Europäischer Gerichtshof Urteil, 25. Juli 2018 - C-121/17

ECLI:ECLI:EU:C:2018:585
25.07.2018

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

25. Juli 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Humanarzneimittel – Behandlung des Humanen Immundefizienz-Virus (HIV) – Originalpräparate und Generika – Ergänzendes Schutzzertifikat – Verordnung (EG) Nr. 469/2009 – Art. 3 Buchst. a – Voraussetzungen für die Erteilung – Begriff des durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützten Erzeugnisses – Beurteilungskriterien“

In der Rechtssache C‑121/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Patents Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Chancery [Patentgericht], Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 23. Februar 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 8. März 2017, in dem Verfahren

Teva UK Ltd,

Accord Healthcare Ltd,

Lupin Ltd,

Lupin (Europe) Ltd,

Generics (UK) Ltd, handelnd unter der Firma „Mylan“,

gegen

Gilead Sciences Inc.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, J. L. da Cruz Vilaça, C. G. Fernlund und C. Vajda, der Richter J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und S. Rodin sowie der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin),

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Februar 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Teva UK Ltd, vertreten durch D. Alexander, QC, sowie S. Carter und L. Lane, Barristers, beauftragt von C. Tunstall, Solicitor,

der Accord Healthcare Ltd, vertreten durch D. Alexander, QC, und K. Pickard, Barrister, beauftragt von S. Ma, Solicitor,

der Lupin (Europe) Ltd und Lupin Ltd, vertreten durch D. Alexander, QC, und J. Riordan, Barrister, beauftragt von D. Rose, Solicitor,

der Generics (UK) Ltd, handelnd unter der Firma „Mylan“, vertreten durch D. Alexander, QC, und J. Delaney, Barrister, beauftragt von M. Royle, Solicitor,

der Gilead Sciences Inc., vertreten durch T. Mitcheson, QC, und J. Whyte, Barrister, beauftragt von S. Moore, Solicitor,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch G. Brown als Bevollmächtigte im Beistand von N. Saunders, Barrister,

der hellenischen Regierung, vertreten durch M. Tassopoulou, D. Tsagkaraki und S. Papaioannou als Bevollmächtigte,

der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kucina als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. Gijzen als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch É. Gippini Fournier und J. Samnadda als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. April 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (ABl. 2009, L 152, S. 1).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Teva UK Ltd, der Accord Healthcare Ltd, der Lupin Ltd, der Lupin (Europe) Ltd sowie der Generics (UK) Ltd, handelnd unter der Firma „Mylan“, einerseits und der Gilead Sciences Inc. (im Folgenden: Gilead) andererseits über die Gültigkeit eines ergänzenden Schutzzertifikats (im Folgenden: ESZ), das Gilead für ein pharmazeutisches Erzeugnis zur Behandlung des Humanen Immundefizienz-Virus (HIV) erteilt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Europäisches Patentübereinkommen

3

Art. 69 („Schutzbereich“) des am 5. Oktober 1973 in München unterzeichneten Übereinkommens über die Erteilung europäischer Patente sieht in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: EPÜ) vor:

„(1)   Der Schutzbereich des europäischen Patents und der europäischen Patentanmeldung wird durch die Patentansprüche bestimmt. Die Beschreibung und die Zeichnungen sind jedoch zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen.

(2)   Für den Zeitraum bis zur Erteilung des europäischen Patents wird der Schutzbereich der europäischen Patentanmeldung durch die in der veröffentlichten Anmeldung enthaltenen Patentansprüche bestimmt. Jedoch bestimmt das europäische Patent in seiner erteilten oder im Einspruchs-, Beschränkungs- oder Nichtigkeitsverfahren geänderten Fassung rückwirkend den Schutzbereich der Anmeldung, soweit deren Schutzbereich nicht erweitert wird.“

4

Art. 1 des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 des EPÜ, das nach dessen Art. 164 Abs. 1 Bestandteil des Übereinkommens ist, lautet:

„Artikel 69 ist nicht in der Weise auszulegen, dass unter dem Schutzbereich des europäischen Patents der Schutzbereich zu verstehen ist, der sich aus dem genauen Wortlaut der Patentansprüche ergibt, und dass die Beschreibung sowie die Zeichnungen nur zur Behebung etwaiger Unklarheiten in den Patentansprüchen anzuwenden sind. Ebenso wenig ist Artikel 69 dahingehend auszulegen, dass die Patentansprüche lediglich als Richtlinie dienen und der Schutzbereich sich auch auf das erstreckt, was sich dem Fachmann nach Prüfung der Beschreibung und der Zeichnungen als Schutzbegehren des Patentinhabers darstellt. Die Auslegung soll vielmehr zwischen diesen extremen Auffassungen liegen und einen angemessenen Schutz für den Patentinhaber mit ausreichender Rechtssicherheit für Dritte verbinden.“

Unionsrecht

5

In den Erwägungsgründen 3 bis 5, 7, 9 und 10 der Verordnung Nr. 469/2009 heißt es:

„(3)

Arzneimittel, vor allem solche, die das Ergebnis einer langen und kostspieligen Forschungstätigkeit sind, werden in der [Union] und in Europa nur weiterentwickelt, wenn für sie eine günstige Regelung geschaffen wird, die einen ausreichenden Schutz zur Förderung einer solchen Forschung vorsieht.

