Oberlandesgericht Hamm Beschluss, 26. März 2015 - 11 UF 23/15
Gericht
Tenor
Auf die Beschwerde des Kindesvaters wird der am 30.12.2014 erlassene Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Hamm abgeändert und wie folgt neu gefasst:
I.
Die Antragsgegnerin ist verpflichtet, bis zum 30.4.2015 das Kind X, geboren am ##.##.2006, zurzeit wohnhaft I-Straße, Z, nach Frankreich zurückzuführen und dem Gericht durch Vorlage einer Erklärung des Antragstellers oder einer französischen öffentlichen Stelle nachzuweisen, dass sie oder eine von ihr bestimmte Person das Kind nach Frankreich zurückgeführt hat.
II.
Kommt die Antragsgegnerin der Verpflichtung zu I. nicht nach, so ist sie und jede andere Person, bei der sich das Kind aufhält, verpflichtet, das Kind X, geboren am ##.##.2006, sowie die im Besitz dieser Person befindlichen, dem Kind gehörenden persönlichen Gegenstände an den Antragsteller oder eine von diesem bestimmte Person zum Zwecke der Rückführung nach Frankreich herauszugeben.
III.
Die Antragsgegnerin wird darauf hingewiesen, dass das Gericht im Fall der Zuwiderhandlung gegen die Verpflichtung zu I. gemäß § 44 Abs. 3 Internationales Familienrechtsverfahrensgesetz (IntFamRVG) i.V.m. § 89 FamFG ein Ordnungsgeld bis zu 25.000,00 Euro sowie für den Fall, dass das Ordnungsgeld nicht beigetrieben werden kann oder die Anordnung eines Ordnungsgeldes keinen Erfolg verspricht, Ordnungshaft bis zu 6 Monaten anordnen kann.
IV.
Zum Vollzug von II. wird weiter angeordnet:
- 1.
Der Gerichtsvollzieher wird beauftragt und ermächtigt, das unter I. aufgeführte Kind der Antragsgegnerin oder jeder anderen Person, bei der sich das Kind aufhält, wegzunehmen und es dem Antragsteller oder einer von ihm bestimmten Person an Ort und Stelle zu übergeben.
- 2.
Der Gerichtsvollzieher wird beauftragt und ermächtigt, zur Durchsetzung der Herausgabe unmittelbaren Zwang gegen jede zur Herausgabe verpflichtete Person und erforderlichenfalls auch gegen das Kind nach Maßgabe des § 90 Abs.2 FamFG anzuwenden.
- 3.
Der Gerichtsvollzieher wird zum Betreten und zur Durchsuchung der Wohnung der Antragsgegner sowie der Wohnung jeder anderen Person, bei der sich das Kind aufhält, ermächtigt.
- 4.
Der Gerichtsvollzieher ist befugt, die vorgenannten Vollstreckungsmaßnahmen auch zur Nachtzeit sowie an Sonn- und Feiertagen vorzunehmen.
- 5.
Der Gerichtsvollzieher wird zur Hinzuziehung polizeilicher Vollzugsorgane ermächtigt.
- 6.
Das Jugendamt der Stadt Z ist gemäß § 9 Abs. 1 IntFamRVG verpflichtet,
a) Vorkehrungen zur Gewährleistung der sicheren Herausgabe des Kindes X, geboren am ##.##.2006, zurzeit wohnhaft I-Straße, Z, an den Antragsteller oder an die von ihm bestimmte Person zu treffen,
b) das Kind X nach Vollstreckung der Herausgabe gegebenenfalls vorläufig bis zur Rückführung in die Obhut einer für geeignet befundenen Einrichtung oder Person zu geben.
7. Eine Vollstreckungsklausel ist nicht erforderlich.
V.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der Vollstreckungskosten sowie die Rückführungskosten.
VI.
Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
1
Gründe:
2I.
3Der Antragsteller begehrt die Rückführung seiner Tochter X von Deutschland nach Frankreich nach den Vorschriften des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung („HKÜ“).
4Der am ##.##.1978 in Russland geborene Antragsteller und die am ##.##.1980 in A (Armenien) geborene Antragsgegnerin sind die Eltern des am ##.##.2006 in Frankreich geborenen Kindes X. Der Kindesvater und das Kind X sind französische Staatsangehörige; die Kindesmutter ist armenische Staatsangehörige. Die Kindeseltern lebten zunächst zusammen in B (Frankreich), wo sie am 30.07.2005 heirateten.
5Eine erste gerichtliche Entscheidung gab es in Frankreich am 25.6.2010, mit der die Kindeseltern die Genehmigung zur Einleitung des Scheidungsverfahrens erhielten, die elterliche Gewalt über X allein auf Kindesvater übertragen und bestimmt wurde, dass sie ihren gewöhnlichen Wohnsitz beim Vater hat. Ein weiterer Beschluss erging am 29.6.2011 in Frankreich, wonach die Kindeseltern fortan die elterliche Sorge gemeinschaftlich ausübten, der Wohnsitz des Kindes aber weiterhin beim Vater sein sollte. Wichtige Entscheidungen betreffend das Kind – z.B. ein Umzug ins Ausland – konnten nur einvernehmlich getroffen werden. Schließlich wurde mit der Entscheidung vom 3.1.2012 in Frankreich die Ehe der Kindeseltern geschieden, der Fortbestand der gemeinsamen elterlichen Sorge angeordnet und bestimmt, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes – abwechselnd – am jeweiligen Wohnort eines Elternteils befindet.
6Am 16.07.2012 verließ die Antragsgegnerin mit X Frankreich. Mutter und Kind leben seither in Z (Deutschland). Dort wohnt auch die Mutter der Kindesmutter (Großmutter von X). Die Kindesmutter ist seit dem Jahr 2012 wieder verheiratet. Ihr Ehemann stammt aus Z, wo auch seine Eltern, Freunde und Bekannte leben.
7Zwischen den Kindeseltern wurde bereits ein Verfahren auf Rückführung nach dem HKÜ (AZ: 32 F 270/13 – Amtsgericht Hamm) geführt.
8Dieses endete mit einem in der mündlichen Verhandlung vom 01.07.2013 vor dem Amtsgericht Hamm geschlossenen Vergleich der Kindeseltern folgenden Inhalts:
9„1.
