren. Zumindest stutzig macht ferner, dass der Kläger trotz der weit fortgeschrittenen Schwangerschaft seiner Ehefrau zu nächtlicher Stunde nach M. fährt, obwohl dies genauso gut sein Bruder, der Zeuge A., hätte übernehmen können, zumal dieser ihn noch nach B. gefahren haben will. Seltsam wenig detailliert und blass bleibt auch die Schilderung der fraglichen Nacht durch den Kläger. Dies kann so gedeutet werden, dass die Nacht anders als angegeben verlaufen ist. Allerdings kann es auch mit einer - jedoch nirgends ärztlich dokumentierten - retrograden Amnesie oder Erinnerungslücken erklärt werden. Schließlich konnte auch die Zeugin W. eine Probefahrt nicht bestätigen, sie wusste auch sonst nichts über ein Treffen des Klägers mit dem Zeugen W. in der Unfallnacht. Ihre Aussage ist aber vor dem Hintergrund der epilepsiebedingten Erinnerungslücken zu sehen, auf welche sich die Zeugin W. beruft. Gleichwohl hat das Gericht keinen Grund, an diesen zu zweifeln. Das bedeutet aber auch, dass der Aussage der Zeugin W. kein sonderlicher Beweiswert zugemessen werden kann.

Die oben als zweites angeführte Möglichkeit kommt nach Auffassung des Gerichts kaum infrage. Denkbar ist zwar, dass sich der Kläger zunächst mit seinem Trauzeugen in dem Lokal getroffen hat, nach Durchführung der Probefahrt aber zu einem anderen Ort aufgebrochen ist und sich dort oder an weiteren dritten Orten vor der Rückfahrt nach A-Stadt mehr als zwei Stunden aufgehalten hat. Dafür hat sich jedoch weder 1990 noch im aktuellen Verfahren irgendein Anhaltspunkt ergeben.

Die dritte Variante kann für sich in Anspruch nehmen, dass sie den damaligen wie heutigen Angaben des Klägers sowie des Zeugen A. und der Zeugin A. entspricht. Aufgrund dieser Angaben kann die Durchführung einer Probefahrt nachvollziehbar erklärt werden, wenngleich der Zeitpunkt weiterhin auffällig bleibt. Denn die Frau des Klägers ist hochschwanger und der Zeuge W. ist ab dem 1. Februar 1990 nicht mehr an dem Lokal in M. beteiligt. Warum sollte die Probefahrt dann unbedingt noch in dieser Nacht stattfinden, obschon der Zeuge W. in der Nähe des Klägers in A-Stadt wohnte? Eine Probefahrt hätte ab 1. Februar 1990 auch zu einer weniger späten Stunde bequemer erfolgen können. Ferner ist zu sehen, dass zumindest die Zeugin A. mittelbar einen erheblichen Vorteil aus der Anerkennung als Arbeitsunfall bezog, weil damit nicht unbeträchtliche Entschädigungsleistungen der Beklagten an ihren in seiner Erwerbsfähigkeit erheblich geminderten Ehemann und Vater ihres Kindes verbunden waren. Das kam ihrer eigenen Absicherung zumindest mittelbar zugute. Allerdings scheint die Zeugin A. vonseiten ihrer Eltern mit guten finanziellen Verhältnissen ausgestattet zu sein. Der Zeuge A. hat, soweit ersichtlich, keinen besonderen Vorteil aus der Anerkennung zu erwarten gehabt, wenngleich er vielleicht seinem Bruder gute finanzielle Absicherung gönnen wird. Diese Umstände werfen für das Gericht jedenfalls ein ungünstiges Licht auf die Glaubhaftigkeit der Aussagen.

