Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 19. Mai 2015 - L 3 R 276/13

ECLI:ECLI:DE:LSGST:2015:0519.L3R276.13.0A
bei uns veröffentlicht am19.05.2015

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI).

2

Der am ... 1963 geborene Kläger leidet an einer angeborenen komplexen Störung beider Augen mit hoher Kurzsichtigkeit und geringer Stabsichtigkeit und Begleitschielen beidseits. Er erlernte nach dem zehnjährigen Besuch einer allgemeinbildenden Schule den Beruf des Malers (1980 bis 1982) und arbeitete in diesem Beruf bis zum Jahr 1985. Anschließend arbeitete er nach eigenen Angaben als Gerüstbauer/Dachdecker (1985 bis 1993), Verkaufsberater (1993 bis 1996), Dachdecker (1997 bis 2002), Möbelträger (2002 bis 2004) und nach einer Umschulung zum Bürokaufmann (2004 bis 2007) als Bürokraft (2007 bis 2009). Seitdem ist der Kläger arbeitslos. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 anerkannt.

3

Am 21. Oktober 2009 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung. Der Beklagten lagen im Verwaltungsverfahren verschiedene Arztbriefe und ein augenärztliches Gutachten der Fachärztin für Augenheilkunde Dr. L. vom 9. Januar 2004 mit den Diagnosen hohe Kurzsichtigkeit kombiniert mit Stabsichtigkeit beidseits, Altersweitsichtigkeit beidseits und Augenzittern aus einem vorhergehenden Verwaltungsverfahren betreffend Leistungen zur medizinischen Rehabilitation bzw. zur Teilhabe am Arbeitsleben vor, wonach der Kläger als Maler und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt täglich sechs Stunden und mehr tätig sein könne. Die Beklagte holte einen Befundbericht von der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. G. vom 29. Oktober 2009 ein, in dem diese die Diagnosen Hypertonie, Sehbehinderung/Glaukomverdacht und Spondylose benannte und insgesamt eine Befundverschlechterung beider Augen mitteilte. Nach Einholung einer sozialmedizinischen Stellungnahme lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers mit Bescheid vom 30. November 2009 ab. Der Kläger sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert und könne trotz seiner Beeinträchtigungen - hohe Kurzsichtigkeit kombiniert mit Stabsichtigkeit beidseits, Altersweitsichtigkeit, Augenzittern und Entzündung der Iris - noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sein. Dagegen erhob der Kläger am 17. Dezember 2009 Widerspruch. Er habe bislang unberücksichtigte Probleme mit den Rückenwirbeln, welche häufig zu Nervenentzündungen und starken Schmerzen führten. Auch durch seine Augenerkrankung könne er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr vollschichtig tätig sein, zumal sich seine gesundheitliche Verfassung zunehmend verschlechtere. Die Beklagte holte im Widerspruchsverfahren einen Befundbericht der Fachärztin für Augenheilkunde Dr. H. vom 21. Juli 2010 ein, in dem diese die Diagnosen

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RA/LA Uveitis anterior mit Hornhautbeteiligung und sekundärem Tensionsanstieg rechts bei Verdacht a. herpetische Genese rechts/links: grüner Star,

5

Amblyopie,

6

RA/LA chronisches Offenwinkelglaukom, hohe Myopie, alternierende Esotropie, Nystagmus

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benannte. Die Beklagte veranlasste ferner eine Begutachtung des Klägers durch den Facharzt für Augenheilkunde und Arbeitsmedizin Privatdozent (PD) Dr. M., der im Gutachten vom 4. August 2010 die Diagnosen

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Myopia alta c. astiymatismo (hohe Kurzsichtigkeit),

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Sehschwäche II. Grades (Amblyopie),

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Augenzittern (Nystagmus),

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Grüner Star (Glaukom),

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Hornhautnarben

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benannte und einschätzte, dass der Kläger zwar nicht mehr als Möbeltransporteur und Dachdecker, jedoch als Bürokaufmann tätig sein und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte körperliche Tätigkeiten im Wechsel von Stehen, Gehen und Sitzen in Tagschicht täglich sechs Stunden und mehr verrichten könne. Nach Einholung einer weiteren sozialmedizinischen Stellungnahme wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30. September 2010 unter Wiederholung und Vertiefung der Gründe des Ausgangsbescheides zurück.

14

Dagegen hat der Kläger am 26. Oktober 2010 vor dem Sozialgericht (SG) Halle Klage erhoben und sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt und vertieft.

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Das SG hat zunächst durch Einholung von Befundberichten ermittelt. Hierbei hat der Facharzt für Orthopädie, Chirotherapie, Akupunktur und Sportmedizin Dr. K. im Befundbericht vom 20. Februar 2011 über eine einmalige Untersuchung des Klägers am 16. August 2010 berichtet und die Diagnose lumbales Pseudoradikulärsyndrom benannt. Dr. H. hat im Befundbericht vom 4. Mai 2011 die Diagnosen hohe Kurzsichtigkeit, kurzsichtige Stabsichtigkeit, fortschreitender grüner Star, Augapfelzittern und Zustand nach Entzündung der vorderen Augenabschnitte mit Hornhautbeteiligung angegeben. Dipl.-Med. G. hat im Befundbericht vom 1. Dezember 2011 die Diagnosen Sehbehinderung, Hypertonie, Spondylose und Rückenmuskelinsuffizienz mitgeteilt. Das SG hat außerdem Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von dem Facharzt für Arbeitsmedizin, Innere Medizin und Pneumologie Dr. D., der in seinem Gutachten vom 16. Januar 2013 nach Untersuchung des Klägers am 15. Januar 2013 die Diagnosen

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Deutliche Sehminderung, Kurzsichtigkeit mit Blendempfindlichkeit, vermindertem Nachtsehen, Gesichtsfeldeinschränkung beiderseits, angeborenes Augapfelzittern.

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Abnutzungen der mittleren und unteren Wirbelsäule, Verbiegung (Skoliose),

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Bluthochdruck,

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Fettsucht mittelgradig nach ICD-10, Body-Mass-Index 35,5 kg/m²,

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Anamnestisch Nickelallergie,

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Erhöhung der Blutfette

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gestellt hat. Das verbliebene Sehvermögen habe es dem Kläger ermöglicht, sich im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung rasch und sicher in den ihm unbekannten Praxisräumen zu bewegen. Der Kläger könne noch leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten ohne Zwangshaltungen täglich mindestens sechs Stunden und ohne arbeitsunübliche Pausen verrichten. Seine Gehfähigkeit sei nicht eingeschränkt und er könne auch öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Ein Kraftfahrzeug könne der Kläger allerdings nicht führen.

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Das SG hat die Klage mit Urteil vom 5. Juni 2013 abgewiesen. Der Kläger sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert.

24

Gegen das ihm am 19. Juni 2013 zugestellte Urteil hat der Kläger am 12. Juli 2013 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt. Er könne sich während der Dämmerung und morgens bzw. abends im Dunkeln nicht orientieren und sei deshalb nicht wegefähig. Durch das Augapfelzittern sei es ihm ferner nicht möglich, feste Punkte, insbesondere eine Schrift, auf einem Bildschirm zu fokussieren. Eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei ihm auch nur mit einer Assistenz möglich. Der Arbeitsmarkt sei ihm deshalb verschlossen.

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Der Kläger beantragt,

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das Urteil des SG Halle vom 5. Juni 2013 und den Bescheid der Beklagten vom 30. November 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. September 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 1. Oktober 2009 Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung zu bewilligen.

27

Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

29

Sie hält das Urteil des SG und ihren angefochtenen Bescheid für zutreffend.

30

Vom 1. September 2013 bis zum 31. August 2014 hat der Kläger ehrenamtlich als Museumsführer in der "Brikettfabrik H." in Z. gearbeitet. Wegen der hierzu vom Senat eingeholten Arbeitgeberauskunft bei dem M. Umwelt- und Technikpark e.V. wird auf Blatt 173 bis 174 der Gerichtsakten Bezug genommen. Ausweislich einer dem Senat hierzu telefonisch erteilten Auskunft des M. Umwelt- und Technikpark e.V. vom 7. Januar 2014 ist der Kläger anlässlich der von ihm dabei durchgeführten Museumsführungen jeweils von Angehörigen gebracht und wieder abgeholt worden.

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Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von dem Facharzt für Augenheilkunde Prof. Dr. S., der in seinem Gutachten vom 1. Oktober 2014 nach Untersuchung des Klägers am 15. September 2014 die Diagnosen

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Angeborene komplexe Störung beider Augen mit

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hoher Kurzsichtigkeit (Myopie) und geringer Stabsichtigkeit (Astigmatismus) beidseits und

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Begleitschielen beidseits nach innen, vorwiegend des rechen Auges (Strabismus convergens concomitans alternans praecipoe oculi dextri) und leichter angeborener Sehschwäche (Ambylopie) rechts sowie Augenzittern (Nystagmus) beidseits,

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Grüner Star (primäres Offenwinkelglaukom) beider Augen seit 2008,

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Hornhautnarben mit erhöhter Blendungsempfindlichkeit beider Augen, wahrscheinlich nach einer virusbedingten Hornhautentzündung (Keratonkonjunktivitis epidemica?) 2009,

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Beginnender Altersstar (Cataracta praesenilis incipiens) beider Augen,

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Beginnende Altersweitsichtigkeit (Presbyopie) beider Augen

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gestellt hat. Die beim Kläger bestehenden Augenerkrankungen hätten zu einer weiteren Abnahme der Sehschärfe beider Augen für Ferne und Nähe geführt. Es bestehe eine mittelschwere Sehbehinderung der Stufe III, bei der die Grenze für eine normale Lesefähigkeit bei altersentsprechender optischer Korrektur und normalen Leseabstand unterschritten sei. Bei Weglassen der Brillenkorrektur lasse die hohe Kurzsichtigkeit noch bis zu 0,2 Meter Entfernung vor den Augen das Lesen üblicher Schriftzeichen zu. Der Kläger sei aber auch im Hinblick auf allgemeine Beschwerden des Geh- und Bewegungsapparates in der Lage, regelmäßig an fünf Tagen in der Woche körperlich leichte bzw. bis zu 5 Prozent der Arbeitszeit auch mittelschwere körperliche Tätigkeiten im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen, wegen fehlenden räumlichen Sehens in bekannter Umgebung ohne Unfallgefährdung, täglich sechs Stunden und mehr zu verrichten. Entsprechende Tätigkeiten sollten möglichst in geschlossenen Räumen ausgeführt werden, seien dem Kläger aber wechselweise auch unter Witterungsschutz im Freien möglich. Zu vermeiden seien Umwelteinflüsse, wie starke Temperaturschwankungen, Zugluft, Nässe, Staub, Gas, Dampf und Rauch, die eine Reizwirkung auf die Augen ausübten und das Sehen zusätzlich behinderten. Die Gebrauchsfähigkeit beider Hände sei wegen der Einschränkung der optischen Kontrolle der Handarbeit und der damit verbundenen erhöhten psychischen Belastungen eingeschränkt. Daher seien Arbeiten mit einseitigen körperlichen Belastungen sowie Arbeiten in Wechselschicht, Nachtschicht, unter besonderem Zeitdruck und mit häufigem Publikumsverkehr zu vermeiden. Der Kläger könne nicht mehr am Fließband, an rotierenden Maschinenteilen, auf Leitern und Gerüsten und in unübersichtlicher Umgebung tätig sein und auch keine Arbeiten mit erhöhter Unfallgefährdung verrichten. Er sei Arbeiten mit bis zu geistig mittelschwierigen Anforderungen und durchschnittlichen Anforderungen an Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit gewachsen. An Reaktionsfähigkeit, Übersicht, Aufmerksamkeit seien aufgrund herabgesetzter Sehschärfe nur geringe Anforderungen zu stellen. Sich stets wiederholende körperliche Verrichtungen wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Kleben, Sortieren, Verpacken und Zusammensetzen von Teilen könnten gut ausgeführt werden. Das Bedienen von Maschinen mit rotierenden oder sonstigen beweglichen Teilen sollte wegen der Unfallgefährdung allerdings vermieden werden. Eine Verbesserung des Sehvermögens des Klägers ließe sich gegebenenfalls durch eine optimale Brillenkorrektur für Arbeiten an Bildschirmgeräten mit besonderer Maskeneinstellung erreichen. Mit optimaler Brillenkorrektur für Ferne und Nähe könnten viele Büroarbeiten und kaufmännische Arbeiten ausreichend gut wahrgenommen werden. Innerhalb einer sechsstündigen andauernden Arbeitsschicht sollte der Kläger zwei zeitlich gleichmäßig verteilte viertelstündige Ruhepausen einlegen. Betriebsübliche Pausen von einer halbstündigen oder zwei viertelstündigen Ruhepausen seien aufgrund der Sehbeeinträchtigung durch zwei Kurzpausen für jeweils fünf bis sieben Minuten zur zusätzlichen Erholung, aber auch zur Applikation der notwendigen Augenmedikamente einzulegen. Länge und Verteilung der Pausen könnten aber den Erfordernissen des Betriebsablaufs angepasst werden. Die Gehfähigkeit des Klägers auf gesicherten Wegen sei nicht eingeschränkt. Auch könne der Kläger viermal täglich Fußwege von mehr als 500 Meter in einem Zeitraum von 20 Minuten ohne weitere Beschwerden zurücklegen und außerdem öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Ein Kraftfahrzeug könne der Kläger nicht führen. Soweit der Kläger außerdem über nachhaltige Schmerzen im LWS-Bereich und in den Extremitäten geklagt habe und Dr. K. dem Kläger insoweit ein lumbales pseudoradikuläres Syndrom bescheinige, sei eine weitere Begutachtung des Klägers auf orthopädischem Fachgebiet erforderlich.

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Hierauf hat der Senat einen weiteren Befundbericht von Dr. K. eingeholt, der im Befundbericht vom 19. Februar 2015 mitgeteilt hat, den Kläger lediglich einmalig am 16. August 2010 gesehen zu haben und im Kopie seinen bereits für das SG erstellten Befundbericht vom 20. Februar 2011 beigefügt hat.

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Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§§ 153 Abs. 1, 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Bewilligung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung.

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Rechtlicher Anknüpfungspunkt ist § 43 SGB VI. Danach haben Versicherte einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (§ 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 SGB VI). Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

44

Der Kläger ist nicht voll erwerbsgemindert. Nach dem Ergebnis der vom erkennenden Senat, dem SG und von der Beklagten durchgeführten Ermittlungen kann der Kläger hingegen seit der Rentenantragstellung auch unter Berücksichtigung der bei ihm bestehenden Erkrankungen unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes an fünf Tagen pro Woche mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein. Er ist damit weder voll noch teilweise erwerbsgemindert. Dabei geht der Senat von folgendem Leistungsbild aus:

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Der Kläger kann noch zumindest leichte körperliche Tätigkeiten im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen, wegen fehlenden räumlichen Sehens in bekannter Umgebung und ohne Unfallgefährdung verrichten. Er sollte möglichst in geschlossenen Räumen arbeiten, kann aber auch im Freien unter Witterungsschutz tätig sein. Der Kläger ist Arbeiten mit bis zu geistig mittelschwierigen Anforderungen und durchschnittlichen Anforderungen an Verantwortungsbewusstsein, Zuverlässigkeit, Reaktionsfähigkeit, Übersicht, Aufmerksamkeit gewachsen. Zu vermeiden sind Umwelteinflüsse wie starke Temperaturschwankungen, Zugluft, Nässe, Staub, Gas, Dampf und Rauch, da diese eine Reizwirkung auf die Augen ausüben und das Sehen zusätzlich behindern. Die Gebrauchsfähigkeit beider Hände besteht und ist allein im Hinblick auf eine eingeschränkte optische Kontrolle der Handarbeit eingeschränkt. Ausgeschlossen sind ferner Arbeiten mit einseitigen körperlichen Belastungen sowie Arbeiten in Wechselschicht, Nachtschicht, unter besonderem Zeitdruck und mit häufigem Publikumsverkehr. Der Kläger kann zudem nicht mehr am Fließband, an rotierenden Maschinenteilen, auf Leitern und Gerüsten und in unübersichtlicher Umgebung tätig sein und auch keine Arbeiten mit erhöhter Unfallgefährdung verrichten.

46

Dieses Leistungsbild ergibt sich für den Senat insbesondere aus den Gutachten des Dr. D. vom 16. Januar 2013 und Prof. Dr. S. vom 1. Oktober 2014. Im Vordergrund der Beschwerden des Klägers stehen die angeborene komplexe Störung beider Augen (hohe Kurzsichtigkeit und geringe Stabsichtigkeit, Begleitschielen beidseits, Augenzittern beidseits), ein Grüner Star seit dem Jahr 2008, Hornhautnarben mit erhöhter Blendungsempfindlichkeit beider Augen, ein beginnender Altersstar und eine Altersweitsichtigkeit beider Augen. Daneben besteht bei dem Kläger auf orthopädischem Fachgebiet ein lumbales pseudoradikuläres Syndrom, welches jedoch zu keinen weiteren Leistungseinschränkungen als oben dargelegt, führt. Ausweislich der von Dr. K. im Befundbericht vom 19. Februar 2015 mitgeteilten einzigen Behandlung des Klägers von Wirbelsäulenbeschwerden am 16. August 2010 besteht offenbar keine weitere Behandlungsbedürftigkeit dieser Erkrankung. Zu weiteren Ermittlungen auf orthopädischem Fachgebiet hat sich der Senat deshalb nicht veranlasst gesehen, zumal der Gutachter Dr. D. die Abnutzungserscheinungen der mittleren und unteren Wirbelsäule sozialmedizinisch gewürdigt und qualitative vom Senat dementsprechend berücksichtigte Leistungseinschränkungen ermittelt hat.

47

Eine rentenrelevante Minderung des Restleistungsvermögens folgt aus den damit vorwiegend auf augenärztlichem Fachgebiet liegenden Einschränkungen des Klägers nach der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. S., der sich der Senat weitgehend anschließt, nicht. Diese Leistungseinschätzung beruht auf einer eingehenden Befunderhebung und Untersuchung des Klägers sowie umfassenden Auswertung sämtlicher zum Untersuchungszeitpunkt vorliegenden medizinischen Unterlagen und würdigt nachvollziehbar die beim Kläger festgestellten Gesundheitsstörungen. Soweit der Sachverständige einschätzt, dass der Kläger keine Arbeiten mit häufigem Publikumsverkehr erbringen kann, geht der Senat jedoch von einem demgegenüber größeren Leistungsvermögen des Klägers aus. Die vom Kläger bis August 2014 ausgeübte ehrenamtliche Tätigkeit als Museumsführer zeigt nämlich nicht nur, dass er sich im öffentlichen Raum sicher bewegen kann, sondern auch, dass er zu regelmäßigen Arbeiten mit Publikumsverkehr in der Lage ist und nicht lediglich geringen, sondern durchschnittlichen Anforderungen an Reaktionsfähigkeit, Übersicht, Aufmerksamkeit genügt.

48

Bei dem Kläger liegt außerdem weder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, die trotz des Leistungsvermögens von mehr als sechs Stunden täglich zur Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarktes führen würden. Die Beklagte war daher nicht verpflichtet, vor diesem Hintergrund einen konkreten Arbeitsplatz zu benennen (vgl. dazu Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 19. Oktober 2011 - B 13 R 78/09 R -, juris; Beschluss des Großen Senats (GS) des BSG vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 - SozR 3-2600 § 44 Nr. 8 = BSGE 80, 24, 33 f.) Das Leistungsvermögen des Klägers reicht trotz des verminderten Sehvermögens bei voller Gebrauchsfähigkeit beider Hände vielmehr noch für Tätigkeiten, Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Kleben, Sortieren, Verpacken und Zusammensetzen von Teilen aus.

49

Auch liegt bei dem Kläger kein sonstiger sog. Katalog- oder Seltenheitsfall vor, der zu einer Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarktes führen könnte. Der Arbeitsmarkt gilt auch dann als verschlossen, wenn einem Versicherten die so genannte Wegefähigkeit fehlt. Zur Erwerbsfähigkeit gehört auch das Vermögen, einen Arbeitsplatz aufsuchen zu können. Dabei ist ein abstrakter Maßstab anzuwenden. Ein entsprechender Katalogfall liegt nicht vor, soweit ein Versicherter in Ballungsgebieten (vgl. Freudenberg, in: juris-Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, § 43 Rdnr. 211 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 21. Februar 1989 - 5 RJ 61/88 -, SozR 2200 § 1247 Nr. 56) täglich viermal Wegstrecken von knapp mehr als 500 m mit einem zumutbaren Zeitaufwand von bis zu 20 Minuten zu Fuß zurücklegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Mobilitätshilfen benutzen kann (vgl. dazu etwa BSG, Urteil vom 12. Dezember 2011 - B 13 R 79/11 R -, juris; BSG, Urteil vom 14. März 2002 - B 13 RJ 25/01 R -, juris). Nach den Feststellungen des Sachverständigen kann der Kläger auf gesicherten Wegen täglich viermal Wegstrecken von knapp mehr als 500 m mit einem zumutbaren Zeitaufwand von bis zu 20 Minuten zu Fuß zurücklegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten benutzen. Soweit die zur Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht gehörende Straßenbeleuchtung öffentlicher Straßen (DIN 13201-1) dem Kläger gelegentlich - etwa während der Dämmerung im Winter - nicht ausreichend erscheint, ist er auf eine ihm zumutbare und kurzzeitige Verwendung einer Taschenlampe zur ergänzenden Ausleuchtung seines Weges zu verweisen (vgl. zum Krück- und Blindenstock als zumutbares Hilfsmittel: Bayerisches LSG, Urteil vom 9. September 2004 - L 14 RJ 32/04 -, juris).