(4)

Derzeit wird durch den Zeitraum zwischen der Einreichung einer Patentanmeldung für ein neues Arzneimittel und der Genehmigung für das Inverkehrbringen desselben Arzneimittels der tatsächliche Patentschutz auf eine Laufzeit verringert, die für die Amortisierung der in der Forschung vorgenommenen Investitionen unzureichend ist.

(5)

Diese Tatsache führt zu einem unzureichenden Schutz, der nachteilige Auswirkungen auf die pharmazeutische Forschung hat.

(7)

Auf [Unionsebene] sollte eine einheitliche Lösung gefunden werden, um auf diese Weise einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vorzubeugen, die neue Unterschiede zur Folge hätte, welche geeignet wären, den freien Verkehr von Arzneimitteln innerhalb der [Union] zu behindern und dadurch das Funktionieren des Binnenmarktes unmittelbar zu beeinträchtigen.

(9)

Die Dauer des durch das [ESZ] gewährten Schutzes sollte so festgelegt werden, dass dadurch ein ausreichender tatsächlicher Schutz erreicht wird. Hierzu müssen demjenigen, der gleichzeitig Inhaber eines Patents und eines [ESZ] ist, insgesamt höchstens fünfzehn Jahre Ausschließlichkeit ab der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen des betreffenden Arzneimittels in der Gemeinschaft eingeräumt werden.

(10)

In einem so komplexen und empfindlichen Bereich wie dem pharmazeutischen Sektor sollten jedoch alle auf dem Spiel stehenden Interessen einschließlich der Volksgesundheit berücksichtigt werden. Deshalb kann das [ESZ] nicht für mehr als fünf Jahre erteilt werden. Der von ihm gewährte Schutz sollte im Übrigen streng auf das Erzeugnis beschränkt sein, für das die Genehmigung für das Inverkehrbringen als Arzneimittel erteilt wurde.“

6

Art. 1 der Verordnung bestimmt:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

a)

‚Arzneimittel‘ einen Stoff oder eine Stoffzusammensetzung, der (die) als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten bezeichnet wird, sowie einen Stoff oder eine Stoffzusammensetzung, der (die) dazu bestimmt ist, im oder am menschlichen oder tierischen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden;

b)

‚Erzeugnis‘ den Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels;

c)

‚Grundpatent‘ ein Patent, das ein Erzeugnis als solches, ein Verfahren zur Herstellung eines Erzeugnisses oder eine Verwendung eines Erzeugnisses schützt und das von seinem Inhaber für das Verfahren zur Erteilung eines [ESZ] bestimmt ist;

…“

7

Art. 3 („Bedingungen für die Erteilung des [ESZ]“) der Verordnung sieht vor:

„Das [ESZ] wird erteilt, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem die Anmeldung nach Artikel 7 eingereicht wird, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung

a)

das Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist;

b)

für das Erzeugnis als Arzneimittel eine gültige Genehmigung für das Inverkehrbringen … erteilt wurde;

c)

für das Erzeugnis nicht bereits ein [ESZ] erteilt wurde;

d)

die unter Buchstabe b erwähnte Genehmigung die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel ist.“

8

Art. 4 („Schutzgegenstand“) der Verordnung bestimmt:

„In den Grenzen des durch das Grundpatent gewährten Schutzes erstreckt sich der durch das [ESZ] gewährte Schutz allein auf das Erzeugnis, das von der Genehmigung für das Inverkehrbringen des entsprechenden Arzneimittels erfasst wird, und zwar auf diejenigen Verwendungen des Erzeugnisses als Arzneimittel, die vor Ablauf des [ESZ] genehmigt wurden.“

9

Art. 5 („Wirkungen des [ESZ]“) der Verordnung Nr. 469/2009 sieht vor:

„Vorbehaltlich des Artikels 4 gewährt das [ESZ] dieselben Rechte wie das Grundpatent und unterliegt denselben Beschränkungen und Verpflichtungen.“

10

Abs. 1 von Art. 13 („Laufzeit des [ESZ]“) der Verordnung bestimmt:

„Das [ESZ] gilt ab Ablauf der gesetzlichen Laufzeit des Grundpatents für eine Dauer, die dem Zeitraum zwischen der Einreichung der Anmeldung für das Grundpatent und dem Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der [Union] entspricht, abzüglich eines Zeitraums von fünf Jahren.“

