Bundesverfassungsgericht Einstweilige Anordnung, 22. Jan. 2018 - 2 BvR 80/18

ECLI:ECLI:DE:BVerfG:2018:rk20180122.2bvr008018
bei uns veröffentlicht am22.01.2018

Tenor

Die Abschiebung des Antragstellers wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, untersagt.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger. Nach seiner Ankunft in Deutschland im Jahre 2016 beantragte er unter anderem die Anerkennung als Flüchtling mit der Begründung, er sei als Minderjähriger in Kabul entführt worden, weil man ihn habe zwingen wollen, als "Tanzknabe" in Frauenkleidern aufzutreten und sich dabei filmen zu lassen. Der Antrag wurde durch Bescheid vom 6. März 2017 abgelehnt. Dieser Bescheid, versehen mit einer Rechtsbehelfsbelehrung, wonach die Klage "in deutscher Sprache abgefasst sein" müsse, wurde am 9. März 2017 zugestellt. Gegen den Bescheid hat der Antragsteller im Dezember 2017 Klage erhoben; die Klagefrist betrage wegen der Fehlerhaftigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung ein Jahr. Den zugleich im Eilverfahren gestellten Antrag festzustellen, dass die Klage aufschiebende Wirkung habe, lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 9. Januar 2018 ab. Der Antragsteller befindet sich in Haft zur Sicherung der Abschiebung.

II.

2

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

3

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, welche der Beschwerdeführer für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 76, 253 <255>).


4

2. Nach diesen Maßstäben ist die einstweilige Anordnung zu erlassen. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet; vielmehr ist der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens offen.

5

Das Verwaltungsgericht hat sich in dem angegriffenen Beschluss vom 9. Januar 2018 auf den - nicht unplausiblen - Standpunkt gestellt, die Rechtsbehelfsbelehrung im Bescheid vom 6. März 2017 sei nicht unrichtig, so dass die Klagefrist zwei Wochen und nicht ein Jahr betragen habe; die erst im Dezember 2017 erhobene Klage sei daher offensichtlich unzulässig. Die Verfassungsbeschwerde rügt jedoch in gleichfalls nachvollziehbarer Weise, dass das Verwaltungsgericht jedenfalls gehindert gewesen sei, über diese Rechtsfrage bereits im Eilverfahren zu entscheiden mit der Folge, dass die gegen den Bescheid vom 6. März 2017 gerichtete Klage keine aufschiebende Wirkung entfalten konnte. Für die Richtigkeit dieser Rechtsauffassung spricht, dass mehrere erstinstanzliche Gerichte sowie der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Urteil vom 18. April 2017 - 9 S 333/17) die Gegenauffassung vertreten und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof zu dieser Frage die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat (Beschluss vom 22. August 2017 - 13a ZB 17.30882 -).

6

Zwar ist das Verwaltungsgericht nicht gehindert, zu der aufgeworfenen Rechtsfrage eine andere Rechtsauffassung als das ihm übergeordnete Obergericht zu vertreten. Es spricht jedoch viel dafür, dass es eine unzumutbare Hürde für den Zugang des Antragstellers zu effektivem Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) darstellt, wenn dies im Rahmen eines unanfechtbaren Beschlusses im Eilverfahren geschieht und dazu führt, dass der Antragsteller vor der Durchführung des Hauptsacheverfahrens nach Afghanistan abgeschoben werden darf. Denn die Fortführung des in Deutschland laufenden Rechtsschutzverfahrens von Afghanistan aus ist ihm nicht zuzumuten. Hinzu kommt, dass das Verwaltungsgericht sich mit der seiner Rechtsauffassung entgegenstehenden oder sie in Frage stellenden Rechtsprechung in der Begründung seines Beschlusses weder auseinandergesetzt noch sie überhaupt erwähnt hat, so dass Überwiegendes für das Vorliegen eines Gehörsverstoßes spricht.


7

Der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens erscheint deshalb offen, ohne dass hier über die Frage, ob die dem Bescheid vom 6. März 2017 beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung richtig oder falsch war, entschieden werden müsste.

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Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 19


(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels

Bundesverfassungsgerichtsgesetz - BVerfGG | § 32


(1) Das Bundesverfassungsgericht kann im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dring

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Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 22. Aug. 2017 - 13a ZB 17.30882

bei uns veröffentlicht am 22.08.2017

Tenor I. Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt F. A. in R. bewilligt. II. Die Berufung wird zugelassen. Gründe Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 VwGO, §

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(1) Das Bundesverfassungsgericht kann im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

(2) Die einstweilige Anordnung kann ohne mündliche Verhandlung ergehen. Bei besonderer Dringlichkeit kann das Bundesverfassungsgericht davon absehen, den am Verfahren zur Hauptsache Beteiligten, zum Beitritt Berechtigten oder Äußerungsberechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

(3) Wird die einstweilige Anordnung durch Beschluß erlassen oder abgelehnt, so kann Widerspruch erhoben werden. Das gilt nicht für den Beschwerdeführer im Verfahren der Verfassungsbeschwerde. Über den Widerspruch entscheidet das Bundesverfassungsgericht nach mündlicher Verhandlung. Diese muß binnen zwei Wochen nach dem Eingang der Begründung des Widerspruchs stattfinden.

(4) Der Widerspruch gegen die einstweilige Anordnung hat keine aufschiebende Wirkung. Das Bundesverfassungsgericht kann die Vollziehung der einstweiligen Anordnung aussetzen.

(5) Das Bundesverfassungsgericht kann die Entscheidung über die einstweilige Anordnung oder über den Widerspruch ohne Begründung bekanntgeben. In diesem Fall ist die Begründung den Beteiligten gesondert zu übermitteln.

(6) Die einstweilige Anordnung tritt nach sechs Monaten außer Kraft. Sie kann mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen wiederholt werden.

(7) Ist ein Senat nicht beschlußfähig, so kann die einstweilige Anordnung bei besonderer Dringlichkeit erlassen werden, wenn mindestens drei Richter anwesend sind und der Beschluß einstimmig gefaßt wird. Sie tritt nach einem Monat außer Kraft. Wird sie durch den Senat bestätigt, so tritt sie sechs Monate nach ihrem Erlaß außer Kraft.

Tenor

I. Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt F. A. in R. bewilligt.

II. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 VwGO, § 114, § 115, § 119 Abs. 1 Satz 1, § 121 ZPO.

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 27. Juni 2017 ist zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).

Der Kläger wirft die Frage auf, ob „die ablehnenden Bescheiden im Asylverfahren regelmäßig angefügte Rechtsbehelfsbelehrung:mit der Formulierung, dass die Klage ‚in deutscher Sprache abgefasst sein‘ muss, unrichtig im Sinne des § 58 III VwGO“ ist. Diese Frage – richtigerweise betreffend § 58 Abs. 2 VwGO – wird in der Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet (siehe VGH BW, U.v. 18.4.2017 – A 9 S 333/17 – Asylmagazin 2017, 197) und ist vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof noch nicht entschieden.

Das Verfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.

(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

(3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.

(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.