Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 31. März 2010 - L 7 SB 30/06

ECLI:ECLI:DE:LSGST:2010:0331.L7SB30.06.0A
31.03.2010

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Umstritten sind die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht).

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Die am ... 1950 geborene Klägerin stellte erstmals im Juli 1992 beim Versorgungsamt M. einen Antrag nach dem damaligen Schwerbehindertengesetz unter Hinweis auf eine Erkrankung der Wirbelsäule (Scheuermann`sche Erkrankung), eine Trichterbrustoperation im Jahre 1978, einen niedrigen Blutdruck sowie eine Allergie gegen Tabletten und Tierhaare. Mit Bescheid vom 24. August 1993 und Abhilfebescheid vom 15. Oktober 1993 stellte das Versorgungsamt einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 sowie folgende Behinderungen fest:

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Verbiegungen und Funktionsstörungen der Wirbelsäule nach Scheuermannscher Krankheit

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Zustand nach Brustoperation mit Einschränkung der Herz-Lungenfunktion

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Allergie.

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Im April 1996 stellte die Klägerin einen Neufeststellungsantrag wegen einer Polyneuropathie als hinzu getretener Erkrankung und beantragte zusätzlich die Zuerkennung des Merkzeichens "G". Nach den vom Versorgungsamt daraufhin durchgeführten Ermittlungen war die Klägerin noch in der Lage, Gehstrecken ohne Hilfsmittel zurückzulegen. Im Kreiskrankenhaus B. war während eines stationären Aufenthaltes vom 18. bis 30. Januar 1996 die Diagnose einer Polyneuropathie unklarer Genese gestellt worden, die neurologische Untersuchung hatte einen unauffälligen Zehen- und Hackenstand sowie eine beginnende Atrophie (Verschmächtigung) der unteren Extremitäten beidseits ergeben (Epikrise des Krankenhauses vom 24. April 1996). Nach Auswertung dieser Unterlagen durch den Versorgungsärztlichen Dienst stellte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 4. September 1996 als zusätzliche Behinderung eine "Nervenschädigung der Beine" und einen unveränderten GdB von 40 fest. Im weiteren Neufeststellungsantrag vom 29. Oktober 1998 begehrte die Klägerin abermals das Merkzeichen "G" und benannte als zusätzliche Behinderungen eine "neurale Muskelatrophie HMSN I" sowie eine "Urge-Inkontinenz mit erheblich eingeschränkter Blasenkapazität und stark verzögertem Flow". Das Versorgungsamt holte daraufhin Befundberichte von der Frauenärztin Dr. B. vom 24. November 1998 und von Privatdozent (PD) Dr. W. vom 28. Januar 1999 ein. Frau Dr. B. berichtete über eine extreme Blasenschwäche mit täglich bis zu 40-maligem Wasserlassen und erheblichen sozialen Konsequenzen. Die Klägerin könne kaum öffentliche Verkehrsmittel benutzen oder an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen. Therapieversuche seien wegen der Medikamentenunverträglichkeit erfolglos verlaufen. Nach dem Bericht von PD Dr. W. betrug die maximale Wegstrecke nach den Angaben der Klägerin noch zwei bis drei km mit beginnender Atrophie der Muskulatur der unteren Extremitäten bei leicht ataktischem Gangbild. Als Diagnosen benannte er eine neurale Muskelatrophie vom Typ HMSN I (Charcot-Marie-Tooth) und einen leichten frühkindlichen Hirnschaden. Er empfehle die Anerkennung des Merkzeichens "G"; an öffentlichen Veranstaltungen könne die Klägerin teilnehmen. In Auswertung dieser Unterlagen plädierte der Ärztliche Dienst des Versorgungsamtes mit Stellungnahme vom 19. März 1999 (Dr. R.) für einen Gesamt-GdB von 60 und die Anerkennung einer erheblichen Gehbehinderung, die durch die von der Klägerin gegenüber Dr. W. angegebenen "unerträglichen Krämpfe" der Beine, das leicht ataktische Gangbild sowie die ausgeprägte neurogene Schädigung der Muskulatur mit motorischer und sensorischer Leistungsverzögerung bei neuraler Muskeldystrophie zusammen mit dem Wirbelsäulenschaden bedingt sei. Dieser Bewertung widersprach der Versorgungsarzt Dr. F. am 20. Mai 1999 unter Hinweis auf die geringe Beteiligung der Wirbelsäule an der Gehbehinderung und schlug seinerseits einen Gesamt-GdB von 50 ohne das Merkzeichen "G" vor. Dem folgend setzte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 27. Mai 1999 den Grad der Behinderung auf 50 ohne Anerkennung von Merkzeichen fest. Der dagegen gerichtete Widerspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 2000).