10Die Kindeseltern sind sich darüber einig, dass eine sogenannte Kindesentführung vorliegt. Die Kindesmutter hat widerrechtlich gehandelt, indem sie, ohne vorherige Zustimmung bzw. nachträgliche Genehmigung des Vaters einzuholen, am 16.07.2012 mit X aus Frankreich nach Deutschland ausgereist ist.
112.
12Im Rahmen des in Frankreich durch den Kindesvater bereits eingeleiteten Sorgerechtsverfahrens soll möglichst kurzfristig geklärt werden, welche sorgerechtliche Situation in Zukunft herrschen soll. Beide Kindeseltern erklären, an einer möglichst zeitnahen Entscheidung des französischen Gerichtes interessiert zu sein. Sie erklären bereits jetzt, dass sie sich einer etwaigen Entscheidung des zuständigen französischen Gerichtes unterwerfen werden.
133.
14Die Kindeseltern sind sich darüber einig, dass X bis auf Weiteres von nun an ihren gewöhnlichen Aufenthalt weiterhin in Frankreich hat.
154.
16Die Kindesmutter verpflichtet sich, das Kind X am Samstag, den 06.07.2013, an ihrer Wohnadresse um 12:00 Uhr nebst den notwendigen Gegenständen herauszugeben.
175.
18Die Kindeseltern sind sich über das folgende Umgangsrecht einig, wobei sie durch das Gericht bereits darüber informiert wurden, dass das Rückführungsgericht mangels Zuständigkeit nicht berechtigt ist, einen etwaigen Titel zu schaffen:
19Die Kindesmutter erhält Umgang mit X vom 03. August 2013 bis zum 19. Oktober 2013, vom 03. November 2013 bis zum 27. Dezember 2013 sowie vom 01. Januar 2014 bis zum 12. April 2014.
20In den dazwischen liegenden Zeiträumen verbleibt das Kind beim Kindesvater an ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsort.
216.
22Die Verbringung des Kindes aus Frankreich nach Deutschland sowie die Abholung aus Deutschland übernimmt jeweils bis auf weiteres der Kindesvater. Die Kindeseltern behalten sich vor, eine anderweitige Transportregelung zu treffen.
237.
24Der Kindesvater erklärt, an einer Strafverfolgung der Antragsgegnerin in Frankreich, sofern diese diesen Vergleich einhält, nicht mehr interessiert zu sein. Er verpflichtet sich bereits jetzt, etwaige Strafanzeigen beziehungsweise Strafanträge, sofern möglich, gegenüber den französischen Behörden zurückzunehmen. …“
25X verbrachte – vereinbarungsgemäß - die Sommerferien (bis zum 2.8.2013) sowie die Herbstferien 2013 (Zeitraum zwischen dem 19.10.2013 und 2.11.2013) bei dem Kindesvater in Frankreich. Danach hatten Vater und Tochter keinen Besuchskontakt mehr. X hielt sich durchgehend in Deutschland auf.
26Mit Entscheidung des Tribunal de Grande Instance in Albi vom 28.11.2013 wurde dem Kindesvater die elterliche Sorge für X zugesprochen. Der gewöhnliche Wohnsitz des Kindes wurde ab dem 28.12.2013 bei dem Kindesvater festgelegt.
27Die Kindesmutter hat X nicht an den Kindesvater herausgegeben. Die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichtes in Albi wurde sowohl am 19.3.2014 durch das Berufungsgericht in Toulouse als auch am 13.6.2014 vom ebenfalls dort ansässigen Verfassungsrichter bestätigt.
28Ein Antrag des Kindesvaters auf Vollstreckbarerklärung der französischen Sorgerechtsentscheidung wurde - auf die Beschwerde der Kindesmutter – am 26.8.2014 durch den Senat zurückgewiesen, da X im französischen Verfahren nicht ordnungsgemäß (Art. 31 Abs.2, 23 b) der Brüssel-IIa-VO) angehört worden sei (11 UF 85/14). Auf die Einlegung der zulässigen Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof verzichtete der Kindesvater.
29Der Antragsteller hat erstinstanzlich beantragt,
301)
31die Antragsgegnerin zu verpflichten, das Kind X, geboren ##.##.2006, innerhalb einer angemessenen Frist nach Frankreich zurückzuführen;
322)
33sofern die Antragsgegnerin der Verpflichtung zu 1. nicht nachkommt, die Herausgabe des Kindes X an den Antragsteller zum Zwecke der Rückführung nach Frankreich anzuordnen.
34Die Antragsgegnerin hat beantragt, die Anträge zurückzuweisen.
35Sie hat die Ansicht vertreten, der Antrag sei bereits deshalb unzulässig, weil der Antragsteller auf die Einlegung der zulässigen Rechtsbeschwerde gegen die Versagung der Vollstreckbarerklärung der französischen Entscheidung durch das Oberlandesgericht Hamm verzichtet habe. Ferner sei die Handlung, die vorliegend als Entziehung des Kindes gewertet werde, bereits im Juli 2012 erfolgt, mithin sei die Jahresfrist des Artikel 12 HKÜ bereits überschritten, X habe sich in Deutschland eingelebt, was dazu führe, dass die Rückführung deshalb zu versagen sei. Schließlich stelle die Rückführung X zum jetzigen Zeitpunkt eine große Belastung für ihr Wohl dar und sei auch deshalb zu versagen.
36Das Amtsgericht hat den Rückführungsantrag zurückgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt: Der (zulässige) Rückführungsantrag ist (…) unbegründet, da kein Fall widerrechtlichen Zurückhaltens i. S. d. Artikel 3 HKÜ vorliegt. ... Dies ist nur dann der Fall, wenn ein Kind unter Verletzung des Sorgerechtes widerrechtlich aus einem Vertragsstaat, in dem es unmittelbar vor dem Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hatte, in einen anderen Vertragsstaat verbracht wird oder wenn das Kind in einem anderen Vertragsstaat zurückgehalten wird. Vorliegend fehlt es an einem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Ursprungsstaat Frankreich unmittelbar vor der eine Kindesentführung begründenden Handlung der Kindesmutter. X hatte zum Zeitpunkt der abredewidrigen Nichtrückgabe an den Kindesvater ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht (mehr) unmittelbar zuvor in Frankreich. … (Es) ist unter Berücksichtigung der Einbindung von X in den Familienverband in Deutschland, der Integration in der Schule, insbesondere im Klassenverband und Gewinnung eines Freundeskreises sowie Erwerb der deutschen Sprache, von einem gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland auszugehen. ...