50

Für die Notwendigkeit betriebsunüblicher Pausen lassen sich aus dem Gutachten von Prof. Dr. S. keine hinreichenden Gesichtspunkte ableiten. Allein mit der Notwendigkeit, überhaupt eine Pause während der Arbeitszeit einlegen zu müssen, lässt sich für einen Arbeitnehmer nämlich auch bei einem auf sechs Stunden täglich begrenzten Leistungsvermögen keine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes belegen (vgl. Urteil des Senats vom 25. September 2013 - L 3 R 346/11 - m.w.N. auch zur BSG-Rechtsprechung). Der Senat ist der Auffassung, dass sich bei der Notwendigkeit für einen Versicherten, während eines üblichen Arbeitstages eine halbstündige und eine viertelstündige Pause einzulegen, kein Rentenanspruch ergibt. Insoweit führen auch die vom Sachverständigen benannten zwei weiteren Kurzpausen von fünf bis sieben Minuten insbesondere zur Anwendung von Augentropfen nicht zu unüblichen Arbeitsbedingungen (vgl. zu unüblichen Arbeitsbedingungen Senat, a.a.O.), zumal der Sachverständige auch selbst eingeschätzt hat, dass diese Arbeitsunterbrechungen den Erfordernissen des Betriebsablaufs angepasst werden können und insoweit kein zwingendes Mindestmaß darstellen. Für die Verabreichung der Augentropfen kann der Kläger deshalb neben den nach dem Arbeitszeitgesetz vorgeschriebenen Pausen die sogenannten Verteilzeiten nutzen (vgl. zur insoweit vergleichbaren Insulingabe bei Diabetes Urteil des Senats vom 21. Mai 2014 - L 3 R 185/12 -). Eine Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger deshalb eine Verweisungstätigkeit zu benennen, bestand demnach nicht.

51

Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI ist ausgeschlossen, denn der Kläger ist am 8. Dezember 1963 und mithin nach dem 1. Januar 1961 geboren.

52

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

53

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.


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Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 19. Mai 2015 - L 3 R 276/13 zitiert 7 §§.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 43 Rente wegen Erwerbsminderung


(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie 1. teilweise erwerbsgemindert sind,2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 240 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit


(1) Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze auch Versicherte, die 1. vor dem 2. Januar 1961 geboren und2. berufsunfähigsind. (2) Berufsunfähig

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Bundessozialgericht Urteil, 19. Okt. 2011 - B 13 R 78/09 R

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Tenor Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 30. September 2009 aufgehoben.

Referenzen

(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1.
teilweise erwerbsgemindert sind,
2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

(2) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie

1.
voll erwerbsgemindert sind,
2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind auch
1.
Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und
2.
Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.

(3) Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

(4) Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich um folgende Zeiten, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind:

1.
Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit,
2.
Berücksichtigungszeiten,
3.
Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach Nummer 1 oder 2 liegt,
4.
Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung.

(5) Eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit ist nicht erforderlich, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist.

(6) Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren und seitdem ununterbrochen voll erwerbsgemindert sind, haben Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie die Wartezeit von 20 Jahren erfüllt haben.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 30. September 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

I. Der Kläger begehrt Rente wegen Erwerbsminderung.

2

Der 1964 geborene Kläger ist gelernter Instandhaltungsmechaniker und war zuletzt von 1997 bis 2004 als LKW-Fahrer beschäftigt. Im Januar 2004 kam es zu einem Arbeitsunfall, der ua die Amputation seines linken Unterarms zur Folge hatte. Im März 2004 erlitt er einen Herzinfarkt. Der Kläger erhält Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung wegen des Arbeitsunfalls.

3

Den im August 2004 gestellten Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung lehnte die Beklagte ab, weil weder volle noch teilweise Erwerbsminderung vorliege (Bescheid vom 17.8.2005). Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24.1.2007). Das SG Gotha hat die Beklagte verurteilt, Rente wegen voller Erwerbsminderung befristet vom 1.2.2005 bis zum 31.1.2009 zu gewähren (Urteil vom 4.3.2008). Das Leistungsvermögen des Klägers sei auf leichte Arbeiten begrenzt, die er grundsätzlich sechs bis acht Stunden täglich mit Einschränkungen verrichten könne. Es liege jedoch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung mit der Pflicht zur Benennung einer Verweisungstätigkeit vor, da er die linke Hand nach Amputation des Unterarms allenfalls als Beihand einsetzen könne. Für solche leistungseingeschränkten Versicherten sei der allgemeine Arbeitsmarkt nicht als offen anzusehen. Die von der Beklagten benannten leichten Montier-, Sortier-, Verpacker- oder Kontrolleurtätigkeiten könne der Kläger nicht ausüben, weil es sich um bimanuelle Tätigkeiten handele. Auch eine Tätigkeit als Pförtner oder Telefonist scheide aus, da der Kläger dem damit verbundenen Zeitdruck nach der Einschätzung des Sachverständigen Dr. K. nicht gewachsen sei.

4

Das LSG hat das Urteil des SG auf die Berufung der Beklagten aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 30.9.2009). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei nach den Feststellungen des vom SG gehörten Sachverständigen noch in der Lage, eine Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts zu verrichten. Die linksseitige Unterarmamputation sowie die Schmerzsymptomatik im Bereich der Lenden- und Halswirbelsäule erforderten allerdings eine Begrenzung auf körperlich leichte Arbeiten. Wegen der orthopädischen Leiden und der Schmerzzustände im Bereich der Lenden- und Halswirbelsäule seien Tätigkeiten mit längeren Zwangshaltungen, Überkopfarbeiten, häufigem Klettern oder Gehen auf unebenen Böden, Tätigkeiten mit Absturzgefahr auf Leitern und Gerüsten sowie lang anhaltende Vibrationen und Erschütterungen nicht zuzumuten. Die koronare Herzerkrankung und der arterielle Hypertonus erlaubten keine Nachtschichten und Überstunden, keine Tätigkeiten mit besonderer Verantwortung für Mensch und Technik, besondere geistige und seelische Beanspruchung sowie auch taktgebundene Arbeiten oder Arbeiten unter Zeitdruck. Der Zugang zu alkoholischen Getränken sollte während der Arbeitszeit wegen der Alkoholerkrankung nicht ermöglicht werden. Tätigkeiten mit besonderen manuellen Anforderungen bzw bimanuelle Tätigkeiten seien dem Kläger ebenfalls nicht möglich. Diese qualitativen Einschränkungen stünden einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den üblichen Bedingungen nicht entgegen. Insbesondere könne der Kläger eine zumutbare Wegstrecke zurücklegen.

5

Dem Kläger sei eine konkrete Verweisungstätigkeit nicht zu benennen. Dabei sei schon fraglich, ob eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliege. Die - zu dem vor dem 1.1.2001 geltenden Recht - ergangene Rechtsprechung zur Prüfung und Feststellung von Rentenansprüchen wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit im Falle der Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder des Vorliegens einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung könne auf das aktuelle Recht nicht übertragen werden. Bereits der Wortlaut "übliche Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts" schließe eine konkrete, dh individualisierte Betrachtungsweise aus. Die Gesetzesbegründung sei in sich widersprüchlich, wenn dort auf die Entscheidung des Großen Senats (BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8) verwiesen werde, wonach mit "konkreter Betrachtungsweise" - dann aber anders als das BSG - arbeitsmarktbedingte Erwerbsminderungsrenten gemeint seien. Unter dem "allgemeinen Arbeitsmarkt" verstehe die Gesetzesbegründung "jede nur denkbare Tätigkeit, die es auf dem Arbeitsmarkt gebe". Hingegen erfasse die Rechtsprechung des BSG damit nur körperlich leichte und fachlich einfache Arbeiten (Hinweis auf das Senatsurteil vom 23.5.2006 - B 13 RJ 38/05 R - BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 9). Zudem habe der Gesetzgeber eine spezielle zeitliche Komponente eingeführt (sechs Stunden und mehr). Auch dies verbiete eine Fortgeltung der Rechtsprechung zur Summierung. Der Gesetzgeber habe vielmehr den gesamten Komplex der Benennung von Verweisungstätigkeiten einschränken bzw abschaffen wollen.

6

Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 43 SGB VI. Zu Unrecht gehe das LSG davon aus, dass es auf die bei ihm vorliegende schwere spezifische Leistungseinschränkung nicht ankomme. Auch die aktuelle Rechtslage erfordere eine individuelle Betrachtung mit der Folge, dass bei Vorliegen einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen Erwerbsfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts nur gegeben sei, wenn eine konkrete Verweisungstätigkeit benannt werden könne. Daran fehle es hier.

7

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 30. September 2009 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 4. März 2008 zurückzuweisen.

8

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

9

Sie meint, § 43 SGB VI in der seit 2001 geltenden Fassung enthalte nicht nur neue Begrifflichkeiten, sondern auch neue Beurteilungsmaßstäbe. Bei den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts handele es sich um objektive Maßstäbe. Solange ein Versicherter vollschichtig, ohne betriebsunübliche Pausen und ohne infolge einer ekelerregenden Krankheit für andere Betriebsangehörige unzumutbar zu sein, irgendeine Arbeit des allgemeinen Arbeitsmarkts verrichten und den Weg zum Arbeitsplatz zurücklegen könne, sei er nicht erwerbsgemindert. Selbst wenn die konkrete Betrachtungsweise bei Versicherten mit einer Summierung von ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung beibehalten werde, ändere dies hier im Ergebnis nichts. Das Fehlen des linken Unterarms müsse nicht zwangsläufig eine schwere spezifische Leistungsbehinderung sein, etwa wenn eine Prothese getragen und der Arm noch zur Unterstützung verwendet werde. Tätigkeiten eines Nebenpförtners könnten durchaus auch an außerhalb eines Betriebs stehende Personen vermittelt werden.

10

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2, § 153 Abs 1, § 165 Halbs 1 SGG).

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision hat im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG kann nicht entschieden werden, ob der Kläger einen Anspruch auf Rente wegen (voller oder teilweiser) Erwerbsminderung hat.

12

1. Der Anspruch richtet sich nach § 43 SGB VI in der Fassung der Bekanntmachung vom 19.2.2002 (BGBl I 754). Bei Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (Abs 1 Satz 1 bzw Abs 2 Satz 1, jeweils Nr 2 und 3) haben danach Versicherte Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind (Abs 1 Satz 1 Nr 1), bzw auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Abs 2 Satz 1 Nr 1). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (Abs 1 Satz 2). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (Abs 2 Satz 2). Erwerbsgemindert ist hingegen nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (Abs 3).

13

2. Nach den Feststellungen des LSG ist der Kläger mit dem ihm verbliebenen Restleistungsvermögen noch in der Lage, mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts eine Tätigkeit zu verrichten. Nicht entschieden werden kann unter Berücksichtigung der qualitativen Leistungseinschränkungen indes, ob der Kläger in der Lage ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auch erwerbstätig zu sein, und ob ihm eine konkrete Verweisungstätigkeit benannt werden muss. Das LSG hat dies offengelassen, da eine Benennung von Verweisungstätigkeiten nach § 43 SGB VI idF des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit(RRErwerbG) vom 20.12.2000 (BGBl I 1827) - § 43 SGB VI nF - generell nicht mehr erforderlich sei.

14

Die Ansicht des LSG hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Grundsätze, die das BSG zur Erwerbsunfähigkeit nach der vor Inkrafttreten des RRErwerbG geltenden Rechtslage herausgearbeitet hat (hierzu a), sind auch für Ansprüche auf Renten wegen Erwerbsminderung nach dem ab dem 1.1.2001 geltenden Recht weiter anzuwenden (hierzu b). Eine Änderung der insoweit maßgeblichen Rechtslage lässt sich weder mit dem Wortlaut des Gesetzes noch der Gesetzesbegründung oder sonstigen Erwägungen begründen (hierzu c). Der im vorliegenden Fall geltend gemachte Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung hängt daher davon ab, ob der Kläger noch unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts im zeitlichen Rahmen erwerbstätig sein kann (hierzu d), bzw ob bei ihm eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, so dass ihm eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen ist (hierzu e). Entsprechende Feststellungen wird das LSG daher nachzuholen haben (hierzu f).

15

a) Nach der zu § 44 SGB VI aF ergangenen Rechtsprechung des BSG war die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit bei Versicherten mit einem, wenn auch mit qualitativen Einschränkungen vollschichtigen Leistungsvermögen für körperlich leichte Tätigkeiten erforderlich, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorlag(BSGE 80, 24, 33 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 26 mwN). Bereits nach den §§ 1246 und 1247 RVO knüpfte der Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit an ein Herabsinken der Fähigkeit des Versicherten an, auf dem Arbeitsmarkt ein Einkommen zu erzielen. Die RVO differenzierte zwischen Renten wegen Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit: Während der Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO ua davon abhängig war, ob dem Versicherten eine ihm nach seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen noch mögliche Berufstätigkeit unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden konnte, setzte der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 Abs 2 RVO voraus, dass der Versicherte eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben konnte. Diese Struktur wurde in den §§ 43 und 44, jeweils aF, SGB VI inhaltlich unverändert übernommen(vgl Blaser, Der Begriff der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts" im Sozialrecht, 2009, S 81 mwN). Das Leistungsvermögen und dessen Umsetzungsfähigkeit war an den individuellen Verhältnissen des Versicherten und den konkreten Bedingungen des Arbeitsmarkts zu messen (BSG stRspr, vgl nur BSGE 80, 24, 31 f = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24 f; BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 5 RdNr 18 und Nr 9 RdNr 18 ff; SozR 3-2600 § 43 Nr 13 S 22 ff, Nr 14 S 41 ff, Nr 17 S 58 ff und Nr 21 S 72 ff).

16

Die Ablehnung einer Rente mangels Minderung der Erwerbsfähigkeit setzte danach regelmäßig die konkrete Benennung zumindest einer Tätigkeit (Verweisungstätigkeit) voraus, die die den Rentenfall begründende Minderung der Erwerbsfähigkeit ausschloss, weil der Versicherte diese Tätigkeit noch ausüben konnte (BSGE 80, 24, 31 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24). Zu benennen war eine Berufstätigkeit mit ihren typischen, das Anforderungsprofil bestimmenden Merkmalen (BSGE 80, 24, 31 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 72 S 229 und Nr 74 S 234; SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 S 229). Die Angabe einzelner Arbeitsvorgänge oder Tätigkeitsmerkmale war hingegen nicht ausreichend (BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 34 S 130 f mwN; Senatsurteil vom 27.3.2007 - B 13 R 63/06 R - Juris RdNr 30). Andererseits war aber auch nicht die Benennung eines konkreten Arbeitsplatzes erforderlich (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 104 S 324). Die zu benennende Tätigkeit musste auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tatsächlich in ausreichendem Umfang vorkommen (BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 28), dh es mussten grundsätzlich mehr als 300 Stellen (besetzt oder offen) vorhanden sein (BSGE 78, 207, 222 f = SozR 3-2600 § 43 Nr 13 S 34 f; BSG Urteil vom 29.7.2004 - B 4 RA 5/04 R - Juris RdNr 24, 33; vom 26.4.2007 - B 4 R 5/06 R - Juris RdNr 18).

17

Abweichend von diesem Grundsatz war die Benennung einer Verweisungstätigkeit dann nicht erforderlich, wenn der Versicherte - wenn auch mit qualitativen Einschränkungen - noch vollschichtig zu mittelschweren oder leichten Arbeiten in der Lage war und auf eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden durfte (BSGE 80, 24, 31 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24 mwN). Auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden durften bei der Prüfung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit grundsätzlich alle Versicherten (BSGE 19, 147, 149 f = SozR Nr 6 zu § 1247 RVO S Aa4; BSG SozR 2200 § 1247 Nr 7 S 12 f; SozR 5850 § 2 Nr 12 S 25; SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 S 18), bei der Prüfung der Rente wegen Berufsunfähigkeit hingegen nur ungelernte Arbeiter bzw sog Angelernte unteren Ranges (BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 21 S 72 f mwN). In diesen Fällen war regelmäßig davon auszugehen, dass das Restleistungsvermögen dem Versicherten noch körperliche Verrichtungen erlaubte, wie sie in ungelernten Tätigkeiten gefordert zu werden pflegen (wie zB Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw). Dem lag die Überlegung zugrunde, dass sich die nicht oder nur ganz wenig qualifizierten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts ("Hilfsarbeiten") einerseits einer knappen Benennung, die aussagekräftig Art und Anforderungen der Tätigkeiten beschreiben würde, entzogen, das Arbeitsfeld andererseits aber so heterogen war, dass mit einem Restleistungsvermögen für körperlich leichte Tätigkeiten jedenfalls noch von ausreichenden Erwerbsmöglichkeiten ausgegangen werden konnte (BSGE 80, 24, 31 ff = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24 ff).

18

Trotz der praktischen Schwierigkeiten war - im Sinne einer Rückausnahme - die konkrete Benennung zumindest einer Verweisungstätigkeit erforderlich, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorlag: In diesen Fällen einer überdurchschnittlich starken Leistungsminderung bestanden - entgegen der oben skizzierten grundsätzlichen Annahme - ernsthafte Zweifel, dass der allgemeine Arbeitsmarkt für die dem Versicherten an sich noch mögliche Vollzeittätigkeit eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen bereithielt oder dass der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar war (BSGE 80, 24, 34 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 27; BSG SozR 2200 § 1246 Nr 104 S 324 und Nr 136 S 434). Auch die Möglichkeit der praktischen Verschlossenheit des Arbeitsmarkts ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung (BSGE 80, 24, 34 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 27).

19

b) Diese Maßstäbe haben - wie bereits der 5. Senat entschieden hat (BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 5 RdNr 18)- auch für die seit dem 1.1.2001 geltende Rechtslage weiterhin Gültigkeit (vgl insoweit auch bereits die Senatsbeschlüsse vom 10.7.2002 - B 13 RJ 101/02 B - Juris RdNr 7 und vom 27.2.2003 - B 13 RJ 215/02 B - Juris RdNr 12). Durch das RRErwerbG wurden die oben skizzierten Voraussetzungen eines Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht abgeschafft, sondern vielmehr für den Anspruch auf Rente wegen (voller oder teilweiser) Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI nF übernommen: Erwerbsfähigkeit iS des § 43 Abs 3 SGB VI nF setzt nicht nur voraus, dass der Versicherte in der Lage ist, "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts eine Tätigkeit zu verrichten", sondern darüber hinaus, dass er damit in der Lage ist, "erwerbstätig" zu sein, dh unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts ein Erwerbseinkommen zu erzielen. Das Tatbestandsmerkmal der Fähigkeit zur Ausübung einer "Erwerbstätigkeit" in § 43 Abs 3 SGB VI nF ist § 44 Abs 2 SGB VI aF entnommen. Das Tatbestandsmerkmal der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts" knüpft an die - oben wiedergegebene - Rechtsprechung des BSG zu den §§ 1246 und 1247 RVO bzw den §§ 43 und 44 SGB VI aF und die dort verwendete Begrifflichkeit an.

20

c) Die vom LSG gegen eine Weitergeltung dieser Grundsätze nach § 43 SGB VI nF angeführten Argumente überzeugen nicht.

21

aa) Insbesondere steht der Wortlaut des Gesetzes einem Vergleich zwischen der individuellen Leistungsfähigkeit des einzelnen Versicherten und den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tatsächlich vorkommenden Erwerbsmöglichkeiten bei der Prüfung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsminderung nicht entgegen, sondern gebietet diesen. Denn die - von § 43 SGB VI nF nach dessen Wortlaut geforderte - Möglichkeit der Erzielung eines Erwerbseinkommens unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts besteht nur, wenn die dem Versicherten noch möglichen Tätigkeiten überhaupt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeübt werden können. Auch die Gesetzesbegründung bringt dies klar zum Ausdruck, indem sie auf die Entscheidung des Großen Senats vom 19.12.1996 ("BSGE 80, 24, 34") Bezug nimmt und ausführt, maßgeblich für die Feststellung des Leistungsvermögens sei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, dh in jeder nur denkbaren Tätigkeit, die es auf dem Arbeitsmarkt gebe, wobei allerdings nur Tätigkeiten in Betracht kämen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich seien. Damit werde sichergestellt, dass für die Feststellung des Leistungsvermögens solche Tätigkeiten nicht in Betracht zu ziehen seien, für die es für den zu beurteilenden Versicherten einen Arbeitsmarkt schlechthin nicht gebe. Der Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente werde nicht allein vom Gesundheitszustand des Versicherten abhängig gemacht (sog abstrakte Betrachtungsweise), sondern auch davon, ob er noch in der Lage sei, bei der konkreten Situation des (Teilzeit-) Arbeitsmarkts die ihm verbliebene Erwerbsfähigkeit zur Erzielung eines Erwerbseinkommens einzusetzen (BT-Drucks 14/4230 S 25). In Bezug genommen werden durch diese Formulierung - entgegen der Ansicht des LSG - die Möglichkeiten der Erzielung eines Erwerbseinkommens auf dem Teilzeit- und dem Vollzeitarbeitsmarkt. Durch den Hinweis auf die Entscheidung des Großen Senats vom 19.12.1996 (BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8) und die Übernahme der dort verwendeten Begrifflichkeit macht die Gesetzesbegründung darüber hinaus deutlich, dass keine Abkehr von der zitierten Rechtsprechung des BSG beabsichtigt war, sondern dass vielmehr an diese angeknüpft werden sollte.

22

bb) Wenn die Gesetzesbegründung (BT-Drucks 14/4230 S 23, 25) den der abstrakten Betrachtungsweise entgegengesetzten Begriff "konkrete Betrachtungsweise" in anderem Zusammenhang gebraucht, nämlich in Bezug auf sog "Arbeitsmarktrenten" bei teilweiser Erwerbsminderung, ändert dies hieran nichts. Jedenfalls kann daraus, dass der Gesetzgeber die sog "Arbeitsmarktrenten" beibehalten wollte, nicht geschlossen werden, dass er die konkrete Betrachtungsweise in Bezug auf die Fähigkeit eines Versicherten, mit seinem individuellen Leistungsvermögen eine Tätigkeit auszuüben, mit der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ein Erwerbseinkommen erzielt werden kann, abschaffen wollte. Hierfür ergeben sich aus der Gesetzesbegründung ebenso wenige Anhaltspunkte wie für die Annahme des LSG, der Gesetzgeber habe "den gesamten Komplex der Benennung von Verweisungstätigkeiten einschränken bzw abschaffen" wollen.