Anderseits hat die Zeugin S. ausgesagt, den Kläger in der Nacht des 31. Januar 1990 zum Lokal des Zeugen W. hinaufgehen gesehen zu haben. Die Zeugin S. steht und stand als einzige nicht in irgendeiner engeren Beziehung zum Kläger oder seiner Frau. Auch ist nicht ersichtlich, welchen Vorteil sie von der Aussage haben sollte. Daher hält das Gericht die Aussage der Zeugin S. für glaubhaft und misst ihr einen hohen Beweiswert zu. Die Aussage beweist natürlich nicht, dass der Kläger zwecks einer Probefahrt den Zeugen W. aufgesucht hat. Sie steht aber zumindest in gewissem Widerspruch zur Angabe des Zeugen W., er habe den Kläger in der Unfallnacht in seinem Lokal gar nicht gesehen. Das ist zwar denkbar bei großem Ansturm, wenn der Zeuge W. nicht allein bedient hat. Es erscheint aber wenig wahrscheinlich. Gerade wegen der vorangegangenen privaten Ereignisse dürfte dem Zeugen W. der Kläger kaum entgangen sein. Für das Gericht ist deswegen mit Gewissheit belegt, dass der Kläger in der Nacht des 31. Januar 1990 das damalige Lokal des Zeugen W. aufgesucht und sich somit auch in M. aufgehalten hat und von dort aus auch zurück zur Wohnung in A-Stadt gefahren ist. Für anderweitige, dazwischen stattgefundene Fahrten gibt es, wie oben bereits erwähnt, nämlich überhaupt keinen Anhaltspunkt.

Ob dagegen die Annahmen der Klägerseite und der Zeugin A. zutreffen, der Zeuge W. habe vielleicht aus Neid, Eifersucht oder Rachsucht seine damalige Bestätigung widerrufen und die nunmehrigen Aussagen gemacht, ist für das Gericht offen. Dies ist als Motivation genauso denkbar wie die vom Zeugen W. genannte Gewissensbefreiung. Im Rahmen der durchgeführten Psychotherapie erscheint dies ebenso plausibel, zumal kein Grund dafür zu ersehen ist, weshalb der Zeuge W. seiner der Schweigepflicht unterliegenden Psychotherapeutin nach den vielen Jahren erfundene Geschichten auftischen sollte.

Dass die Zeugen sich mit den Uhrzeiten teils widersprachen, teils eine angeblich kurz nach Mitternacht durchgeführte Probefahrt nicht erklären könnten, ist für das Gericht wenig bedeutsam. Aufgrund des großen zeitlichen Abstandes von fast einem Vierteljahrhundert verwundert es nicht, wenn Uhrzeiten nicht mehr exakt(er) angegeben werden können.

In der Gesamtschau der aufgeführten Umstände steht zur Überzeugung des Gerichts nicht mit Sicherheit fest, dass der Kläger den Unfall am 1. Februar 1990 infolge einer versicherten Tätigkeit erlitten hat. Dafür bleiben nach der Würdigung der Aussagen der Zeugen zu viele Punkte unklar. Vor allem ist weiterhin nicht recht ersichtlich, weshalb gerade der Kläger die nächtliche Probefahrt mit dem Zeugen W. durchgeführt haben sollte. Auch erscheint dem Gericht die Grundlage der angegeben nichtselbstständigen Beschäftigung des Klägers auffällig nahe zum Unfall. Wäre in diesem Fall jetzt über die Feststellung eines Arbeitsunfalls zu befinden, wäre dies aus Sicht des Gerichts nicht mit dem notwendigem Grad an Überzeugung zu erweisen.

Gleichwohl spricht auch eine Reihe von Umständen für die Richtigkeit der 1990 erfolgten Anerkennung eines Arbeitsunfalls. Maßgeblich ist für das Gericht dabei die Aussage der Zeugin S., welche die Glaubhaftigkeit des Zeugen W. in Zweifel ziehen lässt. Merkwürdig mutet dem Gericht insofern auch die Selbsteinschätzung des Zeugen W. an, er sei in guten finanziellen Verhältnissen, obgleich er nach seiner Angabe als sogenannter Aufstocker Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezieht. Wohl dem, der derart zufrieden lebt - einen Schatten hinterlässt diese Aussage für das Gericht dennoch an seiner Glaubhaftigkeit. Hinzu kommt, dass auch der Zeuge A. und die Zeugin A. trotz möglicher strafrechtlicher Konsequenzen bei ihren Angaben geblieben sind, dass der Kläger wegen einer Probefahrt mit dem Zeugen W. unterwegs gewesen ist.

Das Gericht kann sich daher auf der anderen Seite auch nicht mit Gewissheit davon überzeugen, dass eine Probefahrt, wie angegeben, also die o. g. dritte Variante, auszuschließen ist. Es bleiben zwar die besagten, nicht unbedeutenden Zweifel. Allerdings verdichten sich diese wegen der dagegen sprechenden Umstände nicht zur Gewissheit, dass diese Möglichkeit in jedem Fall auszuschließen ist.