37Dagegen wendet sich der Kindesvater mit seiner Beschwerde, mit der er seinen Rückführungsantrag weiter verfolgt. Er stellt vor allem darauf ab, dass die Kindeseltern am 1.7.2013 den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Frankreich vereinbart hätten.
38Die Kindesmutter verteidigt den angefochtenen Beschluss unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens.
39Der Senat hat die Kindeseltern und das betroffene Kind persönlich angehört; die Verfahrensbeiständin und die Vertreterin des Jugendamtes haben im Senatstermin Stellungnahmen abgegeben. Wegen der Einzelheiten wird auf den als Anlage zum Protokoll genommenen Berichterstattervermerk Bezug genommen.
40II.
41Die gemäß §§ 40 Abs.2 IntFamRVG, §§ 58 ff. FamFG zulässige Beschwerde des Kindesvaters ist begründet. Er kann gem. Art. 12 Abs.1 HKÜ i.V.m. den in Art. 11 der EG-Ratsverordnung vom 27.11.2003, Nr. 2201/2003 („Brüssel-II a-VO“) enthaltenen Ausführungsbestimmungen verlangen, dass seine Tochter von Deutschland nach Frankreich zurückgeführt wird. Das HKÜ gilt im Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich seit dem 1.12.1990.
42Gem. Art. 12 HKÜ wird die Rückführung angeordnet, wenn ein Kind unter 16 Jahren widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbracht oder dort zurückgehalten worden ist und bei Eingang des Antrages beim zuständigen Gericht noch kein Jahr vergangen ist. Auch bei Versäumung der Jahresfrist erfolgt eine Rückführung des Kindes, sofern nicht erwiesen ist, dass es sich in die neue Umgebung eingelebt hat. Gemäß Art. 3 HKÜ gilt ein Verbringen oder Zurückhalten als widerrechtlich, wenn dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ohne das Verbringen oder Zurückhalten ausgeübt worden wäre. Des Weiteren dürfen der Rückgabe keine Gründe gem. Art. 13 HKÜ entgegenstehen.
431.
44Die Kindesmutter hält das betroffene Kind seit dem 28.12.2013 widerrechtlich in Deutschland zurück (Art. 3 HKÜ). Nach der französischen Sorgerechtsentscheidung hätte es spätestens am 28.12.2013 zum Vater nach Frankreich zurückgeführt werden müssen. Durch das Zurückhalten in Deutschland wird das Sorgerecht verletzt wird, das allein auf den Vater übertragen worden ist. Das Kind X hatte unmittelbar vor dem Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Art. 3 HKÜ auch noch in Frankreich. Das hatten die Kindeseltern in dem Vergleich vom 1.7.2013 so vereinbart. Die tatsächlichen Umstände gebieten keine davon abweichende Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts.
45a)
46Zum Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) festgestellt, dass die Brüssel-II a-Verordnung keine Definition dieses Begriffs enthält und dass dessen Sinn und Bedeutung anhand des Ziels zu ermitteln ist, das namentlich aus dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgeht, wonach die in der Verordnung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften dem Wohl des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet wurden. Der EuGH hat außerdem entschieden, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes vom nationalen Gericht unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls festzustellen und in diesem Zusammenhang weiter ausgeführt, dass neben der körperlichen Anwesenheit des Kindes in einem Mitgliedstaat andere Faktoren heranzuziehen sind, die belegen können, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt und dass der Aufenthalt Ausdruck einer gewissen Integration in ein soziales und familiäres Umfeld ist. Hierfür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Die Absicht der Eltern oder eines Elternteils, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen, wie in dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung in diesem Mitgliedstaat, manifestiert, kann ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes sein. Allerdings dient die Dauer des Aufenthalts im Rahmen der Beurteilung aller besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls nur als Indiz. Bei der Prüfung namentlich der Gründe für den Aufenthalt des Kindes im Mitgliedstaat, in den es verbracht wurde, und der Absicht des Elternteils, der es dorthin mitgenommen hat, ist auch zu berücksichtigen, wie sicher der Elternteil zum Zeitpunkt der Verbringung sein konnte, dass der Aufenthalt des Kindes in diesem Mitgliedstaat nicht nur vorübergehend sein würde. Diese Gesichtspunkte sind bei der Beurteilung aller besonderen Umstände des Einzelfalls gegen andere Gesichtspunkte abzuwägen, die eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld seit seiner Verbringung belegen können (vgl. EuGH, 3. Kammer, Urteil vom 9.10.2014 – Rs. C-376/14 PPU: C./. M, FamRZ 2015, 107).
47Der vorgenannten Entscheidung des EuGH lag eine Fallkonstellation zugrunde, in welcher der Kindesmutter die Verbringung des Kindes ins Ausland zunächst durch eine vorläufig vollstreckbare Sorgerechtsentscheidung des Gerichts des Heimatstaates gestattet war. Der Kindesvater hatte die Sorgerechtsentscheidung allerdings fristgerecht mit einem Rechtsmittel angefochten und im Berufungsverfahren eine Abänderung der Sorgerechtsregelung erwirkt, in der bestimmt wurde, dass das Kind bei ihm (im Heimatstaat) wohnt. Zu der Frage, ob und gegebenenfalls wann das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt zwischenzeitlich im Zufluchtstaat begründet haben könnte, hat der EuGH ausgeführt:
48In Anbetracht der Notwendigkeit, das Wohl des Kindes zu schützen, sind diese Gesichtspunkte bei der Beurteilung aller besonderen Umstände des Einzelfalls gegen andere Gesichtspunkte abzuwägen, die eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld seit seiner Verbringung belegen können, ..., namentlich die Zeit, die zwischen der Verbringung und der gerichtlichen Entscheidung vergangen ist, mit der die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und der Aufenthalt des Kindes beim im Ursprungsmitgliedstaat wohnenden Elternteil bestimmt wurde. Dagegen darf die Zeit, die seit dieser Entscheidung vergangen ist, keinesfalls berücksichtigt werden. ... Art. 2 Nr. 11 und Art. 11 der Brüssel-II a-VO (sind) dahin auszulegen, dass in dem Fall, dass die Verbringung des Kindes im Einklang mit einer vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung erfolgt ist, die später durch eine gerichtliche Entscheidung aufgehoben wurde, mit der der Aufenthalt des Kindes bei dem im Ursprungsmitgliedstaat wohnenden Elternteil bestimmt wurde, das mit einem Antrag auf Rückgabe des Kindes befasste Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht wurde, im Zuge einer Beurteilung aller besonderen Umstände des Einzelfalls zu prüfen hat, ob das Kind unmittelbar vor dem behaupteten widerrechtlichen Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch im Ursprungsmitgliedstaat hatte. Im Rahmen dieser Beurteilung ist zu berücksichtigen, dass die die Verbringung gestattende Gerichtsentscheidung (nur) vorläufig vollstreckbar und mit einem Rechtsmittel angefochten war. (EuGH, a.a.O.).