Recht des Vereinigten Königreichs

11

Section 60 des UK Patents Act 1977 (Patentgesetz des Vereinigten Königreichs von 1977, im Folgenden: Patentgesetz 1977), die die „Definition der Patentverletzung“ betrifft, sieht vor:

„(1)

Vorbehaltlich der Bestimmungen dieser Section verletzt eine Person ein für eine Erfindung erteiltes Patent dann und nur dann, wenn sie, während das Patent in Kraft ist, im Vereinigten Königreich ohne Zustimmung des Patentinhabers eine der folgenden Handlungen in Bezug auf die Erfindung vornimmt:

a)

wenn die Erfindung ein Erzeugnis ist, dieses Erzeugnis herstellt, überträgt, anbietet, es zu übertragen, es gebraucht oder einführt oder es zum Zweck der Übertragung oder zu anderen Zwecken besitzt;

(2)

Vorbehaltlich der nachstehenden Bestimmungen dieser Section verletzt eine Person (die nicht der Patentinhaber ist) ein Patent für eine Erfindung auch dann, wenn sie, während das Patent in Kraft ist, ohne Zustimmung des Patentinhabers jemandem, der weder Lizenzinhaber noch sonst zur Nutzung der Erfindung berechtigt ist, im Vereinigten Königreich Mittel, die sich auf ein wesentliches Element der Erfindung beziehen, zur Benutzung der Erfindung liefert oder anbietet, obwohl sie weiß oder es für eine vernünftige Person nach den Umständen offensichtlich ist, dass diese Mittel dazu geeignet und bestimmt sind, für die Benutzung der Erfindung im Vereinigten Königreich verwendet zu werden.“

12

Section 125 („Erfindungsumfang“) des Patentgesetzes von 1977 bestimmt:

„(1)

Eine Erfindung im Sinne dieses Gesetzes, für die ein Patent angemeldet oder erteilt wurde, wird, soweit nichts anderes bestimmt ist, durch die Patentansprüche in der Patentanmeldung oder Patentschrift in der Auslegung durch die Beschreibung und etwaige Zeichnungen bestimmt, die in der Patentanmeldung oder Patentschrift enthalten sind; der Schutzumfang des Patents oder der Patentanmeldung wird entsprechend bestimmt.

(3)

Das Protokoll über die Auslegung des Art. 69 [EPÜ] (der eine Subsection 1 entsprechende Bestimmung enthält) ist, solange es gilt, auf Subsection 1 so anzuwenden wie auf diesen Artikel.

…“

13

In Section 130 Abs. 7 des Patentgesetzes von 1977 heißt es:

„Da sich die Regierungen der Mitgliedstaaten der [Union] kraft einer bei Unterzeichnung des [EPÜ] angenommenen Resolution verpflichtet haben, ihre Patentvorschriften so anzupassen, dass sie (u. a.) mit den entsprechenden Bestimmungen des [EPÜ] … in Einklang gebracht werden, wird hiermit erklärt, dass mit den folgenden Bestimmungen dieses Gesetzes, nämlich Sections … 60 … und 125, das Ziel verfolgt wird, in der Praxis im Vereinigten Königreich so weit wie möglich dieselben Rechtswirkungen zu haben, wie sie die entsprechenden Bestimmungen des [EPÜ] … in den Hoheitsgebieten entfalten, in denen [dieses Übereinkommen gilt].“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

14

Gilead ist ein pharmazeutisches Unternehmen und vertreibt ein antiretrovirales Arzneimittel namens TRUVADA zur Behandlung von Personen, die HIV-infiziert sind. Dieses Arzneimittel enthält zwei Wirkstoffe, Tenofovir Disoproxil (im Folgenden: TD) und Emtricitabin, die bei dieser Behandlung eine kombinierte Wirkung haben. Gilead verfügt über eine am 21. November 2005 von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) erteilte Genehmigung für das Inverkehrbringen.

15

Gilead ist Inhaberin des Europäischen Patents (UK) EP 0 915894 (im Folgenden: in Rede stehendes Grundpatent). Das Patent wurde am 25. Juli 1997 angemeldet und hatte als Prioritätstag im Sinne von Art. 88 EPÜ den 26. Juli 1996. Das Patent wurde am 14. Mai 2003 vom Europäischen Patentamt (im Folgenden: EPA) erteilt und lief am 24. Juli 2017 ab. Aus der im Patent enthaltenen Beschreibung der Erfindung geht hervor, dass es sich, allgemein gesagt, auf eine Reihe von Molekülen erstreckt, die zur Behandlung einer Reihe von Virusinfektionen bei Menschen oder Tieren dienen, namentlich des HIV.