Zu erwähnen ist noch, dass nach Meinung des Gerichts auch heute aus ex ante Sicht eine Anerkennung durch die Beklagte nachvollziehbar erfolgt ist. Insbesondere waren damals die erst im Zuge der Aussage des Zeugen W. bekannt gewordenen persönlichen Verflechtungen zwischen dem Kläger und dem Zeugen W. sowie der Zeugin A. und dem Zeugen W. nicht zu erahnen gewesen. Ebenso gab es kaum Anlass, den Arbeitsvertrag des Klägers derart in Zweifel zu ziehen, wie nunmehr nach den Aussagen des Zeugen A. und der Zeugin A.

Nachdem somit die Rechtswidrigkeit der erfolgten Anerkennung eines Arbeitsunfalls nicht erwiesen ist, liegen die Voraussetzungen einer Rücknahme nach § 45 SGB X nicht vor.

Der Klage ist daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

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Sozialgericht Augsburg Schlussurteil, 12. Jan. 2015 - S 8 U 216/14 zitiert 11 §§.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

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Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - - SGB 10 | § 24 Anhörung Beteiligter


(1) Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. (2) Von der Anhörung kann abgesehen werden, wenn 1. eine sof

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(1) Ein Verwaltungsakt muss inhaltlich hinreichend bestimmt sein. (2) Ein Verwaltungsakt kann schriftlich, elektronisch, mündlich oder in anderer Weise erlassen werden. Ein mündlicher Verwaltungsakt ist schriftlich oder elektronisch zu bestätigen, w

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(1) Die Vorschriften des Ersten und Fünften Abschnitts des Dritten Kapitels gelten auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind; dies gilt nicht für die Vorschrift über Leistungen an Berechtigte im

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Bundessozialgericht Urteil, 21. Sept. 2010 - B 2 U 3/10 R

bei uns veröffentlicht am 21.09.2010

Tenor Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 14. Januar 2010 wird zurückgewiesen.

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(1) Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(2) Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit

1.
er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2.
der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3.
er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

(3) Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung kann nach Absatz 2 nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Satz 1 gilt nicht, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung vorliegen. Bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach Absatz 2 zurückgenommen werden, wenn

1.
die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 gegeben sind oder
2.
der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufs erlassen wurde.
In den Fällen des Satzes 3 kann ein Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren zurückgenommen werden, wenn diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde. War die Frist von zehn Jahren am 15. April 1998 bereits abgelaufen, gilt Satz 4 mit der Maßgabe, dass der Verwaltungsakt nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben wird.

(4) Nur in den Fällen von Absatz 2 Satz 3 und Absatz 3 Satz 2 wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Behörde muss dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.

(5) § 44 Abs. 3 gilt entsprechend.

(1) Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern.

(2) Von der Anhörung kann abgesehen werden, wenn

1.
eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint,
2.
durch die Anhörung die Einhaltung einer für die Entscheidung maßgeblichen Frist in Frage gestellt würde,
3.
von den tatsächlichen Angaben eines Beteiligten, die dieser in einem Antrag oder einer Erklärung gemacht hat, nicht zu seinen Ungunsten abgewichen werden soll,
4.
Allgemeinverfügungen oder gleichartige Verwaltungsakte in größerer Zahl erlassen werden sollen,
5.
einkommensabhängige Leistungen den geänderten Verhältnissen angepasst werden sollen,
6.
Maßnahmen in der Verwaltungsvollstreckung getroffen werden sollen oder
7.
gegen Ansprüche oder mit Ansprüchen von weniger als 70 Euro aufgerechnet oder verrechnet werden soll; Nummer 5 bleibt unberührt.

(1) Ein Verwaltungsakt muss inhaltlich hinreichend bestimmt sein.

(2) Ein Verwaltungsakt kann schriftlich, elektronisch, mündlich oder in anderer Weise erlassen werden. Ein mündlicher Verwaltungsakt ist schriftlich oder elektronisch zu bestätigen, wenn hieran ein berechtigtes Interesse besteht und der Betroffene dies unverzüglich verlangt. Ein elektronischer Verwaltungsakt ist unter denselben Voraussetzungen schriftlich zu bestätigen; § 36a Abs. 2 des Ersten Buches findet insoweit keine Anwendung.