49Für den Fall der Vollstreckung der in dem Heimatstaat ergangenen rechtskräftigen Sorgerechtsentscheidung hat der EuGH weiter ausgeführt: Der Umstand, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes im Anschluss an ein erstinstanzliches Urteil möglicherweise während des Rechtsmittelverfahrens geändert hat und dass das mit einem Rückgabeantrag nach dem Haager Übereinkommen von 1980 und Art. 11 der Verordnung befasste Gericht diese Änderung gegebenenfalls feststellt, kann kein Gesichtspunkt sein, auf den sich der Elternteil, der ein Kind unter Verletzung des Sorgerechts zurückhält, berufen kann, um die durch sein rechtswidriges Handeln geschaffene Sachlage aufrechtzuerhalten und sich der Vollstreckung der im Ursprungsmitgliedstaat ergangenen Entscheidung über die elterliche Verantwortung zu widersetzen,... Der in Abschnitt 2 des Kapitels III der Brüssel-II a-VO vorgesehene Mechanismus würde nämlich umgangen und ausgehöhlt, wenn die von einem mit einem solchen Antrag befassten Gericht getroffene Feststellung, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes geändert hat, es ermöglichen würde, diese Sachlage aufrechtzuerhalten und die Vollstreckung einer solchen Entscheidung zu verhindern (EuGH, a.a.O.).
50b)
51Gemessen an diesen Vorgaben hat das Kind X in Deutschland keinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet.
52Die Kindesmutter hat ihre Tochter im Juli 2012 widerrechtlich nach Deutschland gebracht. Ausweislich ihrer Erklärung in dem Vergleich vom 1.7.2013 war sie sich dessen auch bewusst. Sie konnte also nicht die Erwartung haben, das Kind dauerhaft bei sich in Deutschland behalten zu dürfen, so dass es jedenfalls in der Zeit bis zum 1.7.2013 keinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, sondern seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Frankreich behalten hat.
53Daran hat sich in der Zeit nach dem 1.7.2013 nichts geändert, weil die Kindeseltern das ausdrücklich so vereinbart haben. Es ist wohl nur deshalb nicht direkt im Anschluss an den Verhandlungstermin beim Amtsgericht Hamm am 1.7.2013 zum Umzug des Kindes zum Vater gekommen, weil man die französische Sorgerechtsentscheidung abwarten wollte. Wäre darin der Mutter die alleinige elterliche Sorge übertragen worden, wäre es zu einem mehrfachen Obhutswechsel gekommen, wenn X zwischenzeitlich wieder in Frankreich beim Vater gelebt hätte und dort zur Schule gegangen wäre, was die Kindeseltern – im Interesse des Kindes - offenbar vermeiden wollten. Das ändert aber nichts an der Wirksamkeit der von den Eltern gemeinsam getroffenen Entscheidung zur Bestimmung des Aufenthalts ihrer Tochter beim Vater in Frankreich.
54Die tatsächlichen Umstände, dass X sich im Zeitpunkt des Beginns des widerrechtlichen Zurückhaltens am 28.12.2013 bereits seit eineinhalb Jahren in Deutschland aufhielt, hier in den Kindergarten und in die Schule ging, schon gut deutsch sprach, Freundschaften mit Gleichaltrigen geschlossen hatte und gut in die Familien ihrer Mutter und des Stiefvaters in Z eingebunden war, rechtfertigen es nicht, einen gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Abweichung von der übereinstimmenden Aufenthaltsbestimmung der Eltern in dem Vergleich vom 1.7.2013 anzunehmen.
55c)
56Die Kindesmutter hat auch widerrechtlich gehandelt. Ihr stand schon im Juli 2012 die Entscheidung über einen Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes nach Deutschland nicht zu. Erst recht war sie nach französischem Recht nicht befugt, das Kind dem Vater über den 28.12.2013 hinaus vorzuenthalten. Nach der in Frankreich ergangenen – mittlerweile längst rechtskräftigen – Sorgerechtsentscheidung steht dem Kindesvater die alleinige elterliche Sorge zu. Er hat die Sorge für das Kind vor dem 28.12.2013 auch tatsächlich ausgeübt, nämlich in den Ferienzeiten im Sommer und Herbst 2013, in denen sich das Kind vereinbarungsgemäß auch tatsächlich bei ihm aufhielt, und beabsichtigt in Zukunft, die elterliche Sorge auszuüben, wenn das Kind in seinen Haushalt zurückkehrt.