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Am 10. Mai 2002 stellte die Klägerin abermals unter Hinweis auf eine extreme Dranginkontinenz infolge der Polyneuropathie einen Neufeststellungsantrag und begehrte wiederum die Feststellung der Merkzeichen "G" und "RF". Sie sei wegen der Dranginkontinenz weder in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen noch an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Das Versorgungsamt holte einen Befundbericht von der behandelnden Ärztin der Klägerin, Fachärztin für Allgemeinmedizin/Chirotherapie Dipl.-Med. K., vom 16. Juni 2002 ein, dem weitere Befundunterlagen anderer Ärzte beigefügt waren. Dipl.-Med. K. berichtete über eine Harninkontinenz dritten Grades, wodurch die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei. Die Klägerin benötige Vorlagen als sanitäre Hilfsmittel. Die damit verbundene Geruchsbelastung sei bei den Vorstellungen der Klägerin in der Sprechstunde wahrzunehmen gewesen. Nach Auswertung dieser Unterlagen durch den Ärztlichen Dienst erhöhte das Versorgungsamt den GdB mit Bescheid vom 25. September 2002 auf 60 (Harnblasenfunktionsstörung [40], Funktionsminderung der Wirbelsäule infolge degenerativer Veränderung und Skoliose [30], Nervenstörung der Beine [30], Lungenfunktionsstörung nach Brustoperation [20], Allergieneigung [20]), lehnte aber die Feststellung der begehrten Merkzeichen weiterhin ab. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 14. Oktober 2002 Widerspruch ein und stellte am 2. Juli 2003 einen weiteren Neufeststellungsantrag mit dem zusätzlichen Hinweis, dass sie auf die Benutzung eines Autos angewiesen sei. Der vom Versorgungsamt erneut befragte Facharzt für Neurologie/Psychiatrie PD Dr. W. teilte mit Befundbericht vom 21. November 2002 mit, die Beschwerden der Klägerin hätten sich im Vergleich zu den vorherigen Berichten nicht geändert. Der neurologische Status sei ebenfalls unverändert. Es bestehe weiterhin eine neurale Muskelatrophie vom Typ HMSN I(Charcot-Marie-Tooth) und er empfehle auch weiterhin die Anerkennung des Merkzeichens "G". In seinem weiteren Bericht vom 17. September 2003 gab PD Dr. W. an, es sei weiterhin keine grundlegende Änderung der Beschwerden eingetreten. Allerdings beklage die Klägerin seit Herbst 2002 beim Laufen erhebliche Krämpfe in der Oberschenkel- und Wadenmuskulatur sowie zeitweise auch in den Zehen. Mit Bescheid vom 1. Dezember 2003 lehnte das Versorgungsamt den Neufeststellungsantrag ab und mit dem Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2003 wies der Beklagte die Widersprüche gegen die Bescheide vom 25. September 2002 und 1. Dezember 2003 zurück, da nach Auswertung der ärztlichen Unterlagen die gesundheitlichen Voraussetzungen für eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr und damit für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht vorlägen. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunk- und Fernsehgebührenpflicht/Gebührenermäßigung für den Fernsprechhauptanschluss (Merkzeichen "RF") lägen ebenfalls nicht vor, weil die Klägerin trotz der schweren Behinderungen noch in der Lage sei, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.

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Mit der am 19. Dezember 2003 beim Sozialgericht erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt und geltend gemacht, auf ein Auto angewiesen zu sein, weil sie sonst das Dorf nicht verlassen könne. Mit Schreiben vom 9. Juli 2004 (Bl. 86 der Gerichtsakte, Teilband 1) hat sie angegeben, am Merkzeichen "G" nicht interessiert zu sein und wörtlich erklärt "es trifft nicht für mich zu!". Sie müsse tagsüber fünfzehn Mal in der Stunde die Toilette aufsuchen. Sie sei auf ihr Fahrzeug angewiesen, weil sie dann jederzeit rechts ausfahren könne. Ohne den Wagen komme sie nirgendwo hin. An öffentlichen Veranstaltungen könne sie nicht teilnehmen, öffentliche Verkehrsmittel nicht benutzen. Es gehe ihr auch darum, die Kfz-Steuer ein wenig herabzusetzen. Mit weiterem Schreiben vom 15. November 2004 bestätigte sie, am Merkzeichen "G" deshalb nicht interessiert zu sein, weil es für sie nicht zutreffe. "G" heiße doch gehbehindert und das sei sie zurzeit noch nicht. Wenn auch die Vergabe des Merkzeichens "RF" nicht zu einer Kfz-Steuerermäßigung führe, dann wisse sie leider auch nicht, welche Merkzeichen bei ihr festgestellt werden sollten. Wörtlich hat sie ausgeführt: "Wollen wir doch mal so fragen: Welche Merkzeichen kämen denn für mich in Frage?" Das Sozialgericht hat medizinische Ermittlungen durchgeführt und u. a. einen Befundbericht von der Fachärztin für Orthopädie Dr. M. eingeholt, die am 7. März 2005 berichtet hat, es liege keine schwere Einschränkung der Gehfähigkeit der Klägerin vor. Sodann hat das Sozialgericht mit Beweisanordnung vom 24. Juni 2005 den Chefarzt Prof. Dr. R. mit der Erstellung eines fachurologischen Sachverständigengutachtens beauftragt. Professor Dr. R. hat im Gutachten vom 2. Januar 2006 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin u. a. folgende Untersuchungsergebnisse mitgeteilt:

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Wirbelsäule: Lendenwirbelsäule frei beweglich. Druckschmerz im Bereich der gesamten BWS und der unteren LWS. Die Brustwirbelsäule ist in der gesamten Funktion eingeschränkt.

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Extremitäten: sehr dünne Extremitäten mit erheblichem Muskelschwund und ataktischem unsicheren Gangbild. Die Füße sind livide. ( )

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Psyche: die Patientin ist orientiert, bewusstseinsklar, aber sehr affektiert auf das Krankheitsbild orientiert. Der Gedankengang ist insgesamt schwerfällig. Die Konzentrationsfähigkeit erscheint erheblich eingeschränkt.

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Ferner hat der Sachverständige angegeben, die sonographische Untersuchung habe eine etwas verdickte Blasenwand bei sehr kleiner Blase ergeben. Nach Miktion verbleibe eine Restharnmenge von 25 ml. Es liege eine Schrumpfblase mit einem maximalen Volumen von 50 ml vor. Als Diagnosen benannte Prof. Dr. R. auf urologischem Fachgebiet:

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Sensorische Drangsymptomatik (sensorische Urge-Inkontinenz ohne unwillkürlichen Urinverlust) Hypokapazitäre Blase (Schrumpfblase)

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Wegen dieser Behinderung sei die Klägerin auf einen jederzeitigen Zugang zu einer Toilette angewiesen. Die von ihr beklagte sehr hohe Miktionsfrequenz habe sich objektiv nachweisen lassen. Unvorstellbar sei es, dass sie den Harndrang länger als 20 bis 30 Minuten ohne Urinverlust zurückhalten könne. Ein Urinverlust sei auch bei Gebrauch aufsaugender Vorlagen stets mit einer Urinbelästigung verbunden. Hinzu kämen entzündliche Veränderungen im Genitalbereich infolge des Tragens nasser Vorlagen. Es spreche zwar einiges für eine Aggravation der Klägerin hinsichtlich der tatsächlichen Miktionsfrequenz und des –volumens, aber selbst bei der Annahme, es sei die Hälfte der angegebenen Miktionen erforderlich, bestehe ein sehr hoher Krankheitswert. Die sensorische Dranginkontinenz sei deshalb mit einem GdB von 60 bis 70 zu bewerten. Die daneben bestehende Harnblasenentzündung mit Schrumpfblase sei mit einem GdB von 50 bis 70 einzuschätzen, beide Erkrankungen bedingten zusammengefasst einen GdB von 70. Das Merkzeichen "RF" sei über eine Kannversorgung zuzubilligen, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" seien dagegen nicht gegeben, da bei der Klägerin grundsätzlich keine größere Beeinträchtigung der Teilnahme am Straßenverkehr durch Einschränkung des Gehvermögens oder bei Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit vorliege. Eine Einschränkung liege insofern vor, als die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel durch die dauernde Notwendigkeit der Toilettenbenutzung nicht möglich sei. Auch die Geruchsbelästigung von Personen im öffentlichen Straßenverkehr könnte für die Anerkennung des Merkzeichens "G" sprechen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten der medizinischen Ermittlungen des Sozialgerichts wird auf Bl. 41 und 43 ff. sowie 123 der Gerichtsakte verwiesen.

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Mit Urteil vom 14. Juni 2006 hat das Sozialgericht der Klage durch Abänderung der Bescheide teilweise stattgegeben und den Beklagten verpflichtet, bei der Klägerin ab 13. Mai 2002 einen GdB von 80 festzustellen. Die Vergabe der Merkzeichen "G" und "RF" könne die Klägerin jedoch nicht beanspruchen, weil ihre Gehfähigkeit nicht wesentlich beeinträchtigt und ihr die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen unter Verwendung von Hilfsmitteln möglich sei. Mit der rechtzeitig am 10. Juli 2006 eingelegten Berufung greift die Klägerin dieses ihr am 26. Juni 2006 zugestellte Urteil an und macht geltend, ihre Gehfähigkeit sei zwar tatsächlich nicht im herkömmlichen Sinn eingeschränkt, da sie noch ortsübliche Wegstrecken zurücklegen könne. Dies gelte allerdings nur, wenn sie die Möglichkeit habe, alle 50 bis 100 m eine Toilette aufzusuchen. Den zwanghaften Miktionsdrang habe auch der erstinstanzliche Sachverständige Prof. Dr. R. bestätigt. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Frage der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen bei Harninkontinenz treffe auf sie nicht zu, weil sie nicht inkontinent sei, sondern unwiderstehlichen Harndrang verspüre. Es sei ihr nicht zumutbar, Vorlagen zu benutzen und diese willentlich einzunässen.