(3) Ein schriftlicher oder elektronischer Verwaltungsakt muss die erlassende Behörde erkennen lassen und die Unterschrift oder die Namenswiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder seines Beauftragten enthalten. Wird für einen Verwaltungsakt, für den durch Rechtsvorschrift die Schriftform angeordnet ist, die elektronische Form verwendet, muss auch das der Signatur zugrunde liegende qualifizierte Zertifikat oder ein zugehöriges qualifiziertes Attributzertifikat die erlassende Behörde erkennen lassen. Im Fall des § 36a Absatz 2 Satz 4 Nummer 3 des Ersten Buches muss die Bestätigung nach § 5 Absatz 5 des De-Mail-Gesetzes die erlassende Behörde als Nutzer des De-Mail-Kontos erkennen lassen.

(4) Für einen Verwaltungsakt kann für die nach § 36a Abs. 2 des Ersten Buches erforderliche Signatur durch Rechtsvorschrift die dauerhafte Überprüfbarkeit vorgeschrieben werden.

(5) Bei einem Verwaltungsakt, der mit Hilfe automatischer Einrichtungen erlassen wird, können abweichend von Absatz 3 Satz 1 Unterschrift und Namenswiedergabe fehlen; bei einem elektronischen Verwaltungsakt muss auch das der Signatur zugrunde liegende Zertifikat nur die erlassende Behörde erkennen lassen. Zur Inhaltsangabe können Schlüsselzeichen verwendet werden, wenn derjenige, für den der Verwaltungsakt bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, auf Grund der dazu gegebenen Erläuterungen den Inhalt des Verwaltungsaktes eindeutig erkennen kann.

Die Vorschriften des Ersten bis Neunten Kapitels gelten für Versicherungsfälle, die nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eintreten, soweit in den folgenden Vorschriften nicht etwas anderes bestimmt ist.

(1) Die Vorschriften des Ersten und Fünften Abschnitts des Dritten Kapitels gelten auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind; dies gilt nicht für die Vorschrift über Leistungen an Berechtigte im Ausland.

(2) Die Vorschriften über den Jahresarbeitsverdienst gelten auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind, wenn der Jahresarbeitsverdienst nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erstmals oder aufgrund der §§ 90 und 91 neu festgesetzt wird. Die Vorschrift des § 93 über den Jahresarbeitsverdienst für die Versicherten der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und ihre Hinterbliebenen gilt auch für Versicherungsfälle, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingetreten sind; die Geldleistungen sind von dem auf das Inkrafttreten dieses Gesetzes folgenden 1. Juli an neu festzustellen; die generelle Bestandsschutzregelung bleibt unberührt.

(3) Die Vorschriften über Renten, Beihilfen, Abfindungen und Mehrleistungen gelten auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind, wenn diese Leistungen nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erstmals festzusetzen sind. § 73 gilt auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind.

(4) Soweit sich die Vorschriften über das Verfahren, den Datenschutz sowie die Beziehungen der Versicherungsträger zueinander und zu Dritten auf bestimmte Versicherungsfälle beziehen, gelten sie auch hinsichtlich der Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingetreten sind.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 14. Januar 2010 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist der Beginn einer Verletztenrente streitig.

2

Der Kläger erlitt am 5.10.1965 im Beitrittsgebiet einen Arbeitsunfall. Wegen der Unfallfolgen beantragte er bei der Beklagten im Oktober 2004 eine Begutachtung. Nach medizinischen Ermittlungen stellte die Beklagte mit Bescheid vom 3.5.2006 einen Anspruch auf eine Stützrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 15 vH für die Zeit ab 1.10.2004 fest. Durch Widerspruchsbescheid vom 27.2.2007 bewilligte sie eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH. Im Übrigen wurde der auch wegen des Rentenbeginns erhobene Widerspruch zurückgewiesen.