57Es kommt im Rückführungsverfahren auch nicht darauf an, ob die französische Entscheidung in Deutschland anzuerkennen ist oder nicht. Das ergibt sich aus Art. 14 HKÜ. Sorgerechtsentscheidungen des Ursprungsstaats und dort anzuerkennende oder förmlich anerkannte fremde Entscheidungen können unmittelbar berücksichtigt, also der Sache nach als maßgeblich beachtet werden. Dabei ist auch hier kein förmliches Verfahren einzuhalten, wie es etwa nach Art. 7 § 1 FamRÄndG/§ 107 FamFG vorgeschrieben wäre, soweit es auf die Anerkennung der einer Sorgerechtsentscheidung zugrunde liegenden Scheidung ankäme. Die Zulässigkeit unmittelbarer Berücksichtigung nach Art. 14 HKÜ schließt nach dem Zweck des Art. 3 HKÜ jede (inzidente) Prüfung auch grundlegender Anerkennungsvoraussetzungen aus, weil es hier insoweit ausschließlich um die Beurteilung der Widerrechtlichkeit des Verbringens nach dem Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes geht. Das HKÜ erstreckt damit nicht im Sinne einer Anerkennung die Wirkungen der Entscheidung auf den ersuchten Staat, sondern verpflichtet nur zur Beachtung einer „Tatbestandswirkung“ der Entscheidung im Ursprungsstaat. Selbst die aus dem ordre public entwickelten Anerkennungsversagungsgründe (etwa nach § 109 FamFG) können der Berücksichtigung einer Entscheidung nur im Rahmen und unter den Bedingungen der Art. 20 HKÜ entgegengehalten werden (Pirrung in: Staudinger, BGB, D. HKÜ (Neubearbeitung 2009), Art. 14, D 76 – D 78 m.w.N.).
582.
59Der Kindesvater hat den Rückführungsantrag innerhalb eines Jahres seit dem 28.12.2013 gestellt. Auf den Ablauf der Jahresfrist gem. Art. 12 Abs.1 HKÜ kann sich die Kindesmutter nicht berufen.
603.
61Verletzt der verbringende Elternteil die Befugnisse des (Mit-)Sorgeberechtigten durch eigenmächtiges Verbringen des Kindes in das Ausland und wird somit der persönliche Kontakt des Kindes mit dem im Ausland verbliebenen Elternteil mindestens deutlich erschwert, erfolgt dies im Zweifel gegen das Kindeswohl. Ob und, wenn ja, wann ein Aufenthaltsrecht im konkreten Einzelfall doch mit dem Kindeswohl vereinbar ist, ist letztlich der Entscheidung der nach dem früheren gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes für das Sorgerecht zuständigen Gerichte vorbehalten. Um diese Sorgerechtsentscheidungsbefugnis der nationalen Gerichte sicherzustellen bzw. wieder herzustellen, ist nach Maßgabe des HKÜ grundsätzlich die schnellstmögliche Rückführung des widerrechtlich in einem anderen Vertragsstaat zurückgehaltenen Kindes anzuordnen. Etwaige Ausnahmetatbestände sind deswegen besonders eng auszulegen und nur restriktiv anzuwenden. Der entführende Elternteil hat die Voraussetzungen eines Ausnahmetatbestandes - in Abkehr des Amtsermittlungsgrundsatzes - schlüssig darzulegen und geeignete Beweise anzubieten. Bei verbleibenden Zweifeln trägt er die Feststellungslast.
62a)
63Es kann im vorliegenden Fall nicht gem. Art. 13 Abs.1 a) HKÜ von der Rückführung abgesehen werden, weil der Kindesvater das Zurückhalten des Kindes in Deutschland nicht nachträglich genehmigt hat.
64b)
65Auch die Voraussetzungen, unter denen gem. Art. 13 Abs.1 b) HKÜ keine Verpflichtung besteht, die Rückgabe anzuordnen, können nicht festgestellt werden. Es ist nicht erwiesen, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind X verbunden ist oder sie auf andere Weise in eine unzumutbare Lage gebracht wird.
66aa)
67Gründe des Kindeswohls rechtfertigen eine Ablehnung der Rückführung prinzipiell nicht ohne weiteres, sondern können nur im Rahmen der als Ausnahmen zu verstehenden ausdrücklichen und besonderen Ablehnungsgründe berücksichtigt werden; es geht nicht um eine Sorgerechtsentscheidung, die gerade im Staat des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes getroffen werden soll, sondern um die Herstellung des früheren rechtmäßigen Zustands.
68In den Fällen schwerwiegender Gefahr für das Kind sind strenge Anforderungen an das Ausmaß der Gefährdung zu stellen; Art. 13 Abs.1 b) HKÜ soll nur für absolute, zwingende Ausnahmen eingreifen. Es muß sich um eine aktuelle, nicht nur zukünftige und hypothetische Gefahr handeln. Eine bloße Berufung auf das Kindeswohl oder auf den erforderlichen Wechsel der Bezugsperson für das auch jüngere Kind und die damit verbundenen psychischen Belastungen genügt nicht. Insbesondere kann die Vorschrift nach Art. 11 Abs. 4 Brüssel-II a-VO nicht angewandt werden, wenn angemessene Vorkehrungen nachgewiesen sind, die den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr sicherstellen. Das HKÜ geht davon aus, dass allgemein die Wiederherstellung des status quo dem Kindeswohl am ehesten entspricht. Jedenfalls reichen die unvermeidlichen Folgen einer erneuten Aufenthaltsänderung, eines Wechsels in ein anderes Sprach- oder Kulturgebiet bzw. soziales Milieu oder Folgen für andere Personen als das Kind nicht aus, vor allem nicht solche ausschließlich für den widerrechtlich handelnden Elternteil. Sonst würde dazu beigetragen, die unzulässige Selbsthilfe praktisch doch durchzusetzen.
69Es besteht nur dann keine Verpflichtung, die Anwendung von Gewalt gegen das Kind anzuordnen, wenn nachgewiesen ist, dass die Vollstreckung einer Herausgabeanordnung durch Gewaltanwendung gegen das Kind mit einer dadurch bedingten schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist. Eine schwerwiegende Gefahr körperlichen oder seelischen Schadens besteht, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Kind nach der Rückgabe in seiner geistig-psychischen, körperlichen, moralischen und sozialen Entwicklung negativ beeinflusst, misshandelt oder (sexuell) missbraucht wird, sei es vom Antragsteller oder von Dritten, z.B. dem neuen Lebenspartner des Antragstellers, und umgekehrt nicht zu erwarten ist, daß der Antragsteller durch vertrauensbildende Handlungen oder die Behörden des ersuchenden Staates gegen eine Gefährdung mit Erfolg einschreiten. Auch eine nicht zu verkraftende Trennung von Geschwistern oder völlig unzureichende Versorgung durch den Antragsteller bzw. Dritte und damit drohende Heimunterbringung würde besonders bei jüngeren Kindern grundsätzlich hierher gehören, ebenso die Rückkehr in ein Gebiet mit in der Zwischenzeit begonnenen oder unmittelbar drohenden kriegerischen Auseinandersetzungen.