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Die Klägerin beantragt,

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das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 14. Juni 2006 abzuändern, die Bescheide vom 25. September 2002 und 1. Dezember 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2003 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "RF" festzustellen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Er verweist darauf, mit Ausführungsbescheid vom 6. Juli 2006 das Urteil des Sozialgerichts umgesetzt und einen Bescheid mit einem Gesamt GdB von 80 ausgestellt zu haben. Anspruch auf Zuerkennung von Merkzeichen habe die Klägerin nicht.

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Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat den erstinstanzlich gestellten Klageantrag, zusätzlich zu einem höheren GdB auch das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "RF" festzustellen, hinsichtlich der begehrten Merkzeichen zu Recht abgewiesen.

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Die Klage ist als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, hinsichtlich des erhobenen Anspruchs auf Feststellung von gesundheitlichen Merkzeichen für die Merkzeichen "G" und "RF" jedoch unbegründet. Die angefochtenen Bescheide erweisen sich insoweit als rechtens und verletzen die Klägerin daher nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).

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1. Die Klägerin hat zunächst keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G".

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Anspruchsgrundlage für dieses Begehren ist § 69 Abs. 4 i. V. mit § 145 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch (SGB IX). Hiernach hat die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständige Behörde neben einer Behinderung das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" festzustellen, wenn ein schwerbehinderter Mensch infolge seiner Behinderung in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Mit diesen Bestimmungen fordert das Gesetz eine doppelte Kausalität. Denn Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken.

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Eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr liegt hier nicht vor.

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Bei der Prüfung, ob die vorgenannten Voraussetzungen erfüllt sind, sind für die Zeit bis zum 31. Dezember 2008 die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (vormals Bundesministerium für Arbeit und Soziale Sicherung) herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung (zuletzt Ausgabe 2008) zu beachten, die gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX für die Zeit ab dem 1. Januar 2009 durch die Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-VerordnungVersMedV) vom 10. Dezember 2008 abgelöst worden sind. Die AHP sind zwar kein Gesetz und sie sind auch nicht aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen worden. Es handelt sich jedoch bei ihnen um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhende Ausarbeitung im Sinne von antizipierten Sachverständigengutachten, die die möglichst gleichmäßige Handhabung der in ihnen niedergelegten Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet zum Ziel hat. Die AHP engen das Ermessen der Verwaltung ein, führen zur Gleichbehandlung und sind deshalb auch geeignet, gerichtlichen Entscheidungen zugrunde gelegt zu werden. Gibt es solche anerkannten Bewertungsmaßstäbe, so ist grundsätzlich von diesen auszugehen (vgl. z. B. BSGE 91, 205), weshalb sich auch der Senat für die Zeit bis zum 31. Dezember 2008 auf die genannten AHP stützt. Für die Zeit ab dem 1. Januar 2009 ist demgegenüber für die Verwaltung und die Gerichte die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretene Anlage zu § 2 VersMedV maßgeblich, mit der die in den AHP niedergelegten Maßstäbe mit redaktionellen Anpassungen in eine normative Form übertragen worden sind, ohne dass die bisherigen Maßstäbe inhaltliche Änderungen erfahren haben.

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Die AHP bzw. die seit dem 1. Januar 2009 an ihre Stelle getretenen Bestimmungen der Anlage zu § 2 VersMedV beschreiben in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 bzw. Teil D Nr. 1 d) – f) Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen sind und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen können (vgl. BSG SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Sie geben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein behinderter Mensch infolge der Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist", und tragen damit dem Umstand Rechnung, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird, zu denen neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, gehören. Von all diesen Faktoren filtern die AHP bzw. die in der Anlage zu § 2 VersMedV getroffenen Bestimmungen all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (BSG a. a. O.).

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Nach Nr. 30 Abs. 3 AHP bzw. Teil D Nr. 1 d) der Anlage zu § 2 VersMedV sind die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens in erster Linie dann als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z. B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- und Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Soweit innere Leiden zur Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen können, kommt es ebenfalls entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden und bei Lungenschäden mit einem Einzel-GdB von mindestens 50 anzunehmen. Auch bei anderen inneren Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit, wie z. B. bei einer chronischen Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie, sind die Voraussetzungen als erfüllt anzusehen.

