Oberlandesgericht Stuttgart Beschluss, 30. Dez. 2008 - 2 Ws 363/08

bei uns veröffentlicht am30.12.2008

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Ravensburg vom 6. November 2008, soweit dem Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Tettnang vom 1. August 2008 versagt worden ist,

a u f g e h o b e n .

Damit ist die Verwerfung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Tettnang vom 1. August 2008 durch Beschluss des Landgerichts Ravensburg vom 6. November 2008

g e g e n s t a n d s l o s .

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschwerdeführer insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe

 
I.
Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Amtsgerichts Tettnang vom 23. Oktober 2007 wegen Beleidigung und falscher Verdächtigung in drei tateinheitlichen Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt. Dem Beschwerdeführer wurde auferlegt, 30 Stunden gemeinnützige Arbeit zu verrichten. Mit Beschluss vom 1. August 2008 widerrief das Amtsgericht Tettnang die Aussetzung der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung und ordnete die Zustellung dieses Beschlusses an den Beschwerdeführer an. Die Zustellung erfolgte ausweislich der Zustellungsurkunde am 8. August 2008.
Der Verteidiger des Beschwerdeführers legte zunächst am 12. September 2008 und sodann am 10. Oktober 2008 sofortige Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss des Amtsgerichts Tettnang vom 1. August 2008 ein und beantragte am 10. Oktober 2008 zugleich Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den vorgenannten Widerrufsbeschluss. Durch Beschluss des Landgerichts Ravensburg vom 6. November 2008 wurden sowohl der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Tettnang vom 1. August 2008 als auch die sofortige Beschwerde gegen diesen Beschluss als unzulässig verworfen. Gegen diesen, dem Verteidiger am 12. November 2008 zugestellten Beschluss richtet sich die am 19. November 2008 eingegangene sofortige Beschwerde.
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig (§ 46 Abs. 3 StPO) und begründet.
1. Die sofortige Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss des Amtsgerichts Tettnang vom 1. August 2008 wurde verspätet eingelegt.
Das Landgericht Ravensburg ist zunächst zutreffend von einer ordnungsgemäßen Zustellung des vorgenannten Widerrufsbeschlusses an den Beschwerdeführer ausgegangen. Diese Zustellung war nicht deshalb unwirksam, weil der Widerrufsbeschluss dem Beschwerdeführer und nicht dessen Verteidiger zugestellt worden ist und der Verteidiger auch keine Nachricht von der Zustellung erhalten hat. Zwar hat der Verteidiger des Beschwerdeführers bereits am 8. Mai 2008 gegenüber dem Amtsgericht Tettnang angezeigt, den Beschwerdeführer auch im Vollstreckungsverfahren zu vertreten, jedoch hat dies nicht zur Folge, dass der Widerrufsbeschluss zwingend dem Verteidiger hätte zugestellt werden müssen und die hier erfolgte Zustellung an den Beschwerdeführer unwirksam gewesen ist. § 145 a StPO ermächtigt zur Zustellung an den Verteidiger, begründet aber keine Rechtspflicht, Zustellungen für den Beschwerdeführer stets an den Verteidiger zu bewirken. Zustellungen an den Beschwerdeführer sind wirksam und setzen die Rechtsmittelfrist in Lauf (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 50. Auflage, § 145 a, Rdnr. 6 m. w. N.). Zwar sieht § 145 a Abs. 3 Satz 2 StPO vor, dass bei Zustellung einer Entscheidung an den Beschwerdeführer der Verteidiger, auch wenn keine schriftliche Vollmacht bei den Akten vorliegt, hiervon zugleich durch eine formlose Übersendung einer Ausfertigung zu unterrichten ist. Ein Verstoß gegen § 145 a Abs. 3 Satz 2 StPO, dem insoweit nur die Funktion einer Ordnungsvorschrift zuerkannt wird, lässt jedoch die Wirksamkeit der Zustellung an den Beschwerdeführer unberührt. Mithin setzte die Zustellung des Widerrufsbeschlusses am 8 August 2008 die einwöchige Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde in Gang (§ 311 Abs. 2 StPO).
Die am 12. September 2008 und 10. Oktober 2008 durch Verteidigereingaben eingelegte sofortige Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss des Amtsgerichts Tettnang ist deshalb verspätet.
2. Dem Beschwerdeführer ist jedoch von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Rechtsmittelfrist zu gewähren (§ 45 Abs. 2 S. 3 StPO).
Zwar hat der Beschwerdeführer die gem. § 45 Abs.2 S. 1 StPO erforderlichen Tatsachen zur Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs bei der Antragstellung nicht dargelegt, gleichwohl ist vorliegend von Amts wegen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geboten, da der angefochtene Widerrufsbeschluss allein dem Beschwerdeführer zugestellt worden ist. Bei der in § 145 a Abs. 3 StPO normierten Mitteilungspflicht handelt es sich um eine Ordnungsvorschrift, die der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts Rechnung trägt. Ein Verstoß gegen diese Pflicht begründet zwar - wie ausgeführt - nicht die Unwirksamkeit der Zustellung. Unterbleibt jedoch eine Benachrichtigung des Verteidigers, so kann dies jedenfalls dann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen, wenn die Fristversäumnis darauf beruht (BGH vom 31.01.2006 - 4 StR 403/05; KK zur StPO, 6. Auflage, § 145 a, Rdnr. 6 m. w. N.). Die Regelung des § 145 a Abs. 3 S. 2 StPO dient dem Zweck, dass dem bevollmächtigen oder bestellten Verteidiger die Fristenkontrolle übertragen werden kann; der Beschwerdeführer soll sich darauf verlassen können, dass der Verteidiger Kenntnis von der Zustellung der Entscheidung erhält, nach der er sich ohne zusätzliche Rückfragen bei dem Beschwerdeführer richten kann (KK a.a.O.). Hieraus ergibt sich, dass nur dann, wenn der Beschwerdeführer im konkreten Fall Anlass gehabt hätte, für die Einhaltung der Frist selbst Sorge zu tragen, das Unterbleiben der Benachrichtigung des Verteidigers kein Wiedereinsetzungsgrund ist. Auf Grund der Gesamtumstände ist dies hier jedoch nicht der Fall.
Der Verteidiger hat am 8. Mai 2008 die Vertretung des Beschwerdeführers im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens angezeigt und wurde auch zeitnah vor Erlass des Widerrufsbeschlusses für den Beschwerdeführer tätig. Insbesondere wurde der Verteidiger in dem Widerrufsbeschluss des Amtsgerichts Tettnang vom 1. August 2008 im Rubrum aufgeführt. Danach durfte der Beschwerdeführer darauf vertrauen, dass sein Verteidiger (zumindest) eine formlose Abschrift der Entscheidung erhalten und rechtzeitig sofortige Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss des Amtsgerichts Tettnang vom 1. August 2008 einlegen wird. Da somit das Unterbleiben der Benachrichtigung des Verteidigers, mithin ein Verschulden der Justizbehörden, ursächlich dafür war, dass der Beschwerdeführer gehindert war, rechtzeitig sofortige Beschwerde einzulegen, ist diesem von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Rechtsmittelfrist zu gewähren, weshalb die sofortige Beschwerde begründet ist.
10 
Das Landgericht wird, nachdem die Verwerfung der sofortigen Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss des Amtsgerichts Tettnang vom 1. August 2008 als unzulässig gegenstandslos ist, das Vorbringen des Beschwerdeführers hinsichtlich des Bewährungswiderrufs sachlich zu prüfen und zu bescheiden haben.