23

Die Gesetzesbegründung benennt als Ausgangspunkt für die Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vielmehr zum einen, dass die Rentenversicherung bei einem beträchtlichen Teil der Versicherten nicht nur das Invaliditätsrisiko, sondern auch das Arbeitsmarktrisiko trage, und zum anderen, dass die Rente wegen Berufsunfähigkeit - wegen der dort typischen Bevorzugung von Versicherten mit besonderer Qualifikation in herausgehobenen Positionen - zunehmend in die Kritik geraten sei (BT-Drucks 14/4230 S 1). Ziel des Gesetzgebers war es damit, das durch die Arbeitslosenversicherung abzusichernde Arbeitsmarktrisiko von dem durch die Rentenversicherung abzusichernden Invaliditätsrisiko sachgerecht abzugrenzen (insbesondere auch durch Erstattungsleistungen der Bundesagentur für Arbeit an die Rentenversicherung, vgl BT-Drucks 14/4230 S 1); weiteres Ziel war die Abschaffung der Rente wegen Berufsunfähigkeit. Der Verzicht auf die Prüfung der Verschlossenheit des Arbeitsmarkts, dh der fehlenden Möglichkeit der Erzielung eines Erwerbseinkommens auf dem konkret offenstehenden Arbeitsmarkt, gehörte - entgegen der Ansicht des LSG - nicht zu den in den Gesetzesmaterialien aufgeführten Zielen. Im Gegenteil legt die Gesetzesbegründung dar, dass eine Erwerbsminderungsrente, bei der (ohne Berücksichtigung der dem Versicherten verbliebenen Möglichkeit, auf dem [Teilzeit-]Arbeitsmarkt ein Erwerbseinkommen zu erzielen) allein auf den Gesundheitszustand des Versicherten abgestellt werden sollte, nicht beabsichtigt war (so ausdrücklich BT-Drucks 14/4230 S 25).

24

cc) Eine Ungleichbehandlung von Versicherten mit unterschiedlicher fachlicher Qualifikation ist darin nicht zu sehen. Es liegt vielmehr in der Natur der Sache, dass ein Versicherter nur auf diejenigen Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts verwiesen werden kann, die er mit seiner individuellen fachlichen Qualifikation auch ausüben kann, da ihm nur mit diesen Tätigkeiten die Erzielung eines Erwerbseinkommens möglich ist.

25

dd) Maßgeblich ist damit für einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung (auch) nach § 43 SGB VI nF, ob der jeweilige Versicherte mit seinem individuellen gesundheitlichen und beruflichen Leistungsvermögen Tätigkeiten ausüben kann, mit denen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ein Erwerbseinkommen zu erzielen ist(so auch Mey, SGb 2007, 217 ff; Blaser, Der Begriff der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts" im Sozialrecht, 2009, S 84 ff; KomGRV, § 43 SGB VI Anm 1.3, 4, 7, Stand April 2008; Gürtner in Kasseler Komm, § 43 SGB VI RdNr 47, Stand April 2010; Kamprad in Hauck/Noftz, K § 43 SGB VI RdNr 31 ff, 41, Stand Juni 2011; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, 3. Aufl, § 43 SGB VI RdNr 81 ff, Stand September 2009; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung im SGB, § 43 SGB VI Anm 2, Stand März 2008; Lange in Jahn, SGB für die Praxis, § 43 SGB VI RdNr 26 ff, Stand Februar 2008; Steiner, SGb 2011, 310 ff; 365 ff; Dünn, MedSach 2011, 131 f; aA Apidopoulos, SGb 2006, 720 ff).

26

d) Im vorliegenden Fall kommt es mithin darauf an, ob der Kläger mit dem ihm verbliebenen Restleistungsvermögen - wenn auch mit qualitativen Einschränkungen - in der Lage ist, zumindest körperlich leichte Tätigkeiten arbeitstäglich für mindestens sechs Stunden zu verrichten, er also in diesem zeitlichen Umfang unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erwerbstätig sein kann (§ 43 Abs 1 Satz 2, Abs 3 Halbs 1 SGB VI). Dies setzt voraus, dass es solche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt überhaupt gibt; nicht entscheidend ist hingegen, ob der Kläger eine konkrete Arbeitsstelle tatsächlich auch findet.

27

aa) Der "allgemeine Arbeitsmarkt" in diesem Sinne umfasst jede nur denkbare Tätigkeit, die es auf dem Arbeitsmarkt gibt (vgl BT-Drucks 14/4230, S 25). Das Merkmal "allgemein" grenzt den Arbeitsmarkt lediglich von Sonderbereichen ab, wie beispielsweise Werkstätten für Behinderte und andere geschützte Einrichtungen (Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung - SGB VI, aaO RdNr 85; Kamprad in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 43 RdNr 35 f, Stand Juni 2011). Eine Beschränkung auf körperlich leichte und fachlich einfache Arbeiten erfolgt durch die Bezeichnung "allgemeiner Arbeitsmarkt" entgegen der Meinung des LSG hingegen nicht.

28

Eine solche Beschränkung galt auch bei der früheren Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht. Vielmehr waren bei der Prüfung der Erwerbsunfähigkeit alle Versicherten unabhängig von ihrem Beruf auf alle geeigneten Tätigkeiten verweisbar (BSGE 80, 24, 27 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 20; BSGE 19, 147, 149 f = SozR Nr 6 zu § 1247 RVO S Aa4; BSG SozR 2200 § 1247 Nr 7 S 12; SozR 5850 § 2 Nr 12 S 25; SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 S 18). Wenn Versicherte, die zu körperlich leichten oder mittelschweren Arbeiten noch vollschichtig in der Lage waren, "auf eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder -feld (das meint ungelernte Tätigkeiten)" verwiesen werden durften (BSGE 80, 24, 31 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24), so deshalb, weil dies die Tätigkeiten waren, auf die jedenfalls alle Versicherten - unabhängig von ihrem Bildungsstand - verwiesen werden konnten. Ein grundsätzlicher Ausschluss der Verweisung eines qualifizierten Versicherten auf eine seiner beruflichen Qualifikation entsprechende Tätigkeit erfolgte hierdurch jedoch nicht. Deswegen geht auch der Hinweis des LSG auf das Senatsurteil vom 23.5.2006 (SozR 4-2600 § 43 Nr 9) fehl: Wenn dort Feststellungen zu "körperlich leichten und fachlich einfachen Arbeiten, wie sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angeboten werden" (aaO RdNr 24) gefordert wurden, bedeutet dies nicht, dass sich der allgemeine Arbeitsmarkt in solchen Tätigkeiten erschöpfen würde; vielmehr ging es in dieser Entscheidung um die Erwerbsfähigkeit einer ungelernten Versicherten, bei der lediglich eine Verweisung auf Tätigkeiten mit diesem Anforderungsprofil in Betracht kam.

29

bb) Unter den "üblichen Bedingungen" iS des § 43 SGB VI nF ist das tatsächliche Geschehen auf dem Arbeitsmarkt und in den Betrieben zu verstehen, dh unter welchen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt die Entgelterzielung üblicherweise tatsächlich erfolgt. Hierzu gehören sowohl rechtliche Bedingungen, wie etwa Dauer und Verteilung der Arbeitszeit, Pausen- und Urlaubsregelungen, Beachtung von Arbeitsschutzvorschriften sowie gesetzliche und tarifvertragliche Vorschriften, als auch tatsächliche Umstände, wie zB die für die Ausübung einer Verweisungstätigkeit allgemein vorausgesetzten Mindestanforderungen an Konzentrationsvermögen, geistige Beweglichkeit, Stressverträglichkeit und Frustrationstoleranz (vgl zB Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung - SGB VI, aaO RdNr 86 ff, Stand September 2009). Üblich sind Bedingungen, wenn sie nicht nur in Einzel- oder Ausnahmefällen anzutreffen sind, sondern in nennenswertem Umfang und in beachtlicher Zahl (BSG SozR 4100 § 103 Nr 17 S 40, 42; SozR 2200 § 1247 Nr 43 S 86 f). Eine Einsatzfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts ist insbesondere nicht mehr gegeben, wenn einer der in der Rechtsprechung des BSG anerkannten sog Katalogfälle einschlägig ist (vgl im Einzelnen BSGE 80, 24, 34 f = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 28 f).

30

cc) Hieran ändert auch nichts, dass die jeweilige Arbeitsmarktlage nach § 43 Abs 3 Halbs 2 SGB VI nF nicht zu berücksichtigen ist. Denn hiermit ist lediglich gemeint, dass konjunkturelle Schwankungen des Arbeitsmarkts unberücksichtigt zu bleiben haben. Wird eine bestimmte Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aber aus strukturellen Gründen nicht (mehr) nachgefragt, kann man mit ihr auch kein Erwerbseinkommen erzielen, mit ihr also nicht erwerbstätig sein iS des § 43 Abs 3 SGB VI.

31

dd) Für den Regelfall kann damit davon ausgegangen werden, dass ein Versicherter, der nach seinem verbliebenen Restleistungsvermögen noch körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten - wenn auch mit qualitativen Einschränkungen - täglich mindestens sechs Stunden verrichten kann, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen noch erwerbstätig sein kann. Denn dem Versicherten ist es mit diesem Leistungsvermögen in der Regel noch möglich, diejenigen Verrichtungen auszuführen, die in meist ungelernten Tätigkeiten in der Regel gefordert werden (zB Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw - vgl BSGE 80, 24, 31 f = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24 f).

32

Der Senat hält diese beispielhaft genannten Verrichtungen bzw Tätigkeiten nach wie vor für geeignet, um zu überprüfen, ob tatsächlich von ausreichenden Erwerbsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgegangen werden kann. Er übersieht hierbei nicht, dass sich die Erwerbsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seit Anfang der 1980iger Jahre (vgl hierzu BSGE 80, 24, 32 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 25 unter Hinweis auf BSG SozR 2200 § 1246 Nr 81 und Nr 90) verändert haben. Neue Arbeitsfelder, insbesondere im Dienstleistungsbereich und im Bereich der Informationstechnik mögen hinzugekommen sein; gleichwohl ist anhand der og Verrichtungen bzw Tätigkeiten eine Überprüfung, ob mit dem verbliebenen Restleistungsvermögen ausreichende Erwerbsmöglichkeiten für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tatsächlich vorhanden sind, jedenfalls auch für dort zu verrichtende ungelernte Tätigkeiten weiterhin möglich.

33

e) Es besteht jedoch dann die Pflicht zur Benennung zumindest einer Verweisungstätigkeit, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt (BSGE 80, 24, 33 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 26). Der Senat hat bereits darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt, die einer Konkretisierung schwer zugänglich sind (Senatsurteile vom 19.8.1997 - BSGE 81, 15, 19 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 23 S 69; vom 20.8.1997 - SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 60 f). Eine vernünftige Handhabung dieser weiten Begriffe sichert, dass immer dann, wenn "ernsthafte Zweifel" bestehen, ob der Versicherte "in einem Betrieb einsetzbar" ist (oder ein Katalogfall vorliegen könnte), die konkrete Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit erfolgen muss, die nicht nur zu dem Vergleich von Leistungsfähigkeit und Anforderungsprofil führt, sondern auch zu der individuellen Prüfung, ob dem Versicherten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist oder nicht (so BSGE 80, 24, 39, 34 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 33, 27: "ernste Zweifel"; vgl schon BSG 4. Senat vom 30.11.1982 - SozR 2200 § 1246 Nr 104 LS; Senatsurteile vom 19.8.1997 - 13 RJ 55/96 - SozSich 1998, 112 - Juris RdNr 24; vom 20.8.1997 - BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 59; vom 30.10.1997 - 13 RJ 49/97 - Juris RdNr 20, vom 11.5.1999 - SozR 3-2600 § 43 Nr 21 S 73; vom 23.8.2001 - B 13 RJ 13/01 R - Juris RdNr 21; BSG 5. Senat vom 24.2.1999 - SozR 3-2600 § 44 Nr 12 S 43 und vom 10.12.2003 - BSG SozR 4-2600 § 44 Nr 1 RdNr 11).

34

aa) Insofern richtet sich der hierbei anzustellende Prüfungs- und Begründungsaufwand nach den konkreten Umständen des Einzelfalls; insbesondere hängt er von der Anzahl, Art und Schwere der bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen ab. Je mehr diese geeignet erscheinen, gerade auch typische Arbeitsplätze für körperlich leichte Tätigkeiten zu versperren, umso eingehender und konkreter muss der Rentenversicherungsträger bzw das Tatsachengericht die Entscheidung zur Frage einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung begründen. Erforderlich ist eine Untersuchung, welche Verrichtungen oder Arbeitsbedingungen durch die beim Versicherten vorliegenden Gesundheitsstörungen im Einzelnen ausgeschlossen sind (Senatsurteile vom 23.5.2006 - SozR 4-2600 § 43 Nr 9 RdNr 23; vom 19.8.1997 - BSGE 81, 15, 19 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 23 S 70; vom 20.8.1997 - BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 61; vom 30.10.1997 - 13 RJ 49/97 - Juris RdNr 24 ff). Diesen aufgezeigten abstrakten Maßstäben ist allerdings Kritik entgegengesetzt worden im Hinblick auf die Praktikabilität dieser Rechtsprechung (Köbl in Ruland/Försterling, Gemeinschaftskommentar zum SGB VI, § 43 RdNr 168, Stand Oktober 2006)und den damit verbundenen Begründungsaufwand für die Rentenversicherungsträger und die Instanzgerichte (Blaser, Der Begriff der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" im Sozialrecht, 2009, S 107).

35

bb) Aus diesem Grund weist der Senat erneut darauf hin, dass sich aus Zweckmäßigkeits- und aus Effektivitätsgründen die rentenrechtliche Prüfung in zwei Schritten anbietet:

36

(1) Bei Versicherten, die trotz qualitativer Leistungseinschränkungen noch zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten können, ist die Einsatzfähigkeit des Versicherten in einem Betrieb nicht ernsthaft in Zweifel zu ziehen (noch kommt die Möglichkeit einer praktischen Verschlossenheit des Arbeitsmarkts in Betracht). Auf der ersten Prüfstufe ist daher festzustellen, ob das Restleistungsvermögen dem Versicherten Verrichtungen oder Tätigkeiten (wie zB Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw <vgl BSGE 80, 24, 32 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 25>)erlaubt, die in ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden. In diesem Fall genügt die Benennung von "Arbeitsfeldern", von "Tätigkeiten der Art nach" oder von "geeigneten Tätigkeitsfeldern", die der Versicherte ausfüllen könnte (vgl BSGE 80, 24, 31 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 24; Senatsurteile vom 19.8.1997 - 13 RJ 29/95 - SozSich 1998, 111 - Juris RdNr 30; BSG SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 62 f; vom 9.9.1998 - B 13 RJ 35/97 R - Juris RdNr 24; vom 14.7.1999 - B 13 RJ 65/97 R - Juris RdNr 32; BSG 5. Senat vom 24.2.1999 - SozR 3-2600 § 44 Nr 12 S 43; vom 11.5.1999 - SozR 3-2600 § 43 Nr 21 S 73 f; vom 10.12.2003 - SozR 4-2600 § 44 Nr 1 RdNr 23; sog "kleines Benennungsgebot": vgl Köbl, aaO RdNr 168; Gürtner in Kasseler Komm, § 43 SGB VI RdNr 47, Stand April 2010; Spiolek, SGb 1999, 509, 510; kritisch Kamprad in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 43 RdNr 42, Stand Juni 2011; aA wohl Blaser, Der Begriff der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" im Sozialrecht, 2009, S 108). Damit können "ernste Zweifel" an der oben beschriebenen Einsatzfähigkeit des Versicherten als Folge von qualitativen Leistungseinschränkungen ausgeräumt werden.

37

(2) Erst dann, wenn sich solche Bereiche des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht beschreiben lassen, in denen es Arbeitsplätze gibt, die der Versicherte unter Berücksichtigung seines Restleistungsvermögens noch ausfüllen kann und insofern "ernste Zweifel" an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen aufkommen, stellt sich die Prüfpflicht, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine besondere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt (vgl Senatsurteile vom 20.8.1997 - SozR 3-2600 § 43 Nr 17 S 62 f; vom 9.9.1998 - B 13 RJ 35/97 R - Juris RdNr 24; vom 11.5.1999 - SozR 3-2600 § 43 Nr 21 S 73 f; BSG 5. Senat vom 24.2.1999 - SozR 3-2600 § 44 Nr 12 S 44). Verbleibt es bei den ernsten Zweifeln an der Einsatzfähigkeit des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung der individuellen Leistungseinschränkungen, ist mindestens eine konkrete Verweisungstätigkeit mit ihren typischen, das Anforderungsprofil bestimmenden Merkmalen (kein konkreter Arbeitsplatz) zum Ausschluss der Voraussetzungen des Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsminderung erforderlich (vgl BSGE 80, 24, 39 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 33).

38

f) Ob dem Kläger ein Verweisungsberuf benannt werden muss, kann anhand der Feststellungen des LSG nicht entschieden werden. Sollte sich das LSG nicht davon überzeugen können, dass der Kläger mit seinem Restleistungsvermögen noch bestimmte "Arbeitsfelder" ausfüllen bzw og "Tätigkeiten der Art nach" noch verrichten kann - um Zweifel an der betrieblichen Einsetzbarkeit des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuräumen -, wird das LSG das Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung zu prüfen haben. Bejaht es die eine oder andere Alternative, wird es Feststellungen nachzuholen haben, ob dem Kläger ein konkreter Verweisungsberuf benannt werden kann, den er mit seinen individuellen gesundheitlichen Leistungseinschränkungen und seiner fachlichen Qualifikation noch ausüben kann. Hierbei wird zu berücksichtigen sein, ob der Kläger den Bedingungen und Anforderungen, unter denen die entsprechende Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Erzielung eines Erwerbseinkommens ausgeübt wird, noch gewachsen ist.

39

Das LSG wird abschließend über die gesamten Kosten des Rechtsstreits nach § 193 SGG zu befinden haben(BSG SozR 5870 § 2 Nr 62 S 201 f).

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. April 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten für das Revisionsverfahren sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Im Streit steht der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung ab 1.9.2008 infolge eingeschränkter Wegefähigkeit.

2

Die im Jahre 1963 geborene Klägerin bezieht seit April 2007 Leistungen der Grundsicherung (SGB II). Sie ist schwerbehindert und in ihrer Gehfähigkeit eingeschränkt (Bescheid des Versorgungsamts Berlin vom 26.11.2007: GdB von 60 und Merkzeichen "G"). Dem liegen im Wesentlichen ein fortgeschrittenes arteriosklerotisches Gefäßleiden mit Ausbildung einer arteriellen Verschlusskrankheit der Beine und eine Herzerkrankung zugrunde. Im Rahmen einer sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung wurde festgestellt, dass es der Klägerin nicht mehr zumutbar war, viermal täglich Wegstrecken von 500 m innerhalb von 20 Minuten zurückzulegen (Gutachten Dr. W. vom 24.1.2007).

3

Der im Juni 2007 gestellte Rentenantrag blieb erfolglos (Bescheid vom 24.10.2007, Widerspruchsbescheid vom 26.11.2008). Die Klägerin könne noch körperlich mittelschwere Arbeiten ständig im Sitzen für mindestens sechs Stunden täglich unter Berücksichtigung von qualitativen Einschränkungen verrichten. Die bei ihr bestehende Wegeunfähigkeit sei durch den im Widerspruchsverfahren ergangenen Bescheid der Beklagten vom 1.8.2008 entfallen; hiermit hat die Beklagte für den Zeitraum vom 11.8.2008 bis zum 31.8.2009 die Übernahme der notwendigen Kosten für Fahrten mit dem Taxi zur Wahrnehmung von Vorstellungsgesprächen bewilligt und sich bereit erklärt, "im Falle der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses (im genannten Zeitraum) ab dem Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme Leistungen zur Erhaltung eines Arbeitsplatzes" in Form der "tatsächlich anfallenden Beförderungskosten" zu übernehmen.

4

Während des Klageverfahrens hat die Beklagte mit weiterem Bescheid vom 22.10.2009 der Klägerin über den 31.8.2009 hinaus zunächst bis zum 31.8.2010 dieselben Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wie im Bescheid vom 1.8.2008 gewährt. Das SG Berlin hat nach weiteren Ermittlungen (internistisches Gutachten Dr. K. vom 2.6.2009 mit ergänzender Stellungnahme vom 7.8.2009) die Beklagte verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1.6.2007 zu gewähren (Urteil vom 29.4.2010). Es hat im Wesentlichen ausgeführt, dass die Wegeunfähigkeit der Klägerin nicht durch die Bescheide über Teilhabeleistungen (vom 1.8.2008 und 22.10.2009) entfallen sei, weil sich die Leistungen nicht auf ein bestehendes oder konkret in Aussicht gestelltes Arbeitsverhältnis bezogen hätten.

5

Im Verfahren über die Berufung der Beklagten hat diese - entsprechend der Zusage der Beförderungskosten vor dem SG am 29.4.2010 - mit weiterem Bescheid vom 17.9.2010 über den 31.8.2010 hinaus zunächst bis zum 31.8.2011 die Übernahme der notwendigen Kosten für Taxifahrten zu Vorstellungsgesprächen bewilligt und die Kostenzusage für die tatsächlich anfallenden Beförderungskosten im Falle der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses im Bewilligungszeitraum erneuert. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG hat die Beklagte die Berufung hinsichtlich des Zeitraums vom 1.6.2007 bis zum 31.8.2008 zurückgenommen.