3

Das Sozialgericht Chemnitz (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29.6.2007). Das Sächsische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 14.1.2010). Die Verletztenrente beginne nach § 1546 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) mit dem Ersten des Antragsmonats. Wegen des vor dem 1.1.1997 eingetretenen Versicherungsfalls seien nach § 212 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) die Vorschriften der RVO anzuwenden. Die Übergangsregelung des § 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII sei nicht einschlägig. Eine Verletztenrente sei "erstmals festzusetzen" iS dieser Vorschrift, wenn der Versicherte die materiellen Voraussetzungen für den Leistungsbezug erfülle. Das sei mit dem Inkrafttreten des bundesdeutschen Rechts im Beitrittsgebiet am 1.1.1992 der Fall gewesen. Auf den Zeitpunkt der Antragstellung und der vom Leistungsträger getroffenen Verwaltungsentscheidung über den geltend gemachten Rentenanspruch komme es nicht an. Es sei kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, Versicherte mit einem nach dem 31.12.1996 gestellten Antrag besser zu stellen als Versicherte mit einer früheren Antragstellung. Auch sei nicht zu erkennen, dass der Leistungsausschluss des § 1546 Abs 1 RVO durch das Übergangsrecht des SGB VII hätte rückgängig gemacht werden sollen. Die Formulierung in der Gesetzesbegründung, dass neues Recht gelte, wenn die Leistungen nach seinem Inkrafttreten "festgesetzt werden", habe in der Gesetzesfassung keinen Ausdruck gefunden.

4

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII. Die erstmalige Festsetzung knüpfe nicht allein an das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen an. Es bedürfe zusätzlich einer Verwaltungsentscheidung über den geltend gemachten Anspruch. Dafür spreche nicht nur die Gesetzesbegründung, sondern nach der Rechtsprechung des Senats auch das in § 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII enthaltene Nebeneinander von Pflicht- und Ermessensleistungen.

5

           

Der Kläger beantragt,

        

die Urteile des Sächsischen Landessozialgerichts vom 14. Januar 2010 und des Sozialgerichts Chemnitz vom 29. Juni 2007 sowie den Verwaltungsakt der Beklagten vom 3. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 2007 hinsichtlich des Rentenbeginns aufzuheben und sie zu verurteilen, ihm Verletztenrente ab 1. Januar 2000 zu gewähren.

6

           

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

7

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision ist nicht begründet. Das LSG hat die Berufung gegen das die Klage abweisende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen. Die Verwaltungsentscheidung der Beklagten im Bescheid vom 3.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.2.2007 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Ein Anspruch auf Feststellung eines früheren Rentenbeginns steht ihm nicht zu.

9

Der hier allein streitige Rentenbeginn bestimmt sich nach den Vorschriften der RVO. Das ergibt sich aus den Übergangsregelungen der §§ 212 und 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII.

10

Eine Anspruchsgrundlage kann sich grundsätzlich nur aus dem zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung geltenden Bundesrecht ergeben. Nach § 72 Abs 1 des durch Art 1 des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz - UVEG) vom 7.8.1996 (BGBl I 1254) mit Wir-kung zum 1.1.1997 eingeführten SGB VII (Art 36 Satz 1 UVEG) wird die Verletztenrente von dem Tag an gezahlt, der auf den Tag folgt, an dem der Anspruch auf Verletztengeld endet (Nr 1) oder der Versicherungsfall eingetreten ist, wenn kein Anspruch auf Verletztengeld entstanden ist (Nr 2). Der zeitliche Geltungsbereich dieser Vorschrift erstreckt sich aber nur auf seit ihrer Inkraftsetzung verwirklichte Tatbestände eines Versicherungsfalls. Erst das Inkrafttreten einer Rechtsnorm gemäß Art 82 Abs 2 Satz 1 und 2 Grundgesetz führt zur Wirksamkeit der Geltungsanordnung (vgl hierzu BSG vom 16.3.2010 - B 2 U 8/09 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Der am 5.10.1965 eingetretene Versicherungsfall des Arbeitsunfalls wird daher nicht vom SGB VII erfasst.

11

Die Anwendbarkeit des § 72 Abs 1 SGB VII ergibt sich nicht aus übergangsrechtlichen Regelungen. Nach der ebenfalls zum 1.1.1997 eingeführten Bestimmung des § 212 SGB VII gilt das SGB VII (nur) für Versicherungsfälle, die nach seinem Inkrafttreten am 1.1.1997 eintreten, soweit in den folgenden Vorschriften nicht etwas anderes bestimmt ist. Für vor dem 1.1.1997 eingetretene Versicherungsfälle finden daher weiterhin die Vorschriften des Dritten Buches der RVO Anwendung. Eine von dieser Grundentscheidung abweichende Regelung trifft ua § 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII. Danach gelten die Vorschriften über Renten, Beihilfen, Abfindungen und Mehrleistungen auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens des SGB VII eingetreten sind, wenn diese Leistungen nach dem Inkrafttreten erstmals festzusetzen sind. Das ist bei der dem Kläger für seinen am 5.10.1965 eingetretenen Versicherungsfall zugebilligten Verletztenrente nicht der Fall.