16

Diese Beschreibung enthält eine Reihe pharmazeutischer Formeln, die für die beanspruchten Verbindungen in Betracht gezogen werden können, ohne speziell auf einzelne Verbindungen oder eine bestimmte Verwendung dieser Verbindungen Bezug zu nehmen. In Anspruch 25 des in Rede stehenden Grundpatents wird TD ausdrücklich als eine der beanspruchten Verbindungen erwähnt.

17

In der Beschreibung wird auch erwähnt, dass diese Verbindungen gegebenenfalls mit „anderen therapeutischen Bestandteilen“ verbunden werden können. Die Wendung „andere therapeutische Bestandteile“ wird jedoch in dem in Rede stehenden Grundpatent weder definiert noch erläutert.

18

Anspruch 27 des in Rede stehenden Grundpatents lautet:

„Pharmazeutische Zusammensetzung umfassend eine Verbindung nach irgendeinem der Ansprüche 1 bis 25 zusammen mit einem pharmazeutisch verträglichen Träger und gegebenenfalls andere therapeutische Bestandteile“.

19

Im Jahr 2008 wurde Gilead ein ESZ auf der Grundlage von Anspruch 27 des in Rede stehenden Grundpatents und der Genehmigung für das Inverkehrbringen (im Folgenden: in Rede stehendes ESZ) erteilt. Dieses ESZ betrifft eine „Zusammensetzung aus [TD], gegebenenfalls in Form eines pharmazeutisch verträglichen Salzes, Hydrats, Tautomers oder Solvats, und Emtricitabin“.

20

Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung gibt es keinen Beleg dafür, dass Fachleuten am Prioritätstag des in Rede stehenden Grundpatents bekannt war, dass Emtricitabin ein wirksames Mittel zur Behandlung des HIV bei Menschen ist. Die EMA ließ Emtricitabin erst im Jahr 2003 zu.

21

Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, die im Vereinigten Königreich Generika von TRUVADA auf den Markt bringen möchten, erhoben beim vorlegenden Gericht, dem High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Patents Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Chancery [Patentgericht], Vereinigtes Königreich), eine Klage auf Ungültigerklärung des in Rede stehenden ESZ.

22

Zur Stützung ihrer Klage tragen die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens vor, das ESZ erfülle nicht die Voraussetzung von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009. Sie weisen darauf hin, dass das fragliche Erzeugnis nach dem Urteil vom 24. November 2011, Medeva (C‑322/10, EU:C:2011:773), „in den Ansprüchen genannt“ werden müsse, damit die Anforderungen dieser Bestimmung erfüllt seien. Sollte es in dem maßgeblichen Anspruch eine das Erzeugnis betreffende funktionelle Definition geben, müsse sich der Anspruch „stillschweigend, aber notwendigerweise …, und zwar in spezifischer Art und Weise“ auf das Erzeugnis beziehen, wie es der Gerichtshof im Urteil vom 12. Dezember 2013, Eli Lilly and Company (C‑493/12, EU:C:2013:835), ausgedrückt habe. Emtricitabin komme aber im Wortlaut von Anspruch 27 des in Rede stehenden Grundpatents nicht vor, und die dort benutzte Wendung „andere therapeutische Bestandteile“ definiere weder strukturell noch funktionell einen Wirkstoff. Man könne daher nicht davon ausgehen, dass die Kombination von TD und Emtricitabin im Sinne von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt sei.

23

Gilead trägt hingegen im Wesentlichen vor, für die Prüfung, ob die Voraussetzung von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 vorliege, sei es notwendig und ausreichend, dass das fragliche Erzeugnis in den Schutzbereich von mindestens einem der Ansprüche des Grundpatents falle. Die in Anspruch 27 des in Rede stehenden Grundpatents benutzte Wendung „andere therapeutische Bestandteile“ verweise im Einklang mit dem Urteil vom 12. Dezember 2013, Eli Lilly and Company (C‑493/12, EU:C:2013:835), stillschweigend, aber notwendigerweise auf Emtricitabin. Die Kombination von TD und Emtricitabin erfülle somit die Voraussetzung dieses Artikels.

24

Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass trotz der Urteile des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 die Bedeutung dieser Bestimmung unklar bleibe.

25

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich zwar eindeutig, dass die Wendung „durch ein Grundpatent geschütztes Erzeugnis“ im Sinne von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 auf die Vorschriften über den Schutzumfang und nicht auf die Vorschriften über Patentverletzungen verweise. Außerdem gehe aus Rn. 28 des Urteils vom 24. November 2011, Medeva (C‑322/10, EU:C:2011:773), hervor, dass die Wirkstoffe, um als „durch ein Grundpatent geschützt“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen zu werden, im Wortlaut der Ansprüche des betreffenden Patents genannt werden müssten.