6

Im Übrigen hat das LSG Berlin-Brandenburg das Urteil des SG Berlin aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 13.4.2011). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin sei weder teilweise noch voll erwerbsgemindert, sodass ihr kein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung (§ 43 Abs 1, Abs 2 SGB VI)zustehe. Sie sei noch in der Lage, leichte körperliche Tätigkeiten mit gewissen qualitativen Einschränkungen arbeitstäglich für mindestens sechs Stunden zu verrichten. Dies folge aus dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen im Verwaltungs- und Klageverfahren. Einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung könne sie nicht aus ihrer mangelnden Wegefähigkeit herleiten. Zwar sei sie nicht mehr in der Lage, Wegstrecken von 500 m Länge in angemessener Zeit zurückzulegen, und auch die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei ihr nicht mehr zumutbar, sodass ein Minimum an Mobilität zum Aufsuchen der Arbeitsstelle als Teil des nach § 43 SGB VI versicherten Risikos nicht mehr vorliege(Hinweis auf BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10). Gleichwohl sei ihre Wegeunfähigkeit ab dem 1.9.2008 durch die konkret bewilligten Leistungen zur Rehabilitation (Bescheide der Beklagten vom 1.8.2008, 22.10.2009 und 17.9.2010 gemäß § 16 SGB VI, § 33 SGB IX) als behoben anzusehen (Hinweis auf BSG SozR Nr 101 zu § 1246 RVO; SozR 2200 § 1247 Nr 47 und Nr 53). Zur Beseitigung der rentenrechtlichen Wegeunfähigkeit reiche es aus, wenn der Leistungsträger geeignete Mobilitätshilfen anbiete (Hinweis auf BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10; SozR 3-2600 § 44 Nr 10; BSG vom 30.1.2002 - B 5 RJ 36/01 R und Senatsurteil vom 14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R). Nicht erforderlich sei, dass das Mobilitätsdefizit dadurch behoben werde und der Versicherte tatsächlich am Arbeitsleben teilnehme. Es müssten aber rechtlich verbindliche Erklärungen des Versicherungsträgers - regelmäßig in Form eines Verwaltungsakts (§ 31 SGB X) -ergehen, auf die der Versicherte vertrauen dürfe; die Regelung letzter Detailfragen sei nicht erforderlich. Entgegen der Ansicht des SG (und des Sächsischen LSG, Urteil vom 21.1.2003 - L 5 RJ 190/01) müsse kein konkretes Arbeitsverhältnis bestehen oder dies in Aussicht gestellt worden sein, um das Mobilitätsdefizit zu beheben. Denn dies würde eine große Anzahl arbeitsuchender oder arbeitsunwilliger Versicherter von vornherein ausschließen. Im Übrigen würde diese Sichtweise dem Grundsatz "Reha vor Rente" widersprechen (§ 9 Abs 1 S 2 SGB VI, § 8 Abs 2 SGB IX).

7

Den aufgezeigten Anforderungen genügten die Bescheide der Beklagten über die Teilhabeleistungen. Die in Form eines Verwaltungsakts (§§ 31, 33 SGB X) erteilte Erklärung, Kosten für Fahrten mit dem Taxi zur Wahrnehmung von Vorstellungsgesprächen und im Fall der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses die tatsächlich anfallenden Beförderungskosten zu übernehmen, stellten eine hinreichend konkrete Festlegung der Art und Ausgestaltung der Rehabilitationsleistung dar. Die zeitliche Einschränkung der jeweiligen Bewilligungszeiträume auf ein Jahr stehe der Bestimmtheit des Leistungsangebots nicht entgegen. Die Beklagte habe auch deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie Rehabilitationsleistungen in Form einer Mobilitätshilfe nach der Kraftfahrzeughilfe-Verordnung (KfzHV - vom 28.9.1987, BGBl I 2251, zuletzt geändert durch Gesetz vom 23.12.2003, BGBl I 2848) dem Grunde nach gewähre und dass sie ihrem Ermessen entsprechend von der Härtefallregelung (§ 9 Abs 1 KfzHV) Gebrauch mache. Sie habe die Klägerin so behandelt, als stehe ihr für das Zurücklegen des Weges von und zur Arbeitsstätte kein eigenes Fahrzeug zur Verfügung. Zudem habe sie ihr Ermessen dahingehend ausgeübt, dass die Kosten eines Beförderungsdienstes nicht nur bezuschusst, sondern unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Situation der Klägerin voll übernommen würden (§ 9 Abs 1 S 2 KfzHV). Unerheblich sei, dass die Klägerin die Teilhabeleistungen tatsächlich nicht in Anspruch genommen habe. Auch wenn dem Versicherten Teilhabeleistungen nicht gegen seinen Willen aufgedrängt werden könnten (§ 115 Abs 1 S 1 und Abs 4 SGB VI), dürfe der Versicherte seinem Rentenbegehren nicht durch die Ablehnung der angebotenen Teilhabeleistungen zum Erfolg verhelfen. Auch dies widerspreche dem Grundsatz "Reha vor Rente".

8

Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin. Entgegen der Ansicht des LSG habe die Beklagte die rentenrechtliche Wegefähigkeit nicht durch die Bescheide über Teilhabeleistungen am Arbeitsleben wiederherstellen können. Es mangele an der Bezugnahme auf ein bestehendes oder konkret in Aussicht gestelltes Arbeitsverhältnis. Auch fehlten Bestimmungen über die Höhe der Beförderungskosten bzw den Umfang der Beförderungsdienste. Die im Vorfeld eines Arbeitsverhältnisses abgegebenen Erklärungen seien notwendigerweise abstrakt und daher unverbindlich. Gemäß § 13 Abs 2 SGB VI seien Teilhabeleistungen aber in Form eines Verwaltungsakts gemäß § 31 SGB X zu bestimmen. Die von der Beklagten abgegebenen Erklärungen stellten noch nicht einmal Zusicherungen iS von § 34 SGB X dar. Auch reiche der bloße Hinweis auf eine nach der KfzHV mögliche Bewilligung von Teilhabeleistungen nicht aus. Es widerspreche dem Grundgedanken des Rehabilitationsrechts, dass die tatsächliche Aufhebung des Mobilitätsdefizits zur Beseitigung der Wegeunfähigkeit nicht erforderlich sei. Die vom LSG vertretene Ansicht führe dazu, dass ein bestehender Rentenanspruch mit Hilfe des Rehabilitationsrechts ausgehöhlt werde.

9

           

Die Klägerin beantragt,

        

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. April 2011 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. April 2010 auch für den Zeitraum ab dem 1. September 2008 zurückzuweisen.

10

           

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

11

Sie hält das angefochtene Berufungsurteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

12

Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das Urteil des LSG hält der revisionsgerichtlichen Überprüfung stand.

13

Zu Recht hat das LSG entschieden, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung ab 1.9.2008 hat.

14

Die rentenrechtliche Wegeunfähigkeit der Klägerin (1.) ist nach den Maßstäben der Rechtsprechung des BSG (2.) durch geeignete Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beseitigt worden. Es liegt eine Ausnahme von dem Grundsatz vor, dass die zum Rentenanspruch führende Wegeunfähigkeit erst durch die erfolgreiche Durchführung einer bewilligten Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben behoben ist (3.).

15

1. Der Rentenanspruch richtet sich nach § 43 SGB VI(idF der Bekanntmachung vom 19.2.2002, BGBl I 754).

16

Auf der Grundlage der nicht mit Revisionsrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen ist die Klägerin weder teilweise (§ 43 Abs 1 SGB VI) noch voll (Abs 2 aaO) erwerbsgemindert. Ihr Leistungsvermögen ist zwar in qualitativer, nicht aber in quantitativer Hinsicht eingeschränkt (körperlich leichte Tätigkeiten, täglich mindestens sechs Stunden).

17

Auch wegen ihrer eingeschränkten Wegefähigkeit steht ihr keine Rente wegen Erwerbsminderung zu.

18

a) Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit des Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen.

19

Eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die dem Versicherten dies nicht erlaubt, stellt eine derart schwere Leistungseinschränkung dar, dass der Arbeitsmarkt trotz eines vorhandenen vollschichtigen Leistungsvermögens als verschlossen anzusehen ist (Großer Senat in BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 S 28). Diese Kriterien hat das BSG zum Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit entwickelt, wie ihn § 1247 RVO und § 44 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung (aF) umschrieben hatten (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 mwN; SozR 3-2600 § 44 Nr 10). Auch der erkennende Senat hat das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität als Teil des von §§ 43, 44 SGB VI aF versicherten Risikos erachtet(BSG vom 14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R - Juris RdNr 20 mwN). Diese Maßstäbe gelten für den Versicherungsfall der vollen Erwerbsminderung (§ 43 Abs 2 SGB VI) unverändert fort (vgl BSG vom 28.8.2002 - B 5 RJ 12/02 R - Juris RdNr 12; BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 8 RdNr 15; Senatsurteil vom 12.12.2011 - B 13 R 21/10 R - Juris).

20

Konkret gilt: Hat wie hier der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht angeboten, bemessen sich die Wegstrecken, deren Zurücklegung ihm möglich sein müssen, - auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs - nach einem generalisierenden Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 S 30; BSG SozR 2200 § 1247 Nr 53 S 106, Nr 56 S 111; Senatsurteil vom 14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R - Juris RdNr 21). Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel sowie vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege absolvieren muss. Eine (volle) Erwerbsminderung setzt danach grundsätzlich voraus, dass der Versicherte nicht vier Mal am Tag Wegstrecken von über 500 m mit zumutbarem Zeitaufwand (also jeweils innerhalb von 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und ferner zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (zB Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 S 30 f). Dazu gehört zB auch die zumutbare Benutzung eines eigenen Kfz (vgl BSGE 24, 142, 145 = SozR Nr 56 zu § 1246 RVO Bl Aa 44 Rückseite; Senatsurteil vom 14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R - Juris RdNr 21).

21

b) Auf dieser Grundlage tragen die tatsächlichen Feststellungen des LSG seine Annahme, dass die Klägerin nicht mehr über die erforderliche Mobilität verfügt, um eine Arbeitsstelle des allgemeinen Arbeitsmarktes aus eigener Kraft aufzusuchen. Sie kann weder Wegstrecken von 500 m Länge in angemessener Zeit zurücklegen, noch ist ihr die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar. Zwar ist sie im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis und verfügt über langjährige Fahrpraxis. Das Kfz des Ehemannes steht ihr jedoch nicht jederzeit zur Verfügung, sodass sie nicht auf dessen ansonsten zumutbare Benutzung verwiesen werden kann.

22

Diese Feststellungen sind für den Senat bindend (§ 163 SGG), da sie nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden sind. Auch die Beklagte geht davon aus, dass der Klägerin kein geeignetes Fahrzeug zur Bewältigung des Weges von und zur Arbeitsstätte zur Verfügung steht.

23

Die Beklagte hat jedoch die rentenrechtliche Wegeunfähigkeit der Klägerin für die streitige Zeit wieder beseitigt.

24

2. Dies ist nach der Rechtsprechung des BSG möglich, wenn der Rentenversicherungsträger durch geeignete Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben eine ausreichende Mobilität des Versicherten wiederherstellt (vgl BSG SozR 3-2600 § 44 Nr 10 S 38; Senatsurteil vom 14.3.2002 - B 13 RJ 25/01 R - Juris RdNr 23).

25

Rehabilitationsleistungen des Rentenversicherungsträgers richten sich nach § 9 Abs 1 S 1 Nr 2 und Abs 2 SGB VI, wonach Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zur möglichst dauerhaften Wiedereingliederung in das Erwerbsleben erbracht werden können, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen(§§ 10, 11 SGB VI) erfüllt sind und kein gesetzlicher Leistungsausschluss (§ 12 SGB VI) vorliegt. Die Entscheidung der Frage, "ob" einem Versicherten Rehabilitationsleistungen zu gewähren sind, ist anhand der og Vorschriften zu beurteilen. Erst die Entscheidung, "wie" die Rehabilitationsleistungen, etwa nach Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung (§ 13 S 1 SGB VI) zu erbringen sind, dh welche Leistungen in Betracht kommen, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Rentenversicherungsträgers (stRspr, vgl BSGE 85, 298, 300 = SozR 3-2600 § 10 Nr 2 S 3; BSG SozR 3-5765 § 10 Nr 1 S 3 f; Nr 3 S 15; BSG SozR 3-1200 § 39 Nr 1 S 3 f; BSG SozR 4-3250 § 14 Nr 3 RdNr 35; BSG SozR 4-5765 § 7 Nr 1 RdNr 11). Der Rentenversicherungsträger erbringt Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach den bereichsübergreifenden Vorschriften der §§ 33 bis 38 SGB IX(§ 16 SGB VI). Die Leistungen nach § 33 Abs 3 Nr 1 und Nr 6 SGB IX(Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes; sonstige Hilfen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben, um eine angemessene Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit zu ermöglichen oder zu erhalten), umfassen ua die Kraftfahrzeughilfe nach der KfzHV (§ 33 Abs 8 S 1 Nr 1 SGB IX). Die KfzHV enthält eigene Leistungsvoraussetzungen (zu §§ 3, 4 KfzHV vgl Senatsurteil vom 9.12.2010 - BSGE 107, 157 = SozR 4-5765 § 4 Nr 1, RdNr 16 ff)und besondere Ermessensregelungen (§ 9 KfzHV, vgl BSG SozR 4-5765 § 7 Nr 1 RdNr 11 mwN).

26

Hierzu hat der 5. Senat des BSG klarstellend ausgeführt, dass nicht bereits das Angebot von Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation genüge, um den Eintritt des Versicherungsfalls abzuwenden, sondern erst mit deren erfolgreicher Durchführung die den Versicherungsfall begründende fehlende Mobilität effektiv wiederhergestellt sei. Offengelassen hat der 5. Senat, unter welchen Voraussetzungen ausnahmsweise Fälle denkbar seien, in denen nicht erst die Durchführung einer Rehabilitationsmaßnahme, sondern bereits eine geeignete Leistungsbewilligung die Wegeunfähigkeit eines arbeitslosen Versicherten beseitige. Eine Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung könne daher nur in Betracht kommen, wenn die bewilligte Leistung den Versicherten in eine Lage versetze, die derjenigen eines Versicherten gleiche, der einen Führerschein und ein privates Kfz besitze und dem die Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses sowie die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auch an einem über 500 m entfernt liegenden Arbeitsplatz zuzumuten sei, weil er mit einigermaßen verlässlich einzuschätzendem Aufwand an Zeit und Kosten dorthin gelangen könne. Nur wenn der gehbehinderte Versicherte jederzeit ein Kfz tatsächlich nutzen könne, sei es ihm möglich, trotz der Beschränkung der Wegefähigkeit ein neues Arbeitsverhältnis einzugehen, sodass bei vollschichtigem Leistungsvermögen der Arbeitsmarkt trotz Wegeunfähigkeit nicht als verschlossen anzusehen sei (BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 8 RdNr 16, 22).

27

Diesen aufgezeigten Maßstäben schließt sich der erkennende Senat an.

28

3. Die von der Beklagten bewilligten bzw zugesicherten Teilhabeleistungen haben das Mobilitätsdefizit der arbeitsuchenden Klägerin im streitigen Zeitraum beseitigt. Es liegt eine Ausnahme von dem Grundsatz vor, wonach die zum Rentenanspruch führende Wegeunfähigkeit erst durch die erfolgreiche Durchführung einer vom Versicherungsträger bewilligten Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben behoben ist.

29

a) Nach zutreffender Auslegung des LSG erfüllen die Bescheide der Beklagten vom 1.8.2008, 22.10.2009 und vom 17.9.2010 die oben genannten Anforderungen.

30

Der erste Regelungskomplex der Bescheide betrifft die jeweils auf ein Jahr befristete Bewilligung der Übernahme der notwendigen Kosten für Taxifahrten zur Wahrnehmung von Vorstellungsgesprächen in voller Höhe. Hierbei handelt es sich um einen Verwaltungsakt gemäß § 31 S 1 SGB X, der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gemäß §§ 9, 13, 16 SGB VI iVm § 33 Abs 1 und Abs 3 Nr 1 SGB IX konkret bewilligt.

31

Der zweite Regelungskomplex der Bescheide enthält die jeweils auf ein Jahr befristete Zusage, die tatsächlich entstehenden Beförderungskosten ohne finanzielle Eigenbeteiligung der Klägerin im Fall der Arbeitsaufnahme zur Erhaltung des Arbeitsplatzes zu übernehmen. Hierbei handelt es sich um eine Zusicherung gemäß § 34 Abs 1 S 1 SGB X, die als solche ebenfalls die Rechtsqualität eines Verwaltungsakts hat(stRspr, vgl BSG SozR 3-1300 § 34 Nr 2 S 4; BSGE 56, 249, 251 = SozR 5750 Art 2 § 9a Nr 13 S 43; SozR 2200 § 1237 Nr 10 S 10). Die Zusicherung hat die Aufgabe, dem Adressaten als verbindliche Zusage über das zukünftige Verhalten der Verwaltungsbehörde bei Erlass des Verwaltungsakts Gewissheit zu verschaffen (vgl BSG SozR 3-1300 § 34 Nr 2 S 4 mwN). Die Beklagte hat sich zu der Behandlung eines in der Zukunft liegenden, konkreten Sachverhalts verpflichtet. Der Regelungswille der Behörde ist in den Bescheiden deutlich erkennbar geworden. Damit folgt aus der wirksamen Zusicherung ein Rechtsanspruch auf die zugesagte Regelung (BSG SozR 4-1500 § 55 Nr 9 RdNr 15).

32

Ob die erteilten Bescheide über die Teilhabeleistungen eine zutreffende Rechtsgrundlage haben, kann hier dahinstehen. Die Klägerin hat die Bescheide nicht angegriffen (§ 77 SGG).

33

Durch die bestandskräftigen Bescheide war für die Klägerin ab 1.9.2008 aber hinreichend klar bestimmt, mit welchen konkreten finanziellen Mobilitätshilfen sie im Fall der Wahrnehmung von Vorstellungsgesprächen und bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit rechnen konnte. Ihnen war deutlich zu entnehmen, dass die Klägerin die volle Kostenerstattung ihrer tatsächlichen Beförderungskosten (einschließlich Taxikosten) jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt erhalten sollte, wie die Beklagte bei Begründung einer dauerhaften Erwerbstätigkeit abschließend über Leistungen der Kraftfahrzeughilfe (§ 2 Abs 1 KfzHV)unter Festlegung eines ggf zu tragenden Eigenanteils (vgl dazu BSG SozR 3-5765 § 9 Nr 2)bzw über Zuschüsse zu Beförderungskosten gemäß der Härtefallregelung des § 9 KfzHV(BSG SozR 4-5765 § 9 Nr 1; BSG SozR 3-4100 § 56 Nr 10)nach den dann gegebenen individuellen wirtschaftlichen Verhältnissen der Klägerin neu entscheiden würde. Dass eine solche Prüfung und Ermessensentscheidung erst nach Aufnahme einer dauerhaften Erwerbstätigkeit möglich war, steht der Wiederherstellung der fehlenden Mobilität durch geeignete Teilhabeleistungen bis dahin nicht entgegen.

34

b) Zutreffend hat das LSG ausgeführt, dass entgegen der Ansicht der Klägerin die ihre Wegeunfähigkeit beseitigende Bewilligung von Teilhabeleistungen nicht erst ab dem Zeitpunkt eines bestehenden oder konkret in Aussicht gestellten Arbeitsverhältnisses erfolgen durfte (so aber Sächsisches LSG, vom 21.1.2003 - L 5 RJ 190/01; dem folgend SG Berlin vom 8.1.2008 - S 6 R 1224/06, beide in Juris). Zum einen hat die Beklagte entsprechende Leistungen bindend bewilligt. Zum anderen widerspräche ein solches Erfordernis bereits dem Wortlaut von § 33 Abs 3 Nr 1 SGB IX, wonach Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben ua als Hilfen zur "Erlangung eines Arbeitsplatzes" erfolgen können. Auch die Härtefallregelung von § 9 Abs 1 S 1 Nr 2 KfzHV sieht Hilfen zur "Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit" vor. Dem Rehabilitationsrecht lassen sich keine rechtlichen Anhaltspunkte für die von der Klägerin vertretene Sichtweise entnehmen, mit der Prüfung von Teilhabeleistungen müsse so lange zugewartet werden, bis der Versicherte zumindest eine konkrete Aussicht auf eine Erwerbstätigkeit hat. Im Gegenteil, aus den bereichsübergreifenden Vorschriften des Rehabilitationsrechts (SGB IX) ergibt sich, dass Leistungen zur Teilhabe bezwecken, Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit zu vermeiden oder zu überwinden (§ 4 Abs 1 Nr 2 SGB IX). § 9 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB VI normiert zudem als Aufgabe rentenrechtlicher Teilhabeleistungen die Verhinderung von Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Leistungen zur Teilhabe haben daher Vorrang vor Rentenleistungen, die im Falle des Erfolgs der Teilhabeleistungen nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind (§ 9 Abs 1 S 2 SGB VI). Der hieraus abgeleitete Grundsatz "Rehabilitation vor Rente" war schon unter Geltung des Rehabilitationsangleichungsgesetzes (§ 7 Abs 1 RehaAnglG) anerkannt (vgl BSGE 43, 75 = SozR 2200 § 1246 Nr 13). Er war dann verletzt, wenn der Rentenversicherungsträger berufsfördernde Leistungen der Rehabilitation erst nach einem Arbeitsangebot oder einer Arbeitsaufnahme zu prüfen begann (BSG SozR 3-2600 § 44 Nr 10 S 39). Nach Inkrafttreten des SGB IX ist dieser Grundsatz für alle Rehabilitationsträger im Vorrang von Leistungen zur Teilhabe vor Rentenleistungen fortgeschrieben worden (§ 8 Abs 2 SGB IX). Hieran zeigt sich, dass das frühe Eingreifen von Rehabilitationsleistungen zur Vermeidung von Einschränkungen in der Erwerbsfähigkeit gesetzlich bezweckt ist (vgl Welti in Lachwitz/Schellhorn/Welti, HandKomm zum SGB IX, 3. Aufl 2010, § 8 RdNr 26; ders in jurisPR-SozR 2/2007 Anm 4).

35

c) Auch dies übersieht die Klägerin, wenn sie meint, die Beklagte habe lediglich abstrakte Erklärungen über zukünftige Sachverhalte abgegeben. Vielmehr haben sich die konkret bewilligten oder zugesicherten Teilhabeleistungen auf die aktuelle Situation der Arbeitsuche bezogen, die mit Hilfe konkreter Teilhabeleistungen ermöglicht werden soll. Zu diesem Zeitpunkt können aber noch keine konkreten Teilhabeleistungen bewilligt oder zugesichert werden, die erst im Fall einer dauerhaften Erwerbstätigkeit (nach Ablauf der Probezeit) unter veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen in Betracht kommen. Denn diese Leistungen setzen eine erneute Prüfung und Ermessensentscheidung der Beklagten schon im Hinblick auf eine Eigenbeteiligung des Versicherten voraus (§ 2 Abs 1, § 9 KfzHV).