12

Nach dem Gesetzestext des § 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII kommt es darauf an, wann die darin bezeichneten Leistungen "festzusetzen" sind. "Festzusetzen" ist nach sprachlich-grammatikalischem Verständnis nur ein Leistungsanspruch, der noch nicht festgesetzt ist, aber, weil er materiell-rechtlich besteht, auf Antrag oder von Amts wegen festgestellt werden muss. Der Begriff "festzusetzen" zielt allein auf die Pflicht zu einem Verwaltungshandeln und nicht auch auf die Abgabe einer Verwaltungserklärung.

13

Der Senat hat in seinen Urteilen vom 20.2.2001 (B 2 U 1/00 R) und 19.8.2003 (B 2 U 9/03 R) ausgeführt, für die Annahme, bei der Formulierung "erstmals festzusetzen sind" komme es auf die erstmalige Entscheidung durch Verwaltungsakt an, spreche sowohl die Gesetzesbegründung zum UVEG als auch das Nebeneinander von Pflicht- und Ermessensleistungen. Demgegenüber könnte auf den Zeitpunkt abzustellen sein, zu dem die materiellen Voraussetzungen für den Leistungsbezug erfüllt sind oder der Leistungsanspruch entstanden und fällig geworden ist, weil die Anwendung des neuen Rechts nicht von Zufälligkeiten der Verfahrensdauer abhängen dürfe und § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII die Wendung "neu festgesetzt wird" enthalte. Nach erneuter Überprüfung sind Leistungen zu dem Zeitpunkt "erstmals festzusetzen" iS des § 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII, zu dem die Voraussetzungen des jeweiligen Anspruchs erfüllt sind und der Versicherte daher einen Anspruch auf Feststellung des Leistungsrechts hat. Hingegen ist es unerheblich, ob und wann dieses Recht durch Verwaltungsakt festgesetzt wird (so auch BSG vom 12.1.2010 - B 2 U 21/08 R - juris RdNr 22, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; Hessisches LSG vom 5.2.2010 - L 3 U 198/07 - juris RdNr 26; LSG Berlin vom 8.6.2004 - L 2 U 61/02 - juris RdNr 29; LSG Rheinland-Pfalz vom 4.5.2004 - L 3 U 51/02 - juris RdNr 20; LSG Baden-Württemberg vom 23.1.2003 - L 7 U 1931/02 - juris RdNr 26; LSG Mecklenburg-Vorpommern vom 28.6.2000 - L 5 U 144/99 - E-LSG U-137 S 3; Kater in: Kater/Leube, Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII, § 214 RdNr 9; Schmitt, Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII, 4. Aufl 2009, § 214 RdNr 11; Graeff in: Hauck/Noftz, Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII, K § 214 RdNr 7; Krasney in: Becker/ Burchardt/Krasney/Kruschinsky, Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII, Band 3, § 214 RdNr 7; Dahm in: Lauterbach, Unfallversicherung SGB VII, Band 4, 4. Aufl , § 214 RdNr 11; Harks in: jurisPK-SGB VII, § 214 RdNr 17; Kunze in: SGB VII, Gesetzliche Unfallversicherung, Lehr- und Praxiskommentar, 2. Aufl 2007, § 214 RdNr 6; aA LSG Nordrhein-Westfalen vom 22.3.2002 - L 17 U 105/01 - juris RdNr 17).