26

Die Urteile vom 12. Dezember 2013, Actavis Group PTC und Actavis UK (C‑443/12, EU:C:2013:833), vom 12. Dezember 2013, Eli Lilly and Company (C‑493/12, EU:C:2013:835), sowie vom 12. März 2015, Actavis Group PTC und Actavis UK (C‑577/13, EU:C:2015:165), implizierten gleichwohl, dass die in der vorstehenden Randnummer angeführten Grundsätze für die Feststellung, ob ein „Erzeugnis durch ein Grundpatent geschützt ist“, nicht ausreichten, und dass auch der „Gegenstand der durch das Patent geschützten Erfindung“ oder der „Kern der erfinderischen Tätigkeit“, auf die sich das Patent beziehe, zu berücksichtigen sei. Aus dieser Rechtsprechung gehe aber nicht eindeutig hervor, ob die genannten Anforderungen für die Auslegung von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 relevant seien.

27

Außerdem gebe es in einer Reihe von Mitgliedstaaten Divergenzen in Bezug auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Möglichkeit, ein ESZ für die Kombination von TD und Emtricitabin zu erhalten, und allgemeiner in Bezug auf die Auslegung von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009.

28

Vor diesem Hintergrund hat der High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Patents Court) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Chancery [Patentgericht]), beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Nach welchen Kriterien ist zu entscheiden, ob im Sinne von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 „das Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist“?

Zur Vorlagefrage

29

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich nach den Angaben des vorlegenden Gerichts das im Ausgangsverfahren fragliche Erzeugnis, das Gegenstand des in Rede stehenden ESZ ist, aus zwei Wirkstoffen zusammensetzt, nämlich TD und Emtricitabin. Die Ansprüche des in Rede stehenden Grundpatents nennen aber nur den ersten dieser beiden Wirkstoffe ausdrücklich, während der zweite nur von der Wendung „andere therapeutische Bestandteile“ in Anspruch 27 des Patents erfasst sein kann.

30

In diesem Zusammenhang fragt das vorlegende Gericht, welche Auslegungskriterien für die Ansprüche eines Grundpatents gelten, wenn geklärt werden soll, ob ein Erzeugnis im Sinne von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 „durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt“ ist. Es möchte insbesondere wissen, welche Regeln des Patentrechts dabei anzuwenden sind und ob es angesichts der Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Erfüllung der in Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 aufgestellten Voraussetzung ausreicht, dass die Wirkstoffe des Erzeugnisses, das Gegenstand des ESZ ist, in den Ansprüchen eines in Kraft befindlichen Grundpatents genannt werden oder dass sich diese Ansprüche stillschweigend, aber notwendigerweise auf die Wirkstoffe beziehen, oder ob ein zusätzliches Kriterium anzuwenden ist.

31

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann mangels einer Harmonisierung des im Ausgangsverfahren anwendbaren Patentrechts auf Unionsebene der Schutzbereich eines Grundpatents nur anhand der dafür geltenden Vorschriften, die nicht zum Unionsrecht gehören, bestimmt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2013, Eli Lilly and Company, C‑493/12, EU:C:2013:835, Rn. 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass es sich bei den Regeln, die zur Bestimmung dessen dienen, was im Sinne von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 „durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt“ ist, um jene handelt, die den Umfang der Erfindung betreffen, die Gegenstand eines solchen Patents ist, wie etwa im Ausgangsverfahren Art. 69 EPÜ und das Protokoll zu dessen Auslegung, die im Vereinigten Königreich durch Section 125 des Patentgesetzes von 1977 umgesetzt wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2013, Eli Lilly and Company, C‑493/12, EU:C:2013:835, Rn. 32).

33

Insoweit kann zum einen für die Anwendung von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 nicht auf die Regeln für Patentverletzungsklagen, wie sie sich im Ausgangsverfahren aus Section 60 des Patentgesetzes von 1977 ergeben, zurückgegriffen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2013, Eli Lilly and Company, C‑493/12, EU:C:2013:835, Rn. 33).

34

Zum anderen hat der Gerichtshof wiederholt die wesentliche Rolle der Ansprüche für die Entscheidung darüber hervorgehoben, ob ein Erzeugnis durch ein Grundpatent im Sinne dieser Vorschrift geschützt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2013, Eli Lilly and Company, C‑493/12, EU:C:2013:835, Rn. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Speziell zum europäischen Patent ist festzustellen, dass der Schutzbereich eines solchen Patents nach Art. 69 EPÜ durch die Patentansprüche bestimmt wird. In Art. 1 des Protokolls über die Auslegung dieses Artikels heißt es dazu, dass diese Ansprüche einen angemessenen Schutz für den Patentinhaber mit ausreichender Rechtssicherheit für Dritte verbinden sollen. Sie sollen weder lediglich als Richtlinie dienen noch dahin verstanden werden, dass der Schutzbereich eines Patents anhand des engen Wortsinns der Patentansprüche zu ermitteln ist.