36

Hier haben die bewilligten bzw zugesicherten Teilhabeleistungen der Beklagten die Klägerin während des jeweils bewilligten Leistungszeitraums in jene Lage versetzt, die derjenigen eines Versicherten gleicht, der einen Führerschein und ein privates Kraftfahrzeug besitzt. Die Klägerin konnte jederzeit Beförderungsdienste (einschließlich Taxis) für Fahrten zu Vorstellungsgesprächen bzw zum Arbeitsplatz und zurück zur Wohnung in Anspruch nehmen. Sie durfte, wie ihr in der Begründung der Bescheide erläutert, darauf vertrauen, dass die Beklagte gegen Vorlage von Quittungen bzw entsprechenden Nachweisen die notwendigen tatsächlich entstandenen Beförderungskosten umgehend in voller Höhe erstatten würde. Der der Klägerin entstehende Zeit- und Kostenaufwand, auch an einen von ihr nicht zu Fuß erreichbaren Ort zu gelangen, war damit vorhersehbar und zumutbar geworden.

37

d) Dem steht schließlich nicht entgegen, dass die Beklagte die Teilhabeleistungen im Rahmen ihres Ermessens auf jeweils ein Jahr befristet hat. Der Senat hält die Dauer dieses Bewilligungszeitraums für noch ausreichend, wenngleich eine Bewilligung bis zur Begründung einer dauerhaften Erwerbstätigkeit das Problem der "Nahtlosigkeit" der Teilhabebescheide vermieden hätte. Auch wenn der Teilhabebescheid vom 22.10.2009 die Leistungen erst rückwirkend (über den 31.8.2009 hinaus) bewilligt hat, kann die Klägerin aus der insoweit fehlenden "Nahtlosigkeit" zum vorangegangenen Teilhabebescheid, der den Zeitraum bis 31.8.2009 abgedeckt hat, keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung herleiten. Denn nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG hat die Klägerin erklärt, die Beförderungsdienste weder wahrgenommen zu haben noch diese in Anspruch nehmen zu wollen. Aus der verzögerten Bescheiderteilung ergibt sich daher kein Umstand, der die Wegefähigkeit der Klägerin ab 1.9.2009 hätte in Frage stellen können.

38

Auch wenn Teilhabeleistungen von Amts wegen nur mit Zustimmung des Versicherten erbracht werden können (§ 115 Abs 4 S 2 SGB VI, § 9 Abs 4 SGB IX), darf das unberechtigte Ablehnen von Teilhabeleistungen oder die verweigerte Zustimmung nicht dem Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung zum Erfolg verhelfen. Nach den bindenden Feststellungen des LSG hat die Klägerin keine plausiblen, nachvollziehbaren Gründe oder berechtigten Wünsche (§ 9 Abs 1 SGB IX) geltend gemacht, weshalb sie die tatsächliche Inanspruchnahme der bewilligten Teilhabeleistungen hätte ablehnen dürfen. Sie hat die Teilhabebescheide vielmehr in Bestandskraft (§ 77 SGG) erwachsen lassen.

39

Nach alledem war es ihr trotz beschränkter Wegefähigkeit möglich, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen; damit war bei vollem quantitativem Leistungsvermögen der Arbeitsmarkt nicht verschlossen.

40

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI).

2

Der am ... 1956 geborene Kläger war seit 1976 in seinem erlernten Beruf als Facharbeiter für BMSR-Technik - mit der späteren Qualifikation als Meister in der Fachrichtung Elektrotechnik - versicherungspflichtig beschäftigt. Ab dem 30. Juni 2009 bezog er Übergangsgeld und nachfolgend Krankengeld bis zum 10. Juni 2010.

3

Der Kläger beantragte am 9. Oktober 2009 bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte zog zunächst die Unterlagen aus den vorausgegangenen Rehabilitationsverfahren bei. Nach dem Entlassungsbericht des S.-Klinikums B. K. vom 2. Juli 2008 über die dort vom 13. Mai bis zum 10. Juni 2008 durchgeführte stationäre Rehabilitationsmaßnahme bestanden als Diagnosen:

4

PaVK (periphere arterielle Verschlusskrankheit) Stadium II b bds., rechts ) links, retrograde Desobliteration der A. iliaca ext., TEA und Patch der A. fem. comm. Re.

5

Arterielle Hypertonie.

6

ACI-Stenose links.

7

Übergewicht.

8

Chronischer Nikotinabusus.

9

Im Ergebnis der Rehabilitation habe die absolute Gehstrecke des Klägers etwas mehr als 200 m betragen. Danach sei es zu krampfartigen Schmerzen in der linken Wade gekommen. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wären mittelschwere Arbeiten über sechs und mehr Stunden täglich ohne längere Gehstrecken zumutbar.

10

Dem Entlassungsbericht der S.-klinik B. L. vom 14. August 2009 über die in dieser Einrichtung vom 30. Juni bis zum 4. August 2009 durchgeführte stationäre Rehabilitationskur sind als Diagnosen zu entnehmen:

11

Hirninfarkt 24. Mai 2009 mit initialer Hemihypästhesie links, aktuell ohne fokal neurologisches Defizit.

12

Leichte kognitive Störung.

13

Benigne essentielle Hypertonie, ohne Angabe einer hypertensiven Krise.

14

Psychische und Verhaltensstörungen durch Tabak: Schädlicher Gebrauch.

15

PaVK II b links, rechts Z.n. Beckenarterien TEA, Femoralisgabel-TEA und Patch 04/08.

16

Die Therapeuten hätten über eine deutliche Leistungssteigerung im Bereich der allgemeinen Kondition berichtet, die "Claudicationsstrecke" habe um 80 m ausgebaut werden können. Die Wegefähigkeit des Klägers sei im entsprechenden Zeitrahmen gegeben. Bei Vermittlung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien dem Kläger leichte bis mittelschwere Tätigkeiten - ohne Akkord, erhöhte Anforderungen an die Aufmerksamkeit und ohne Nachtschichten - auch vollschichtig möglich. Auf Grund der PaVK seien Tätigkeiten mit überwiegend gehenden Tätigkeitsmerkmalen nicht zu empfehlen.

17

Auf den dem Streitverfahren zugrunde liegenden Rentenantrag holte die Beklagte einen Befundbericht von dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. B. vom 24. Oktober 2009 ein. Es bestehe ein Zustand nach Bypass-Operation am rechten Bein und nach Hirninfarkt mit Hirnleistungsminderung und Psychotrauma. Seit August 2009 sei eine Befundbesserung eingetreten.

18

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag des Klägers mit Bescheid vom 30. Oktober 2009 ab. Sie gewährte dem Kläger auf seinen Widerspruch mit Bescheid vom 17. Juni 2010 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab dem 1. Mai 2008 (ausgehend von dem Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation am 28. April 2008) auf Dauer.

19

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens holte die Beklagte das Gutachten von der Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie/Geriatrie Dr. B. vom 20. Mai 2010 ein, das auf der Grundlage einer ambulanten Untersuchung des Klägers 12. Mai 2010 erstattet wurde. Dieser habe angegeben, nach ca. 150 m habe er Schmerzen im linken Bein. Der Kläger befinde sich in einem guten Allgemeinzustand und adipösen Ernährungszustand. Als Diagnosen lägen bei dem Kläger vor:

20

Leichte kognitive Störung nach Apoplex.

21

Arterielle Hypertonie.

22

Athereosklerose der A. carotis links.

23

PaVK bds.

24

Z.n. Bizepsruptur links mit bewegungsabhängiger leichter Funktionseinschränkung.

25

Nikotinabusus.

26

Bei einer durchschnittlichen intellektuellen Befähigung bestünden leichte kognitive Leistungsstörungen im Sinne einer erworbenen Beeinträchtigung. Hinweise auf eine Depression hätten sich nicht ergeben. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne der Kläger leichte bis mittelschwere Tätigkeiten - ohne erhöhte Anforderungen an die (Dauer-)Aufmerksamkeit, Entscheidungsfindung, erhöhte Unfallgefahr und Nachtschichten - vollschichtig verrichten. Tätigkeiten mit längeren Gehstrecken oder mit Temperaturschwankungen bzw. Kälte seien nicht zu empfehlen. Der Kläger sei im Besitz einer Fahrerlaubnis. Er könne nicht viermal täglich eine Wegstrecke von mehr als 500 m innerhalb von 20 Minuten zurücklegen.

27

Die Beklagte wies den Widerspruch, soweit sie diesem nicht abgeholfen hatte, mit Widerspruchsbescheid vom 12. August 2010 als unbegründet zurück. Der Kläger verfüge über ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr täglich für leichte bis mittelschwere Arbeiten überwiegend im Sitzen - ohne besondere bzw. Anforderungen an das Konzentrationsvermögen und die Merkkraft, ohne Arbeiten im Akkord, unter Zeitdruck, mit häufigem Bücken und Hocken, Ersteigen von Leitern und Gerüsten, Gefährdung durch Kälte und Nässe oder Absturzgefahr - unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Die Leistungsfähigkeit sei weder durch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch durch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung beeinträchtigt.

28

Mit seiner am 6. September 2010 bei dem Sozialgericht Halle erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Sein Leistungsvermögen sei aus gesundheitlichen Gründen auf unter drei Stunden täglich herabgesunken. Zumindest könne er nicht mehr unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein. Er sei wegeunfähig im sozialmedizinischen Sinne. Aus gesundheitlichen Gründen könne er keine längeren Strecken über mehrere Kilometer mehr fahren. Es sei auch fraglich, ob er viermal täglich einen Pkw führen und einen Parkplatz in einer zumutbaren Zeit erreichen könne.

29

Das Sozialgericht hat durch Einholung von Befundberichten ermittelt. Nach dem Befundbericht von Dipl.-Med. B. vom 18. Dezember 2010 sind seit Mai 2010 keine wesentlichen Veränderungen im Gesundheitszustand des Klägers eingetreten. Der Kläger habe am 3. August 2010 bekundet, es gehe ihm gut; die Therapie verlaufe gut und das Befinden sei unverändert.

30

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 17. August 2011 abgewiesen. Der Kläger sei nicht voll erwerbsgemindert, da er trotz herabgesetzter Leistungsfähigkeit in der Lage sei, noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mit qualitativen Einschränkungen erwerbstätig zu sein. Der Kläger könne zwar nach dem Gutachten von Dr. B. vom 20. Mai 2010 nicht mehr viermal täglich 500 m in 20 Minuten zurückzulegen. Diese Einschätzung sei indes nicht nachvollziehbar, da in dem Befundbericht des Hausarztes vom 18. Dezember 2010 Hinweise auf eine eingeschränkte Gehfähigkeit fehlten und Dr. B. ihrer Beurteilung allein die Angaben des Klägers zugrunde gelegt habe. Es sei nach dem Ergebnis der zweiten Rehabilitationsmaßnahme davon auszugehen, dass bei dem Kläger zwar eine verkürzte Gehstrecke von ca. 200 m vorliege, er jedoch nach einer kurzen Pause (zwei Minuten) weitergehen und insgesamt viermal (täglich) 500 m in 20 Minuten zurücklegen könne. Im Übrigen könne der Kläger seine eingeschränkte Wegefähigkeit durch die Benutzung des eigenen Pkw kompensieren.

31

Der Kläger hat gegen das ihm am 29. September 2011 zugestellte Urteil am 26. Oktober 2011 Berufung bei dem Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt.

32

Der Senat hat sodann folgende Ermittlungen durchgeführt: Von der Fachärztin für Innere Medizin Dipl.-Med. U. ist der Befundbericht vom 23. Juli 2012 eingeholt worden. Diese hat im Wesentlichen auf die beigefügten Ergebnisse der Farbdoppler-Echokardiographie im Juni 2012 und der Farbduplexuntersuchung von Oktober 2011, Bl. 163 und 165 Bd. I der Gerichtsakten, verwiesen. Dipl.-Med. B. hat in seinem Befundbericht vom 11. September 2012 eine gravierende Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers verneint; neue Leiden seien nicht hinzugekommen.

33

Der Senat hat schließlich das Gutachten von Dr. F., Chefarzt der Klinik für Innere Medizin am H.-klinikum D. C. E. in Q., vom 6. Juni 2013 eingeholt. Das Gutachten ist auf der Grundlage der Untersuchung des Klägers am 3. Mai 2013 erstattet worden. Bei dem Kläger lägen aus internistischer Sicht folgende Diagnosen vor:

34

PaVK im Stadium II b nach Fontaine bds. mit Z.n. TEA und Patch-Operation 4/2008, Nachweis eines AFS-Verschlusses links bei regelrechter Bypassfunktion rechts.

35

Z.n. linksseitigem Apoplex 2009 mit leichten kognitiven Störungen.

36

Allgemeine Angiosklerose mit höhergradiger Stenose der ACI links und mittelgradiger Stenosierung rechts.

37

Arterielle Hypertonie im Stadium I-II nach WHO.

38

Adipositas.

39

Nikotinabusus.

40

Diätisch geführter Diabetes mellitus.

41

Sehnenabriss der linken Schulter.

42

Im Rahmen der Diagnostik habe echokardiologisch eine gute linksventrikuläre Funktion bei konzentrischer Wandhypertrophie nachgewiesen werden können. Die Belastungssituation mit einem Abbruch der Fahrradergometrie auf Grund eines auftretenden Schwindels bei 50 Watt entspreche normalem Gehen in der Ebene bzw. Schreibtischarbeiten, Pförtnertätigkeiten oder einer leichten Hausarbeit. Es sei von einer nicht optimal eingestellten arteriellen Hypertonie und einer höhergradigen Stenose der ACI links sowie mittelgradigen Stenosen rechts auszugehen. Insbesondere im Hinblick auf den Zustand nach Apoplex 2009 sei eine weiterführende Diagnostik empfohlen worden, die der Kläger bisher abgelehnt habe. Im Rahmen der Angiosklerose der unteren Extremitäten sei eine regelrechte Bypassfunktion rechts nachweisbar. Links bestehe ein AFS-Verschluss. Die insoweit empfohlene Diagnostik in Form einer Angiografie habe der Kläger abgelehnt. Im Rahmen der PaVK sei eine Einschränkung der Gehstrecke gegeben. Der Kläger habe ab 50 m Wegstrecke insbesondere Schmerzen in der linken Wade und nach ca. 150 m die Notwendigkeit einer Pause angegeben. Es gebe indes Tätigkeiten ohne Laufwege. Die von ihm erhobenen Befunde ließen Berufe wie Telefonist, Pförtner oder Computertätigkeiten als möglich erscheinen. Abgesehen hiervon sei auch von einer Befundbesserung auszugehen, wenn der Kläger sich weiteren diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen unterziehe. Er könne noch körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten überwiegend im Sitzen (z.B. leichte Sortier- oder Büroarbeiten) sechs Stunden täglich verrichten. Zu vermeiden seien Arbeiten im Akkord, unter Zeitdruck, mit häufigem Bücken und Hocken, in der Höhe oder mit Gefährdung durch Kälte und Nässe. Die volle Gebrauchsfähigkeit seiner Hände sei erhalten. Auf Grund der leichten kognitiven Defizite auf Grund des Schlaganfalls sollten nur einfache Anforderungen an Konzentrationsvermögen, Aufmerksamkeit und Merkkraft gestellt werden. Er sei in der Lage, sich innerhalb von drei Monaten auf eine einfache Tätigkeit umzustellen. Außer einer viertelstündigen und einer halbstündigen Pause seien unter Berücksichtigung der Einschränkungen keine weiteren Pausen nötig. Dem Kläger sei eine Wegstrecke von ca. 150 m zumutbar; dann müsse er eine Pause einlegen. Mit entsprechenden Pausen sei ihm eine Wegstrecke von jeweils mindestens 500 m auch viermal täglich möglich. Für diesen Weg sollte jedoch jeweils eine Zeit von ca. 30 Minuten eingeplant sein. Er sei gesundheitlich in der Lage, für den Weg zur Arbeit öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen und ein Kfz zu führen. Inwieweit er sich das jedoch selbst zutraue, bleibe dahingestellt. Die festgestellte Minderung der Leistungsfähigkeit bestehe nach Aktenlage seit Mitte 2011.

43

Die Beklagte hat eine prüfärztliche Stellungnahme des Prüf- und Gutachterarztes Dr. V. vom 2. Juli 2013 übersandt, der dem gerichtlichen Sachverständigen in seiner Leistungsbeurteilung weitgehend zugestimmt und auf eine nicht abschließende Diagnostik verwiesen hat.

44

Der Kläger hat nach Erhalt des Gutachtens auf von dem gerichtlichen Sachverständigen festgestellte betriebsunübliche Pausen und eine aufgehobene Wegefähigkeit im sozialmedizinischen Sinne hingewiesen. Im Übrigen wird wegen der Einzelheiten auf die Schriftsätze vom 29. Juli und 3. September 2013, Bl. 215 bis 216 und Bl. 226 bis 227 Bd. II der Gerichtsakten, verwiesen. Der gerichtliche Sachverständige hat in seiner Stellungnahme zum Gutachten vom 7. August 2013 an seiner Leistungseinschätzung festgehalten. Zur Frage der Notwendigkeit von Pausen hat er ausgeführt: "Die von mir vorgeschlagene Arbeitspausenregelung war lediglich ein Entgegenkommen an den Kläger gewesen. Der § 4 des Arbeitszeitgesetzes kann in persönlichen Absprachen sicherlich modifiziert werden." Im Übrigen wird auf Bl. 218 bis 219 Bd. II der Gerichtsakten Bezug genommen.

45

Unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme des Senats führt der Kläger zur Begründung seines Rechtsmittels im Wesentlichen aus, er sei voll erwerbsgemindert, da er nicht mehr in der Lage sei, regelmäßig einer Erwerbstätigkeit von wirtschaftlichem Wert nachzugehen. Er sei nicht sechs Stunden täglich belastbar. Dr. F. habe diese quantitativ eingeschränkte Erwerbsfähigkeit bestätigt, da er ihn nicht für in der Lage gehalten habe, Arbeiten von sechs Stunden und mehr täglich zu verrichten. Durch die Festsstellungen des gerichtlichen Sachverständigen seien auch die gesundheitlichen Voraussetzungen einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes unter dem Gesichtspunkt betriebsunüblicher Pausen und einer aufgehobenen Wegefähigkeit im sozialmedizinischen Sinne belegt. Hierdurch würden die Angaben in den Rehabilitationsentlassungsberichten vom 2. Juli 2008 und 14. August 2009 sowie dem Gutachten von Dr. B. vom 20. Mai 2010 bestätigt. Die eingeschränkte Wegefähigkeit sei im vorliegenden Fall nicht durch die Benutzung des eigenen Pkw kompensierbar, da er weder einen Arbeitsplatz innehabe noch ihm ein solcher angeboten worden sei (Hinweis auf LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 17. Dezember 2009 - L 10 R 270/08 - und Urteil des erkennenden Senats vom 10. März 2011 - L 3 R 270/08 - juris). Hierzu sei bisher keine abweichende höchstrichterliche Rechtsprechung ergangen. Die Verschlossenheit des Arbeitsmarktes auf Grund der Notwendigkeit betriebsunüblicher Pausen ergebe sich daraus, dass der Rechtsanspruch auf Pausen nach § 4 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) hinter den von ihm tatsächlich benötigten Pausen, wie diese von Dr. F. konkretisiert worden seien, zurückbleibe. § 4 ArbZG sei hinsichtlich des Rechtsanspruchs auf Pausen nicht modifizierbar. Aus der arbeitsgerichtlichen Praxis sei bekannt, dass die Überschreitung von Pausen regelmäßig durch Arbeitgeber geahndet werde.

46

Der Kläger beantragt,

47

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 17. August 2011 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 30. Oktober 2009 in der Gestalt des Bescheides vom 17. Juni 2010 und des Widerspruchsbescheides vom 12. August 2010 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. November 2009 zu bewilligen.

48

Die Beklagte beantragt,

49

die Berufung zurückzuweisen.

50

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Ihre Rechtsauffassung werde durch die sozialmedizinische Stellungnahme des Prüf- und Gutachterarztes Dr. V. vom 16. Oktober 2012 gestützt, der ein Gehtraining des Klägers für erforderlich und möglich erachtet habe.

51

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

52

Die Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger deshalb nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).

53

Gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

54

Der Kläger ist nicht erwerbsgemindert in diesem Sinne. Er ist noch in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte bis mittelschwere Arbeiten überwiegend im Sitzen mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Zu vermeiden sind Arbeiten im Akkord, unter Zeitdruck, mit häufigem Bücken und Hocken, in der Höhe oder mit Gefährdung durch Kälte bzw. Nässe. Die volle Gebrauchsfähigkeit seiner Hände ist vorhanden. Es können nur einfache Anforderungen an Konzentrationsvermögen, Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit gestellt werden.

55

Dieses Leistungsbild ergibt sich im Wesentlichen aus den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. F. in seinem Gutachten vom 6. Juni 2013. Dessen Feststellungen weichen in Bezug auf das quantitative Leistungsvermögen nicht von dem Ergebnis der Begutachtung von Dr. B. in ihrem im Auftrag der Beklagten erstellten Gutachten vom 20. Mai 2010 ab.

56

Im Vordergrund der Beschwerden des Klägers stehen seine PaVK, die in Verbindung mit einem schlecht eingestellten Bluthochdruck und einem erheblichem Übergewicht seine Leistungsfähigkeit einschränkt. Im Sitzen kann der Kläger aber weiterhin im Wesentlichen unbeeinträchtigt tätig werden. Insbesondere ist die Gebrauchsfähigkeit seiner Hände unbeeinträchtigt.

57

Eine Beeinträchtigung der geistig-psychisch-mnestischen Funktionen des Klägers ist während des hier maßgebenden Zeitraums durch eine Reduzierung des möglichen Anforderungsprofils auf einfache bis durchschnittliche Anforderungen mit dem Schlaganfallsereignis eingetreten, das aber den Kreis der möglichen leichten bis mittelschweren Arbeiten nicht in einem rentenrelevanten Umfang einschränkt.

58

Bei dem Kläger liegt weder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, die trotz des Leistungsvermögens von mehr als sechs Stunden täglich zur Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarktes führen würden. Die Beklagte war daher nicht verpflichtet, unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt einen konkreten Arbeitsplatz zu benennen. (vgl. Beschluss des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 - SozR 3-2600 § 44 Nr. 8 = BSGE 80, 24, 33 f.; diese Rechtsprechung findet weiterhin Anwendung, vgl. z.B. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2011 - B 13 R 78/09 R - Leitsätze in juris). Das Leistungsvermögen des Klägers reicht vielmehr noch für Tätigkeiten wie z.B. ein Zureichen, Abnehmen, Reinigungsarbeiten, Sortieren, Verpacken und Zusammensetzen von Teilen aus. Die Fähigkeit des Klägers, einfache Sortier- und Büroarbeiten (im Sitzen) durchzuführen, ist zuletzt in dem Gutachten von Dr. F. vom 6. Juni 2013 bestätigt worden.