31

Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" sind hier nicht erfüllt, was sich insbesondere aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. R., aber auch aus dem Vorbringen der Klägerin in beiden Rechtszügen ergibt. Prof. Dr. R. hat keine größere Einschränkung des Gehvermögens festgestellt. Auch aus den Befundberichten von PD Dr. W. ergeben sich nur Hinweise auf ein ataktisches Gangbild ohne wesentliche Einschränkungen der Gehfähigkeit. Diese Befunde werden durch die Feststellung der Orthopädin Dr. M. vom 7. März 2005 unterstützt, die "ausgehend von den orthopädischen Untersuchungsbefunden" keine schwere Einschränkung der Gehfähigkeit festgestellt hat. Sie hat angegeben, die Klägerin könne kürzere bis mittlere Wegstrecken innerorts auch zu Fuß bewältigen. Dies erscheint plausibel, denn die bestehenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bedingen keinen Einzel-GdB von 50. Die Klägerin hat im Klageverfahren sowie, dabei vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, im Berufungsverfahren auch mehrfach eingeräumt, nicht "im herkömmlichen" Sinne in der Gehfähigkeit beeinträchtigt zu sein. Aus diesen Gründen liegt bei noch ausreichend vorhandenem Gehvermögen der Klägerin zweifelsfrei keine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vor.

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Soweit dem Vorbringen der Klägerin zu entnehmen ist, die erhebliche Beeinträchtigung ergebe sich mittelbar aus dem Schweregrad der Harninkontinenz, kann dem nicht gefolgt werden. Der Zwang, in zeitlich kurzen Abständen eine Toilette aufzusuchen, schränkt die Gehfähigkeit auch nicht mittelbar ein. Die Klägerin ist durch die festgestellte Schrumpfblase im täglichen Leben insgesamt eingeschränkt, aber nicht speziell in ihrer Gehfähigkeit. Auch Autofahrten müssen wegen der Blasenschwäche häufig unterbrochen werden, ohne dass daraus eine Beschränkung bei der Benutzung von Kraftfahrzeugen zu folgern wäre. Davon abgesehen erscheint es angesichts der von Prof. Dr. R. festgestellten Fähigkeit der Klägerin, den Harn für eine Zeitspanne von 20 bis 30 Minuten zurückhalten zu können, auch zweifelhaft, ob daraus tatsächlich eine nennenswerte mittelbare Beeinträchtigung bei der Fortbewegung im öffentlichen Verkehr geschlossen werden kann. Die Gehfähigkeit ist jedenfalls weder unmittelbar noch mittelbar als erheblich beeinträchtigt anzusehen.

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2. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" liegen ebenfalls nicht vor.

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Auch für diesen Anspruch findet sich die Rechtsgrundlage in § 69 Abs. 4 SGB IX, wonach die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale feststellen, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Hierzu gehören auch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, bei deren Erfüllung in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "RF" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 5 der Schwerbehindertenausweisverordnung [SchwbAwV]). Die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen ist dann für die Rundfunkanstalt, die über eine Befreiung zu entscheiden hat, bindend (BSG, Urt. v. 8. Nov. 2007, B 9/9a SB 3/06 R, SozR 4-1500 § 155 SGG Nr. 2 Abs. 26 unter Hinweis auf frühere Rechtsprung des BSG).

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Für die Zeit bis zum 31. März 2005 ist Art. 4 § 6 Abs. 1 Nr. 1 des Staatsvertrages über den Rundfunk im vereinten Deutschland vom 31. August 1991 i.d.F. des Sachsen-anhaltinischen Gesetzes vom 12. Dezember 1991 (GVBl. LSA 1991, 478, 480) i.V.m. § 1 der Verordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 28. April 1992 (GVBl. LSA 1992, 308) heranzuziehen. An deren Stelle trat mit Wirkung ab April 2005 Art. 5 § 6 Abs. 1 Nr. 8 des Achten Staatsvertrages zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 8. bis 15. Okt. 2004 i.d.F. des Sachsen-Anhaltinischen Gesetzes vom 9. März 2005 (GVBl. LSA 2005, 122). Diese Normen regeln inhaltsgleich die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht ("behinderte Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 vom Hundert beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können"). Sie sind grundsätzlich für die inhaltliche Beurteilung, ob der Klägerin die begehrte Feststellung zusteht, zugrunde zu legen.

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Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" liegen hier nicht vor.

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Auch hier ist bis zum 31. Dezember 2008 die konkrete Prüfung nach Maßgabe der in den AHP niedergelegten Grundsätze vorzunehmen und für die Zeit ab 1. Januar 2009 die Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung anzuwenden. Für die Auslegung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" sind die in Nr. 33, S. 141 f aufgeführten Kriterien der AHP 2004 weiterhin heranzuziehen, auch wenn die Nr. 33 in den Anhaltspunkten 2008 nicht mehr aufgeführt ist und auch keine Aufnahme in die Versorgungsmedizin-Verordnung gefunden hat. Allein deren weitere Anwendung gewährleistet die im Interesse der Gleichbehandlung der behinderten Menschen gebotene gleichmäßige Anwendung dieser Maßstäbe.