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Strafprozeßordnung - StPO | § 45 Anforderungen an einen Wiedereinsetzungsantrag


(1) Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses bei dem Gericht zu stellen, bei dem die Frist wahrzunehmen gewesen wäre. Zur Wahrung der Frist genügt es, wenn der Antrag rechtzeitig bei de

Strafprozeßordnung - StPO | § 46 Zuständigkeit; Rechtsmittel


(1) Über den Antrag entscheidet das Gericht, das bei rechtzeitiger Handlung zur Entscheidung in der Sache selbst berufen gewesen wäre. (2) Die dem Antrag stattgebende Entscheidung unterliegt keiner Anfechtung. (3) Gegen die den Antrag verwerfende E

Strafprozeßordnung - StPO | § 311 Sofortige Beschwerde


(1) Für die Fälle der sofortigen Beschwerde gelten die nachfolgenden besonderen Vorschriften. (2) Die Beschwerde ist binnen einer Woche einzulegen; die Frist beginnt mit der Bekanntmachung (§ 35) der Entscheidung. (3) Das Gericht ist zu einer

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Bundesgerichtshof Beschluss, 31. Jan. 2006 - 4 StR 403/05

bei uns veröffentlicht am 31.01.2006

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 4 StR 403/05 vom 31. Januar 2006 in der Strafsache gegen wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls u.a. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 31. Januar
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Oberlandesgericht Stuttgart Beschluss, 13. Juli 2009 - 4 Ws 127/09

bei uns veröffentlicht am 13.07.2009

Tenor 1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts - 3. Große Jugendkammer - Tübingen vom 18. Februar 2009, soweit ihm Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Besch

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(1) Über den Antrag entscheidet das Gericht, das bei rechtzeitiger Handlung zur Entscheidung in der Sache selbst berufen gewesen wäre.