59

Der Senat ist auch überzeugt, dass bei dem Kläger kein Katalog- oder Seltenheitsfall vorliegt, der zu einer Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarktes führen könnte.

60

Der Arbeitsmarkt gilt auch dann als verschlossen, wenn einem Versicherten die so genannte Wegefähigkeit fehlt; zur Erwerbsfähigkeit gehört auch das Vermögen, einen Arbeitsplatz aufsuchen zu können (vgl. GS BSG, Beschluss vom 19. Dezember 1996, a.a.O., zu Katalogfall 2). Dabei ist ein abstrakter Maßstab anzuwenden. Ein Katalogfall liegt nicht vor, soweit ein Versicherter täglich viermal Wegstrecken von knapp mehr als 500 m mit einem zumutbaren Zeitaufwand von bis zu 20 Minuten zu Fuß zurücklegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Mobilitätshilfen benutzen kann. Dem Kläger sind insbesondere Gehstrecken von 500 m am Stück viermal täglich noch zumutbar. Er benötigt für diese Gehstrecken unter Berücksichtigung der durch die PaVK im Stadium II b bedingten Gehpausen zwar 30 Minuten, d.h. mehr als 20 Minuten, pro Strecke. Entgegen der Auffassung des Klägers ist indes die nicht gegebene Fähigkeit, die Wegstrecke in der angegebenen Zeit zurückzulegen, durch eine Kfz- oder Fahrrad-Nutzung zu "kompensieren". Der Senat hält insoweit an seiner Auffassung in der Entscheidung vom 10. März 2011 (- L 3 R 270/08 - juris) nicht fest, sondern schließt sich der Rechtsansicht des BSG an, das großzügigere Maßstabe an die Nutzungsobliegenheit für Verkehrsmittel zur Kompensation eines eingeschränkten Gehvermögens formuliert hat (vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 2011 - B 13 R 79/11 R - juris). Der Kläger ist gesundheitlich in der Lage, einen Pkw zu führen. Ob er sich selbst längere Fahrten zutraut, hat für die hier maßgebenden kurzen Wegstrecken im Ergebnis keine Bedeutung.

61

Für die Notwendigkeit betriebsunüblicher Pausen lassen sich aus dem Gutachten von Dr. F. unter Berücksichtigung seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 7. August 2013 bereits in medizinischer Hinsicht keine Gesichtspunkte ableiten. Er hat die von dem Berichterstatter unter Berücksichtigung des § 4 ArbZG formulierte Beweisfrage zur Notwendigkeit von über eine halbe Stunde und eine Viertelstunde pro Arbeitstag hinausgehenden Pausen verneint und daran auch in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 7. August 2013 ausdrücklich festgehalten. Die Frage einer Modifizierbarkeit des Rechtsanspruchs auf Pausen nach dem ArbZG hat er als Rechtsfrage zutreffend seinen Ausführungen zugrunde gelegt, sodass insoweit auch keine weitere Nachfrage erforderlich war. Soweit der Kläger meint, die Regelung in § 4 ArbZG schließe eine Gewährung von Pausen während einer Arbeitszeit von sechs Stunden täglich grundsätzlich aus, folgt der Senat dem nicht. Vielmehr legt § 4 ArbZG, ähnlich wie z.B. die Regelungen zum Urlaubsanspruch nach § 3 des Mindesturlaubsgesetzes für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz - BUrlG), einen Mindestanspruch fest, ist also nur zu Lasten des Arbeitnehmers nicht modifizierbar (vgl. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Dezember 2009 - 5 AZR 157/09 - juris). Allein mit der Notwendigkeit, überhaupt eine Pause während der Arbeitszeit einlegen zu müssen, lässt sich für einen Arbeitnehmer auch bei einem auf sechs Stunden täglich begrenzten Leistungsvermögen keine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes belegen. Der Senat ist der Auffassung, dass sich im Übrigen bei der - hier vom Sachverständigen nicht eindeutig als Mindestmaß festgestellten - Notwendigkeit für einen Versicherten, während eines üblichen Arbeitstages eine halbstündige und eine viertelstündige Pause einzulegen, kein Rentenanspruch ergibt. Insoweit knüpft der Senat auch an die ältere Rechtsprechung des BSG an (vgl. Urteil vom 30. Mai 1984 - 5a RKn 18/83 - SozR 2200 § 1247 Nr. 43). In Bezug auf den engeren Maßstab, der teilweise der BSG-Rechtsprechung zu entnehmen ist (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 6. Juni 1986 - 5b RJ 42/85 - SozR 2200 § 1246 Nr. 136), ist zu berücksichtigen, dass sich als Rechtsfolge der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes zunächst nur die Obliegenheit des Rentenversicherungsträgers zur Benennung einer Verweisungstätigkeit ergibt. Es besteht also nur ein Rentenanspruch, wenn die Beklagte dieser Obliegenheit nicht nachgekommen ist. Hier bestand insbesondere keine Verpflichtung des Senates, auf diese Obliegenheit besonders hinzuweisen, da die Kriterien der "üblichen Arbeitsbedingungen" des allgemeinen Arbeitsmarktes während des hier maßgebenden Verfahrenszeitraums auch mit der Notwendigkeit von Pausen während eines Arbeitstages vereinbar gewesen sind. "Übliche Bedingungen" einer Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt liegen vor, wenn diese zwar nicht in der Mehrzahl, aber in einer beachtlichen Zahl der Arbeitsverhältnisse vorliegen (vgl. z.B. zu § 103 Arbeitsförderungsgesetz: BSG, Urteil vom 20. Juni 1978 - 7 RAr 45/77 - BSGE 46, 257ff.). Die geltenden Tarifverträge (u.a. der TVöD) verweisen zur Frage der Gestaltung der Arbeitszeit in einem nicht unerheblichen Geltungsbereich nur auf die Mindestpausenregelung im ArbZG und stellen es weitgehend in die Entscheidung auf Betriebsebene, die nähere Ausgestaltung der Arbeitszeitregelungen vorzunehmen. Insoweit ist es ohne Bedeutung, dass es durchaus eine Vielzahl von Betrieben geben mag, in denen Pausenregelungen vorgegeben werden, die von der Belegschaft strikt einzuhalten sind. Denn für eine nicht unwesentliche Anzahl von Arbeitsverhältnissen gelten diese Einschränkungen nicht. Der Arbeitstag von acht Stunden mit starren Anfangs- und Endzeiten ist nicht mehr die Regel (vgl. z.B. verdi, Umsetzungsempfehlungen zu den Arbeitszeitregelungen des TVöD, Stand 18. September 2006, S. 2 der Einleitung). Nicht selten gibt es Gleitzeitvereinbarungen auf Betriebsebene, die einen Gleitzeitrahmen vorsehen, innerhalb dessen der Arbeitnehmer die Pausen, für die der Arbeitgeber eine Entlohnung nicht schuldet, nach freiem Benehmen in Bezug auf Lage und Dauer wählen kann (vgl. z.B. die Gleitzeitvereinbarung für den nichtrichterlichen Dienst des LSG Sachsen-Anhalt).

62

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

63

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Entscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.


Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI).

2

Der am ... 1952 geborene Kläger absolvierte nach der Zehnten Schulklasse von September 1967 bis zum August 1970 eine Ausbildung zum Agrotechniker und von November 1972 bis August 1975 ein Fachschulstudium mit dem Abschluss als Agraringenieur. Er war von 1975 bis 1995 als Genossenschaftsmitglied in LPG’en versicherungspflichtig tätig. Der Kläger war anschließend arbeitslos und absolvierte vom 6. Juni 1995 bis zum 5. Juni 1996 eine Fortbildung für Landwirte "Ausbildung zum/zur BetriebshelferIn". Von 1996 bis 1998 war er als Arbeiter in einem Agrargenossenschafts-Betrieb tätig. Der Kläger war ab dem 18. Mai 1998 als kaufmännischer Mitarbeiter für das Lagerhaus Sch. der R. Hauptgenossenschaft Nord Aktiengesellschaft versicherungspflichtig beschäftigt. Ab dem 1. Januar 2001 wurde er ausweislich des entsprechenden Arbeitsvertrages bei der B. Lagerhaus GmbH & Co. KG als Kraftfahrer/Lagerarbeiter mit einem monatlichen Arbeitsentgelt in Höhe von 1.522,13 EUR eingestellt, wo er bis zu seiner Arbeitsunfähigkeit am 20. April 2006 2006 tätig war. Der Kläger bezog dann Krankengeld, später Leistungen der Arbeitsverwaltung. Er verfügt über einen Sachkundenachweis vom 8. November 1990 über den sachgerechten Umgang mit Pflanzenschutzmitteln und über eine Teilnahmebestätigung an einem betriebsinternen theoretischen Fortbildungskurs am 2. März 1999 mit praktischen Fahrübungen für Fahrer von Flurförderfahrzeugen.

3

Nach den Angaben des Klägers ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 anerkannt.

4

Der Kläger beantragte erstmals am 12. Januar 2007 bei der Beklagten erfolglos die Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung. In seinem zweiten Antrag auf Bewilligung dieser Rente vom 17. März 2008 machte er geltend, seit dem 20. April 2006 wegen eines Diabetes mellitus Typ II, eines Bluthochdrucks sowie Gefäß- und nervlichen Problemen in Füßen und Händen, wegen eines Herzinfarkts am 12. Juli 2006, eines Bandscheibenvorfalls am 5. Dezember 2005 und wegen Nieren- und Prostataproblemen sowie eines Augenleidens keine Tätigkeiten mehr verrichten zu können.

5

Die Beklagte zog zunächst die medizinischen Unterlagen aus den vorangegangenen Rehabilitations- und Rentenverfahren bei. In dem Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik E.-S. vom 19. Juni 2006 anlässlich der vom Kläger vom 16. Mai bis zum 13. Juni 2006 durchgeführten Anschlussheilbehandlung wegen eines Ende April 2006 neu entdeckten insulinpflichtigen Diabetes mellitus Typ IIb wird der Kläger als in der Lage erachtet, leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten unter Berücksichtigung zusätzlicher qualitativer Leistungseinschränkungen sowie seine bisherige Tätigkeit als Angestellter eines Landhandels vollschichtig zu verrichten. In dem Entlassungsbericht des M. Klinikums F. vom 25. August 2006 über die vom 1. bis zum 22. August 2006 durchgeführte Anschlussheilbehandlung nach einem NSTEMI (Myokardinfarkt) bei koronarer 3-Gefäßerkrankung am 12. Juli 2006 mit PTCA und Stentimplantation des RCX am 13. Juli 2006 wurde dem Kläger ein vollschichtiges Leistungsvermögen für die Tätigkeit als Angestellter eines Landhandels sowie für leichte bis mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung zusätzlicher qualitativer Leistungseinschränkungen bescheinigt. Dem von Dipl.-Med. J. unter dem 12. Februar 2007 für den MDK Sachsen-Anhalt erstellten Gutachten ist eine vollschichtige Belastbarkeit des Klägers für die Tätigkeit als Lager- und Transportarbeiter ohne Heben und Tragen von Lasten von über zehn kg und für leichte körperliche Tätigkeiten ohne schweres Heben und Tragen in überwiegend sitzender Tätigkeit - wegen der eingeschränkten Gehstrecke - zu entnehmen. In dem auf Veranlassung der Beklagten von dem Facharzt für Neurologie Dr. M. unter dem 2. Mai 2007 erstatteten Gutachten, auf der Grundlage einer ambulanten Untersuchung des Klägers an diesem Tag, wird unter Berücksichtigung der neurologischen Diagnosen einer diabetischen Polyneuropathie und eines Karpaltunnelsyndroms rechts mehr als links der Kläger für in der Lage erachtet, leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten mit weiteren zusätzlichen qualitativen Einschränkungen sechs Stunden und mehr täglich zu verrichten. Im Ankreuzverfahren bejahte Dr. M. die Fähigkeit des Klägers, mehr als 500 m innerhalb von 20 Minuten viermal täglich zu Fuß zurückzulegen.

6

Ausweislich des Berichtes des Klinikums W. vom 15. Februar 2007 erfolgte bei der Herzkatheder-Kontrolle an diesem Tag eine weitere Stentversorgung. In dem Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik L. in B. S. vom 20. Dezember 2007 über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme des Klägers vom 19. November bis zum 20. Dezember 2007 wird dieser für leichte bis "teils leicht" mittelschwere Tätigkeiten unter Berücksichtigung zusätzlicher qualitativer Einschränkungen im Umfang von sechs Stunden und mehr täglich für leistungsfähig erachtet. Für seine letzte berufliche Tätigkeit als Lagerarbeiter im Landhandel sei er unter drei Stunden täglich einsetzbar. Zu berücksichtigen sei u.a. die Hypaesthesie im Bereich der Hände und Füße mit entsprechender Beeinträchtigung der Fingerfeinfunktion.

7

In den dem Streitverfahren zugrundeliegenden Rentenverfahren ließ die Beklagte nach Einholung eines Befundberichtes der Ärztin Dipl.-Med. S. vom 21. März 2008 die Gutachterärztin Dipl.-Med. S. das Gutachten vom 24. Juni 2008 auf der Grundlage einer ambulanten Untersuchung des Klägers am 19. Juni 2008 erstatten. Dipl.-Med. S. führte als Diagnosen einen mäßig eingestellten, sekundär insulinbedürftigen Diabetes mellitus mit diabetischer Retinopathie und Polyneuropathie, eine chronisch-ischämische Herzkrankheit - mit Zustand nach Herzinfarkt im Juli 2006 sowie PTCA und Stent-Implantation - Herzleistungs-Stadium NYHA II, eine gut eingestellte arterielle Hypertonie, eine Hüftgelenkserkrankung beidseits mit mäßigen Funktionseinschränkungen und ein chronisches Wirbelsäulenleiden ohne wesentliche Funktionsminderung auf. Der Kläger könne die letzte Tätigkeit als Angestellter in einem Landhandelsbetrieb mit mittelschweren bis schweren Hebe- und Trageleistungen nicht mehr verrichten. Für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten bestehe eine tägliche über sechsstündige Eignung. Im Ankreuzverfahren bejahte auch sie die Fähigkeit des Klägers, mehr als 500 m innerhalb von 20 Minuten viermal täglich zu Fuß zurückzulegen.

8

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab (Bescheid vom 30. Juni 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 2008). Die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei durch eine Zuckerkrankheit mit Folgeschäden an den Augen und Nerven, eine Herzerkrankung mit Zustand nach Infarkt und Gefäßaufweitung mit Stentimplantation, ein Hüftleiden beidseits und ein chronisches Wirbelsäulenleiden beeinträchtigt. Gleichwohl bestehe beim Kläger ein Leistungsvermögen für sechs Stunden und mehr täglich für leichte bis mittelschwere Arbeiten in wechselnder Körperhaltung, ohne Klettern, Absturzgefahr und Zeitdruck in Früh- und Spätschicht. Der Kläger sei zudem nicht berufsunfähig. Es sei von einem Hauptberuf als Lagerarbeiter auszugehen. Der Kläger sei in die Gruppe der Ungelernten im Mehrstufenschema einzuordnen. Er sei auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Berücksichtigung der zusätzlichen qualitativen Leistungseinschränkungen verweisbar.

9

Hiergegen hat sich der Kläger mit der am 13. November 2008 bei dem ehemaligen Sozialgericht Stendal erhobenen Klage gewandt und den Anspruch auf Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung weiterverfolgt. Wegen Schwindelattacken, Gleichgewichtsstörungen, einer Sehschwäche und Schmerzen, insbesondere an Händen und Füßen, könne er nicht mehr mindestens drei Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sein. Er habe als Lagerarbeiter auch Tätigkeiten als gelernter Landwirt und Agraringenieur ausgeführt. Sein Fachwissen sei insbesondere im Zusammenhang mit der Einlagerung und Anlieferung von Pflanzengift, Düngermitteln und Saatgut und auch bei Fragen des Feldanbaus und Maschineneinsatzes erforderlich gewesen. Er habe zudem die Landwirte im Umgang mit Gift sowie über die in der Landwirtschaft einzusetzenden Produkte beraten und sei auch für die Lagerlogistik verantwortlich gewesen.

10

Das Sozialgericht hat zunächst eine Auskunft der B. Lagerhaus GmbH & Co. KG vom 20. März 2009 eingeholt. Als Lagerarbeiter habe der Kläger seit dem 18. Mai 1998 Tätigkeiten in der Warenannahme und -ausgabe, in der Getreide- und Düngerverladung und Einlagerung sowie beim Kommissionieren und Ausfahren von Waren verrichtet. Für die Warenbewegung seien der Staplerschein und für das Kommissionieren bzw. die Annahme und Ausgabe der Ware landwirtschaftliche Fachkenntnisse erforderlich gewesen. Es habe sich um eine mittelschwere und schwere gewerbliche Lagerarbeit mit Heben und Tragen von Lasten ab 15 kg unter witterungsbedingten Einflüssen und starker Getreidestaubentwicklung gehandelt. Der Kläger habe ab Januar 2002 einen Stundenlohn in Höhe von 8,75 EUR erhalten.

11

Das Sozialgericht hat Befund- und Behandlungsberichte eingeholt. Dipl.-Med. S. hat in ihrem Befundbericht vom 16. März 2009 mitgeteilt, die koronare Herzerkrankung sei stabil und der Diabetes gut geführt. Die neu hinzugekommenen Folgeerkrankungen wie Polyneuropathie, Retinopathie und chronische Arthritis bereiteten dem Kläger Probleme. Die Fachärztin für Orthopädie und Chirotherapie Dr. W. hat unter dem 2. Juli 2009 eine Verschlechterung der Gesundheitssituation seit Mai 2009 mitgeteilt.

12

Die Beklagte hat den Entlassungsbericht der Rehaklinik B. S. vom 2. Juli 2009 über die stationäre pulmologische Anschlussheilbehandlung des Klägers vom 28. Mai bis zum 25. Juni 2009 vorgelegt. Der Kläger habe sich zuvor im April 2009 in stationärer Behandlung wegen einer Pneumonie mit respiratorischer Partialinsuffizienz im linken Mittel- und Unterfeld mit septisch gestreuten pneumonischen Herden befunden. Im Rahmen der Spirometrieuntersuchung am 23. Juni 2009 sei im Vergleich zur Altersnorm eine ausreichend gute körperliche Belastbarkeit des Klägers festzustellen gewesen. Manifeste kardiopulmonale Dekompensationszeichen seien nicht nachweisbar gewesen. Als Diagnosen werden eine Pneumonie im April 2009, eine Persönlichkeitsstörung, ein Diabetes mellitus Typ II - insulinpflichtig mit Komplikationen - und eine koronare Herzkrankheit (KHK) genannt. Aufgrund der pulmologischen Erkrankung sei der Kläger in absehbarer Zeit für leichte körperliche Tätigkeiten unter Vermeidung von extrem klimatischen Verhältnissen und inhalativen Noxen wieder arbeitsfähig. Erschwerend hinzugetreten sei eine durch psychiatrische Diagnostik abzuklärende psychische Störung, welche auch einer Psychotherapie zugeführt werden müsse. Aus diesem Grund sei der Kläger derzeit unter drei Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und in seinem zuletzt ausgeübten Beruf einsatzfähig.