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Nach Nr. 33 der Anhaltspunkte 2004 sind die Voraussetzungen immer erfüllt bei behinderten Menschen

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bei denen schwere Bewegungsstörungen - auch durch innere Leiden (schwere Herzleistungsschwäche, schwere Lungenfunktionsstörung) - bestehen und die deshalb auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl) öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise nicht besuchen können,

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die durch ihre Behinderung auf ihre Umgebung abstoßend oder störend wirken (z. B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können),

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mit - nicht nur vorübergehend - ansteckungsfähiger Lungentuberkulose,

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nach Organtransplantation, wenn über einen Zeitraum von einem halben Jahr hinaus die Therapie mit immunsuppressiven Medikamenten in einer so hohen Dosierung erfolgt, dass dem Betroffenen auferlegt wird, alle Menschenansammlungen zu meiden,

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geistig oder seelisch behinderte Menschen, bei denen befürchtet werden muss, dass sie beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen durch motorische Unruhe, lautes Sprechen oder aggressives Verhalten stören.

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Dieser Personenkreis muss allgemein von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen sein. Es genügt nicht, dass sich die Teilnahme an einzelnen, nur gelegentlich stattfindenden Veranstaltungen bestimmter Art verbietet. Behinderte Menschen, die noch in nennenswertem Umfang an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können, erfüllen die Voraussetzungen nicht.

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Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sind als öffentliche Veranstaltungen Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die länger als 30 Minuten dauern. Öffentliche Veranstaltungen sind damit nicht nur Ereignisse kultureller Art, sondern auch Sportveranstaltungen, Volksfeste, Messen, Märkte und Gottesdienste (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 Az. 9 RVs 2/96, SozR 3-3870 § 4 Nr. 17; Urteil vom 10. August 1993, Az. 9/9a RVs 7/91, SozR 3-3870 § 48 Nr. 2; Urteil vom 17. März 1982, Az. 9a/9 RVs 6/81, SozR 3870 § 3 Nr. 15 = BSGE 53, 175).

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Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der schwerbehinderte Mensch wegen seines Leidens ständig, d.h. allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist, also allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit solcher Veranstaltungen teilnehmen kann. Bei der vom BSG vertretenen Auslegung muss der schwerbehinderte Mensch praktisch an das Haus gebunden sein, um seinen Ausschluss an öffentlichen Veranstaltungen begründen zu können. Es kommt nicht darauf an, ob jene Veranstaltungen, an denen er noch teilnehmen kann, seinen persönlichen Vorlieben, Bedürfnissen, Neigungen und Interessen entsprechen. Sonst müsste jeder nach einem anderen, in sein Belieben gestellten Maßstab von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. Das wäre mit dem Gebührenrecht nicht vereinbar, denn die Gebührenpflicht selbst wird nicht allein nach dem individuell unterschiedlichen Umfang der Sendungen, an denen die einzelnen Teilnehmer interessiert sind, bemessen, sondern nach dem gesamten Sendeprogramm. Mit dieser sehr engen Auslegung soll gewährleistet werden, dass der Nachteilsausgleich "RF" nur Personengruppen zugute kommt, die den gesetzlich ausdrücklich genannten Schwerbehinderten (Blinden und Hörgeschädigten) und den aus wirtschaftlicher Bedrängnis sozial Benachteiligten vergleichbar sind.