36

Dazu hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 grundsätzlich dem nicht entgegensteht, dass ein Wirkstoff, der einer in den Ansprüchen eines vom EPA erteilten Grundpatents enthaltenen funktionellen Definition entspricht, als durch dieses Patent geschützt angesehen werden kann; dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass diese Ansprüche, die nach Art. 69 EPÜ und dem Protokoll über dessen Auslegung u. a. im Licht der Beschreibung der Erfindung auszulegen sind, den Schluss zulassen, dass sie sich stillschweigend, aber notwendigerweise auf den in Rede stehenden Wirkstoff beziehen, und zwar in spezifischer Art und Weise (Urteil vom 12. Dezember 2013, Eli Lilly and Company, C‑493/12, EU:C:2013:835, Rn. 39).

37

Somit kann ein Erzeugnis nur dann als im Sinne von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt angesehen werden, wenn das Erzeugnis, das Gegenstand des ESZ ist, entweder ausdrücklich genannt wird oder sich die Patentansprüche notwendigerweise und in spezifischer Weise auf dieses Erzeugnis beziehen.

38

Dabei sind nach der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die Beschreibung und die Zeichnungen des Grundpatents zu berücksichtigen, wie es Art. 69 EPÜ im Licht des Protokolls über dessen Auslegung vorschreibt, da sich anhand dieser Angaben klären lässt, ob die Ansprüche des Grundpatents auf das Erzeugnis, das Gegenstand des ESZ ist, Bezug nehmen und ob das Erzeugnis tatsächlich von der durch das Patent geschützten Erfindung erfasst ist.

39

Dieses Erfordernis steht im Einklang mit dem Ziel des ESZ, eine ausreichende Dauer des wirksamen Grundpatentschutzes wiederherzustellen, indem dessen Inhaber nach Ablauf des Patents eine zusätzliche Ausschließlichkeitsfrist eingeräumt wird, die den Rückstand bei der wirtschaftlichen Verwertung seiner Erfindung, der aufgrund der Zeitspanne von der Einreichung der Patentanmeldung bis zur Erteilung der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Union eingetreten ist, zumindest zum Teil ausgleichen soll. Im vierten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 469/2009 wird dazu ausgeführt, dass die Gewährung dieser zusätzlichen Ausschließlichkeitsfrist die Forschung fördern soll und im Hinblick darauf den Zweck hat, eine Amortisierung der Investitionen in die Forschung zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2013, Eli Lilly and Company, C‑493/12, EU:C:2013:835, Rn. 41 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Das ESZ soll hingegen den durch das Patent gewährten Schutzbereich nicht über die von ihm geschützte Erfindung hinaus ausweiten. Es widerspräche nämlich dem in der vorstehenden Randnummer angeführten Ziel der Verordnung Nr. 469/2009, ein ESZ für ein Erzeugnis zu erteilen, das nicht von der durch das Grundpatent geschützten Erfindung erfasst ist, da ein solches ESZ nicht die mit diesem Patent beanspruchten Forschungsergebnisse beträfe.

41

Außerdem wäre es in Anbetracht der im zehnten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 469/2009 erwähnten Notwendigkeit, alle auf dem Spiel stehenden Interessen einschließlich der Volksgesundheit zu berücksichtigen, mit der Abwägung zwischen den Interessen der Pharmaindustrie und denen der Volksgesundheit, die bei der Förderung der Forschung in der Union durch ein ESZ vorzunehmen ist, unvereinbar, wenn ein ESZ dem Inhaber des Grundpatents einen Schutz gewähren könnte, der über den Schutz der Erfindung hinausgeht, die Gegenstand des Patents ist (vgl. entsprechend Urteil vom 12. März 2015, Actavis Group PTC und Actavis UK, C‑577/13, EU:C:2015:165, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42

Zudem ist es unter Berücksichtigung der in den Erwägungsgründen 4, 5, 9 und 10 der Verordnung Nr. 469/2009 genannten Interessen nicht zulässig, dass dem Inhaber eines in Kraft befindlichen Grundpatents jedes Mal ein ESZ erteilt werden kann, wenn er in einem Mitgliedstaat ein Arzneimittel in den Verkehr bringt, das einen Wirkstoff enthält, der als solcher durch sein Grundpatent geschützt ist und Gegenstand der von diesem Patent geschützten Erfindung ist, und einen weiteren Stoff, der nicht Gegenstand der von dem Grundpatent geschützten Erfindung ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. März 2015, Actavis Group PTC und Actavis UK, C‑577/13, EU:C:2015:165, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Daraus folgt, dass die Patentansprüche es in Anbetracht der mit der Verordnung Nr. 469/2009 verfolgten Ziele dem Inhaber eines Grundpatents nicht ermöglichen können, durch die Erlangung eines ESZ einen Schutz zu erhalten, der über den Schutz der von diesem Patent geschützten Erfindung hinausgeht. Somit müssen die Ansprüche des Grundpatents bei der Anwendung von Art. 3 Buchst. a der Verordnung anhand der Grenzen dieser aus der Beschreibung und den Zeichnungen des Patents hervorgehenden Erfindung verstanden werden.