13

Das Sozialgericht hat sodann den Chefarzt der Medizinischen Klinik II des St. E. und St. B. Krankenhauses Prof. Dr. W. das Gutachten vom 1. März 2011 auf der Grundlage einer ambulanten Untersuchung des Klägers am 26. November 2010 erstatten lassen. Der Kläger habe angegeben, an einer Antriebsarmut verbunden mit dem Gefühl von Kraftlosigkeit zu leiden, weshalb er sich körperlich schone. Insgesamt sei sein Gesundheitszustand aber seit ca. 2008 stabil. Er habe über taube Füße und ein Einschlafen des rechten Beines im Sitzen sowie über kalte Füße und Hände geklagt. Nach zwei Etagen trete beim Gehen Luftnot auf. Er könne Fahrrad fahren, leide jedoch gelegentlich beim Abwärtsfahren unter Schwindel. Längere Spaziergänge seien ihm möglich. An Gewicht habe er in den letzten Jahren bis auf 110 kg zugenommen. Als Diagnosen hat Prof. Dr. W. eine koronare Dreigefäßerkrankung, einen Zustand nach Nicht-ST-Hebungsinfarkt Juli 2006 mit PCI der RCX, einen Zustand nach Restenose RCX mit Re-PCI Februar 2007, einen Zustand nach PCI R. intermedius Februar 2007, eine leicht eingeschränkte linksventrikuläre Pumpfunktion, eine linksventrikuläre diastolische Compliancestörung, eine Aortenstenose Grad I - II, eine periphere Angiosklerose, Diabetes mellitus Typ II - insulintherapiert -, eine diabetische Polyneuropathie, eine chronische Niereninsuffizienz, eine arterielle Hypertonie, eine Hyperlipidämie, eine Adipositas, ein Lumbalsyndrom, eine Coxarthrose beidseits, ein Karpaltunnelsyndrom, einen Zustand nach Schilddrüsenresektion Februar 2008, einen Zustand nach Pneumonie April 2009 und eine Prostatahypertrophie benannt. Hinweise auf eindeutige psychische Abweichungen bestünden nicht. Die koronare Herzerkrankung sei derzeit stabil, gut therapiert und ohne wesentlichen Einfluss auf das Leistungsvermögen des Klägers. Die in Bezug auf die Polyneuropathie vorgebrachten Beschwerden seien nach Intensität und Art glaubhaft und hätten bei der Untersuchung sowie in den Befunden objektiviert werden können. Die insgesamt beschriebene körperliche Schwäche sei aufgrund der hier erhobenen Befunde (Gesamteindruck bei den durchgeführten Untersuchungen sowie bei der ergometrischen Belastung) und der detaillierten anamnestischen Befragung (längere Spaziergänge und Radfahrten seien möglich) so nicht glaubhaft und nachvollziehbar. An beiden Armen und Beinen habe eine normale Muskelmasse ohne Hinweis auf Muskelathrophien festgestellt werden können. Bei den beobachteten Bewegungen und Gängen habe sich kein Hinweis auf eine Schonhaltung oder einen atypischen Bewegungsablauf ergeben. Der Kläger könne noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ohne Heben und Tragen von schwereren Lasten, überwiegend im Sitzen und Stehen verrichten. Eine vorwiegend gehende Tätigkeit sei nicht zumutbar. Der Kläger sollte überwiegend in geschlossenen Räumen und nur kurzzeitig im Freien arbeiten. Eine Tätigkeit in Nachtschicht und unter hohem Leistungsdruck (z.B. Akkord- und Fließbandarbeit) könne der Kläger nicht bewältigen. Arbeiten in Früh- und Spätschicht seien möglich. Er sei Tätigkeiten mit einfacher bis gehobener Verantwortung und geistiger Beanspruchung gewachsen. Arbeiten in Zwangshaltungen, auf Leitern und Gerüsten, mit besonderer Verletzungsgefahr sowie solche, die eine erhöhte Einsatzfähigkeit der Beine erforderten, seien nicht zumutbar. Aufgrund des Karpaltunnelsyndroms und neuropathischer Veränderungen seien Tätigkeiten mit hohen feinmotorischen Anforderungen an die Hände nicht möglich. Nach einer Eingewöhnungs- und Trainingsphase von voraussichtlich wenigen Monaten sei dem Kläger eine vollschichtige Arbeit möglich. Im Hinblick auf die mehrjährige fehlende Berufstätigkeit sei in den ersten Monaten vermehrt die Einlegung von Pausen in einem Umfang von anfangs ca. 30 Minuten alle zwei Stunden einzuplanen. Eine Tätigkeit als Sortierer oder Verpacker kleiner Teile erscheine aufgrund der Limitation der Gebrauchsfähigkeit der Hände, insbesondere für feinmotorische Aufgaben, nicht zumutbar. Die Tätigkeit als Lagerarbeiter sei wegen der vorwiegend stehenden Arbeiten ausgeschlossen. Eine Tätigkeit als Pförtner - auch in der öffentlichen Verwaltung - sei möglich. Die kardiovaskuläre und körperliche Belastbarkeit des Klägers habe sich in den letzten Jahren nicht erkennbar verändert. Die Leistungsfähigkeit habe sich lediglich im Hinblick auf die diabethoische Neuropathie und die orthopädischen Beschwerden (Coxarthrose) verschlechtert. Bis auf den Entlassungsbericht der Rehaklinik B. S. vom 2. Juli 2009 ergebe sich keine Diskrepanz zu vorangegangenen Gutachten. Es sei jedoch davon auszugehen, dass die im Entlassungsbericht beschriebenen psychischen Störungen im Hinblick auf die vorliegenden Arztbriefe und Gutachten sowie das Begutachtungsergebnis nur vorübergehend aufgetreten seien und weder vor noch nach der Rehabilitationsmaßnahme eine wesentliche Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit bewirkt hätten. Der bei der Begutachtung festgestellte Zustand bestehe voraussichtlich dauerhaft. Der Kläger sei in der Lage, mindestens 500 m zu Fuß viermal täglich zurückzulegen. Er sei zudem in der Lage, einen Pkw zu führen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Auf dem feststehenden Ergometer habe der Kläger bei der Untersuchung geübt und sicher gewirkt. Er sei zur Untersuchung nach H. ca. 2,5 Stunden je Weg mit dem Auto gefahren.

14

Die Beklagte hat den Kläger hilfsweise auf die Tätigkeit als Pförtner an der Nebenpforte verwiesen und berufskundliche Unterlagen (u.a. die Anfragen des erkennenden Senats vom 15. April 2011 und 13. Oktober 2011 an des Bundesverband Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen (BDWS) und dessen Antwortschreiben vom 1. Juni 2011 und 26. Oktober 2011) überreicht. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 330 bis 342 der Gerichtsakten Bezug genommen.

15

Das Sozialgericht Magdeburg hat mit Gerichtsbescheid vom 2. April 2012 die Klage abgewiesen. Der Kläger sei nicht berufsunfähig. Maßgeblicher Beruf sei die zuletzt langjährig ausgeübte Tätigkeit als Lagerarbeiter bei der Firma B. Lagerhaus GmbH & Co. KG. Eine solche Tätigkeit könne der Kläger nach seinen gesundheitlichen und beruflichen Kräften und Fähigkeiten nicht mehr ausführen. Er könne nur noch leichte bis mittelschwere Arbeiten mit zusätzlichen qualitativen Einschränkungen sechs Stunden und mehr täglich verrichten. Dies ergebe sich zur Überzeugung des Gerichts aus dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. W. vom 1. März 2011. Der vom Kläger geschilderte Tätigkeitsbereich bei der Firma B. Lagerhaus GmbH & Co. KG im Kontext mit seinen Arbeitsverträgen und beruflichen Qualifikationen lasse höchstens eine Eingruppierung als oberer Angelernter zu. Der Kläger genieße keinen erhöhten Berufsschutz. Der Tätigkeitsbereich als Lagerarbeiter habe nur einen Teilbereich des Aufgabenfeldes umfasst, welches einem Agrartechniker/Agraringenieur zukomme. Die Arbeiten des Klägers als Lagerarbeiter stellten sich jedoch als Tätigkeit dar, die auch von ungelernten Kräften oder Landarbeitern ohne weitere Ausbildung hätten verrichtet werden können. Im Übrigen habe sich der Kläger nach den Qualifizierungsnachweisen nach 1989 die für seine Tätigkeit als Lagerarbeiter grundlegend notwendigen Kenntnisse erst erneut aneignen müssen. Selbst wenn man zugunsten des Klägers davon ausginge, dass er auf Grund seiner gewonnenen Berufserfahrung der Gruppe mit dem Leitbild des angelernten Arbeiters im oberen Bereich zugeordnet werde, sei er in jedem Fall auf die von der Beklagten benannte Tätigkeit eines Pförtners an der Nebenpforte zumutbar verweisbar. Ebenfalls liege in Anbetracht der Einsatzfähigkeit des Klägers im Umfang von sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung vor.

16

Gegen den ihm am 13. April 2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 8. Mai 2012 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt und einen Anspruch auf Bewilligung von Rente wegen Erwerbsminderung weiter geltend gemacht. Er sei auf Grund seiner psychischen Erkrankung nicht in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auch nur drei Stunden täglich tätig zu sein. Er sei zudem im Hinblick auf seine Tätigkeit bei der B. Lagerhaus GmbH & Co. KG als Facharbeiter einzuordnen. Die Bezeichnung "Lagerarbeiter" sei zwar dem Arbeitsvertrag zu entnehmen, entspreche aber nicht seiner tatsächlichen Tätigkeit. Der absolute Schwerpunkt seiner Tätigkeit sei "geistiger Natur" gewesen. Er habe die Landwirte fachkundig über die in der Landwirtschaft einzusetzenden Produkte und den Einsatz von Chemikalien, Gift usw. beraten. Er sei gerade wegen seines Fachschulstudiums eingestellt worden. Ferner verfüge er über besondere Kenntnisse, die im Zusammenhang mit der Einlagerung von Getreide und Düngern erforderlich gewesen seien. Wegen seines eingeschränkten Sehvermögens und der psychischen Störung sei die Tätigkeit als Pförtner an der Nebenpforte medizinisch nicht zumutbar.

17

Er beantragt,

18

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 2. April 2012 und den Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 1. März 2008 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, insbesondere bei Berufsunfähigkeit, zu bewilligen.

19

Die Beklagte beantragt,

20

die Berufung zurückzuweisen.

21

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid und ihren Bescheid für zutreffend.

22

Der Senat hat Befund- und Behandlungsberichte eingeholt. Der Facharzt für Augenheilkunde Dr. H. hat unter dem 10. Februar 2013 einen relativ stabilen Zustand nach beidseitiger Laserkoagulation bei einer nichtproliferativen diabetischen Retinopathie und einer beginnenden Maculopathie beidseits sowie einen Cataracta (grauen Star) senilis beidseits mit einem Visus beidseits von 0,6 aufgezeigt. Dipl.-Med. S. hat unter dem 12. Februar 2013 eine Zunahme der Beschwerden im Sinne einer Polyneuropathie, eine zunehmende Depressivität, ein Karpaltunnelsyndrom, eine Gicht und eine Retinopathie sowie eine Verschlechterung der Nierenfunktion mitgeteilt. Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. hat unter dem 16. Februar 2013 rezidivierende, bei einer letztmaligen Behandlung des Klägers am 22. August 2012 remittierte, depressive Episoden bei einer stabilen Psyche des Klägers ohne zusätzliche Medikation beschrieben. Die symmetrische sensomotorische Polyneuropathie bei Diabetes mellitus sei stabil, das ausgeprägte Karpaltunnelsyndrom unverändert. Der Facharzt für Innere Medizin/Nephrologie Dr. K. hat unter dem 21. Februar 2013 unter Bezugnahme auf einen Arztbrief vom 12. Februar 2013, in welchem als Diagnosen eine chronische Niereninsuffizienz Stadium III und eine arterielle Hypertonie mit hypertensiver Nierenkrankheit aufgeführt sind, eine Befundkonstanz seit 2007 aufgezeigt. Dr. W. hat unter dem 11. Februar 2013 auf einen hinzugekommenen Ellenbogenschmerz links sowie auf eine Schmerzzunahme mit Chronifizierung des Cervical- und Lumbalsyndroms verwiesen. In dem beigefügten Bericht vom 11. März 2013 hat er als Diagnosen ein Lumbalsyndrom, eine Osteochondrose/Spondylose DL-Übergang sowie L3 bis S1, einen Morbus Baastrup L3-S1, eine Coxarthrose beidseits, eine Gon- und Retropatellararthrose beidseits sowie eine Arthrose des linken Ellenbogens angegeben.

23

Die B. Lagerhaus GmbH & Co. KG hat mit Schreiben vom 21. Februar 2013 auf Nachfrage des Senats mitgeteilt, mit Wirkung zum 1. Januar 2001 das Lager in Sch. von der R. Hauptgenossenschaft N. AG übernommen zu haben. Nach Aussage des Lagerverantwortlichen H. Sch. sei der Kläger zu keinem Zeitpunkt als kaufmännischer Angestellter in Sch. tätig gewesen. Nach der Übernahme sei mit dem Kläger ein Arbeitsvertrag gemäß den tatsächlichen Gegebenheiten als Kraftfahrer/Lagerarbeiter vereinbart worden. Bei dem Hauptaufgabengebiet des Klägers - der Wareneingangskontrolle, Kommissionierung der Ware sowie sachgerechten Warenausgabe, -verladung und -auslieferung - seien landwirtschaftliche Fachkenntnisse überwiegend in Bezug auf die Produkte in den Bereichen Pflanzenschutz, Saatgut, Futter und Dünger sowie in Bezug auf die Lagerung von Getreide im Hinblick auf Temperatur, Lüftung und Gesunderhaltung nicht Voraussetzung, allerdings sehr von Nutzen gewesen. Im Notfall wäre auch jemand ohne diese Kenntnisse eingestellt worden. Allerdings wäre eine Anlernzeit von ca. einem Jahr inklusive Produktschulungen für Pflanzenschutz- und Düngemittel sowie Schulungen für Getreidelagerung und Gesunderhaltung erforderlich gewesen. Der Beruf des Agrotechnikers der ehemaligen DDR sei durch Führen und Fahren von landwirtschaftlichen Maschinen (Traktoren, Roder etc.) gekennzeichnet gewesen. Diese Tätigkeiten seien bei der B. Lagerhaus GmbH & Co. KG nicht ausgeübt worden. Tätigkeiten seien für die Bereiche Pflanzenschutz/Saatgut/Futter/Dünger bei der Wareneingangskontrolle/Warenannahme (10 %), Kommissionierung (15 %), Warenausgabe (15 %), Warenauslieferung (10 %) und Lagerung von Dünger (10 %), bei der Ein- und Auslagerung von Getreide und Gesunderhaltung von Getreide (25 %) und bei der Pflege und Wartung der Technik - Radlader, Teleskoplader, Gabelstapler - (5 %) angefallen. Lediglich für die Ordnung und Sauberkeit im Hof- und Lagerbereich (5 %) und kleinere Reparaturen (5 %) seien landwirtschaftliche Fachkenntnisse nicht von Nutzen gewesen.

24

Auf Veranlassung des Senats hat die Fachärztin für Innere Medizin, Sozialmedizin und Betriebsmedizin Dr. H. das Gutachten vom 22. Januar 2014 auf der Grundlage einer ambulanten Untersuchung des Klägers am 9. Dezember 2013 erstattet. Sie hat folgende Diagnosen benannt:

25

Herzleistungsminderung NYHA II bei koronarer Dreigefäß-Erkrankung:

26

echokardiografisch leichtgradig reduzierte Pumpfunktion (EF 47 %) und diastolische Funktionsstörung, bekannte Aortenklappenstenose,

27

Myokard-Infarkt (Nicht-ST-Hebungsinfarkt) 07/2006 mit Stent/PTCA an RCX (Ast der linken Koronararterie),

28

PTCA/Stent-Implantation 02/2007 an RCX wegen Re-Stenose und am Ramus intermedius,

29

zusätzlich kardiovaskuläres Risikoprofil durch Langzeit-Diabetes mellitus mit familiärer Veranlagung, Hypertonie und Ex-Nikotinabusus.

30

Langzeit Diabetes mellitus (Erstdiagnose 2006):

31

periphere Neuropathie, Nephro- und Retinopathie,

32

sekundär insulinpflichtig und gut kompensiert,

33

selten Hypoglykämie-Neigung.

34

Peripher-arterielle Durchblutungsstörung beider Beine Fontaine-Stadium II a.

35

Minderbelastbarkeit der Wirbelsäule mit muskulären Dysbalancen im Schultergürtelbereich und leichter Funktionsstörung ohne neurologische Ausfälle.

36

Minderbelastbarkeit der Hüftgelenke mit leichten Funktionsstörungen durch Arthrose.

37

Minderbelastbarkeit der Kniegelenke mit leichten Funktionsstörungen durch kniescheibenrückseitige Arthrose.

38

Karpaltunnel-Syndrom und schnellender Mittelfinger beidseits ohne relevante Beeinträchtigung der Handfunktionen.

39

Der Kläger könne noch leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten mit Tragen von Lasten von ca. 10 bis 15 kg wechselweise im Gehen, Stehen und/oder Sitzen mindestens sechs Stunden täglich verrichten. Arbeiten mit ständigen, längeren bzw. häufigen einseitigen körperlichen Belastungen bzw. Zwangshaltungen, wie Knien, Hocken oder Bücken, mit monotonen Körperhaltungen sowie auf Leitern und Gerüsten seien ausgeschlossen. Gelegentliche einseitige körperliche Belastungen bzw. Zwangshaltungen seien zumutbar. Einschränkungen hinsichtlich der Handbewegungen des Alltags- oder Berufslebens bestünden nicht. Arbeiten mit überwiegend feinmotorischen Tätigkeiten sollten nicht abverlangt werden. Zur Begutachtung sei die Kraftentwicklung der Hände nur gering eingeschränkt und ausreichend für mittelschwere Lasten gewesen. Der Kläger solle Arbeiten im Freien, bei Kälte, Nässe und Zugluft meiden. Die Arbeiten sollten ausschließlich in geschlossenen, heizbaren Räumen durchgeführt werden. Aufgrund der mäßigen Sehbehinderung von jeweils 0,6 Sehleistung an beiden Augen könnten keine besonderen Anforderungen an das Sehvermögen mehr abverlangt werden. Hinsichtlich Genauigkeit und Präzision seien nur einfache Anforderungen an das Sehvermögen zu stellen. Das Hörvermögen habe sich unbeeinträchtigt gezeigt. Der Kläger sei Arbeiten mit geistig mittelschwierigen Anforderungen gewachsen. Der psychische Befund sei hinsichtlich kognitiver Leistungen, Affekt, Stimmungslage und Antrieb unauffällig gewesen. Im Umstellungsvermögen und der Ausdauerleistung habe der Kläger keine Einschränkungen aufgewiesen. Auch die wiederkehrenden Stimmungsstörungen beeinträchtigten die geistige Belastbarkeit nicht. Der Kläger sei durchschnittlichen Anforderungen an mnestische Anforderungen gewachsen. Arbeiten in Wechsel- und Nachtschicht sowie mit besonderem Zeitdruck (Akkord, Fließbandarbeit) seien nicht möglich. Häufiger Publikumsverkehr sei zumutbar. Arbeiten mit Eigen- und Fremdgefährdung (auf Gerüsten, Leitern, Treppen, an routierenden Maschinenteilen) seien ausgeschlossen. Arbeiten mit leichten körperlichen Verrichtungen, wie Zureichen, Abnehmen, Verpacken, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben und Sortieren, seien durchführbar. Das Zusammensetzen von Teilen sei wegen des Karpaltunnelsyndroms nicht über sechs Stunden täglich möglich. Das Zusammensetzen von Kleinteilen sei wegen der mäßigen Sehbehinderung eher nicht ausführbar. Der Kläger sei in der Lage, regelmäßig Fußwege von knapp mehr als 500 m binnen 20 Minuten viermal täglich zurückzulegen. Er habe den Belastungstest auf leichter bis mittelschwerer Laststufe 9 Minuten ohne Claudicatio-Symptomatik bewältigt. In Anbetracht der objektiven Befunde und der Schilderung des Klägers über seine Alltagsgewohnheiten ergebe sich keine relevant eingeschränkte Gehfähigkeit. Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers sei seit der Rentenantragstellung am 17. März 2008 nicht eingetreten.

40

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

41

Die Berufung ist unbegründet.

42

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, weil dem Kläger weder ein Anspruch auf Bewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung noch von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, insbesondere bei Berufsunfähigkeit, zusteht. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§§ 153 Abs. 1, 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

43

Nach § 43 Abs. 1, Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

44

Der Kläger ist aber weder teilweise noch voll erwerbsgemindert. Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

45

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann der Kläger unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein. Dabei geht der Senat von folgendem Leistungsbild aus: Der Kläger kann noch leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten mit Tragen von Lasten von ca. 10 bis 15 kg wechselweise im Gehen, Stehen und/oder Sitzen sechs Stunden und mehr täglich verrichten. Arbeiten mit ständigen, längeren bzw. häufigen einseitigen körperlichen Belastungen bzw. Zwangshaltungen, wie Knien, Hocken oder Bücken, mit monotonen Körperhaltungen sowie auf Leitern und Gerüsten sind ausgeschlossen. Gelegentliche einseitige körperliche Belastungen bzw. Zwangshaltungen sind zumutbar. Es besteht eine Gebrauchsfähigkeit der Hände für leichte bis mittelschwere Arbeiten. Überwiegend feinmotorischen Tätigkeiten sind zu vermeiden. Der Kläger kann ausschließlich nur in geschlossenen, heizbaren Räumen - ohne Einfluss von Kälte, Nässe und Zugluft - arbeiten. Arbeiten mit besonderen Anforderungen an das Sehvermögen können nicht abverlangt werden. Hinsichtlich Genauigkeit und Präzision sind nur einfache Anforderungen an das Sehvermögen zu stellen. Das Hörvermögen ist nicht eingeschränkt. Der Kläger ist Arbeiten mit geistig mittelschwierigen Anforderungen und durchschnittlichen Anforderungen an mnestische Anforderungen gewachsen. Arbeiten in Wechsel- und Nachtschicht, mit besonderem Zeitdruck (Akkord, Fließbandarbeit) sowie mit Eigen- und Fremdgefährdung (auf Gerüsten, Leitern, Treppen, an routierenden Maschinenteilen) sind ausgeschlossen. Arbeiten mit häufigem Publikumsverkehr sind möglich.

46

Dieses Leistungsbild ergibt sich für den Senat aus dem Gesamtergebnis der medizinischen Ermittlungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, insbesondere aus den überzeugenden und weitgehend übereinstimmenden Gutachten von Dr. H. vom 22. Januar 2014, von Prof. Dr. W. vom 1. März 2011 und von Dipl.-Med. S. vom 19. Juni 2008 sowie den Entlassungsberichten der Rehabilitationsklinik L. vom 20. Dezember 2007, des M. Klinikums F. vom 25. August 2006 und der Rehabilitationsklinik E.-S. vom 19. Juni 2006. Ferner stützt sich der Senat auf die Gutachter von Dr. M. vom 2. Mai 2007 und von Dr. J. vom 12. Februar 2007.

47

Bei dem Kläger liegen eine koronare Dreigefäß-Erkrankung mit einem Zustand nach einem Myokard-Infarkt im Juli 2006 mit Stentimplantation und eine Bluthochdruckerkrankung vor. Unter Berücksichtigung der anamnestischen Angaben des Klägers bei den Begutachtungen sowie der körperlichen und apparativen Befunde besteht eine stabile kardiale Situation ohne eine wesentliche Verschlechterung der Herzleistung seit der Rentenantragsstellung. Bei Dr. H. zeigte sich eine ergometrische Belastbarkeit des Klägers bei 50 W für sechs Minuten und bei 75 W für drei Minuten. Im EKG ergab sich kein Hinweis auf eine myokardiale Minderdurchblutung. Nach der Lungenfunktionsprüfung konnte eine restriktive oder obstruktive Lungenfunktionsstörung ausgeschlossen werden. Echokardiografisch war die linksventrikuläre Pumpfunktion links mit einer linksventrikulären Auswurffraktion von 47 % nur leicht eingeschränkt. Die vom Kläger bei Dr. H. dargestellte subjektive Symptomatik entspricht nach der Einschätzung der gerichtlichen Sachverständigen dem Herzleistungs-Stadium NYHA II und steht einer vollschichtigen Leistungsfähigkeit für körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten unter Berücksichtigung der o.g. qualitativen Einschränkungen nicht entgegen. Auch in der Zeit vor der Begutachtung bei Dr. H. hat sich die koronare Herzerkrankung ausweislich der Kontrollkoronarangiografie ohne erneute Einengungen der Koronargefäße sowie der ergometrischen Belastungstests stabil dargestellt. Bei Prof. Dr. W. ist der Kläger bis 150 W ergometrisch ohne Zeichen einer koronaren Minderdurchblutung belastbar gewesen.