70Auch ein auf Grund anderer Umstände zu erwartendes schwerwiegendes Risiko einer unzumutbaren Lage im Fall der Rückgabe wird als sehr generalklauselartige und daher nur mit äußerster Vorsicht anzuwendende Ausnahme nur anzunehmen sein, wenn ein mindestens entsprechend gravierender Sachverhalt wie in der 1. Alt nachgewiesen wird: Zu denken ist etwa an ein Zusammentreffen verschiedener dem Kindeswohl nachteiliger Umstände im Ursprungsstaat im Fall einer Rückgabe, die insgesamt ein Verbleiben im Aufenthaltsstaat als ungleich günstiger für das Kind, eine Rückkehr als so schweren Nachteil erscheinen lassen, daß ein vernünftiger Sorgerechtsinhaber nicht auf ihr bestehen würde. Dies kommt in Frage, wenn durch eine Rückkehr engste persönliche Bindungen des Kindes insbesondere zu Geschwistern abgebrochen werden müssten, die auf Grund eines Einlebens zustandegekommen sind, das in der Sache einem solchen nach Art.12 Abs. 2 entspricht, auch wenn die Jahresfrist bei Antragseingang erst fast, aber noch nicht ganz abgelaufen war. Die Weigerung des Entführers, das Kind zurückzubegleiten, spielt für sich genommen keine entscheidende Rolle (Pirrung, a.a.O., Art. 13 HKÜ Rn D 68, 71 f. mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
71Im Fall Neulinger wurde vom EGMR zwar allein deswegen eine Verletzung des Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) angenommen, weil – in Anbetracht des langen Verfahrens vor dem EGMR – das Kind sich im Zufluchtstaat inzwischen eingelebt und einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hatte. Allerdings handelte es sich dabei um ein Verfahren zwischen zwei Nicht-EU-Staaten. Im jüngsten Fall Povse zwischen Mitgliedstaaten der EU hat der EGMR seine Haltung modifiziert: Gem. Art. 11 Abs. 8 und 42 Brüssel-II a-VO hat der Herkunftsstaat das letzte Wort. Selbst wenn der Zufluchtstaat entschieden hat, dass das Kind wegen eines in Art. 13 HKÜ gennannten Grundes nicht zurückgeschickt wird, kann die zuständige Instanz im Herkunftsstaat entscheiden, dass das Kind zurückzugeben ist, und diese Entscheidung ist in allen Mitgliedstaten ohne weiteres vollstreckbar. Die Tatsache, dass der entführende Elternteil danach die Einwände des HKÜ letztlich im Herkunftsstaat geltend machen muss, verstößt nicht gegen die EMRK (Siehr im Münchener Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2015, Art. 13 HKÜ Rn 18, Art. 11 HKÜ Rn 8 m.w.N.).
72bb)
73Zwar gibt es im vorliegenden Fall Anhaltspunkte dafür, dass es dem Wohl des Kindes X besser entsprechen könnte, bei der Mutter in Deutschland zu bleiben als in die Obhut des Vaters nach Frankreich zu wechseln. Insbesondere ist nach der Einschätzung der Verfahrensbeiständin das Kindeswohl im Falle der Rückführung im Höchstmaß gefährdet. Dabei hat sie allerdings die Gefahr im Auge, die sich als typische Begleiterscheinung einer jeden Kindesentführung erweist. Das Kind ist aus der gewohnten Umgebung im Herkunftsstaat gerissen worden, hat gerade begonnen sich im Zufluchtstaat einzuleben und soll im Fall der Rückführung erneut „verpflanzt“ werden.
74Es soll nicht verkannt werden, dass die Integration des betroffenen Kindes hier nach einem Aufenthalt von mehr als zweieinhalb Jahren schon weit fortgeschritten und die Erinnerung an das Alltagsleben in Frankreich erheblich verblasst ist. Anhand des dem Senat im vorliegenden Verfahren unterbreiteten Sachvortrags kann aber nicht festgestellt werden, dass dem Kind in der Obhut des Vaters ein schwerwiegender Schaden droht oder es in eine unzumutbare Lage im Sinne des Art. 13 Abs.1 b) HKÜ gebracht wird. Diese Ausnahme ist strikt auszulegen und deshalb auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken und nicht auf jeden, vor allem wirtschaftlichen oder erzieherischen Nachteil auszudehnen, den eine Rückgabe mit sich bringen kann. Würde man nämlich den Art. 13 Abs. 1 b) nicht in diesem Sinne auslegen, machte man das HKÜ überflüssig und entschiede bereits über das Sorgerecht. Im HKÜ-Verfahren soll die Hauptsache (Entscheidung über das Sorgerecht) nicht vorweggenommen, geschweige denn – wie hier - eine bereits ergangene Sorgerechtsentscheidung des Herkunftsstaats missachtet werden. Selbst die Wünsche des Kindes sind – abgesehen von Art. 13 Abs. 2 HKÜ – erst nach Rückkehr zu berücksichtigen. Es ist deshalb unerheblich, ob das Kind beim entführenden oder beim beraubten Elternteil besser aufgehoben ist. Auch darüber ist erst am Herkunftsort in einer – hier gegebenenfalls abändernden - Sorgerechtsentscheidung zu befinden (vgl. hierzu auch Siehr, a.a.O., Art. 13 HKÜ Rn 5).
75c)
76Die Rückführung ist auch nicht gem. Art. 13 Abs.2 HKÜ abzulehnen, weil ein entgegenstehender, ernst zu nehmender Kindeswille nicht festgestellt werden kann.