14

Dieser Auslegung des § 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII stehen die Gesetzesmaterialien nicht entgegen. Im Entwurf der Bundesregierung zum UVEG wird zwar ausgeführt, dass die Neuregelungen über Renten, Beihilfen, Abfindungen und Mehrleistungen für alte Versicherungsfälle dann gelten, wenn die Leistungen erst nach dem Inkrafttreten dieser Vorschriften "festgesetzt werden", weil andernfalls abgeschlossene Sachverhalte erneut überprüft werden müssten (BT-Drucks 13/2204 S 121 zu § 219 Abs 3). Diese Formulierung ist aber - anders als bei § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII - nicht in den Gesetzestext des § 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII übernommen worden. Nach der Übergangsregelung des § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII gelten die Vorschriften über den Jahresarbeitsverdienst (JAV) auch für Versicherungsfälle, die vor dem Tag des Inkrafttretens des SGB VII eingetreten sind, wenn der JAV nach dem Inkrafttreten erstmals oder auf Grund des § 90 SGB VII neu "festgesetzt wird". Es kann offenbleiben, ob unter erstmaliger Festsetzung des JAV der Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung über den JAV gemeint oder der Zeitpunkt maßgebend ist, zu dem der JAV festzusetzen ist (vgl hierzu BSG vom 4.6.2002 - B 2 U 28/01 R - SozR 3-2700 § 214 Nr 2 S 4). Selbst wenn auf die Verwaltungsentscheidung abzustellen wäre, hätte es nahe gelegen, auch in § 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII die entsprechende Wendung "festgesetzt werden" zu gebrauchen. Ein gesetzgeberischer Wille, bei der Wendung "erstmals festzusetzen" nicht nur an das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen, sondern auch einer Verwaltungsentscheidung anzuknüpfen, kommt im Wortlaut dieser Vorschrift nicht zum Ausdruck.

15

Unabhängig davon können die Gesetzesmaterialien nicht nur dahin verstanden werden, dass auf die tatsächliche Festsetzung der Leistung abgestellt werden soll. Sie stützen vielmehr das hier gefundene Ergebnis. Mit der Übergangsregelung des § 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII soll erreicht werden, dass es bei der Anwendbarkeit des Rechts der RVO verbleibt, wenn vor der Einführung des SGB VII nicht nur ein Versicherungsfall eingetreten, sondern auch ein Leistungsrecht entstanden war. Das Recht der RVO soll hingegen in den Fällen durch das Recht des SGB VII verdrängt werden, in denen trotz eines vor dem 1.1.1997 eingetretenen Versicherungsfalls ein daraus resultierender Leistungsanspruch erst unter der Geltung des neuen Rechts entsteht. Die aufgrund eines solchen Anspruchs zu erbringenden Leistungen werden damit erst nach dem Inkrafttreten des SGB VII "festgesetzt".

16

Die Anknüpfung an den Zeitpunkt, zu dem die Voraussetzungen für die Feststellung des jeweiligen Leistungsrechts erfüllt sind, vermeidet nicht nur, dass die Heranziehung alten oder neuen Rechts von der Dauer des Verwaltungsverfahrens und damit von Zufälligkeiten abhängt. Sie verhindert auch eine Besserstellung derjenigen Versicherten, die den Versicherungsfall erst nach dem 31.12.1996 dem Unfallversicherungsträger anzeigen. Wird die Unfallentschädigung nicht von Amts wegen festgestellt, beginnt die Leistung nach § 1546 Abs 1 Satz 1 RVO mit dem Ersten des Antragsmonats, wenn der Anspruch nicht spätestens zwei Jahre nach dem Unfall bei dem Versicherungsträger angemeldet worden und die verspätete Anmeldung nicht durch Verhältnisse begründet ist, die außerhalb des Willens des Antragstellers liegen. Demgegenüber legt § 72 Abs 1 Nr 2 SGB VII den Beginn der Verletztenrente auf den ersten Tag nach Eintritt des Versicherungsfalls fest, sofern kein Anspruch auf Verletztengeld entstanden ist. Infolgedessen wären Versicherte mit einem bis zum Inkrafttreten des SGB VII festgestellten Leistungsrecht nach Ablauf der zweijährigen Anmeldefrist von einer rückwirkenden Leistungsgewährung ausgeschlossen, während Versicherten mit einer späteren Anmeldung des Leistungsanspruchs die Vorschrift des § 72 Abs 1 Nr 2 SGB VII zu Gute käme. Dass der Gesetzgeber eine Begünstigung der den Versicherungsfall später anzeigenden Versicherten gewollt hätte, hat er unabhängig davon, ob diese sachlich zu rechtfertigen wäre, weder im Gesetzestext noch in den Gesetzesmaterialien deutlich gemacht.