44

Diese Auslegung wird durch Art. 4 der Verordnung Nr. 469/2009 gestützt, wonach sich der durch das ESZ gewährte Schutz allein auf das Erzeugnis erstreckt, das von der Genehmigung für das Inverkehrbringen des entsprechenden Arzneimittels erfasst wird, und zwar auf diejenigen Verwendungen des Erzeugnisses als Arzneimittel, die vor Ablauf des ESZ genehmigt wurden, aber nur „[i]n den Grenzen des durch das Grundpatent gewährten Schutzes“.

45

Das Gleiche gilt für Art. 5 der Verordnung, wonach das ESZ dieselben Rechte wie das Grundpatent gewährt und denselben Verpflichtungen unterliegt. Konnte der Inhaber des Patents während dessen Geltungsdauer auf der Grundlage seines Patents jeder Verwendung oder bestimmten Verwendungen seines Erzeugnisses in Form eines Arzneimittels, das aus dem Erzeugnis bestand oder es enthielt, widersprechen, so gewährt ihm ein für das Erzeugnis erteiltes ESZ dieselben Rechte für jede vor Ablauf des Zertifikats genehmigte Verwendung des Erzeugnisses als Arzneimittel (Urteile vom 24. November 2011, Medeva, C‑322/10, EU:C:2011:773, Rn. 39, und vom 24. November 2011, Georgetown University u. a., C‑422/10, EU:C:2011:776, Rn. 32).

46

Aus dem Vorstehenden folgt, dass sich der Gegenstand des Schutzes durch ein ESZ auf die technischen Merkmale der durch das Grundpatent geschützten Erfindung, wie sie nach diesem Patent beansprucht werden, beschränken muss.

47

In Bezug auf die Anwendung dieser Regel ist erstens klarzustellen, dass nach einem dem Patentrecht der Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsatz, der sich in Art. 1 des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ widerspiegelt, die Patentansprüche unter Heranziehung des Standpunkts eines Fachmanns auszulegen sind und sich folglich danach richten, ob das Erzeugnis, das Gegenstand eines ESZ ist, notwendigerweise von der durch das Patent geschützten Erfindung erfasst wird.

48

Zu diesem Zweck ist zu prüfen, ob der Fachmann auf der Grundlage seiner allgemeinen Kenntnisse und im Licht der im Grundpatent enthaltenen Beschreibung und Zeichnungen der Erfindung eindeutig erkennen kann, dass das Erzeugnis, auf das sich die Ansprüche des Grundpatents beziehen, ein für die Lösung des technischen Problems, das von dem Patent offengelegt wird, erforderliches Merkmal ist.

49

Zweitens ist im Hinblick auf das in Rn. 39 des vorliegenden Urteils angeführte Ziel der Verordnung Nr. 469/2009 bei der Beurteilung, ob ein Erzeugnis von der durch ein Grundpatent geschützten Erfindung erfasst ist, nur der Stand der Technik bei der Einreichung oder am Prioritätstag des Patents heranzuziehen, damit das Erzeugnis vom Fachmann im Licht aller durch das Patent offengelegten Angaben in spezifischer Weise identifiziert werden kann.

50

Könnte eine solche Beurteilung anhand von Forschungsergebnissen nach dem Zeitpunkt der Einreichung oder dem Prioritätstag des Grundpatents vorgenommen werden, könnte der Inhaber eines ESZ nämlich in unzulässiger Weise einen Schutz für diese Ergebnisse in Anspruch nehmen, obwohl sie zum Prioritätstag oder bei der Einreichung des Patents noch nicht bekannt waren, und er müsste zudem kein Verfahren zur Erlangung eines neuen Patents durchlaufen. Wie in den Rn. 40 und 41 des vorliegenden Urteils ausgeführt, würde dies dem Ziel der Verordnung Nr. 469/2009 zuwiderlaufen.

51

Um zu klären, ob ein Erzeugnis, das Gegenstand eines ESZ ist, durch ein Grundpatent im Sinne von Art. 3 Buchst. a der Verordnung geschützt ist, muss das Erzeugnis daher vom Fachmann im Licht aller durch das Grundpatent offengelegten Angaben und des Stands der Technik bei der Einreichung oder am Prioritätstag des Patents in spezifischer Weise identifiziert werden können.