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Nach der zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts muss praktisch eine Bindung ans Haus bestehen, um den Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen zu begründen. Eine solche Bindung an das Haus besteht hier nicht. Die Klägerin trägt selbst vor, zur Fortbewegung auf die Benutzung eines Autos angewiesen zu sein. Auch nach ihrem Vorbringen kann sie Autofahrten in umliegende Städte und Gemeinden unternehmen, die sie aufgrund ihrer Blasenschwäche aber häufig unterbrechen muss. Diese Mobilität reicht auch für die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen aus. Für Kinobesuche, Besuche von Märkten oder Messen ist die Klägerin nicht wesentlich eingeschränkt, denn nach dem Gutachten von Prof. Dr. R. muss sie dabei nur alle 20 bis 30 Minuten eine Toilettenpause einlegen. Auch der Besuch von Kirche, Oper oder Theater oder anderen Veranstaltungen, die nicht durch Toilettenpausen unterbrochen werden können, ist ihr nicht versperrt, weil sie sich dabei auf die Möglichkeit verweisen lassen muss, notfalls mit Hilfsmitteln an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Das BSG verlangt von dem behinderten Menschen die Bereitschaft, Hindernisse zumutbar abzustellen und dazu notfalls vom gewohnten Lebensrhythmus abzuweichen. Behinderte Menschen, die an einer Harninkontinenz mit unwillkürlichem Harnabgang leiden, sind nicht allein aus diesem Grunde gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Denn, wie das BSG wörtlich ausgeführt hat (Urt. v. 12. Febr. 1997, a.a.O., RdNr. 14) "Ihnen ist zuzumuten, Windelhosen zu benutzen, die den Harn bis zu zwei Stunden ohne Geruchsbelästigung für andere Menschen aufnehmen. Dies verstößt weder gegen die Würde des Menschen (Art. 1 Grundgesetz [GG]) noch gegen den Sozialstaatsgrundsatz (Art. 20 Abs. 1 GG)". Diese Rechtsprechung ist auch hier heranzuziehen, denn die Erkrankung der Klägerin in Form einer Dranginkontinenz mit kontrolliertem Harnabgang anstelle einer Harninkontinenz mit unkontrolliertem Abgang stellt keinen wesentlich anders gelagerten Sachverhalt dar, der es rechtfertigen würde, ihr das vorübergehende Tragen von Windelhosen oder anderen geeigneten Hilfsmitteln nicht zuzumuten. Auch anderen Menschen gegenüber bedeutete dies keine unzumutbare Belästigung, weil geruchsneutrale Windelhosen verfügbar sind. Selbst wenn dem BSG in diesem Punkt nicht zu folgen sein sollte, verbleibt der Klägerin noch die Möglichkeit der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen, die problemlos durch wiederholte Toilettengänge unterbrochen werden können.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.


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Referenzen - Gesetze

Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 31. März 2010 - L 7 SB 30/06 zitiert 12 §§.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 20


(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 54


(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig

Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV | § 2 Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“


Die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien sind in der Anlage zu dieser Verordnung#F1_771649als deren Bestandteil festgelegt.

Bundesversorgungsgesetz - BVG | § 35


(1) Solange Beschädigte infolge der Schädigung hilflos sind, wird eine Pflegezulage von 376 Euro (Stufe I) monatlich gezahlt. Hilflos im Sinne des Satzes 1 sind Beschädigte, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtun

Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB 9 2018 | § 146 Periodizität und Berichtszeitraum


Die Erhebungen erfolgen jährlich für das abgelaufene Kalenderjahr.

Referenzen

(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein.

(2) Der Kläger ist beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist. Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

(3) Eine Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts kann mit der Klage die Aufhebung einer Anordnung der Aufsichtsbehörde begehren, wenn sie behauptet, daß die Anordnung das Aufsichtsrecht überschreite.

(4) Betrifft der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, so kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig die Leistung verlangt werden.

(5) Mit der Klage kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte.

Die Erhebungen erfolgen jährlich für das abgelaufene Kalenderjahr.

(1) Solange Beschädigte infolge der Schädigung hilflos sind, wird eine Pflegezulage von 376 Euro (Stufe I) monatlich gezahlt. Hilflos im Sinne des Satzes 1 sind Beschädigte, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder Anleitung zu den in Satz 2 genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muß, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Ist die Gesundheitsstörung so schwer, daß sie dauerndes Krankenlager oder dauernd außergewöhnliche Pflege erfordert, so ist die Pflegezulage je nach Lage des Falles unter Berücksichtigung des Umfangs der notwendigen Pflege auf 642, 916, 1 174, 1 524 oder 1 876 Euro (Stufen II, III, IV, V und VI) zu erhöhen. Für die Ermittlung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage sind die in der Verordnung zu § 30 Abs. 17 aufgestellten Grundsätze maßgebend. Blinde erhalten mindestens die Pflegezulage nach Stufe III. Hirnbeschädigte mit einem Grad der Schädigungsfolgen von 100 erhalten eine Pflegezulage mindestens nach Stufe I.

(2) Wird fremde Hilfe im Sinne des Absatzes 1 von Dritten aufgrund eines Arbeitsvertrages geleistet und übersteigen die dafür aufzuwendenden angemessenen Kosten den Betrag der pauschalen Pflegezulage nach Absatz 1, wird die Pflegezulage um den übersteigenden Betrag erhöht. Leben Beschädigte mit ihren Ehegatten, Lebenspartnern oder einem Elternteil in häuslicher Gemeinschaft, ist die Pflegezulage so zu erhöhen, dass sie nur ein Viertel der von ihnen aufzuwendenden angemessenen Kosten aus der pauschalen Pflegezulage zu zahlen haben und ihnen mindestens die Hälfte der pauschalen Pflegezulage verbleibt. In Ausnahmefällen kann der verbleibende Anteil bis zum vollen Betrag der pauschalen Pflegezulage erhöht werden, wenn Ehegatten, Lebenspartner oder ein Elternteil von Pflegezulageempfängern mindestens der Stufe V neben den Dritten in außergewöhnlichem Umfang zusätzliche Hilfe leisten. Entstehen vorübergehend Kosten für fremde Hilfe, insbesondere infolge Krankheit der Pflegeperson, ist die Pflegezulage für jeweils höchstens sechs Wochen über Satz 2 hinaus so zu erhöhen, dass den Beschädigten die pauschale Pflegezulage in derselben Höhe wie vor der vorübergehenden Entstehung der Kosten verbleibt. Die Sätze 2 und 3 gelten nicht, wenn der Ehegatte, Lebenspartner oder Elternteil nicht nur vorübergehend keine Pflegeleistungen erbringt; § 40a Abs. 3 Satz 3 gilt.