17

Eine andere Beurteilung ist ferner nicht deshalb angezeigt, weil in § 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII sowohl Pflichtleistungen (ua Renten nach den §§ 56 und 63 Abs 1 Nr 3 SGB VII, Beihilfen nach § 71 Abs 1 und 3 SGB VII sowie Abfindungen bei Wiederheirat nach § 80 SGB VII) als auch Ermessensleistungen (Beihilfen nach § 71 Abs 4 SGB VII, Abfindungen nach den §§ 75, 76 und 78 SGB VII sowie in der Regel Mehrleistungen nach § 94 SGB VII) genannt sind und aus dem Wortlaut oder den Gesetzesmaterialien nicht zu erkennen ist, dass beide Anspruchsarten bei der Bestimmung des maßgebenden Rechts unterschiedlich zu behandeln wären(vgl BSG vom 20.2.2001 - B 2 U 1/00 R - Juris RdNr 19). Der Rechtsanspruch auf Pflichtleistungen entsteht bereits mit der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen (§ 40 Abs 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch). Bei Ermessensleistungen ist hingegen der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung über die Leistung bekannt gegeben wird, es sei denn, dass in der Entscheidung ein anderer Zeitpunkt bestimmt ist (§ 40 Abs 2 SGB I). Gleichwohl führt § 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII nicht zu einer abweichenden Behandlung von Pflicht- und Ermessensleistungen. Die Anwendbarkeit alten oder neuen Rechts hängt lediglich davon ab, wann die Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs erfüllt waren. Das gilt auch für Ermessensleistungen, bei denen regelmäßig nur ein Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens eingeräumt ist (§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB I). Er entsteht in dem Zeitpunkt, zu dem die jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen. Dass bei den Ansprüchen auf fehlerfreien Ermessensgebrauch für die Entstehung des konkreten Leistungsanspruchs zusätzlich die Bekanntgabe der diesen gewährenden Verwaltungsentscheidung erforderlich ist, berührt die Anwendbarkeit des alten oder neuen Rechts nicht. Auch bei einem erst unter der Geltung des SGB VII entstandenen Recht auf fehlerfreie Ermessensentscheidung sind die in § 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII bezeichneten Ermessensleistungen erstmals nach dem Inkrafttreten des SGB VII festzusetzen.

18

Wegen der seit 1966 unverändert gebliebenen Unfallfolgen steht dem Kläger ein Anspruch auf Verletztenrente zu. Dieser ist bereits am 1.1.1992 mit dem Inkrafttreten der ihn regelnden Vorschriften der RVO im Beitrittsgebiet entstanden. Die Verletztenrente ist daher nach § 1546 Abs 1 Satz 1 RVO ab dem Ersten des Antragsmonats Oktober 2004 zu zahlen, denn der Kläger hat den Anspruch nicht spätestens zwei Jahre nach dem Unfall angemeldet und war an einer rechtzeitigen Anmeldung nicht durch außerhalb seines Willens liegende Verhältnisse gehindert.

19

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

(1) Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

(2) Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit

1.
er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2.
der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3.
er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

(3) Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung kann nach Absatz 2 nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Satz 1 gilt nicht, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung vorliegen. Bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach Absatz 2 zurückgenommen werden, wenn

1.
die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 gegeben sind oder
2.
der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufs erlassen wurde.
In den Fällen des Satzes 3 kann ein Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren zurückgenommen werden, wenn diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde. War die Frist von zehn Jahren am 15. April 1998 bereits abgelaufen, gilt Satz 4 mit der Maßgabe, dass der Verwaltungsakt nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben wird.

(4) Nur in den Fällen von Absatz 2 Satz 3 und Absatz 3 Satz 2 wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Behörde muss dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.

(5) § 44 Abs. 3 gilt entsprechend.

Das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist für Versicherte, Leistungsempfänger einschließlich Hinterbliebenenleistungsempfänger, behinderte Menschen oder deren Sonderrechtsnachfolger nach § 56 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch kostenfrei, soweit sie in dieser jeweiligen Eigenschaft als Kläger oder Beklagte beteiligt sind. Nimmt ein sonstiger Rechtsnachfolger das Verfahren auf, bleibt das Verfahren in dem Rechtszug kostenfrei. Den in Satz 1 und 2 genannten Personen steht gleich, wer im Falle des Obsiegens zu diesen Personen gehören würde. Leistungsempfängern nach Satz 1 stehen Antragsteller nach § 55a Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative gleich. § 93 Satz 3, § 109 Abs. 1 Satz 2, § 120 Absatz 1 Satz 2 und § 192 bleiben unberührt. Die Kostenfreiheit nach dieser Vorschrift gilt nicht in einem Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2).

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.