(2) Die dem Antrag stattgebende Entscheidung unterliegt keiner Anfechtung.

(3) Gegen die den Antrag verwerfende Entscheidung ist sofortige Beschwerde zulässig.

(1) Für die Fälle der sofortigen Beschwerde gelten die nachfolgenden besonderen Vorschriften.

(2) Die Beschwerde ist binnen einer Woche einzulegen; die Frist beginnt mit der Bekanntmachung (§ 35) der Entscheidung.

(3) Das Gericht ist zu einer Abänderung seiner durch Beschwerde angefochtenen Entscheidung nicht befugt. Es hilft jedoch der Beschwerde ab, wenn es zum Nachteil des Beschwerdeführers Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet hat, zu denen dieser noch nicht gehört worden ist, und es auf Grund des nachträglichen Vorbringens die Beschwerde für begründet erachtet.

(1) Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses bei dem Gericht zu stellen, bei dem die Frist wahrzunehmen gewesen wäre. Zur Wahrung der Frist genügt es, wenn der Antrag rechtzeitig bei dem Gericht gestellt wird, das über den Antrag entscheidet.

(2) Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Handlung nachzuholen. Ist dies geschehen, so kann Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 403/05
vom
31. Januar 2006
in der Strafsache
gegen
wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 31. Januar 2006 gemäß § 44 ff.
StPO beschlossen:
1. Dem Angeklagten wird auf seinen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Revisionsbegründungsfrist zur Ergänzung seiner zu Protokoll erklärten und zur Anbringung weiterer Verfahrensrügen gewährt. 2. Die Kosten der Wiedereinsetzung trägt der Angeklagte.

Gründe:


1
1. Das Landgericht hat den Angeklagten am 29. April 2005 wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls in acht Fällen, wegen Diebstahls in vier Fällen und wegen versuchten Diebstahls unter Einbeziehung von Strafen aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Der Angeklagte, der gegen dieses Urteil form- und fristgerecht Revision eingelegt hat, hat beantragt, ihn in die Revisionsbegründungsfrist zur Anbringung weiterer Verfahrensrügen wiedereinzusetzen.
2
Dem liegt folgender Verfahrensgang zu Grunde:
3
Das in Anwesenheit des Angeklagten verkündete Urteil wurde seinem Pflichtverteidiger am 8. Juni 2005 zugestellt. Gleichzeitig wurden dem inhaftierten Angeklagten eine Urteilsausfertigung und eine förmliche Mitteilung über diese Zustellung in die Haftanstalt übersandt. Sowohl der für das Revisionsverfah- ren beauftragte Wahlverteidiger des Angeklagten als auch sein Pflichtverteidiger haben am 28. Juni 2005 bzw. am 8. Juli 2005 die Revision mit der jeweils ausgeführten Sachrüge begründet. Der Pflichtverteidiger hat darüber hinaus Verfahrensrügen erhoben. Unabhängig davon hat der Angeklagte am 8. Juli 2005 in einer von der Rechtspflegerin des Amtsgerichts Bielefeld protokollierten Erklärung die Revision mit der Sachrüge und mit sieben weiteren Verfahrensrügen begründet. Der Rechtspflegerin lagen bei der Protokollierung das angefochtene Urteil, das Hauptverhandlungsprotokoll und die Revisionsbegründung des Wahlverteidigers vor. Gleichzeitig hat der Angeklagte beantragt, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur weiteren Revisionsbegründung zu gewähren , da es ihm angesichts des drohenden Fristablaufs und der fehlenden Vorlage der Akten nicht möglich gewesen sei, sämtliche Verfahrensfehler zu rügen.
4
Da die Zustellung des Urteils am 8. Juni 2005 vor Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls erfolgt war, wurde es am 7. September 2005 erneut an den Wahlverteidiger zugestellt. Die Zulassung des Pflichtverteidigers zur Rechtsanwaltschaft war zuvor rechtskräftig widerrufen worden. Von dieser Zustellung des Urteils wurde der Angeklagte nicht unterrichtet. Ergänzendes Revisionsvorbringen erfolgte danach weder vom (Wahl-)Verteidiger noch vom Angeklagten. Seinen bislang nicht beschiedenen Wiedereinsetzungsantrag hat der Angeklagte in seinem an den Senat gerichteten Schreiben vom 2. Januar 2006 jedoch ausdrücklich aufrecht erhalten.
5
2. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist begründet.
6
Zwar hat der Angeklagte keine Frist versäumt, sondern lediglich - nach zwei durch seine Verteidiger und eine durch ihn selbst form- und fristgerecht abgegebenen Revisionsbegründungen - weitere Verfahrensrügen innerhalb der Frist nicht formgerecht angebracht. Das berechtigt grundsätzlich nicht dazu, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu verlangen (st. Rspr.; vgl. BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 2, 4, 5). Die Rechtsprechung hat von diesem Grundsatz jedoch Ausnahmen zugelassen, wenn dies zur Wahrung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) unerlässlich erscheint, etwa wenn der Beschwerdeführer durch Maßnahmen des Gerichts gehindert worden ist, Verfahrensrügen innerhalb der Revisionsbegründungsfrist anzubringen (vgl. BVerfG Beschluss vom 30. April 2003 - 2 BvR 283/03; BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 8). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier vor.
7
Der Angeklagte war auf Grund eines Verschuldens der Justizbehörden gehindert, seine Revision rechtzeitig mit weiteren Verfahrensrügen zu begründen. Wird, wie hier, eine Entscheidung gemäß § 145 a Abs. 1 StPO dem Verteidiger zugestellt, so ist der Beschuldigte bzw. der Angeklagte gemäß § 145 a Abs. 3 Satz 1 StPO hiervon zu unterrichten. Ausweislich der Akten ist dies bei der zweiten Zustellung des Urteils nicht geschehen. Vielmehr wurde entsprechend der Verfügung des Vorsitzenden vom 2. September 2005 (Bd. VI, 1519 RS der Akten) das Urteil lediglich dem Verteidiger gegen Empfangsbekenntnis zugestellt, ohne dies dem Angeklagten mitzuteilen. Der Angeklagte hat deshalb ohne Verschulden keine Kenntnis davon erlangt, dass die Revisionsbegründungsfrist erst durch die (zweite) Zustellung des Urteils am 7. September 2005 an den Wahlverteidiger in Gang gesetzt wurde und deshalb nicht, wovon der Angeklagte ausging, am 8. Juli 2005, sondern erst am 7. Oktober 2005 endete.
8
Bei der in § 145 a Abs. 3 Satz 1 StPO normierten Mitteilungspflicht an den Angeklagten handelt es sich um eine Ordnungsvorschrift, die der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts Rechnung trägt (BVerfG NJW 2002, 1640; BGHR StPO § 145 a Unterrichtung 1). Ein Verstoß gegen diese Pflicht begründet zwar nicht die Unwirksamkeit der Zustellung. Unterbleibt jedoch eine Benachrichtigung des Angeklagten, so kann dies aber jedenfalls dann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen, wenn die Fristversäumnis darauf beruht (vgl. Laufhütte in KK, 5. Aufl. § 145 a Rdn. 6; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 44 Rdn. 17 und § 145 a Rdn. 14 m.w.N.). So liegt der Fall hier. Auf Grund des Inhalts des Protokolls über die Aufnahme der Revisionsbegründung vom 8. Juli 2005 war erkennbar, dass der Angeklagte selbst weitere Revisionsrügen zu Protokoll der Geschäftsstelle anzubringen beabsichtigte. Da er nach § 345 Abs. 2 StPO berechtigt ist, gleichzeitig von beiden Formen der Revisionsbegründung - Einreichung einer vom Verteidiger oder Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift und Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle - Gebrauch zu machen (vgl. Kuckein in KK § 345 Rdn. 21), durfte er bei dieser Sachlage auf die Mitteilung einer erneuten, die Revisionsbegründungsfrist erst in Gang setzenden Urteilszustellung vertrauen. Die Möglichkeit einer rechtzeitigen (ergänzenden ) Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle ist dem Angeklagten hier deshalb wegen des Verstoßes gegen die Mitteilungspflicht nach § 145 a Abs. 3 Satz 1 StPO verwehrt gewesen.
9
Da der Angeklagte bislang ohne sein Verschulden keine Kenntnis vom Lauf der Revisionsbegründungsfrist durch die zweite Urteilszustellung erlangt hat, ist von dem Grundsatz, dass die versäumte Handlung innerhalb der einwöchigen Frist des § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO nachzuholen ist, eine Ausnahme zu machen (vgl. BGHSt 26, 335, 338 f.; OLG Koblenz NStZ 1991, 42 f.; MeyerGoßner aaO § 45 Rdn. 11). Deswegen kann er sein Revisionsvorbringen unter den hier gegebenen Umständen innerhalb der Monatsfrist des § 345 Abs. 1 StPO ergänzen. Die Frist beginnt mit Zustellung dieses Beschlusses.
Maatz Athing Solin-Stojanović
Ernemann Sost-Scheible