(3) Während einer stationären Behandlung wird die Pflegezulage nach den Absätzen 1 und 2 Empfängern von Pflegezulage nach den Stufen I und II bis zum Ende des ersten, den übrigen Empfängern von Pflegezulage bis zum Ablauf des zwölften auf die Aufnahme folgenden Kalendermonats weitergezahlt.

(4) Über den in Absatz 3 bestimmten Zeitpunkt hinaus wird die Pflegezulage während einer stationären Behandlung bis zum Ende des Kalendermonats vor der Entlassung nur weitergezahlt, soweit dies in den folgenden Sätzen bestimmt ist. Beschädigte erhalten ein Viertel der pauschalen Pflegezulage nach Absatz 1, wenn der Ehegatte, Lebenspartner oder der Elternteil bis zum Beginn der stationären Behandlung zumindest einen Teil der Pflege wahrgenommen hat. Daneben wird die Pflegezulage in Höhe der Kosten weitergezahlt, die aufgrund eines Pflegevertrages entstehen, es sei denn, die Kosten hätten durch ein den Beschädigten bei Abwägung aller Umstände zuzumutendes Verhalten, insbesondere durch Kündigung des Pflegevertrages, vermieden werden können. Empfänger einer Pflegezulage mindestens nach Stufe III erhalten, soweit eine stärkere Beteiligung der schon bis zum Beginn der stationären Behandlung unentgeltlich tätigen Pflegeperson medizinisch erforderlich ist, abweichend von Satz 2 ausnahmsweise Pflegezulage bis zur vollen Höhe nach Absatz 1, in Fällen des Satzes 3 jedoch nicht über den nach Absatz 2 Satz 2 aus der pauschalen Pflegezulage verbleibenden Betrag hinaus.

(5) Tritt Hilflosigkeit im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 gleichzeitig mit der Notwendigkeit stationärer Behandlung oder während einer stationären Behandlung ein, besteht für die Zeit vor dem Kalendermonat der Entlassung kein Anspruch auf Pflegezulage. Für diese Zeit wird eine Pflegebeihilfe gezahlt, soweit dies in den folgenden Sätzen bestimmt ist. Beschädigte, die mit ihren Ehegatten, Lebenspartnern oder einem Elternteil in häuslicher Gemeinschaft leben, erhalten eine Pflegebeihilfe in Höhe eines Viertels der pauschalen Pflegezulage nach Stufe I. Soweit eine stärkere Beteiligung der Ehegatten, Lebenspartner oder eines Elternteils oder die Beteiligung einer Person, die den Beschädigten nahesteht, an der Pflege medizinisch erforderlich ist, kann in begründeten Ausnahmefällen eine Pflegebeihilfe bis zur Höhe der pauschalen Pflegezulage nach Stufe I gezahlt werden.

(6) Für Beschädigte, die infolge der Schädigung dauernder Pflege im Sinne des Absatzes 1 bedürfen, werden, wenn geeignete Pflege sonst nicht sichergestellt werden kann, die Kosten der nicht nur vorübergehenden Heimpflege, soweit sie Unterkunft, Verpflegung und Betreuung einschließlich notwendiger Pflege umfassen, unter Anrechnung auf die Versorgungsbezüge übernommen. Jedoch ist den Beschädigten von ihren Versorgungsbezügen zur Bestreitung der sonstigen Bedürfnisse ein Betrag in Höhe der Beschädigtengrundrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 100 und den Angehörigen ein Betrag mindestens in Höhe der Hinterbliebenenbezüge zu belassen, die ihnen zustehen würden, wenn Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben wären. Bei der Berechnung der Bezüge der Angehörigen ist auch das Einkommen der Beschädigten zu berücksichtigen, soweit es nicht ausnahmsweise für andere Zwecke, insbesondere die Erfüllung anderer Unterhaltspflichten, einzusetzen ist.

Die in § 1 genannten Grundsätze und Kriterien sind in der Anlage zu dieser Verordnung*als deren Bestandteil festgelegt.

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.