48

Ferner leidet der Kläger an einem erstmals 2006 diagnostizierten Diabetes mellitus, der durch die Insulintherapie gut kompensiert ist. Darüber hinaus bestehen diabetische Folgeerscheinungen mit peripherer Neuropathie, Nephro- und Retinopathie. Dr. H. hat für den Senat überzeugend dargestellt, dass die diabetische Nephropathie die Missempfindungen an Händen und Füßen des Klägers erklärt. Die Greiffunktion der Hände ist zeitweise eingeschränkt. Ferner bestehen Gleichgewichtsstörungen beim Bergabgehen, die mit der gestörten Tiefensensibilität zu begründen sind. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen sind dem Kläger überwiegende feinmotorische Arbeiten - auch wegen des Karpaltunnelsyndroms und des schnellenden Fingers - nicht mehr möglich. Die diabetische Nephropathie schränkt die Nierenfunktion nicht relevant ein. Die Netzhautschädigung beider Augen wurde mit einer Laserkoagulation therapiert. Das korrigierte Sehvermögen beider Augen liegt bei 0,6 Dioptrien und entspricht einer mäßigen Sehbehinderung. Eine präzise Ausführung manueller Feinarbeiten ist dem Kläger deshalb nicht mehr möglich. Auf Grund des Diabetes mellitus und der daraus resultierenden Folgeerkrankungen sind dem Kläger Arbeiten mit Eigen- und Fremdgefährdung, Nacht-und Wechselschicht und manuelle Feinarbeiten nicht mehr zumutbar.

49

Beim Kläger liege zudem an eine peripher-arterielle Durchblutungsstörung beider Beine nach dem Fontaine-Stadium IIa vor. Eine Verschlechterung dieser Erkrankung wird durch seine Angaben des Klägers zur Beweglichkeit im Alltag und die körperlich-apparativen Befunde bei Dr. H. nicht bestätigt. Der Kläger selbst hat angegeben, 30 Minuten zu gehen und auch Fahrrad zu fahren. Er kann keine Arbeiten unter Einfluss von Nässe und Kälte ausüben.

50

Ferner besteht eine Minderbelastbarkeit der Wirbelsäule, eine Arthrose der Hüft- und der Kniegelenke beidseits mit nur leichten Funktionseinschränkungen. Insoweit ist der Kläger Arbeiten mit häufigen Zwangshaltungen, monotonen Körperhaltungen, mit Besteigen von Leitern und Gerüsten und mit längerer Exposition gegenüber Kälte und Nässe sowie mit häufigem Bücken, Hocken und Knien nicht gewachsen. Eine quantitative Leistungsminderung resultiert daraus jedoch nicht.

51

Die Einschätzung der Rehabilitationsklinik S. im Entlassungsbericht vom 2. Juli 2009 im Sinne eines unter dreistündigen täglichen Leistungsvermögens, insbesondere im Hinblick auf eine psychische Störung und Persönlichkeitsstörung des Klägers, ist für den Senat nicht nachvollziehbar. Die Beurteilung erfolgte auf der Basis psychologischer Gespräche und eines Fragebogens, ohne dass eine psychiatrische Diagnostik durchgeführt worden ist. Für eine psychische Störung besteht jedoch unter Berücksichtigung der dem Senat vorliegenden medizinischen Befunde kein Anhalt. Bei sämtlichen Begutachtungen haben sich keine Hinweise für eine rentenrelevante psychische Erkrankung ergeben. Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. hat in dem von Dipl.-Med. S. unter dem 16. März 2009 mit übersandten Arztbrief vom 25. August 2008 einen unauffälligen psychiatrischen Status des Klägers mitgeteilt. In ihrem Befundbericht vom 16. Februar 2013 hat sie bei einer letztmaligen Behandlung des Klägers am 22. August 2012 auf dessen stabile Psyche ohne zusätzliche Medikation verwiesen. Zuvor aufgetretene rezidivierende depressive Episoden haben sich zurückgebildet. Insoweit ist der Kläger noch Arbeiten mit geistig mittelschwierigen Anforderungen und durchschnittlichen Anforderungen an mnestische Anforderungen gewachsen.

52

Es liegen beim Kläger auch keine schwere spezifische Leistungsbehinderung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, die trotz der sechsstündigen Einsetzbarkeit zur Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarktes führten. Die Beklagte ist daher nicht verpflichtet, einen konkreten Arbeitsplatz zu benennen. Denn das Restleistungsvermögen des Klägers reicht noch für leichte bis mittelschwere körperliche Verrichtungen wie z.B. Zureichen, Abnehmen, leichte Reinigungsarbeiten ohne Zwangshaltungen, Kleben, Sortieren und Verpacken aus (vgl. die Aufzählungen in dem Beschluss des Großen Senats des BSG vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 -, SozR 3-2600 § 44 SGB VI Nr. 8 = BSGE 80, 24, 33f; BSG, Urteil vom 19. Oktober 2011 - B 13 R 78/09 R -). Es besteht eine Gebrauchsfähigkeit beider Hände für leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne überwiegend feinmotorische Tätigkeiten. Typische Symptome mit einer Dysästhesie der Finger 1 bis 3 hat der Kläger bei Dr. H. nicht angegeben. Eine Atrophie des Daumenballens ist nicht festzustellen gewesen. Die Kraftentwicklung der Hände hat sich nur gering eingeschränkt dargestellt. Faustschluss und differenzierte Griffformen sind uneingeschränkt demonstriert worden; die Feinmotorik der Hände ist nicht behindert gewesen.

53

Auch ist für den Kläger der Arbeitsmarkt nicht verschlossen, weil es ihm an der so genannten Wegefähigkeit fehlen würde. Darüber hinaus kann der Kläger nicht nur unter betriebsunüblichen Bedingungen Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten. Für die Verabreichung der Insulinspritzen zur Einstellung des Diabetes kann der Kläger neben den nach dem Arbeitszeitgesetz vorgeschriebenen Pausen die sogenannten Verteilzeiten nutzen.

54

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Bewilligung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Nach § 240 Abs. 1 SGB VI haben Anspruch auf eine solche Rente bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen auch Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren und berufsunfähig sind.

55

Der Kläger ist vor dem 2. Januar 1961, nämlich am ... 1952, geboren.

56

Er ist nicht berufsunfähig. Berufsunfähig sind nach § 240 Abs. 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nach § 240 Abs. 2 Satz 4 SGB VI nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

57

Für die Frage, ob ein Versicherter berufsunfähig ist, ist sein "bisheriger Beruf" maßgeblich. Wenn er diesen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann, ist die Zumutbarkeit einer anderen Tätigkeit zu prüfen. Bisheriger Beruf im Sinne des § 240 SGB VI ist grundsätzlich die zuletzt ausgeübte und auf Dauer angelegte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit. Diese muss also mit dem Ziel verrichtet werden, sie bis zur Erreichung der Altersgrenze auszuüben. Dieser Grundsatz gilt jedenfalls dann, wenn die Tätigkeit zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben des Versicherten gewesen ist (KassKomm-Niesel § 240 SGB VI RdNr 21 m.w.N).

58

Bisheriger Beruf des Klägers ist die Tätigkeit als Lagerarbeiter, welche er von Januar 2001 zuletzt bis 2006 bei der B. Lagerhaus Gmbh & Co. KG verrichtet hat. Diese mittelschwere bis schwere körperliche Tätigkeit, die mit schwerem Heben und Tragen und Arbeiten im Freien verbunden ist, kann der Kläger nicht mehr gesundheitlich zumutbar verrichten.

59

Damit ist der Kläger aber noch nicht berufsunfähig. Auf welche Berufstätigkeiten ein Versicherter nach seinem fachlichen und gesundheitlichen Leistungsvermögen noch zumutbar verwiesen werden kann, beurteilt das BSG nach einem von ihm entwickelten Mehrstufenschema, das auch der Senat seinen Entscheidungen zugrunde legt. Dieses gliedert die Berufe hierarchisch in vier Gruppen mit verschiedenen Leitberufen. An oberster Stelle steht die Gruppe der Facharbeiter mit Vorgesetztenfunktion und der besonders qualifizierten Facharbeiter. Es folgen die Facharbeiter in einem anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei bis drei Jahren, danach die angelernten Arbeiter mit einer Ausbildungszeit von bis zu zwei Jahren. Zuletzt folgen die so genannten Ungelernten, auch mit einer erforderlichen Einarbeitungs- oder Einweisungszeit von bis zu drei Monaten. Eine von dem Versicherten sechsstündig ausübbare Tätigkeit ist ihm zumutbar im Sinne des § 240 Abs. 2 SGB VI, wenn er irgendwelche Tätigkeiten der eigenen Qualifikationsstufe oder aber der nächst niedrigeren Stufe spätestens nach einer Einarbeitung und Einweisung von drei Monaten zum Erwerb der notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten vollwertig ausüben kann. Dabei muss dem Versicherten allerdings grundsätzlich ein konkreter Verweisungsberuf benannt und zugeordnet werden können, anhand dessen sich die Zumutbarkeit seiner Ausübung beurteilen lässt. Kann ein anderer Beruf nicht konkret in Betracht gezogen werden, liegt bei der Unfähigkeit der Ausübung des bisherigen Berufs Berufsunfähigkeit vor.

60

Eine Ausnahme vom Erfordernis der konkreten Benennung eines Verweisungsberufs besteht aber dann, wenn dem Versicherten fachlich-qualitativ ungelernte Tätigkeiten und jedenfalls leichte körperliche, seelische und geistige Belastungen zumutbar sind. Es gibt eine Vielzahl von ungelernten Berufen im inländischen Erwerbsleben; sie stellen gerade keine besonderen Anforderungen an Kenntnisse, fachliche Fähigkeiten, Ausbildung und Berufserfahrung. Einem Versicherten ist die Ausübung einer ungelernten Arbeitstätigkeit grundsätzlich zuzumuten, wenn sein bisheriger Beruf entweder dem Leitberuf des angelernten Arbeiters oder dem des ungelernten Arbeiters zuzuordnen ist. Allerdings ist bei den angelernten Arbeitern weiter zu differenzieren: Angelernte mit einer Regelausbildungszeit von bis zu einem Jahr (so genannte untere Angelernte) sind auf alle ungelernten Tätigkeiten verweisbar. Dem gegenüber können Angelernte mit einer Regelausbildungszeit von mehr als einem Jahr bis zu zwei Jahren (so genannte obere Angelernte) nur auf ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden, die sich durch bestimmte Qualitätsmerkmale auszeichnen. Daher sind für Angelernte des oberen Bereichs Verweisungstätigkeiten konkret zu benennen (KassKomm-Niesel § 240 SGB VI RdNr 101 m.w.N).

61

Der bisherige Beruf des Klägers als Lagerarbeiter ist allenfalls der Gruppe der oberen Angelernten zuzuordnen. Eine Einstufung in den Bereich der Facharbeiter kommt hier entgegen dem klägerischen Vorbringen nicht in Betracht. Der Kläger hat keine Arbeiten verrichtet, die eine dreijährige Ausbildung oder eine mindestens zweijährige Ausbildung im Beitrittsgebiet vorausgesetzt haben. Vielmehr hat es sich bei den Arbeiten des Klägers als Lagerarbeiter nach den Auskünften der B. Lagerhaus GmbH & Co um solche gehandelt, die Ungelernte mit einer Anlernzeit von ca. einem Jahr inklusive Produktschulungen zum Erwerb landwirtschaftlicher Fachkenntnisse ausführen konnten. Ausweislich des Arbeitsvertrages mit der der B. Lagerhaus GmbH & Co. KG ist der Kläger ab dem 1. Januar 2001 als Lagerarbeiter/Kraftfahrer eingestellt worden und hat auch nur insoweit eine Arbeitsleistung geschuldet, also keine qualifizierte Tätigkeit mit einem landwirtschaftlichen Spezialwissen. Nach den Auskünften der B. Lagerhaus GmbH & Co. KG war der Kläger zu 85 % bei der Wareneingangskontrolle/-annahme, Kommissionierung, Warenausgabe, -auslieferung, Lagerung von Dünger, Ein- und Auslagerung von Getreide und Gesunderhaltung von Getreide und zu 5 % für die Pflege und Wartung der Technik - Radlader, Teleskoplader, Gabelstapler - eingesetzt. Für diesen Tätigkeitsbereich waren die o.g. landwirtschaftlichen Fachkenntnisse lediglich von Nutzen. Der darüber hinausgehende Arbeitsbereich des Klägers im Umfang von 10 % betraf die Ordnung und Sauberkeit im Hof- und Lagerbereich und die Erledigung kleinerer Reparaturen. Die Tatsache, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 1. Januar 2001 von der B. Lagerhaus GmbH & Co. KG entsprechend dessen tatsächlicher Tätigkeit als Lagerarbeiter und nicht, wie zuvor bei der R. Hauptgenossenschaft N. Aktiengesellschaft, als kaufmännischer Mitarbeiter geführt wurde, belegt den Schwerpunkt der Tätigkeit des Klägers im Bereich der körperlichen Arbeit. Unter Berücksichtigung der Auskünfte der B. Lagerhaus GmbH & Co. KG und der Angaben des Klägers zu seinem letzten Arbeitsplatz ausweislich der Rehabilitationsentlassungsberichte des M. Klinikums F. vom 25. August 2006 und der Rehabilitationsklinik L. in B. S. vom 20. Dezember 2007 sowie des Selbstauskunftsbogens des Klägers zum Rentenantrag vom 2. Oktober 2007 hat der Kläger vordergründig eine mittelschwere bis schwere Lagerarbeit mit Heben und Tragen von Lasten ab 15 kg überwiegend im Gehen und Stehen und im Freien verrichtet. Entgegen dem späteren klägerischen Vorbringen hat es sich gerade nicht überwiegend um Arbeiten "geistiger Natur". Insoweit ist für den Senat die Aussage der B. Lagerhaus GmbH & Co. KG nachvollziehbar, dass die landwirtschaftlichen Fachkenntnisse "lediglich von Nutzen gewesen sind", d.h. nicht vordergründig bei der Verrichtung der Arbeit als Lagerarbeiter gewesen sind.

62

Auf die im Rahmen der von 1967 bis 1970 dauernden Ausbildung zum Agrotechniker erlangten Kenntnisse und Fähigkeiten konnte der Kläger dabei nicht zurückgreifen. Schwerpunkte und Inhalte der regulären zweijährigen Ausbildung zum Agrotechniker nach dem Recht der ehemaligen DDR waren Grundlagen der Instandhaltung, Maschinenelemente und Baugruppen der Landtechnik, biologische und agrotechnische Grundlagen (DDR-Ausbildungsberufe - vergleichbare und verwandte Berufe in der Bundesrepublik Deutschland - herausgegeben von der Bundesanstalt für Arbeit 1990). Die B. Lagerhaus GmbH & Co. KG hat ausdrücklich mitgeteilt, dass der Kläger keine landwirtschaftlichen Maschinen gefahren ist. Die im Rahmen der Ausbildung zum Agrotechniker erlangten technischen Fachkenntnisse konnte der Kläger insoweit für seine Tätigkeit als Lagerarbeiter nicht einbringen.

63

Soweit der Kläger über landwirtschaftliche Fachkenntnisse aufgrund seines Agraringenieursstudium und der langjährigen Tätigkeit in der Landwirtschaft verfügte, ist zu beachten, dass der Kläger als Lagerarbeiter überwiegend körperliche Tätigkeiten verrichtet hat und nur zu einem geringen Teil bei der Bewältigung der Lagerarbeiten die landwirtschaftliche Fachkenntnisse auf dem Niveau seiner akademischen Ausbildung nützlich waren.

64

Ferner lassen sich aus der Entlohnung des Klägers bei der B. Lagerhaus GmbH & Co. KG keine Rückschlüsse auf einen höheren Wert der Tätigkeit für den Arbeitgeber ziehen. Schließlich ist der Kläger nicht nach Tarif entlohnt worden.

65

Ausgehend von der Einstufung des Klägers als Angelernter des oberen Bereichs ist der Kläger auf die von der Beklagten benannte Tätigkeit des Pförtners an der Nebenpforte gesundheitlich und sozial zumutbar verweisbar.

66

Die Tätigkeit des so genannten Pförtners an der Nebenpforte besteht hauptsächlich darin, überwiegend für den Verkehr der Betriebsangehörigen bei Bedarf von der Pförtnerloge aus Einlass z. B. durch Öffnen einer Schranke oder Pforte mittels Knopfdrucks zu gewähren. Der Arbeitsplatz ist in der Regel mit einem Schreibtisch und häufig mit Monitorwänden zur Videoüberwachung des Betriebsgeländes ausgestattet. Schwerpunktmäßig wird eine sitzende Tätigkeit verbunden mit stehenden und gehenden Tätigkeiten ausgeübt (Auskunft des BDWS vom 20. Dezember 2007 und 1. Juni 2011). Die Tätigkeit des Pförtners an der Nebenpforte ist nicht mit dem Heben und Tragen von Lasten verbunden. Darüber hinaus stellt die Pförtnertätigkeit an die Funktionstüchtigkeit der Arme und Beine keine besonderen Anforderungen. Die Tätigkeit erlaubt einen beliebigen Haltungswechsel sowie ein Hin- und Hergehen in der Pförtnerloge. Der Pförtner an der Nebenpforte muss durchschnittlichen Anforderungen an Aufmerksamkeit, Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Übersicht gewachsen sein und über ein normales Hör- und Sehvermögen verfügen. Schließlich sind Pförtner an der Nebenpforte keinen besonderen Anforderungen an das Kommunikationsvermögen ausgesetzt, da sie lediglich gelegentlich Kontakt mit Mitarbeitern und nur ausnahmsweise mit Publikum haben. Der Pförtner an der Nebenpforte arbeitet zudem im Regelfall in zwei Tagesschichten.

67

Nach den vorliegenden medizinischen Gutachten kann der Kläger die Tätigkeit eines Pförtners an der Nebenpforte ausüben. Der Kläger ist zu körperlich leichten bis mittelschweren Tätigkeiten in Wechselhaltung in geschlossenen Räumen in der Lage. Insoweit kann er eine Schranke zum Einlass von Fahrzeugen oder Mitarbeitern bedienen sowie die Pförtnerloge verlassen und ein Geschehen in der näheren Umgebung kontrollieren. Kontrollgänge wären möglich. Denn wegen des Wirbelsäulensyndroms, der Hüft- und Kniegelenksarthrose und der peripher-arteriellen Durchblutungsstörung sind lediglich länger währende Einflüsse von Nässe und Kälte ausgeschlossen. Kurze Aufenthalte im Freien mit entsprechender Kleidung, wie sie im Alltag des Klägers ebenfalls vorkommen, sind ihm zumutbar. Darüber hinaus findet die Tätigkeit des Pförtners an der Nebenpforte nach den Auskünften des BDWS ohnehin überwiegend in geschlossenen Räumen statt, sodass keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch ständige Witterungseinflüsse zu erwarten sind. Den geistigen Anforderungen für eine Geländekontrolle mit technischen Mitteln (Videoüberwachung) ist der Kläger ebenfalls gewachsen. Zudem liegt eine ausreichende Belastbarkeit des Klägers in psychiatrischer Hinsicht vor. Auch ist der Kläger in Anbetracht des nur mäßig beeinträchtigten Sehvermögens mit einer Sehleistung von 0,6 Dioptrien ohne Gesichtsfeldeinschränkung nicht in der Wahrnehmung seines gesamten Umfeldes in der Pförtnerloge oder bei Kontrollgängen beeinträchtigt. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Kläger noch in der Lage ist, einen Pkw zu fahren. Darüber hinaus ist der Kläger in der Lage, in zwei Tagschichten - unter Ausschluss von Wechsel- und Nachtschicht - zu arbeiten.

68

Der gesundheitlichen Zumutbarkeit steht auch nicht entgegen, dass der Pförtner an der Nebenpforte regelmäßig in 12-Stundenschichten arbeitet, wobei allerdings insoweit lediglich eine 12-stündige Arbeitsbereitschaft, nicht eine ununterbrochene Arbeitsleistung typisch ist. Maßgebend ist im Rahmen der hier zu prüfenden gesetzlichen Regelungen lediglich, ob ein Versicherter noch mindestens sechs Stunden täglich arbeiten kann. Der Umstand, dass in der Arbeitswirklichkeit regelmäßig länger als sechs Stunden täglich gearbeitet wird, hat dabei außer Betracht zu bleiben, da nach dem Willen des Gesetzgebers der Versicherte das Risiko, nicht mehr als mindestens sechs Stunden regelmäßig arbeiten zu können, selbst trägt.

69

Insgesamt gesehen bestehen deshalb keine durchgreifenden Zweifel, dass der Kläger eine auf dem Arbeitsmarkt grundsätzlich noch vorhandene Pförtnertätigkeit an der Nebenpforte wettbewerbsfähig ausüben könnte, wenn er Zugang zu einer solchen Beschäftigung hätte und diese auch ernsthaft ausüben wollte.

70

Der Kläger ist auch in der Lage, sich innerhalb von drei Monaten auf eine für seine Bildung und seine körperlichen Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit umzustellen und diese vollwertig zu verrichten. Hierzu muss der Kläger eine Unterrichtung bei der zuständigen Industrie- und Handelskammer mit einer Mindestdauer von drei Tagen bzw. 24 Unterrichtsstunden und eine objektbezogene Einweisung durchlaufen.

71

Schließlich geht der Senat davon aus, dass auch nach einem aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage erfolgten Abbau der Arbeitsplätze bundesweit alleine im Bereich der Wach- und Sicherheitsunternehmen noch mehrere hundert Arbeitsplätze für Pförtner an der Nebenpforte vorhanden sind (Auskunft des BDWS vom 20. Dezember 2007 und 1. Juni 2011).

72

Ob Arbeitsplätze als Pförtner an der Nebenpforte frei oder besetzt sind, ist nicht zu ermitteln, denn das Risiko, dass der Kläger möglicherweise keinen für ihn geeigneten Arbeitsplatz finden könnte, geht nicht zu Lasten des Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung (BSG, Urteile vom 25. Januar 1994 - 4 RA 35/93 - SozR 3-2200 § 1246 Nr. 41, vom 27. Mai 1997 - 5 RJ 28/76 - BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 19; vom 23. März 1993 - 4 BA 121/92 - NZS 1993, 403, 404 und vom 21. Juli 1992 - 4 RA 13/91 - juris).

73

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

74

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.


(1) Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze auch Versicherte, die

1.
vor dem 2. Januar 1961 geboren und
2.
berufsunfähig
sind.

(2) Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.