52

In Anbetracht aller vorstehenden Erwägungen ist ein Erzeugnis im Sinne von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 „durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt“, sofern sich einer der Patentansprüche notwendigerweise und spezifisch auf dieses Erzeugnis bezieht, auch wenn es in den Ansprüchen des Grundpatents nicht ausdrücklich erwähnt wird. Dazu muss das Erzeugnis für den Fachmann im Licht der Beschreibung und der Zeichnungen des Grundpatents notwendigerweise von der durch das Patent geschützten Erfindung erfasst sein. Der Fachmann muss in der Lage sein, das Erzeugnis im Licht aller durch das Patent offengelegten Angaben nach dem Stand der Technik bei der Einreichung oder am Prioritätstag des Patents in spezifischer Weise zu identifizieren.

53

Eine solche Auslegung von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 ist auch in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens heranzuziehen, in der die Erzeugnisse, die Gegenstand eines ESZ sind, aus mehreren Wirkstoffen bestehen, die eine kombinierte Wirkung haben.

54

Somit ist es in Bezug auf die Frage, ob ein Anspruch wie Anspruch 27 des in Rede stehenden Grundpatents tatsächlich eine Kombination wie die Kombination von TD und Emtricitabin, die Gegenstand des fraglichen ESZ ist, erfasst, Sache des vorlegenden Gerichts, zu klären, ob die allgemeine Wendung „andere therapeutische Bestandteile“ in Verbindung mit dem Zusatz „gegebenenfalls“ der Anforderung genügt, dass sich die Ansprüche des Grundpatents notwendigerweise und spezifisch auf das Erzeugnis beziehen müssen.

55

Insbesondere ist es Sache des vorlegenden Gerichts, im Einklang mit den Erwägungen in den Rn. 47 bis 51 des vorliegenden Urteils zu prüfen, ob die Kombination der Wirkstoffe, aus denen das Erzeugnis besteht, das Gegenstand des in Rede stehenden ESZ ist, aus der Sicht des Fachmanns notwendigerweise von der durch das Patent geschützten Erfindung erfasst wird und ob jeder dieser Wirkstoffe nach dem Stand der Technik bei der Einreichung oder am Prioritätstag des Patents in spezifischer Weise identifizierbar ist.

56

Im vorliegenden Fall ergibt sich zum einen aus den Angaben in der Vorlageentscheidung, dass die Beschreibung des in Rede stehenden Grundpatents keinen Hinweis darauf gibt, dass die von ihm geschützte Erfindung speziell eine kombinierte Wirkung von TD und Emtricitabin zur Behandlung des HIV betreffen könnte. Demnach dürfte der Fachmann nach dem Stand der Technik bei der Einreichung oder am Prioritätstag dieses Patents nicht in der Lage sein, zu verstehen, inwieweit Emtricitabin notwendigerweise in Verbindung mit TD von der durch das Patent geschützten Erfindung erfasst wird. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies tatsächlich der Fall ist. Zum anderen obliegt ihm die Klärung der Frage, ob Emtricitabin vom Fachmann im Licht aller im Patent enthaltenen Angaben nach dem Stand der Technik bei der Einreichung oder am Prioritätstag des Patents in spezifischer Weise identifiziert werden kann.

57

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass ein aus mehreren Wirkstoffen mit kombinierter Wirkung bestehendes Erzeugnis im Sinne dieser Bestimmung „durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt“ ist, wenn sich die Ansprüche des Grundpatents notwendigerweise und spezifisch auf die Kombination der Wirkstoffe, aus denen das Erzeugnis besteht, beziehen, auch wenn sie darin nicht ausdrücklich erwähnt wird. Dabei muss aus der Sicht des Fachmanns nach dem Stand der Technik bei der Einreichung oder am Prioritätstag des Grundpatents

die Kombination der Wirkstoffe im Licht der Beschreibung und der Zeichnungen des Patents notwendigerweise von der durch das Patent geschützten Erfindung erfasst sein und

jeder der Wirkstoffe im Licht aller durch das Patent offengelegten Angaben spezifisch identifizierbar sein.

Kosten

58

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel ist dahin auszulegen, dass ein aus mehreren Wirkstoffen mit kombinierter Wirkung bestehendes Erzeugnis im Sinne dieser Bestimmung „durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt“ ist, wenn sich die Ansprüche des Grundpatents notwendigerweise und spezifisch auf die Kombination der Wirkstoffe, aus denen das Erzeugnis besteht, beziehen, auch wenn sie darin nicht ausdrücklich erwähnt wird. Dabei muss aus der Sicht des Fachmanns nach dem Stand der Technik bei der Einreichung oder am Prioritätstag des Grundpatents

 

die Kombination der Wirkstoffe im Licht der Beschreibung und der Zeichnungen des Patents notwendigerweise von der durch das Patent geschützten Erfindung erfasst sein und

jeder der Wirkstoffe im Licht aller durch das Patent offengelegten Angaben spezifisch identifizierbar sein.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Europäischer Gerichtshof Urteil, 25. Juli 2018 - C-121/17

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