77aa)
78Der Widerstand eines urteilsfähigen Kindes gegen die Rückkehr erlaubt es dem Gericht gemäß Art. 13 Abs. 2 HKÜ, nach seinem Ermessen die Rückgabe des Kindes abzulehnen. Ist das Kind noch nicht verständig genug, muss eine genaue Analyse der Situation dem Gericht im Herkunftsstaat überlassen bleiben. Der Zufluchtstaat hat keine Gutachten anzufordern und Zeit zu verlieren. Dies würde dem Gebot des raschen Handelns widersprechen. Abgesehen von der Garantie rechtlichen Gehörs, soll nach Art. 13 Abs. 2 HKÜ die Rückgabe von Amts wegen abgelehnt werden können, wenn sich das Kind der Rückgabe widersetzt, dieser Widerstand die eigene Meinung des Kindes wiedergibt und dieser Widerstand für die Ablehnung einer Rückgabe spricht. Bei dem ebenfalls strikt auszulegenden Art. 13 Abs. 2 HKÜ ist bereits vor der Anhörung des Kindes zu beachten: Das Kind bestimmt nicht selbst, wo es wohnt; die Rückgabe bedeutet nicht die Rückkehr zum beraubten Elternteil, sondern nur in den Herkunftsstaat. Nicht zu entscheiden ist, bei wem das Kind am besten aufgehoben ist; denn dies entscheidet später das für das Sorgerechtsverfahren zuständige Gericht. Also selbst wenn das Kind beim Entführer bleiben will, steht dies einer Rückgabe nicht entgegen; denn der Entführer sollte in aller Regel das Kind in den Herkunftsstaat begleiten und dort auch bei ihm bleiben, bis im Sorgerechtsverfahren endgültig entschieden wird, wem die Personensorge zusteht. Kaum etwas ist so schwierig, wie die wahre Meinung eines Kindes zu ergründen, das seit einiger Zeit den widerstreitenden Interessen und Zielen seiner Eltern ausgesetzt ist und deshalb leicht geneigt ist, lediglich Sprachrohr seiner gegenwärtigen Bezugsperson (Entführer) zu sein. Und diese Bezugsperson, die selbst rechtwidrig gehandelt hat, ist selten geneigt, die selbst rechtwidrig herbeigeführte Situation objektiv darzustellen. Denn in aller Regel hat es die Bezugsperson und nicht das Kind im Herkunftsstaat „nicht mehr ausgehalten“ und sich nach Hause gesehnt. Das Kind dagegen, geboren und aufgewachsen zumeist im Herkunftsstaat, hat keine solchen Probleme, vielmehr hat es zumindest zwei Heimatstaaten, den des Vaters und der Mutter. Das bedenkt der Entführer selten. Schließlich dürfte nichts so aufschlussreich sein wie die Beobachtung dessen, wie das Kind auf die Gegenwart des beraubten Elternteils im Gericht reagiert (Siehr, a.a.O., Art. 13 HKÜ Rn 15 ff.).
79bb)
80Das acht Jahre alte Kind X hat sich im Rahmen der richterlichen Anhörung auf die Frage, wie sie zu dem Wunsch des Vaters stehe, zu ihm nach Frankreich zu ziehen, zwar klar positioniert: Sie würde ihm sagen, dass sie nicht bei ihm wohnen, sondern ihn nur besuchen möchte. Die Umstände, die sie für einen Verbleib in Deutschland angeführt hat, schienen aber aus einer Erwachsenenperspektive zu stammen und wirkten nachgesprochen: etwa das schöne Haus mit Garten bei der Mutter im Gegensatz zum Hochhaus, in dem der Vater und die Großmutter in Frankreich leben. Die Beobachtungen bei dem begleiteten, zweistündigen Umgang des Vaters mit dem Kind am Tag vor dem Senatstermin, von denen die Verfahrensbeiständin berichtet hat, ließen darauf schließen, dass das Kind immer noch eine positiv besetzte Beziehung zum Vater hat. Es gibt keine hinreichenden Anhaltspunkte für einen ernsthaften Widerstand des Kindes gegen einen Umzug zum Vater, dem nicht mit erzieherischen Mitteln und insbesondere umfangreichem Umgang mit der Mutter begegnet werden könnte.
81Selbst wenn X eine deutlich stärker ablehnende Haltung gegenüber dem Vater gezeigt hätte, hätte der Senat Bedenken gehabt, diesen Widerstand im Rahmen des HKÜ-Verfahrens zum Anlass zu nehmen, von seinem in Art. 13 Abs.2 HKÜ eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen und von der Rückführung abzusehen. Für die Feststellung, ob der von einem achtjährigen Kind geäußerte Wunsch auch seinem wahren Willen entspricht, wäre möglicherweise ein kinderpsychologischer Sachverständiger hinzuzuziehen. Eine solche zeitaufwändige Beweisaufnahme gehört nicht in das HKÜ-Verfahren, sondern ist einem gegebenenfalls von der Kindesmutter in Frankreich einzuleitenden Abänderungsverfahren zum Sorgerecht vorzubehalten.
82d)
83Die Rückführung des Kindes kann schließlich im vorliegenden Fall auch nicht gem. Art. 20 HKÜ abgelehnt werden, weil ein Verstoß gegen den in Deutschland geltenden „ordre public“ im Falle der Rückführung weder von der Kindesmutter dargelegt noch ersichtlich ist.
84 85Die Vollstreckungsentscheidungen beruhen auf §§ 44 IntFamRVG, 88 ff. FamFG.
86Der Senat hat die Vollstreckung gemäß § 44 Abs. 3 IntFamRVG mit Rechtskraft von Amts wegen durchzuführen. Die Vollstreckung der Kindesherausgabe erfolgt nach § 213 a der Geschäftsanweisung für Gerichtsvollzieher.
87Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 14 IntFamRVG, 84 FamFG.
88Dieser Beschluss ist unanfechtbar. Die Rechtsbeschwerde ist gem. § 40 Abs. 2 S. 4 IntFamRVG ausgeschlossen.
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(1) Bei der Zuwiderhandlung gegen einen Vollstreckungstitel zur Herausgabe von Personen und zur Regelung des Umgangs kann das Gericht gegenüber dem Verpflichteten Ordnungsgeld und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft anordnen. Verspricht die Anordnung eines Ordnungsgelds keinen Erfolg, kann das Gericht Ordnungshaft anordnen. Die Anordnungen ergehen durch Beschluss.
(2) Der Beschluss, der die Herausgabe der Person oder die Regelung des Umgangs anordnet, hat auf die Folgen einer Zuwiderhandlung gegen den Vollstreckungstitel hinzuweisen.
(3) Das einzelne Ordnungsgeld darf den Betrag von 25 000 Euro nicht übersteigen. Für den Vollzug der Haft gelten § 802g Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, die §§ 802h und 802j Abs. 1 der Zivilprozessordnung entsprechend.
(4) Die Festsetzung eines Ordnungsmittels unterbleibt, wenn der Verpflichtete Gründe vorträgt, aus denen sich ergibt, dass er die Zuwiderhandlung nicht zu vertreten hat. Werden Gründe, aus denen sich das fehlende Vertretenmüssen ergibt, nachträglich vorgetragen, wird die Festsetzung aufgehoben.
(1) Das Gericht kann durch ausdrücklichen Beschluss zur Vollstreckung unmittelbaren Zwang anordnen, wenn
- 1.
die Festsetzung von Ordnungsmitteln erfolglos geblieben ist; - 2.
die Festsetzung von Ordnungsmitteln keinen Erfolg verspricht; - 3.
eine alsbaldige Vollstreckung der Entscheidung unbedingt geboten ist.
(2) Anwendung unmittelbaren Zwanges gegen ein Kind darf nicht zugelassen werden, wenn das Kind herausgegeben werden soll, um das Umgangsrecht auszuüben. Im Übrigen darf unmittelbarer Zwang gegen ein Kind nur zugelassen werden, wenn dies unter Berücksichtigung des Kindeswohls gerechtfertigt ist und eine Durchsetzung der Verpflichtung mit milderen Mitteln nicht möglich ist.
(1) Unbeschadet der Aufgaben des Jugendamts bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit unterstützt das Jugendamt die Gerichte und die Zentrale Behörde bei allen Maßnahmen nach diesem Gesetz. Insbesondere
- 1.
gibt es auf Anfrage Auskunft über die soziale Lage des Kindes und seines Umfelds, - 2.
unterstützt es in jeder Lage eine gütliche Einigung, - 3.
leistet es in geeigneten Fällen Unterstützung bei der Durchführung des Verfahrens, auch bei der Sicherung des Aufenthalts des Kindes, - 4.
leistet es in geeigneten Fällen Unterstützung bei der Ausübung des Rechts zum persönlichen Umgang, der Heraus- oder Rückgabe des Kindes sowie der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen.
(2) Zuständig ist das Jugendamt, in dessen Bereich sich das Kind gewöhnlich aufhält. Solange die Zentrale Behörde oder ein Gericht mit einem Herausgabe- oder Rückgabeantrag oder dessen Vollstreckung befasst ist, oder wenn das Kind keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, oder das zuständige Jugendamt nicht tätig wird, ist das Jugendamt zuständig, in dessen Bereich sich das Kind tatsächlich aufhält. In den Fällen des Artikels 35 Absatz 2 Satz 1 des Haager Kinderschutzübereinkommens ist das Jugendamt örtlich zuständig, in dessen Bezirk der antragstellende Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
(3) Das Gericht unterrichtet das zuständige Jugendamt über Entscheidungen nach diesem Gesetz auch dann, wenn das Jugendamt am Verfahren nicht beteiligt war.
(1) Eine Entscheidung, die zur Rückgabe des Kindes in einen anderen Vertragsstaat verpflichtet, wird erst mit deren Rechtskraft wirksam.
(2) Gegen eine im ersten Rechtszug ergangene Entscheidung findet die Beschwerde zum Oberlandesgericht nach Unterabschnitt 1 des Abschnitts 5 des Buches 1 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit statt; § 65 Abs. 2, § 68 Abs. 4 Satz 1 sowie § 69 Abs. 1 Satz 2 bis 4 jenes Gesetzes sind nicht anzuwenden. Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Wochen einzulegen und zu begründen. Die Beschwerde gegen eine Entscheidung, die zur Rückgabe des Kindes verpflichtet, steht nur dem Antragsgegner, dem Kind, soweit es das 14. Lebensjahr vollendet hat, und dem beteiligten Jugendamt zu. Eine Rechtsbeschwerde findet nicht statt.
(3) Das Beschwerdegericht hat nach Eingang der Beschwerdeschrift unverzüglich zu prüfen, ob die sofortige Wirksamkeit der angefochtenen Entscheidung über die Rückgabe des Kindes anzuordnen ist. Die sofortige Wirksamkeit soll angeordnet werden, wenn die Beschwerde offensichtlich unbegründet ist oder die Rückgabe des Kindes vor der Entscheidung über die Beschwerde unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Beteiligten mit dem Wohl des Kindes zu vereinbaren ist. Die Entscheidung über die sofortige Wirksamkeit kann während des Beschwerdeverfahrens abgeändert werden.
Soweit nicht anders bestimmt, entscheidet das Familiengericht
- 1.
über eine in den §§ 10 und 12 bezeichnete Ehesache nach den hierfür geltenden Vorschriften des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, - 2.
über die übrigen in den §§ 10, 11, 12 und 47 bezeichneten Angelegenheiten nach den für Kindschaftssachen geltenden Vorschriften des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit.
(1) Eine Entscheidung, die zur Rückgabe des Kindes in einen anderen Vertragsstaat verpflichtet, wird erst mit deren Rechtskraft wirksam.
(2) Gegen eine im ersten Rechtszug ergangene Entscheidung findet die Beschwerde zum Oberlandesgericht nach Unterabschnitt 1 des Abschnitts 5 des Buches 1 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit statt; § 65 Abs. 2, § 68 Abs. 4 Satz 1 sowie § 69 Abs. 1 Satz 2 bis 4 jenes Gesetzes sind nicht anzuwenden. Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Wochen einzulegen und zu begründen. Die Beschwerde gegen eine Entscheidung, die zur Rückgabe des Kindes verpflichtet, steht nur dem Antragsgegner, dem Kind, soweit es das 14. Lebensjahr vollendet hat, und dem beteiligten Jugendamt zu. Eine Rechtsbeschwerde findet nicht statt.
(3) Das Beschwerdegericht hat nach Eingang der Beschwerdeschrift unverzüglich zu prüfen, ob die sofortige Wirksamkeit der angefochtenen Entscheidung über die Rückgabe des Kindes anzuordnen ist. Die sofortige Wirksamkeit soll angeordnet werden, wenn die Beschwerde offensichtlich unbegründet ist oder die Rückgabe des Kindes vor der Entscheidung über die Beschwerde unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Beteiligten mit dem Wohl des Kindes zu vereinbaren ist. Die Entscheidung über die sofortige Wirksamkeit kann während des Beschwerdeverfahrens abgeändert werden.